4. Lolla-Wossiky

Als Lolla-Wossiky Ta-Kumsaw am Tor von Fort Carthage zurückließ, wußte er, was sein Bruder dachte. Ta-Kumsaw glaubte, daß er mit seinem Faß davongehen würde, um zu trinken und zu trinken und zu trinken.

Doch Ta-Kumsaw wußte es nicht wirklich. Der weiße Mörder Harrison wußte es auch nicht. Niemand wußte etwas über Lolla-Wossiky. Dieses Faß würde ihm wahrscheinlich zwei Monate reichen. Mal hier ein kleines bißchen, mal da ein kleines bißchen. Vorsichtig, vorsichtig, nie einen Tropfen verschütten, immer nur ein wenig trinken, und das Faß dann dicht verschließen. Vielleicht reichte es sogar drei Monate lang.

Bisher hatte er sich immer in der Nähe des Forts des weißen Mörders Harrison aufhalten müssen, um etwas von dem Branntwein abzubekommen, der aus dem dunkelbraunen Krug strömte. Jetzt aber hatte er alles, was sein Herz begehrte, um seine Reise antreten zu können, seine große Reise in den Norden, wo er seinem Traumtier begegnen wollte.

Niemand wußte, daß Lolla-Wossiky ein Traumtier besaß. Der weiße Mann wußte es nicht, weil der weiße Mann keine Traumtiere hatte, denn der weiße Mann schlief die ganze Zeit und wachte nie auf. Der rote Mann wußte es nicht, weil der rote Mann Lolla-Wossiky ansah und dachte, er sei ein Whisky-Roter, der bald sterben würde, einer, der kein Traumtier hatte und nie mehr aufwachte.

Lolla-Wossiky hingegen wußte es. Er wußte um das Licht oben im Norden, er hatte es vor fünf Jahren kommen sehen. Er wußte, daß es sein Traumtier war, das nach ihm rief, doch er hatte nie losgehen können. Fünf-, sechs-, zwölfmal war er nach Norden aufgebrochen, doch dann war der Branntwein in seinem Blut versickert und das Geräusch war zurückgekehrt, dieses schreckliche, schwarze Geräusch, das ihm ständig so weh tat. Wenn das schwarze Geräusch kam, war es, als bohrten sich hundert winzige Messer in seinen Kopf, bis er das Land nicht mehr spüren, ja, nicht einmal das Licht eines Traumtiers wahrnehmen konnte und zurückkehren mußte, um den Branntwein zu suchen und das Geräusch zu betäuben, damit er überhaupt denken konnte.

Das letzte Mal war es besonders schlimm gewesen. Lange, lange Zeit war kein Branntwein mehr eingetroffen, und zum Schluß hatte selbst der weiße Mörder Harrison zwei Monate lang nicht mehr sehr viel davon für ihn übrig gehabt, vielleicht einen Becher in der Woche, nie genug, um mehr als ein paar Stunden vorzuhalten, vielleicht auch mal einen Tag lang. Zwei lange Monate das ständige schwarze Geräusch.

Das schwarze Geräusch machte, daß Lolla-Wossiky nicht richtig gehen konnte. Alles zappelte, der Boden wogte auf und ab, wie konnte man gerade gehen, wenn das Land wie Wasser aussah? Also dachten alle, daß Lolla-Wossiky betrunken wäre, daß er taumelte wie ein Whisky-Roter, daß er die ganze Zeit zu Boden stürzte. Wo bekommt der Kerl nur den Branntwein her? fragten sie sich alle. Keiner hat mehr Branntwein, aber Lolla-Wossiky betrinkt sich immer noch, wie macht er das bloß? Nicht einer hatte Augen, um zu sehen, daß Lolla-Wossiky gar nicht betrunken war. Hörten sie denn nicht, wie er sprach, ganz klar sprach, überhaupt nicht wie ein Betrunkener? Rochen sie denn nicht, daß er gar nicht nach Branntwein stank? Niemand erriet es, niemand dachte darüber nach. Sie wußten nur, Lolla-Wossiky braucht immer Branntwein. Nie kam jemand darauf, daß Lolla-Wossiky vielleicht unter Schmerzen litt, die so schlimm waren, daß er hoffte, er würde sterben.

Und wenn er dann die Augen schloß, um die Welt daran zu hindern, zu wogen wie der Fluß, meinten alle, daß er am Schlafen sei, und dann sagten sie alle möglichen Dinge. Ach, Dinge sagten sie, die eigentlich kein Roter hören sollte. Das hatte Lolla-Wossiky sehr schnell herausbekommen, und wenn das schwarze Geräusch so schlimm wurde, daß er sich am liebsten auf den Grund des Flusses gelegt hätte, um das Geräusch für immer abzuhalten, torkelte er statt dessen zum Büro des weißen Mörders Harrison und stürzte an der Tür zu Boden, um zu lauschen. Das schwarze Geräusch war zwar sehr laut, aber es war kein Ohrengeräusch, so daß er trotzdem noch die Stimmen hören konnte, auch wenn das schwarze Geräusch in seinem Kopf brüllte. Er strengte sich sehr an, um jedes Wort unter der Tür hindurch zu hören. Er wußte alles, was der weiße Mörder Harrison zu allen sagte.

Lolla-Wossiky erzählte niemandem, was er hörte.

Lolla-Wossiky erzählte niemandem jemals die Wahrheit. Sie glaubten ihm ohnehin nicht. Du bist betrunken, Lolla-Wossiky. Schäm dich, Lolla-Wossiky. Und Ta-Kumsaw, der dastand und nie etwas sagte, oder wenn er es doch tat, so kraftvoll war und so sehr im Recht, wo Lolla-Wossiky doch so schwach war und so sehr im Unrecht.

Nach Norden ging Lolla-Wossiky, immer weiter nach Norden. Tausend Schritte nach Norden, bevor ich eine Kleinigkeit trinke. Nach Norden, während das schwarze Geräusch so laut ist, daß ich schon gar nicht mehr weiß, wo Norden ist, aber dennoch nach Norden, weil ich nicht wage stehenzubleiben.

Tiefdunkle Nacht. Das schwarze Geräusch so schlimm, daß das Land mit Lolla-Wossiky nicht spricht. Sogar das weiße Licht des Traumtiers ist weit entfernt und schein von überallher gleichzeitig zu kommen. Das eine Auge sieht die Nacht, das andere sieht schwarzes Geräusch. Muß stehenbleiben. Muß stehenbleiben.

Ganz vorsichtig fand Lolla-Wossiky einen Baum, setzte das Faß ab, nahm Platz und lehnte sich gegen den Baum, das Faß zwischen den Beinen. Ganz langsam, weil er nichts sehen konnte, befühlte er das ganze Faß, bis er den Spund gefunden hatte. Klopf, klopf, klopf mit dem Tommy-hawk, klopf, klopf, klopf, bis der Spundzapfen locker war. Bedächtig zupfte er ihn mit den Fingern hervor. Dann beugte er sich vor und legte den Mund über das Spundloch, eng wie ein Kuß, so eng wie ein Säugling am Nippel der Brust; und dann hoch mit dem Faß, ganz langsam, ganz langsam, nicht sehr hoch, da ist schon der Geschmack, der Branntwein, ein Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke, vier.

Nur vier. Vier ist das Ende. Vier ist die wahre Zahl, die ganze Zahl, die quadratische Zahl. Vier Schlucke.

Er schob den Spund wieder ins Loch und klopfte ihn ganz fest. Schon steigt ihm der Branntwein zu Kopf. Schon verstummt das schwarze Geräusch.

Es wird still. Eine wunderschöne, grüne Stille.

Doch das Grün verschwindet ebenfalls, zusammen mit dem Schwarz. Jedesmal geht das so. Das Landgespür, die grüne Vision, die jeder Rote hat, niemand hat sie jemals klarer gesehen als Lolla-Wossiky. Doch nun folgt ihr jedesmal, wenn sie kommt, sofort das schwarze Geräusch. Und wenn das schwarze Geräusch verstummt, wenn der Branntwein vertreibt, folgt darauf jedesmal das Verblassen des grünen, lebendigen Schweigens.

Dann bleibt Lolla-Wossiky zurück wie ein Weißer. Vom Land abgeschnitten. Mit krachendem Unterholz unter seinen Füßen. Mit abknickenden Ästen. Mit Stolperwurzeln. Mit Tieren, die davonlaufen.

Lolla-Wossiky hoffte, hoffte jahrelang, genau die richtige Menge Branntwein ausfindig zu machen, die das schwarze Geräusch ertränkte und die grüne Vision dennoch aufrechterhielt. Vier Schlucke, näher war er der Sache nie gekommen. Damit war das schwarze Geräusch gerade außer Reichweite, gerade hinter dem nächstgelegenen Baum. Zugleich aber blieb das Grün dort, wo er es gerade noch berühren konnte. Gerade eben. So daß er so tun konnte, als wäre er ein wahrer Roter anstatt eines Whisky-Roten, der ja in Wirklichkeit nur ein Weißer war.

Doch heute nacht war es anders, zwei Monate lang war er ohne Branntwein gewesen, bis auf einen gelegentlichen Becher dann und wann, so daß vier Schlucke für ihn zu kräftig waren. Das Grün verschwand zusammen mit dem Schwarz. Doch das bekümmerte ihn nicht, heute nicht. Es bekümmerte ihn nicht, denn er mußte schlafen.


Als er am Morgen erwachte, kehrte das schwarze Geräusch gerade zurück. Er war sich nicht sicher, ob es die Sonne gewesen war oder das Geräusch, was ihn geweckt hatte, und es war ihm auch gleichgültig. Einmal gegen den Spund klopfen, vier Schlucke, nicht mehr. Diesmal hielt sich das Landgespür in der Nähe, er konnte es ein wenig fühlen. Genug, um den Hasen in seinem Loch ausfindig zu machen.

Ein dicker alter Stock. Hier ein Stück schneiden, dort anschneiden, damit in alle Richtungen splittrige Holzspitzen hervorragen.

Lolla-Wossiky kniete sich vor dem Hasenbau nieder.

»Ich bin sehr hungrig«, flüsterte er. »Und ich bin nicht sehr stark. Wirst du mir Fleisch geben?«

Er strengte sich an, um die Antwort zu vernehmen, strengte sich an, um zu wissen, ob er im Recht war. Doch alles war zu weit weg, und die Landstimme der Hasen war zu leise. Früher einmal konnte er alle Stimmen hören, erinnerte er sich, viele, viele Meilen entfernt. Wenn das schwarze Geräusch jemals verschwinden sollte, würde er vielleicht wieder hören können. Doch jetzt hatte er keine Möglichkeit festzustellen, ob die Hasen einwilligten oder nicht.

Daher wußte er auch nicht, ob er ein Recht darauf hatte. Er wußte nicht, ob er nahm wie ein roter Mann, gerade nur das, was das Land anbot, oder ob er stahl wie ein weißer Mann, der alles tötete, was er zu töten beliebte. Er hatte keine Wahl. Er schob den Stock in den Bau, drehte ihn. Er spürte, wie er erzitterte, hörte das Quieken, und zog ihn hervor, immer noch zuckend. Ein kleiner Hase, kein großer, nur ein kleiner Hase, der zappelte, um den Splittern zu entkommen, doch Lolla-Wossiky war schnell, kaum war der Hase am Ausgang erschienen, bereit, sich loszureißen und davonzuhuschen, als Lolla-Wossiky auch schon die Hand vorgeschoben hatte, den Hasen am Kopf festhielt, ihn ganz schnell in die Luft hob und herumwirbelte und ihn schüttelte. Als er ihn wieder senkte, war der kleine Hase tot, und Lolla-Wossiky trug ihn fort von dem Bau, zurück zum Faß, weil es sehr schlimm war, weil es eine leere Stelle im Land erzeugte, wenn man ein junges Tier häutete, während seine Verwandten einen sehen oder hören konnten.

Er machte kein Feuer. Das war zu gefährlich, und er hatte auch nicht genug Zeit, um das Fleisch zu räuchern, nicht so nahe bei dem Fort des weißen Mörders Harrison. Es war ohnehin nicht sehr viel Fleisch; er aß es auf, roh, so daß er sehr viel kauen mußte, aber der Geschmack war kräftig und gut. Wenn man kein Fleisch räuchern konnte, das wußte der rote Mann, mußte man soviel davon im Bauch mit sich herumtragen, wie es nur ging. Er stopfte das Fell in die Hüfte seines Lendenschurzes, hob sich das Faß auf die Schultern und setzte sich gen Norden in Bewegung. Vor ihm leuchtete das weiße Licht, rief das Traumtier nach ihm und drängte ihn weiter. Ich werde dich aufwecken, sagte das Traumtier, ich werde deinem Traum ein Ende setzen.

Der weiße Mann hatte von Traumtieren gehört. Der weiße Mann dachte, der rote Mann würde in den Wald hinausgehen und dort träumen. Dummer weißer Mann, er verstand nie etwas. Das ganze Leben war zunächst ein einziger langer Schlaf, ein einziger langer Traum. Im Augenblick der Geburt schlief man ein und wachte nicht mehr auf, wachte überhaupt nicht mehr auf, bis einen schließlich eines Tages das Traumtier rief. Dann ging man in den Wald, manchmal nur wenige Schritte weit, manchmal bis zum Ende der Welt. Man ging, bis man auf das Tief traf, das nach einem rief. Das Tier existierte nicht im Traum. Das Tier erweckte einen aus dem Traum. Das Tier zeigte einem, wer man war, lehrte einen, wo man im Land hingehörte. Dann kehrte man nach Hause zurück, endlich erwacht, und erzählte dem Schamanen und der Mutter und den Schwestern, wer das Traumtier war. Ein Bär? Ein Dachs? Ein Vogel? Ein Fisch? Ein Falke oder ein Adler? Eine Biene oder eine Wespe? Der Schamane erzählte einem Geschichten und half dabei, den eigenen Aufwachnamen auszuwählen. Die Mutter und die Schwestern gaben nun den Kindern des Aufgewachten Namen, ob sie schon geboren worden waren oder nicht.

Lolla-Wossikys sämtliche Brüder waren schon vor langer Zeit ihren Traumtieren begegnet. Nun war seine Mutter tot, seine beiden Schwestern waren fort und lebten bei einem anderen Stamm. Wer sollte seinen Kindern da Namen geben?

Ich weiß es, sagte Lolla-Wossiky. Ich weiß es. Lolla-Wossiky wird niemals Kinder haben, dieser alte, einäugige Whisky-Rote. Aber Lolla-Wossiky wird sein Traumtier finden. Lolla-Wossiky wird aufwachen. Lolla-Wossiky wird seinen Aufwachnamen haben.

Dann wird Lolla-Wossiky sehen, ob er leben oder sterben soll. Wenn das schwarze Geräusch fortfährt und wenn das Aufwachen ihm nichts Neues beibringt, was er nicht schon weiß, wird Lolla-Wossiky sich im Fluß schlafen legen und sich von ihm ins Meer spülen lassen, weit weg von dem Land und dem schwarzen Geräusch. Wenn das Aufwachen ihn aber einen Grund lehrt, um weiterzuleben, dann wird Lolla-Wossiky weiterleben, ob es ein schwarzes Geräusch gibt oder nicht, wird viele lange Jahre des Trinkens und des Schmerzes durchleben, des Schmerzes und des Trinkens.

Lolla-Wossiky trank jeden Morgen vier Schlucke, vier Schlucke jede Nacht, und legte sich dann in der Hoffnung schlafen, er würde sterben können, wenn das Traumtier ihn aufweckte.


Eines Tages stand er am Ufer eines klaren Stroms, das schwarze Geräusch dicht in seinem Sehen und laut in seinem Gehör. Im Wasser stand ein großer brauner Bär. Er klatschte mit den Tatzen auf das Wasser ein und ein Fisch schoß durch die Luft. Der Bär packte ihn mit den Zähnen, biß zweimal zu und verschlang ihn. Nicht seine Gier erweckten Lolla-Wossikys Aufmerksamkeit, sondern die Augen des Bären.

Dem Bär fehlte ein Auge, genau wie Lolla-Wossiky. So überlegte sich Lolla-Wossiky, ob der Bär möglicherweise sein Traumtier war. Doch das konnte nicht sein. Das weiße Licht, das nach ihm rief, leuchtete immer noch im Norden.

Der Bär war also nicht sein Traumtier, er war ein Teil des Traums.

Dennoch konnte er vielleicht eine Botschaft für Lolla-Wossiky haben. Dieser Bär war vielleicht hier, weil das Land Lolla-Wossiky eine Geschichte erzählen wollte.

Dies war das erste, was Lolla-Wossiky auffiel: Als der Bär den Fisch mit der Schnauze fing, sah er mit seinem gesunden Auge hin und erblickte die Spiegelung des Sonnenlichts auf dem Fisch. Davon verstand Lolla-Wossiky etwas, weil er den Kopf schrägt legte, genau wie der Bär.

Dies war das zweite, was Lolla-Wossiky auffiel: Als der Bär ins Wasser blickte, um den schwimmenden Fisch auszumachen, damit er nach ihm schlagen konnte, blickte er mit dem anderen Auge hin, mit dem Auge, das nicht da war. Das verstand Lolla-Wossiky nicht. Es war sehr seltsam.

Dies war das letzte, was Lolla-Wossiky auffiel: Während er den Bären beobachtete, war sein gesundes Auge geschlossen. Und als er das Auge öffnete, war der Fluß noch da, das Sonnenlicht war noch da, die Fische tanzten noch immer durch die Luft und verschwanden wieder, doch der Bär war verschwunden. Lolla-Wossiky konnte den Bären nur sehen, wenn er sein gesundes Auge schloß.

Lolla-Wossiky trank zwei Schlucke aus dem Faß, und der Bär verschwand.


Eines Tages traf Lolla-Wossiky auf eine Straße des weißen Mannes, und unter seinen Füßen fühlte sie sich an wie ein wogender Fluß. Die Strömung des Flusses riß ihn mit sich. Er taumelte weiter, dann spürte er den Rhythmus und lief dahin, das Faß auf der Schulter. Nie schritt ein roter Mann auf den Wegen des weißen Mannes — bei trockenem Wetter war das Erdreich viel zu hart, bei Regen war der Schlamm zu tief, und die Furchen der Wagenräder griffen nach ihm wie Hände des weißen Mannes, um den roten Mann stolpern und stürzen zu lassen. Diesmal jedoch war der Boden so weich wie Frühlingsgras an einem Flußufer, solange Lolla-Wossiky in die richtige Richtung lief. Doch nicht mehr dem Licht entgegen, denn das Licht umgab ihn ganz sanft auf allen Seiten, und er wußte, daß das Traumtier sehr, sehr nahe war.

Dreimal führte der Weg über Wasser — über zwei kleine Ströme und einen großen —, und jedesmal gab es dort eine Brücke, aus schweren, großen Stämmen und kräftigen Brettern gefertigt, mit einem Dach, wie bei einem Haus des weißen Mannes. Lolla-Wossiky blieb sehr lange auf der ersten Brücke stehen. Von so etwas hatte er noch nie gehört. Hier stand er an einer Stelle, wo eigentlich Wasser hätte sein sollen, und doch war die Brücke so kräftig und schwer, die Wände so dick, daß er das Wasser überhaupt nicht mehr sehen oder hören konnte.

Und der Fluß verabscheute es. Lolla-Wossiky konnte nun hören, wie zornig er war, wie begierig, nach der Brücke zu greifen und sie niederzureißen. Der Weg des weißen Mannes, dachte Lolla-Wossiky, der weiße Mann muß erobern, muß dem Land die Dinge entreißen.

Und doch fiel ihm auf der Brücke noch etwas anderes auf. Obwohl in seinem Körper fast gar kein Branntwein mehr war, war das schwarze Geräusch auf der Brücke ruhiger geworden. Er konnte so viel von dem grünen Schweigen vernehmen, wie schon seit langem nicht mehr. Als wenn das schwarze Geräusch teilweise vom Fluß käme. Wie konnte das sein? Der Fluß hegte doch keinen Groll gegen den roten Mann. Und kein vom weißen Mann erbautes Ding konnte den roten Mann näher an das Land heranführen. Und doch war es genau dies, was hier geschah. Lolla-Wossiky eilte den Weg weiter; vielleicht würde er die Sache verstehen, nachdem sein Traumtier ihn aufgeweckt hatte.

Der Weg mündete in einen Ort, der aus ein paar Weiden und einigen Gebäuden des weißen Mannes bestand. Zahlreiche Wagen. Angepflockte Pferde, die Weidegras fraßen. Das Geräusch von hallenden Metallhämmern, von schlagenden Äxten im Wald, das Kreischen von Sägen. Eine Stadt des weißen Mannes.

Und doch keine richtige Stadt des weißen Mannes. Am Rande der Lichtung blieb Lolla-Wossiky stehen. Warum ist diese Stadt des weißen Mannes anders, was fehlt hier, was habe ich eigentlich erwartet?

Der Palisadenzaun. Es gab keinen Palisadenzaun.

Wo versteckten die weißen Männer sich dann? Wo sperrten sie betrunkene rote und weiße Diebe ein? Wo verbargen sie ihre Gewehre?

»Hebt an!« Die Stimme eines weißen Mannes, laut hallend wie eine Glocke in der dichten Luft eines Sommernachmittags.

Auf einem grasbewachsenen Hügel, vielleicht eine halbe Meile entfernt, erhob sich gerade ein seltsames Holzding. Lolla-Wossiky konnte die Männer nicht sehen, die es in die Höhe hoben; sie waren alle hinter der Hügelkuppe verborgen. Doch er sah, wie ein frischer Holzrahmen sich erhob, am oberen Ende waren Stangen zu sehen, mit denen er in Stellung gebracht wurde.

»Und jetzt die Seitenwand! Hebt an! Hebt an! Hebt an!«

Nun erhob sich ein weiterer Rahmen, langsam, ganz langsam, etwas seitlich vom ersten. Als beide Rahmen aufrecht standen, trafen sie an einer Kante aufeinander. Zum ersten Mal erblickte Lolla-Wossiky nun die Männer. Weiße Jungen krabbelten an den Rahmen hoch und hoben ihre Hämmer, um sie wie Tommy-hawks herabsausen zu lassen und sich das Holz zu unterwerfen. Nachdem sie eine Weile zugeschlagen hatten, richteten sie sich auf, alle drei, standen oben auf den Wandrahmen, die Hämmer wie Speere in der Hand, die sie gerade aus dem Körper eines Büffels herausgezogen hatten. Die Stangen, mit denen die Wände aufgerichtet worden waren, wurden abgezogen. Die Wände blieben stehen, stützten einander. Lolla-Wossiky hörte ein Jubeln.

Dann erschienen plötzlich die weißen Männer alle oben auf der Hügelkuppe. Haben sie mich gesehen? Werden sie jetzt kommen, um mich zu verjagen oder einzusperren? Nein, sie gingen einfach nur den Hügel hinunter zu ihren Pferden und Wagen. Lolla-Wossiky verschmolz wieder mit dem Wald.

Er trank vier Schlucke aus dem Faß, dann erkletterte er einen Baum und setzte das Faß an einer Stelle ab, wo drei dicke Äste sich gabelten. Schön fest und sicher. Schönes, dichtes Laubwerk; niemand konnte das Faß vom Boden aus sehen, nicht einmal ein roter Mann.

Lolla-Wossiky nahm den längeren Weg, doch schon bald war er oben auf dem Hügel, wo die neuen Wände standen. Lolla-Wossiky sah lange hin, verstand aber nicht, was das für ein Gebäude werden sollte. Das Haus war sehr groß. Größer als alles, was Lolla-Wossiky je von weißer Hand erbaut gesehen hatte, höher als das Staket.

Erst die seltsamen Brücken, so stabil wie Häuser. Und nun dieses seltsame Gebäude, so hoch wie die Bäume. Lolla-Wossiky trat aus dem schützenden Wald hinaus auf die offene Weide, vor und zurück schwankend, weil der Boden nie eben blieb, wenn er Branntwein getrunken hatte. Als er das Gebäude erreicht hatte, stieg er auf den hölzernen Boden. Der Boden des weißen Mannes, die Wände des Mannes, doch es fühlte sich überhaupt nicht wie irgendein anderes Gebäude des weißen Mannes an, das Lolla-Wossiky jemals erblickt hatte. Großer, offener Raum im Inneren, ganz hohe Wände. Das erste Mal, daß der weiße Mann etwas erbaute, das nicht finster war. An diesem Ort mochte sich sogar ein roter Mann wohl fühlen.

»Wer ist da? Wer seid Ihr?«

Lolla-Wossiky drehte sich so schnell um, daß er beinahe gestürzt wäre. Ein großer weißer Mann stand am Rande des Gebäudes. Der Boden war so hoch, daß er dem Mann bis zur Hüfte reichte. Er trug keine Hirschlederkleidung wie ein Jäger und auch keine Uniform wie ein Soldat. Er war eher wie ein Farmer gekleidet, nur daß er sauber war. Tatsächlich hatte Lolla-Wossiky in Carthage City noch nie einen solchen Mann gesehen.

»Wer seid Ihr?« wollte der Mann wieder wissen.

»Roter Mann«, sagte Lolla-Wossiky.

»Es dämmert zwar langsam, aber Nacht ist es noch lange nicht. Ich müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß Ihr ein Roter seid. Aber ich kenne die Roten in der Nähe, und Ihr seid nicht von hier.«

Lolla-Wossiky lachte. Wann hätte ein weißer Mann jemals einen Roten so genau vom anderen unterscheiden können, um zu sagen, wer aus der Nähe stammte und wer von weit her kam?

»Habt Ihr auch einen Namen, roter Mann?«

»Lolla-Wossiky.«

»Ihr habt Branntwein getrunken, nicht wahr? Ich kann es riechen, und Ihr seid auch nicht allzu gut zu Fuß.«

»Viel Branntwein. Whisky-Roter.«

»Wer hat Euch diesen Branntwein gegeben! Sagt es mir! Wo habt Ihr diesen Branntwein her?«

Lolla-Wossiky war verwirrt. Noch nie hatte ein weißer Mann ihn gefragt, wo er seinen Branntwein herbekam. »Vom weißen Mörder Harrison«, erwiderte er.

»Harrison befindet sich zweihundert Meilen südöstlich von hier. Wie habt Ihr ihn genannt?«

»Gouverneur Bill Harrison.«

»Ihr habt ihn weißer Mörder Harrison genannt.«

»Dieser Rote sehr betrunken.«

»Das sehe ich selbst. Aber Ihr habt Euch mit Sicherheit nicht in Fort Carthage betrunken, um die ganze Strecke hierher zu Fuß zu laufen, ohne dabei nüchtern zu werden. Also, woher habt Ihr den Branntwein?«

»Werdet Ihr mich einsperren?«

»Euch einsperren — wo sollte ich Euch denn nur einsperren, könnt Ihr mit das vielleicht mal sagen? Ihr seid wohl wirklich aus Fort Carthage, wie? Nun, ich kann Euch eins sagen, Mr. Lolla-Wossiky, wir haben hier nichts, worin wir trunkene Rote einsperren könnten, weil die Roten hier sich nicht betrinken. Und wenn sie es doch tun, dann suchen wir den weißen Mann, der ihnen den Branntwein gegeben hat, und dann wird dieser weiße Mann ausgepeitscht. Also sagt mir jetzt, woher Ihr den Branntwein habt.«

»Mein Whisky«, antwortete Lolla-Wossiky.

»Vielleicht solltet Ihr besser mit mir kommen.«

»Mich einsperren?«

»Ich habe Euch doch gesagt, daß wir nicht… Hört mal, habt Ihr Hunger?«

»Denke schon«, antwortete Lolla-Wossiky.

»Habt Ihr einen Ort, wo Ihr essen könnt?«

»Esse, wo ich bin.«

»Gut, dann kommt heute abend nach unten und eßt bei mir zu Hause.«

Lolla-Wossiky wußte nicht, was er sagen sollte. Machte der weiße Mann Witze? Die Scherze des weißen Mannes waren immer schwer zu verstehen.

»Habt Ihr doch keinen Hunger?«

»Denke doch«, wiederholte Lolla-Wossiky.

»Nun, dann kommt schon!«

Ein weiterer weißer Mann kam den Hügel empor.

»Brustwehr-Gottes!« rief er. »Eure gute Frau hat sich schon gefragt, wo Ihr seid.«

»Nur noch einen Augenblick, Reverend Thrower. Ich denke, daß wir heute zum Abendessen einen Gast haben werden.«

»Wer ist das? Oh, Brustwehr-Gottes, das ist ja ein Roter.«

»Sein Name ist Lolla-Wossiky. Er ist ein Shaw-Nee. Und außerdem ist er betrunken wie ein Stinktier.«

Lolla-Wossiky war sehr überrascht. Dieser weiße Mann wußte, daß er ein Shaw-Nee war, ohne ihn danach gefragt zu haben. Woher? Hatte er es an seinem Haar erkannt, das bis auf den hohen Streifen in der Mitte ausgerissen war? Nein, das taten andere Rote auch. Am Rand seines Lendenschurzes? Aber weiße Männer bemerkten solche Dinge doch nie.

»Ein Shaw-Nee«, sagte der andere weiße Mann. »Ist das nicht ein besonders wilder Stamm?«

»Ach, ich weiß nicht, Reverend Thrower«, meinte Brustwehr-Gottes. »Vor allem ist es ein ganz besonders nüchterner Stamm. Damit meine ich, daß sie sich nicht ganz so stark betrinken wie einige der anderen. Manche Leute glauben, daß der einzig harmlose Rote ein Whisky-Roter ist, und wenn sie dann alle diese nüchternen Shaw-Nee sehen, glauben sie, daß sie gefährlich wären.«

»Dieses Problem scheint der hier nicht zu haben.«

»Ich weiß. Ich versuchte gerade herauszubekommen, wer ihm seinen Whisky gegeben hat, aber er will es mir nicht sagen.«

Reverend Thrower wandte sich an Lolla-Wossiky. »Wißt Ihr denn nicht, daß der Whisky ein Werkzeug des Teufel ist und der Untergang des roten Mannes?«

»Ich glaube kaum, daß er genug Englisch spricht, um zu verstehen, was Ihr sagt, Reverend.«

»Whisky sehr schlecht für roten Mann«, bemerkte Lolla-Wossiky.

»Hm, vielleicht versteht er es doch«, meinte Brustwehr-Gottes lachend. »Lolla-Wossiky, wenn Ihr doch genau wißt, wie schlimm der Branntwein ist, wie kommt es dann, daß Ihr nach billigem Whisky stinkt wie eine irische Bar?«

»Branntwein sehr schlimm für roten Mann«, bemerkte Lolla-Wossiky, »aber roter Mann ständig durstig.«

»Dafür gibt es eine ganz einfache, wissenschaftliche Erklärung«, warf Reverend Thrower ein. »Die Europäer kennen alkoholische Getränke schon so lange, daß sie eine gewisse Widerstandsfähigkeit dagegen aufgebaut haben. Europäer, die verzweifelt nach Alkohol gieren, sterben in der Regel jünger, bekommen weniger Kinder, sorgen schlechter für die Kinder, die sie haben. Deshalb haben die meisten Europäer einen Widerstand gegen Alkohol entwickelt. Aber ihr Roten habt diese Toleranz nie aufgebaut.«

»Verdammt, das stimmt«, sagte Lolla-Wossiky. »Weißer Mann sagt Wahrheit. Wie kommt es, daß weißer Mörder Harrison Euch noch nicht getötet hat?«

»Also hör sich das mal einer an«, kommentierte Brustwehr-Gottes. »Das ist schon das zweite Mal, daß er Harrison einen Mörder nennt!«

»Geflucht hat er dabei aber auch, was ich nicht sonderlich schätze.«

»Wenn er aus Carthage stammt, dann hat er sein Englisch von einer Klasse Weißer gelernt, die Ausdrücke wie ›verdammt‹ für eine Art Zeichensetzung halten, falls Ihr versteht, was ich meine, Reverend. Aber hört mal, Lolla-Wossiky. Dieser Mann hier, das ist der Reverend Philadelphia Thrower, und er ist ein Geistlicher des Herrn Jesus Christus, also solltet Ihr in seiner Gegenwart schlechte Ausdrücke vermeiden.«

Lolla-Wossiky hatte nicht die leiseste Vorstellung, was ein Geistlicher war — in Carthage City gab es so etwas nicht. Er konnte sich nur vorstellen, daß ein Geistlicher eine Art Gouverneur war, nur netter.

»Werdet Ihr in diesem großen Haus wohnen?«

»Hier wohnen?« fragte Thrower. »Oh, nein. Das ist das Haus des Herrn.«

»Wessen Haus?«

»Des Herrn Jesus Christus.«

Lolla-Wossiky hatte von Jesus Christus gehört. Weiße Männer sprachen den Namen ständig aus, vor allem dann, wenn sie wütend waren oder logen. »Sehr zorniger Mann«, meinte Lolla-Wossiky. »Er wohnt hier?«

»Jesus Christus ist ein liebevoller und alles verzeihender Herr«, widersprach Reverend Thrower. »Nein, er wird nicht hier wohnen, wie ein weißer Mann in seinem Haus wohnt. Aber wenn gute Christen zum Gottesdienst wollen — um zu singen und das Wort des Herrn zu vernehmen —, dann versammeln wir uns an diesem Ort. Das ist eine Kirche. Das heißt, es wird einmal eine werden.«

»Jesus Christus spricht hier?« Lolla-Wossiky dachte, daß es interessant sein könnte, diesem wichtigen weißen Mann einmal von Angesicht zu Angesicht zu begegnen.

»Oh, nein, nicht persönlich. Ich spreche für ihn.«

Unten am Fluß des Hügels ertönte eine Frauenstimme. »Brustwehr! Brustwehr Weaver!«

Brustwehr-Gottes riß sich aus seinen Gedanken. »Das Abendessen ist fertig, und sie ruft schon. Kommt schon, Lolla-Wossiky. Betrunken oder nicht, wenn Ihr etwas zu essen wollt, könnt Ihr mitkommen und werdet etwas bekommen.«

»Ich hoffe, daß Ihr das tut«, sagte Reverend Thrower. »Und wenn wir mit dem Abendessen fertig sind, hoffe ich, Euch die Worte des Herrn Jesus näherbringen zu können.«

»Als allererstes«, sagte Lolla-Wossiky, »müßt Ihr versprechen, mich nicht einzusperren. Ich will nicht eingesperrt werden, ich muß mein Traumtier finden.«

»Wir werden Euch nicht einsperren. Ihr könnt mein Haus jederzeit verlassen.« Brustwehr-Gottes wandte sich an Reverend Thrower. »Da seht Ihr, was diese Roten von William Henry Harrison über die Weißen lernen. Branntwein und Gefängnis.«

»Was mich noch mehr bewegt, das ist sein heidnischer Glaube. Ein Traumtier! Sind Traumtiere für sie eine Art Götter?«

»Das Traumtier ist nicht Gott, es ist ein Tier, von dem sie träumen und das ihnen Dinge beibringt«, erklärte Brustwehr. »Sie ziehen immer auf eine lange Reise aus, bis sie den Traum erhalten, dann kommen sie wieder nach Hause. Das erklärt auch, was er hier zweihundert Meilen entfernt von den Hauptsiedlungen der Shaw-Nee am unteren My-Ammy zu suchen hat.«

»Traumtier ist wirklich«, sagte Lolla-Wossiky.

»Richtig«, meinte Brustwehr-Gottes. Aber Lolla-Wossiky merkte, daß er das nur sagte, um ihn nicht zu verletzen.

»Dieses arme Geschöpf bedarf ganz offensichtlich des Evangeliums Jesu«, meinte Thrower.

»Mir scheint, im Augenblick bedarf er wohl eher eines Abendessens. Mit vollem Bauch lernt sich das Evangelium am besten, meint Ihr nicht auch?«

Thrower gluckste. »Ich glaube zwar nicht, daß das irgendwo in der Bibel steht, Brustwehr-Gottes, aber ich möchte meinen, daß Ihr wohl recht habt.«

Brustwehr-Gottes stemmte die Hände in die Hüften und fragte Lolla-Wossiky wieder: »Kommt Ihr nun mit oder nicht?«

»Denke schon«, erwiderte Lolla-Wossiky.


Lolla-Wossikys Bauch war zwar voll, aber die Nahrung des weißen Mannes, weich und glatt und verkocht, grollte in seinem Inneren. Thrower redete und redete seltsame Worte. Die Geschichten waren zwar gut, doch Thrower sprach auch ständig über Erbsünde und Erlösung. Einmal, als Lolla-Wossiky glaubte, verstanden zu haben, sagte er: »Was für ein alberner Gott, läßt alle Menschen böse geboren werden, damit sie in Hölle kommen! Warum so verrückt! Alles seine Schuld!« Doch das erzürnte Thrower sehr, so daß er noch länger und noch schneller redete, bis Lolla-Wossiky seine eigenen Gedanken dazu lieber nicht mehr preisgab.

Das schwarze Geräusch kehrte zurück, lauter und lauter, je länger Thrower redete. Ließ die Wirkung des Whiskys nach? Das wäre aber sehr schnell gewesen. Und als Thrower einmal hinausging, um sich zu erleichtern, beruhigte sich das schwarze Geräusch wieder. Sehr seltsam — Lolla-Wossiky hatte noch nie bemerkt, daß jemand das schwarze Geräusch durch sein Kommen oder Gehen lauter oder leiser machen konnte.

Aber vielleicht lag das ja daran, daß er hier am Ort des Traumtiers war. Er wußte, daß es der Ort war, weil das weiße Licht ihn überall umgab, wenn er hinsah, und weil er nicht mehr sehen konnte, wohin er sonst hätte gehen sollen. Wundere dich nicht über Brücken, die das schwarze Geräusch leiser werden lassen, und über weiße Geistliche, die das schwarze Geräusch lauter machen. Wundere dich nicht über Brustwehr-Gottes mit seinem Erdgesicht, der einen roten Mann Nahrung gibt und keinen Branntwein verkauft.

Als Thrower draußen war, zeigte Brustwehr-Gottes ihm die Landkarte. »Das ist ein Bild von dem ganzen Land hier in der Gegend. Oben im Nordwesten ist der große See — die Kicky-Poo nennen ihn Fat Water. Und hier ist Fort Chicago, das ist ein Außenposten der Franzosen.«

»Franzosen. Einen Becher Whisky für einen weißen Skalp.«

»Ja, das ist im Augenblick der Preis«, meinte Brustwehr-Gottes. »Aber die Roten hier nehmen keine Skalps. Die betreiben ehrlichen Handel mit mir, und ich betreibe ehrlichen Handel mit ihnen. Und wir erschießen keine Roten, und sie töten dafür keine Weißen, um Beute zu machen. Versteht Ihr mich? Wenn Ihr durstig werdet, denkt über folgendes nach: Vor vier Jahren war hier draußen ein Whisky-Roter vom Stamme der Wee-Aw, der hat draußen im Wald einen kleinen Dänenjungen getötet. Aber glaubt Ihr, daß die Weißen ihn aufgespürt hätten? Wohl kaum; Ihr wißt genau, daß die Weißen keinen Roten in diesen Wäldern aufspüren können, schon gar nicht Farmer und Leute wie wir. Nein, es waren die Shaw-Nee und die Otty-Wa, die ihn zwei Stunden, nachdem man den Jungen vermißte, entdeckt hatten. Und meint Ihr etwa, daß die Weißen diesen Whisky-Roten bestraft hätten? O nein; sie haben diesen Wee-Aw auf den Boden gesetzt und ihn gefragt: ›Willst du dich als tapferer Krieger beweisen?‹ und als er ja sagte, haben sie sechs Stunden gebraucht, um ihn zu töten.«

»Sehr gütig«, meinte Lolla-Wossiky.

»Gütig? Das glaube ich kaum«, widersprach Brustwehr-Gottes.

»Wenn roter Mann weißen Jungen wegen Whisky tötet, lasse ich ihn nie zeigen, daß er tapferer Krieger ist. Er stirbt — pfui! Einfach so, schnell wie eine Klapperschlange, denn er ist kein Mann.«

»Ich muß schon sagen, daß ihr Roten eine seltsame Denkweise habt«, bemerkte Brustwehr. »Meint Ihr etwa, daß Ihr jemandem einen Gefallen tut, wenn Ihr ihn zu Tode foltert?«

»Nicht jemanden. Den Feind. Fängt man den Feind, und zeigt er vor dem Sterben, daß er ein tapferer Krieger ist, dann fliegt sein Geist zurück nach Hause. Erzählt seiner Mutter und seinen Schwestern, daß er tapfer gestorben ist, dann singen sie Lieder und klagen um ihn. Beweist er sich nicht als tapferer Krieger, dann fällt sein Geist flach auf den Boden und man tritt auf ihn, stampft ihn ein, er kehrt niemals mehr nach Hause, niemand erinnert sich an seinen Namen.«

»Es ist wirklich gut, daß Thrower gerade draußen ist, sonst würde er sich wohl in die Hosen machen, wenn er das gehört hätte.« Brustwehr blinzelte Lolla-Wossiky an. »Soll das heißen, daß sie diesen Wee-Aw, der den kleinen Jungen getötet hat, geehrt haben?«

»Sehr böse Sache, einen kleinen Jungen zu töten. Aber vielleicht weiß roter Mann über Whisky-Rote. Sehr durstig, ganz verrückt. Nicht wie Mann zu töten, um sein Haus zu nehmen oder seine Frau oder sein Land, wie weißer Mann es die ganze Zeit tut.«

»Ich muß schon sagen, je mehr ich über Rote erfahre, um so einleuchtender wird es. Ich schätze, ich sollte wohl jeden Abend noch länger in der Bibel lesen, sonst werde ich noch selbst zum Roten.«

Lolla-Wossiky lachte und lachte.

»Was ist daran so komisch?«

»Viele rote Männer werden zu Weißen und sterben dann. Aber nie wird ein weißer Mann zu einem Roten. Wenn ich diese Geschichte erzähle, werden alle lachen.«

»Ihr Roten habt einen Sinn für Humor, den ich einfach nicht verstehe.« Brustwehr klopfte mit der Hand auf die Landkarte. »Hier sind wir, unmittelbar flußabwärts von der Stelle, wo der Tippy-Canoe in den Wobbish fließt. Diese Punkte hier sind die Farmen der Weißen. Und die Kreise stellen die Dörfer der Roten dar. Das hier sind die Shaw-Nee, das hier die Winny-Baygo, versteht Ihr das?« Dann zeigte Brustwehr auf eine andere Stelle. »Hier unten ist Fort Carthage, das ist ein Viereck, weil es eine Stadt ist. Für uns habe ich auch ein Viereck eingetragen, obwohl wir eigentlich noch keine richtige Stadt sind. Wir nennen sie Vigor Church, wegen der Kirche, die wir gerade bauen.«

»Kirche ist das Gebäude. Aber warum Vigor?«

»Wegen der ersten Leute, die hier gesiedelt haben, die die Straße und die Brücken gebaut haben, die Familie Miller. Sie lebt ein Stückchen weiter oben hinter der Kirche. Meine Frau ist ihre älteste Tochter. Sie haben diesen Ort Vigor genannt, weil ihr Ältester so hieß. Der ist im Hatrack River in der Nähe von Suskwahenny auf dem Weg hierher ertrunken.«

»Eure Frau sehr hübsch«, meinte Lolla-Wossiky.

Es dauerte einige Momente, bevor Brustwehr etwas darauf erwidern konnte, so überrascht sah er aus. Und im hinteren Teil des Geschäfts, wo sie die Mahlzeit zu sich genommen hatten, mußte seine Frau Eleanor zugehört haben, denn plötzlich stand sie in der Tür.

»Mich hat noch nie jemand hübsch genannt«, sagte sie leise.

Lolla-Wossiky war verblüfft. Die meisten Frauen der Weißen hatten schmale Gesichter, keine Wangenknochen, eine kränklich wirkende Haut. Eleanor war dunkler, breitgesichtiger, mit hohen Wangenknochen.

»Ich finde auch, daß du hübsch bist«, meinte Brustwehr. »Das glaube ich wirklich.«

Lolla-Wossiky glaubte ihm nicht, und Eleanor auch nicht, obwohl sie lächelte und sich von der Tür abwandte. Er hatte sie nie für hübsch gehalten, soviel war klar. Und schon bald verstand Lolla-Wossiky warum. Sie war hübsch wie eine rote Frau. Daher hielten die weißen Männer, die sie nie richtig sahen, ihre Schönheit natürlich für Häßlichkeit.

Das bedeutete aber auch, daß Brustwehr-Gottes mit einer Frau verheiratet war, die er für häßlich hielt. Aber er schrie sie nicht an oder schlug sie, wie es ein roter Mann mit einer häßlichen Squaw getan hätte. Das war eine gute Sache, entschied Lolla-Wossiky.

»Ihr seid glücklich«, sagte er.

»Das liegt daran, daß wir Christen sind«, meinte Brustwehr-Gottes. »Ihr wärt auch glücklich, wenn Ihr Christ wärt.«

»Ich werde nie glücklich sein«, erwiderte Lolla-Wossiky. Eigentlich hatte er sagen wollen: Bevor ich wieder die grüne Stille höre, bevor das schwarze Geräusch weggegangen ist. Aber es hatte keinen Zweck, einem Weißen so etwas zu sagen, die wußten ja nicht, daß die meisten Sachen, die auf der Welt geschahen, für sie völlig unsichtbar waren.

»Doch, das werdet Ihr«, widersprach Thrower. Und energisch schritt er in die Zimmermitte, bereit, diesen Heiden auf den richtigen Weg zu führen. »Wenn Ihr Jesus Christus als Euren Erlöser annehmt, werdet Ihr das wahre Glück finden.«

Das war ein Versprechen, dem es sich lohnte nachzugehen. Ein guter Grund auch, um über diesen Jesus Christus zu sprechen. Vielleicht war Jesus Christus ja Lolla-Wossikys Traumtier. Vielleicht würde er dafür sorgen, daß das schwarze Geräusch verschwand, so daß Lolla-Wossiky wieder so glücklich war, wie er es gewesen war, bevor der weiße Mörder Harrison mit dem schwarzen Geräusch aus seiner Gewehrmündung die Welt gesprengt hatte.

»Jesus Christus weckt mich auf? Macht mich glücklich?« fragte Lolla-Wossiky.

»Ewige Freude im Schöße des Himmlischen Vaters«, erwiderte Thrower.

Das verstand Lolla-Wossiky zwar nicht, aber er entschied, trotzdem weiterzumachen, vielleicht würde er ja aufwachen und danach verstehen, was Thrower meinte. Auch wenn Thrower das schwarze Geräusch lauter werden ließ, konnte er vielleicht doch ein Heilmittel dagegen besitzen.

Also verbrachte Lolla-Wossiky diese Nacht draußen im Wald, nahm am Morgen seine vier Schlucke Whisky zu sich und taumelte zur Kirche hinauf. Thrower war verärgert darüber, daß Lolla-Wossiky betrunken war, und Brustwehr wollte wieder wissen, wer ihm den Branntwein gegeben hatte. Da all die anderen Männer, die mit dem Bau der Kirche beschäftigt waren, sich versammelt hatten, hielt Brustwehr eine Rede voller Drohungen. »Wenn ich herausbekomme, wer diesen Roten mit Branntwein versorgt… Ich schwöre, daß ich sein Haus niederbrennen und ihn zu Harrison unten am Hio verjagen werde. Wir hier oben sind Christenmenschen. Ich kann euch zwar nicht daran hindern, in euren Häusern diese ganzen Zauber aufzuhängen und Beschwörungen durchzuführen, auch wenn sie einen Mangel an Glauben an den Herrn beweisen, aber mit Sicherheit kann ich euch daran hindern, die Menschen zu vergiften, die der Herr in dieses Land geführt hat. Habt ihr mich verstanden?«

Alle Weißen nickten und sagten ja und das sei schon in Ordnung.

»Niemand hier hat mir Whisky gegeben«, sagte Lolla-Wossiky.

»Vielleicht hat er ja einen Becher voll mitgebracht!« meinte einer der Männer.

»Vielleicht hat er auch eine Destille im Wald!« rief ein anderer.

Alle lachten.

»Bitte bleibt andächtig«, warf Thrower ein. »Dieser Heide hier nimmt den Herrn Jesus Christus an. Er wird mit dem Wasser der Taufe benetzt werden, wie es Jesus selbst wurde. Möge dieses Zeichen der Anfang großer Missionsarbeit unter den roten Menschen des amerikanischen Waldes sein!«

Amen, murmelten die Männer.

Nun, das Wasser war kalt, und das war auch so ziemlich alles, was Lolla-Wossiky bemerkte, nur daß das schwarze Geräusch immer lauter wurde, als Thrower es auf ihn sprenkelte. Jesus Christus erschien nirgendwo, also war er doch nicht das Traumtier. Lolla-Wossiky war enttäuscht.

Reverend Thrower aber war es nicht. Das war das seltsame am weißen Mann. Er schien nie zu bemerken, was um ihn herum geschah. Da hatte Thrower nun eine Taufe durchgeführt, die nicht das geringste bewirkt hatte, doch er stolzierte den ganzen Tag herum, als hätte er soeben mitten im Winter einen Büffel in sein hungerndes Dorf gelockt.

Brustwehr-Gottes verhielt sich genauso blind. Als Eleanor den Arbeitern auf dem Hügel das Mittagessen brachte, durfte Lolla-Wossiky mit ihnen zusammen essen. »Können ja wohl schlecht einen Christen abweisen, nicht?« fragte einer. Aber keiner von ihnen wollte allzu gern neben Lolla-Wossiky sitzen, wahrscheinlich weil er nach Branntwein stank und nach Schweiß, und weil er immer torkelte, wenn er ging. Und so saß schließlich Brustwehr-Gottes mit Lolla-Wossiky abseits von den anderen, und sie sprachen über dieses und jenes.

Bis Lolla-Wossiky ihn fragte: »Jesus Christus, der mag keine Zauber?«

»Das stimmt. Er ist selbst der Weg, und all diese Beschwörungen sind Blasphemie.«

Lolla-Wossiky nickte ernst. »Gemalter Zauber nützt nichts. Farbe war nie lebendig.«

»Gemalt, geschnitzt, das ist doch alles das gleiche.«

»Hölzerner Zauber ein bißchen stärker. Baum war mal lebendig.«

»Das ist mir gleich, ob er aus Holz ist oder aufgemalt. In meinem Haus dulde ich jedenfalls keine Zauber. Keine Beschwörungen, keine Fetschesie, keine Abwehrmagie, überhaupt nichts dergleichen. Ein guter Christ verläßt sich auf das Gebet, und das genügt auch. Der Herr ist mein Hirte, mir soll es an nichts mangeln.«

Da erkannte Lolla-Wossiky, daß Brustwehr-Gottes ebenso blind war wie Thrower. Denn das Haus von Brustwehr-Gottes war das am stärksten mit Zauber geschützte Haus, das Lolla-Wossiky jemals gesehen hatte. Ja, das war auch einer der Gründe, weshalb Brustwehr ihn beeindruckt hatte, denn er schien genug zu wissen, um seine Zauber aus lebenden Dingen herzustellen. Lebende Pflanzen, die auf bestimmte Weise auf der Veranda angeordnet waren, lebendige Keime, die in sorgfältig arrangierten Gläsern lagen, Knoblauch, Beerensaftflecken, alles so kraftvoll angeordnet, daß Lolla-Wossiky sogar trotz des Branntweins den Zauber spürte. Und doch wußte Brustwehr-Gottes nicht einmal, daß sein Haus überhaupt irgendwelche Zauber besaß. »Meine Frau Eleanor, deren Familie hat schon immer Zauber besessen. Ihr kleiner Bruder Al Junior, das ist der Sechsjährige, der dort hinten mit dem blonden Schwedenjungen ringt — seht Ihr ihn? Das ist ein richtiger Zauberschnitzer, sagt man.«

Lolla-Wossiky sah zu dem Jungen hinüber, konnte ihn aber nicht genau erkennen. Zwar sah er den blondhaarigen Jungen, mit dem er gerade raufte, aber die Umrisse des anderen wurden einfach nicht deutlich, und er wußte auch nicht warum.

Brustwehr redete immer noch. »Ist das nicht scheußlich? So jung, und schon wird er von Jesus Christus fortgeführt.

Jedenfalls ist es Eleanor wirklich schwergefallen, diese ganze Zauberei aufzugeben. Aber sie hat es getan. Sie hat es mir feierlich versprochen, sonst hätten wir auch nie geheiratet.«

In diesem Augenblick kam Eleanor, die schöne Frau, die die weißen Männer für häßlich hielten, zu ihnen, um den Eßkorb wieder abzuholen. Sie hörte die letzten Sätze ihres Mannes, ließ sich aber nicht anmerken, daß sie ihr etwas bedeuteten. Doch als sie Lolla-Wossikys Schale entgegennahm und ihm in die Augen sah, da hatte er das Gefühl, als würde sie ihn fragen. Hast du diesen Zauber gesehen?

Lolla lächelte sie an, sein gewaltigstes Lächeln, damit sie wußte, daß er nicht vorhatte, ihrem Mann etwas davon zu erzählen.

Sie erwiderte sein Lächeln, zögernd, mißtrauisch. »Hat Euch das Essen geschmeckt?« fragte sie.

»Alles zu verkocht«, meinte Lolla-Wossiky. »Blutgeschmack ganz weg.«

Ihre Augen weiteten sich. Brustwehr lachte nur und schlug Lolla-Wossiky auf die Schulter. »Nun, so ist das eben, wenn man zivilisiert ist. Dann trinkt man kein Blut mehr. Ich hoffe, daß Eure Taufe Euch auf den rechten Weg führt — es ist ganz offensichtlich, daß Ihr schon lange auf dem falschen wart.«

»Ich habe mich schon gefragt…«, sagte Eleanor — und dann hielt sie inne, sah zuerst auf Lolla-Wossikys Lendenschurz und blickte dann ihren Mann an.

»Ach ja, darüber haben wir gestern abend noch gesprochen. Ich habe ein paar alte Hosen und ein Hemd, das ich nicht mehr anziehe, und Eleanor macht mir sowieso neue Kleider, da dachte ich mir, daß Ihr nun, da Ihr ja getauft seid, Euch wirklich endlich mal wie ein Christ kleiden solltet.«

»Sehr heißer Tag«, meinte Lolla-Wossiky.

»Ja, nun, Christen halten eben etwas von züchtiger Bekleidung, Lolla-Wossiky.« Brustwehr lachte und schlug ihm erneut auf die Schulter.

»Ich kann die Kleider heute nachmittag herbringen«, sagte Eleanor.

Lolla-Wossiky hielt das für einen sehr dummen Gedanken. Rote Männer sahen immer lächerlich aus, wenn sie in der Kleidung der Weißen steckten. Aber er wollte nicht widersprechen, weil sie versuchten, sehr freundlich zu ihm zu sein. Und vielleicht würde die Taufe ja doch noch funktionieren, wenn er die Kleider des weißen Mannes anzog. Vielleicht würde dann das schwarze Geräusch verschwinden.

Also antwortete er nicht. Statt dessen sah er zu der Stelle hinüber, wo der blonde Junge in Kreisen umherlief und dabei rief: »Alvin! Ally!« Lolla-Wossiky bemühte sich sehr, den Jungen zu erkennen, den der andere verfolgte. Er sah einen Fuß, der den Boden berührte und Staub aufwirbelte, eine Hand, die durch die Luft fuhr, doch den Jungen selbst erblickte er nie so richtig. Sehr seltsam.

Eleanor wartete auf seine Antwort. Lolla-Wossiky sagte nichts, da er gerade den Jungen beobachtete, der gar nicht da war. Schließlich lachte Brustwehr-Gottes laut auf und sagte: »Bring uns ruhig die Kleider, Eleanor. Wir werden ihn schon wie einen Christen anziehen, und vielleicht kann er uns morgen beim Kirchenbau helfen, kann damit beginnen, ein christliches Handwerk zu erlernen. Dann geben wir ihm mal eine Säge in die Hand.«

Lolla-Wossiky hörte den letzten Satz nicht, sonst wäre er vielleicht sofort in den Wäldern verschwunden. Er hatte gesehen, was mit den roten Männern geschah, die damit begannen, die Werkzeuge des Weißen zu benutzen. Wie es ihre Verbindung zum Land abschnitt, Stück um Stück, jedesmal, wenn sie dieses Metall aufnahmen. Sogar Gewehre. Wenn ein roter Mann damit begann, mit Gewehren zu jagen, dann war er schon ein halber Weißer geworden, sobald er das erste Mal den Abzug betätigte; das einzige, wofür ein roter Mann ein Gewehr benutzen konnte, war, um weiße Männer zu töten, pflegte Ta-Kumsaw immer zu sagen, und er hatte recht. Doch Lolla-Wossiky hörte Brustwehr gar nicht, weil er soeben eine höchst bemerkenswerte Entdeckung gemacht hatte. Wenn er sein gesundes Auge schloß, konnte er den Jungen nämlich sehen. Genau wie den einäugigen Bären im Fluß. Öffnete er das heile Auge wieder, sah er nur den blonden Jungen, der hinter dem anderen herjagte und schrie, aber keinen Alvin Miller Junior. Wenn er es schloß, war da nichts als das schwarze Geräusch und die Spuren des Grün — und dann, direkt in der Mitte, war da der Junge, hell und leuchtend von einem Licht, als trüge er eine Sonne in seiner Gesäßtasche, lachend und spielend, mit einer Stimme, die wie Musik klang.

Und dann sah er ihn überhaupt nicht mehr.

Lolla-Wossiky öffnete das Auge. Da stand Reverend Thrower. Brustwehr und Eleanor waren fort — alle Männer hatten sich wieder an den Kirchenbau gemacht. Soviel war klar — es war Thrower, der den Jungen hatte verschwinden lassen. Vielleicht aber auch nicht, denn nun, da Thrower neben ihm stand, konnte Lolla-Wossiky den Jungen mit seinem gesunden Auge sehen. Genau wie jedes andere Kind.

»Lolla-Wossiky, mir ist eingefallen, daß Ihr wirklich einen christlichen Namen annehmen solltet. Ich habe noch nie einen roten Mann getauft, daher habe ich ohne nachzudenken Euren unzivilisierten Namen benutzt. Ihr solltet einen neuen Namen annehmen, einen christlichen Namen. Nicht unbedingt den Namen eines Heiligen — wir sind schließlich keine Papisten —, aber einen, der Eure Verpflichtung gegenüber Christus dokumentiert.«

Lolla-Wossiky nickte. Er wußte, daß er einen neuen Namen brauchen würde, wenn die Taufe überhaupt wirksam werden sollte. Wenn er erst seinem Traumtier begegnet und nach Hause zurückgekehrt war, würde er einen neuen Namen bekommen. Das versuchte er Thrower zu erklären, doch der weiße Prediger verstand ihn nicht richtig. Doch endlich begriff er, daß Lolla-Wossiky einen neuen Namen haben wollte, und zwar möglichst bald, was ihn wieder besänftigte.

»Da wir schon gerade hier sind«, warf Thrower ein, »würde ich ganz gern einmal Euren Kopf untersuchen. Ich arbeite nämlich daran, ein paar Grundklassifikationen der noch jungen Wissenschaft der Phrenologie zu entwickeln. Dahinter steht die Annahme, daß bestimmte Talente und Eigenschaften der menschlichen Seele sich in Höckern und Mulden des menschlichen Schädels widerspiegeln oder von diesen vielleicht sogar verursacht werden.«

Lolla-Wossiky hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon Thrower da sprach, daher nickte er nur stumm. Das funktionierte normalerweise gut bei Weißen, die Unfug redeten, und Thrower war keine Ausnahme. Und so endete es damit, daß Thrower Lolla-Wossikys Kopf überall befühlte, gelegentlich aufhörte, um auf einem Stück Papier Notizen und Skizzen zu machen, und Dinge murmelte wie: »Interessant«, »ha« und »Na, diese Theorie hätten wir widerlegt.« Als alles vorbei war, bedankte sich Thrower bei ihm. »Ihr habt der Wissenschaft einen großen Dienst erwiesen, Mr. Wossiky. Ihr seid ein lebender Beweis dafür, daß der rote Mann nicht unbedingt die Höcker der Wildheit und des Kannibalismus aufweisen muß. Statt dessen besitzt Ihr eine ganz normale Reihe von Fähigkeiten und Mängeln, wie sie jeder Mensch hat. Rote Männer sind nicht grundlegend verschieden von weißen Männern, zumindest nicht auf irgendeine leicht kategorisierbare Weise. Tatsächlich weist Ihr alle Anzeichen eines bemerkenswerten Redners auf, mit einem hochentwickelten Sinn für Religion. Es ist kein Zufall, daß Ihr der erste rote Mann seid, der in meiner Pfarrei hier in Amerika das Evangelium annimmt. Ich muß sagen, daß Euer phrenologisches Muster große Ähnlichkeit mit meinem eigenen aufweist. Kurzum, mein lieber, neugetaufter Christ, es würde mich nicht überraschen, wenn Ihr einmal selbst zu einem Missionar des Evangeliums werden würdet. Wenn Ihr zu großen Scharen roter Männer und Frauen sprecht und ihnen das Verständnis des Himmels nahebrächtet. Denkt einmal über diese Vision nach, Mr. Wossiky. Wenn ich mich nicht irre, dürfte das Eure Zukunft sein.«

Lolla-Wossiky verstand kaum, was Thrower sagte. Irgend etwas über ihn als Prediger. Irgend etwas über Zukunftsschau. Lolla-Wossiky versuchte, darin einen Sinn zu erkennen, doch es gelang ihm nicht.

Bis zum Nachteinbruch hatte man Lolla-Wossiky in die Kleider des weißen Mannes gehüllt, und nun sah er aus wie Narr. Sein Branntwein hatte seine Wirkung verloren, und er hatte keine Gelegenheit gehabt, schnell in den Wald zu huschen, um sich seine vier Schlucke zu holen, daher war das schwarze Geräusch sehr schlimm. Was noch schlimmer war — es sah so aus, als würde es in der Nacht regnen, so daß er mit seinem gesunden Auge nichts würde sehen können, und so schlimm, wie das schwarze Geräusch jetzt war, würde sein Landsinn ihn auch nicht mehr zu dem Faß führen.

So taumelte er noch schlimmer, als hätte er Branntwein getrunken, so sehr wogte und bebte der Boden unter ihm. Beim Versuch, an Brustwehrs Eßtisch vom Stuhl aufzustehen, stürzte er zu Boden. Eleanor beharrte darauf, daß er die Nacht im Haus verbringen solle. »Wir können ihn doch nicht im Wald schlafen lassen, nicht im Regen«, sagte sie, und wie um ihre Worte zu unterstreichen, ertönte plötzlich ein Donnerschlag und der Regen begann auf Dach und Mauern zu prasseln. Eleanor bereitete ihm ein Bett auf dem Küchenboden, während Thrower und Brustwehr im Haus umhergingen, um die Fensterläden zu schließen. Dankbar kroch Lolla-Wossiky ins Bett, ja, er zog nicht einmal die steife, unbequeme Hose und das Hemd aus, legte sich mit geschlossenen Augen nieder, versuchte, das Stechen im Kopf zu ertragen, den Schmerz des schwarzen Geräusches, das sein Gehirn wie ein Messer Scheibe um Scheibe zerschnitt.

Wie üblich glaubten sie, daß er schliefe.

»Er wirkt betrunkener als heute morgen«, meinte Thrower.

»Ich weiß genau, daß er den Hügel nicht verlassen hat«, antwortete Brustwehr. »Er kann unmöglich irgendwo etwas zu trinken bekommen haben.«

»Ich habe einmal gehört, daß ein Betrunkener, wenn er nüchtern wird«, warf Thrower ein, »sich zu Anfang betrunkener benimmt, als wenn er Alkohol in sich hätte.«

»Ich hoffe, daß das alles ist«, erwiderte Brustwehr.

»Ich vermute, daß die Taufe heute für ihn etwas enttäuschend war«, bemerkte Thrower. »Natürlich ist es unmöglich, sich in einen Wilden hineinzufühlen, aber…«

»Ich würde ihn keinen Wilden nennen, Reverend Thrower«, widersprach Eleanor. »Ich glaube, daß er auf seine Weise durchaus zivilisiert ist.«

»Ebensogut könntet Ihr auch einen Dachs zivilisiert heißen«, konterte Thrower. »Zumindest auf seine Weise.«

»Ich will damit sagen«, sagte Eleanor, und ihre Stimme klang noch leiser und milder, darum aber um so gewichtiger, »daß ich gesehen habe, wie er gelesen hat.«

»Ihr meint, er hat Seiten umgeblättert«, sagte Thrower. »Er kann unmöglich gelesen haben.«

»Nein. Er hat gelesen, und seine Lippen haben dabei die Worte geformt«, widersprach sie. »Die Schilder an der Wand im vorderen Raum, wo wir die Kunden bedienen. Er hat die Worte gelesen.«

»Das ist durchaus möglich«, warf Brustwehr ein. »Ich weiß zum Beispiel genau, daß die Irrakwa genauso gut lesen wie jeder Weiße. Ich war häufig geschäftlich bei ihnen, und eins könnt Ihr mir glauben: Das Kleingedruckte ihrer Verträge darf man nicht außer acht lassen. Die Roten können durchaus das Lesen lernen, soviel ist sicher.«

»Aber dieser hier, dieser Betrunkene…«

»Wer weiß denn schon, was aus ihm werden könnte, wenn er keinen Branntwein in sich hätte?« fragte Eleanor.

Dann gingen sie fort, und Lolla-Wossiky versuchte, sich das Gehörte zusammenzureimen. Die Taufe hatte ihn nicht aus seinem Traum erweckt. Die Kleidung des weißen Mannes auch nicht. Vielleicht würde es dadurch geschehen, daß er eine Nacht lang keinen Branntwein trank, wie Eleanor gemeint hatte, obwohl der Schmerz ihn schier verrückt machte, so daß er nicht schlafen konnte.

Was immer auch geschehen mochte, auf jeden Fall wußte er, daß das Traumtier ihn irgendwo hier in der Nähe erwartete. Dies war für Lolla-Wossiky der Platz des Erwachens. Eins war sicher: Er würde keine weitere Nacht ohne Whisky verbringen. Nicht, solange er oben in einem Baum ein Faß verstaut hatte, das sein schwarzes Geräusch vertreiben und ihn schlafen machen konnte.


Lolla-Wossiky streunte durch den ganzen Wald. Er bekam viele Tiere zu sehen, doch alle rannten sie vor ihm weg; er war entweder so betrunken oder so sehr vom schwarzen Geräusch benommen, daß er niemals Teil des Landes war, so daß sie vor ihm flohen, als wäre er ein Weißer.

Entmutigt begann er, mehr als vier Schlucke zu sich zu nehmen, obwohl er genau wußte, daß sein Whiskyvorrat dann viel zu schnell zur Neige gehen würde. Immer seltener durchstreifte er den Wald und schlenderte statt dessen die Pfade und Wege des weißen Mannes entlang, tauchte bei hellichtem Tag auf Gehöften auf. Die Frauen schrien manchmal und rannten davon, einen Säugling im Arm, andere Kinder in den Wald führend. Andere wiederum richteten Gewehre auf ihn und verjagten ihn. Manche speisten ihn und sprachen von Jesus Christus. Schließlich forderte Brustwehr-Gottes ihn dazu auf, die Farmen nicht aufzusuchen, solange die Männer an der Kirche arbeiteten und nicht zu Hause waren.

So hatte Lolla-Wossiky nichts mehr zu tun. Er wußte, daß das Traumtier nahe war, doch er konnte es nicht ausfindig machen. Also legte er sich auf die Gemeindewiese, schlief betrunken ein oder versuchte, den Schmerz des schwarzen Geräusches zu ertragen.

Manchmal nahm er seine Kräfte zusammen und stieg den Hügel hinauf, um den Männern bei der Arbeit zuzusehen. Immer, wenn er dort erschien, pflegte einer der Männer zu rufen: »Da kommt der rote Christ!« und Lolla-Wossiky wußte, daß Bösartigkeit und Spott aus diesen Stimmen sprachen.

Am Tag, als der Dachbalken stürzte, war er nicht an der Kirche. Er schlief gerade auf der Gemeindewiese, in der Nähe der Veranda von Brustwehrs Haus, als er den Aufprall hörte. Erschrocken erwachte er, und das schwarze Geräusch kehrte schärfer denn je zu ihm zurück, obwohl er an diesem Morgen acht Schlucke Whisky getrunken hatte und eigentlich bis zum Mittag hätte betrunken sein müssen. Er lag da und hielt sich den Kopf, bis die Männer den Hügel herunterkamen und sich fluchend und murrend über das seltsame Ereignis unterhielten.

»Was ist geschehen?« fragte Lolla-Wossiky. Er mußte es unbedingt wissen, denn was immer es sein mochte, es hatte das schwarze Geräusch schlimmer gemacht denn je. »Ist jemand umgekommen?« Er wußte, daß das schwarze Geräusch ursprünglich von einem Gewehrschuß ausgelöst worden war. »Hat der weiße Mörder Harrison jemanden erschossen?«

Zuerst beachteten sie ihn nicht, weil sie ihn natürlich für betrunken hielten. Doch schließlich erzählte ihm jemand, was vorgefallen war.

Sie hatten gerade den ersten Dachbalken aufgelegt, hoch oben auf dem Gebäude, als der mittlere Stützpfahl zu zittern begonnen und den Balken hoch in die Luft geschleudert hatte. »Glatt heruntergefallen ist er, wie der Fuß Gottes, der auf die Erde stampft, und der kleine Alvin Junior, der Junge von Al Miller, stand direkt unter dem Balken. Na, wir haben geglaubt, daß er tot wäre. Der Junge ist einfach dagestanden, der Balken ist voll auf ihn herabgestürzt, aber das glaubt Ihr nicht: Der Dachbalken ist einfach entzweigebrochen, genau an der Stelle, wo Alvin stand, in zwei Teile, die rechts und links von ihm auf den Boden prallten, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen!«

»Merkwürdig, dieser Junge«, meinte ein Mann.

»Der hat einen Schutzengel, das ist es«, meinte ein anderer.

Alvin Junior. Der Junge, den er nicht mit offenem Auge sehen konnte.

Als Lolla-Wossiky zur Kirche kam, war niemand mehr da. Auch der Dachbalken war verschwunden, man hatte alle Spuren des Unfalls beseitigt. Doch Lolla-Wossiky sah auch nicht mit seinem gesunden Auge hin. Er konnte es spüren, als er in die Nähe der Kirche gekommen war. Ein Strudel, der an den Rändern zwar nicht sehr schnell war, dafür aber immer stärker und stärker wurde, je näher er ihm kam. Ein Wirbelwind aus Licht, und je mehr er sich ihm näherte, um so schwächer wurde das schwarze Geräusch. Bis er schließlich auf dem Boden der Kirche stand, an der Stelle, von der er wußte, daß hier der Junge gestanden hatte. Woher wußte er das? Das schwarze Geräusch war leiser geworden. Nicht verschwunden, der Schmerz war nicht geheilt, aber Lolla-Wossiky konnte das grüne Land wieder spüren, nur ein wenig, nicht so wie früher, aber konnte die Kleinlebewesen unter dem Boden spüren, ein Eichhörnchen, nicht weit entfernt auf der Weide, Dinge, die er in all den Jahren, seit das Gewehr ihm das schwarze Geräusch in den Kopf getrieben hatte, weder in nüchternem noch im betrunkenen Zustand hatte wahrnehmen können.

Lolla-Wossiky drehte und drehte sich um die eigene Achse, ohne etwas anderes zu sehen als die Wände der Kirche. Bis er das Auge schloß. Dann erblickte er den Wirbelwind; ja, weißes Licht, das sich immer und immer wieder um ihn drehte, während das schwarze Geräusch zurückwich. Nun war er am Ende seines eigenen Traums angelangt. Und er konnte mit geschlossenem Auge sehen, konnte deutlich sehen. Vor ihm lag ein leuchtender Pfad, ein Weg, so hell wie der Mittagshimmel, blendend wie Weidenschnee an einem klaren Tag. Ohne das Auge zu öffnen, wußte er bereits, wohin der Weg fuhren würde. Den Hügel hinauf, auf der anderen Seite hinunter, einen noch höheren Berg empor, einem Haus unweit eines Stromes entgegen, einem Haus, wo ein weißer Junge lebte, der für Lolla-Wossiky nur sichtbar war, wenn er sein Auge geschlossen hielt.


Nun, da das schwarze Geräusch ein wenig zurückgewichen war, konnte er sich wieder lautlos bewegen. Er ging um das Haus herum, immer und immer wieder. Niemand hörte ihn. Im Inneren des Hauses: Gelächter, Rufe, Geschrei. Glückliche Kinder, zankende Kinder. Strenge Elternstimmen. Bis auf die andere Sprache hätte es sein eigenes Dorf sein können. Seine eigenen Schwestern und Brüder in jenen glücklichen Tagen, bevor der weiße Mörder Harrison seinen Vater getötet hatte.

Der weiße Vater, Alvin Miller, trat hinaus, um zum Abort zu gehen. Kurz danach kam der Junge selbst, lief, als würde er sich fürchten. Er schrie auf die Tür des Aborts ein. Mit offenem Auge sah Lolla-Wossiky nur, daß dort irgend jemand stand und schrie. Mit geschlossenem Auge jedoch erblickte er den Jungen, und vernahm seine Stimme wie Vogelgesang über einem Fluß, alles Musik, auch wenn das, was er sagte, albern war, töricht, eben das Gerede eines Kindes.

»Wenn du nicht sofort rauskommst, dann mache ich hier vor die Tür, dann trittst du hinein, wenn du rauskommst!«

Und dann Schweigen, während der Junge immer unruhiger wurde, sich mit der Faust plötzlich gegen den Kopf schlug, als wollte er sagen: Dumm, dumm, dumm. Irgend etwas veränderte sich in Al Juniors Miene; Lolla-Wossiky öffnete das Auge und sah, daß der Vater herausgekommen war und etwas sagte.

Der Junge antwortete ihm beschämt. Der Vater berichtigte ihn. Lolla-Wossiky schloß das Auge.

»Jawohl, Herr Papa.«

Wieder mußte der Vater etwas sagen, doch mit geschlossenem Auge konnte Lolla-Wossiky ihn nicht hören.

»Tut mir leid, Papa.«

Dann mußte der Vater fortgegangen sein, denn nun betrat der kleine Alvin das Örtchen. Brummend, doch so leise, daß keiner ihn hören konnte. Außer Lolla-Wossiky. »Na ja, wenn du einfach noch ein zweites Örtchen bauen würdest, hätte ich keine Schwierigkeiten.«

Lolla-Wossiky lachte. Törichter Junge, törichter Vater, wie alle Jungen, wie alle Väter.

Und wieder sah er das weiße Licht sich sammeln, im Inneren des Hauses, dem Jungen die Treppe hinauffolgend. Für Lolla-Wossiky gab es keine Wände und Mauern. Er sah, daß der Junge sich sehr vorsichtig verhielt, als hielte er Ausschau nach irgendeinem Feind, als rechnete er mit einem Angriff. Als er ins Schlafzimmer kam, huschte er hinein, schloß schnell die Tür hinter sich. Lolla-Wossiky sah ihn so deutlich, daß er beinahe meinte, seine Gedanken zu hören; und dann, weil er es dachte und weil beinahe schon die Zeit seines Erwachens war, hörte er die Gedanken des Jungen tatsächlich, oder zumindest spürte er seine Gefühle. Er fürchtete sich vor seinen Schwestern. Ein törichter Streit, der mit Neckereien angefangen hatte, aber inzwischen bösartig geworden war — er fürchtete sich vor ihrer Rache.

Und die Rache kam, als er seine Kleidung auszog und sich das Nachthemd über den Kopf streifte. Stechen! Insekten, dachte der Junge. Spinnen, Skorpione, winzige Schlangen! Er riß das Nachthemd ab, schlug auf seine eigene Haut ein, schrie auf vor Schmerz und Furcht.

Doch Lolla-Wossiky spürte das Land gut genug, um zu wissen, daß es dort keine Insekten gab. Nicht an seinem Körper, nicht im Nachthemd. Obwohl es viele Lebewesen im Zimmer gab. Küchenschaben, die zu Hunderten in den Wänden und unter dem Boden lebten.

Doch nicht in allen Wänden und Böden. Nur in Alvin Juniors Raum. Alle versammelten sich dort.

Aus Feindschaft? Doch Küchenschaben waren zu klein für den Haß. Diese kleinen Kreaturen kannten nur drei Gefühle: Angst, Hunger und das dritte Gespür, das Landgespür. Das Vertrauen darin, wie die Dinge zu sein hatten. Fütterte der Junge sie etwa? Nein, sie kamen aus einem anderen Grund zu ihm. Lolla-Wossiky konnte es kaum glauben, doch er spürte es in den Küchenschaben und konnte nicht daran zweifeln. Der Junge hatte sie irgendwie gerufen. Der Junge besaß das Landgespür, zumindest genug davon, um diese kleinen Kreaturen zu rufen.

Doch wozu? Wer wollte schon Küchenschaben bei sich haben? Aber er war ja nur ein Junge. Es mußte keinen Sinn ergeben. Einfach nur die Entdeckung, daß das kleine Leben kam, wenn man es rief. Rote Jungen lernten dies, doch stets von ihrem Vater und stets auf ihrer ersten Jagd. Niederknien und stumm zu dem Leben sprechen, das man nehmen mußte, und es fragen, ob dies eine gute Zeit sei und ob es bereit sei, zu sterben, um dein Leben stärker zu machen. Ist es Zeit für dich zu sterben? fragte der rote Junge. Und wenn das Leben einwilligte, kam es auch zu ihnen.

Das hatte der Junge getan. Nur daß es nicht so einfach gewesen war. Er hatte die Küchenschaben nicht gerufen, damit sie zur Erfüllung seiner Bedürfnisse starben, denn er besaß keine Bedürfnisse. Nein, er hatte sie gerufen und in Sicherheit gehalten. Er beschützte sie und hatte mit ihnen eine Abmachung getroffen. Es gab bestimmte Stellen, von denen die Schaben sich fernhielten. Von Alvins Bett. Von der Wiege seines kleinen Bruders Calvin. Von Alvins Kleidung, die zusammengefaltet auf dem Schemel lag. Und als Gegenleistung tötete Alvin sie nie. In seinem Zimmer waren sie sicher. Es war ein Zufluchtsort, ein Unterschlupf. Eine sehr törichte Sache; ein Kind, das mit Dingen spielte, die es nicht verstand.

Erstaunlich aber war, daß es sich um einen weißen Jungen handelte, der etwas tat, was nicht einmal ein Roter vermochte. Wann sagte der rote Mann jemals zum Bären: Komm und wohne bei mir, und ich werde dich beschützen? Wann glaubte der Bär so etwas jemals? Kein Wunder, daß das Licht sich um diesen Jungen bündelte! Das war etwas anderes als die törichten Zauber des weißen Mannes Hooch. Dies war auch nicht die Fähigkeit des roten Mannes, sich ins Gefüge des Landes einzupassen. Nein, Alvin paßte sich an nichts an. Vielmehr paßte sich das Land an ihn an. Wenn er wollte, daß die Schaben auf bestimmte Weise lebten, wenn er einen Handel mit ihnen abschließen wollte, dann ordnete sich das Land eben entsprechend. An diesem kleinen Ort hatte Alvin Junior über diese Zeit und über diese winzigen Wesen befohlen, und das Land hatte gehorcht.

Begriff der Junge überhaupt, wie wunderbar das war?

Nein, er hatte davon nicht die leiseste Ahnung. Woher sollte er es auch wissen? Welcher weiße Mann könnte so etwas auch nur verstehen?

Und nun, weil er es nicht verstand, zerstörte Alvin Junior die empfindliche Sache, die er erschaffen hatte. Die Insekten, die ihn gestochen hatten, waren Metallnadeln, von seinen Schwestern ins Nachthemd eingeschmuggelt. Nun hörte er sie hinter ihrer Wand lachen. Und weil er sehr viel Angst gehabt hatte, wurde er nun auch sehr wütend.

Heimzahlen, es ihnen heimzahlen; Lolla-Wossiky spürte den kindlichen Zorn. Er hatte nur etwas Unbedeutendes getan, um sie zu necken, und sie hatten sich gerächt, indem sie ihm Angst eingejagt hatten. Es galt, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Lolla-Wossiky sah, wie Alvin Junior am Bettrand Platz nahm, um wütend die Nadeln aus seinem Nachthemd zu picken. Er spürte, wie der Junge Pläne zu schmieden begann. Dann kniete Alvin sich auf den Boden und erklärte den Schaben alles mit leiser Stimme. Weil er ein weißer Junge war, der niemanden hatte, der ihm etwas anderes hätte beibringen können, meinte Alvin, daß er die Worte laut aussprechen müsse, daß die Küchenschaben seine Sprache irgendwie verstünden. Aber nein — es war vielmehr die Ordnung der Dinge, die Art, wie er die Welt in seinem Geist zusammenstellte.

Und in seinem Geist belog er sie. Hunger, sagte er zu ihnen. Und im anderen Zimmer: Nahrung. Er zeigte ihnen Nahrung, wenn sie unter der Wand hindurch in das Zimmer seiner Schwestern krochen und dort auf die Betten und die Körper. Nahrung, wenn sie sich nur beeilten, Nahrung für alle. Es war eine Lüge, und Lolla-Wossiky wollte ihm schon zurufen, er solle so etwas nicht tun.

Wenn ein roter Mann niederkniete und einem Beutetier zusprach, dessen Fleisch er nicht brauchte, dann durchschaute das Beutetier seine Lüge und kam nicht. Die Lüge selbst würde dem roten Mann den Zugang zum Land abschneiden, so daß er für eine Weile allein gehen mußte. Doch dieser weiße Junge konnte mit solcher Macht und Kraft lügen, daß die Schaben mit ihrem winzigen Verstand ihm glaubten. Und so huschten sie los, Hunderte, Tausende, unter den Wänden hindurch in das andere Zimmer.

Alvin Junior hörte etwas und war entzückt. Doch Lolla-Wossiky war wütend. Er öffnete das Auge, um nicht mitansehen zu müssen, wie Alvin Junior sich über seine eigene Rache freute. Statt dessen hörte er nun die Schwestern kreischen, als die Schaben auf sie schwärmten. Und dann die Eltern und Brüder, die ins Zimmer stürzten. Und das Stampfen und Treten, als die Schaben getötet wurden. Lolla-Wossiky schloß die Augen und spürte die vielen Tode, jeder davon ein Nadelstich. Wie der Tod der Bienen.

Schaben, nutzlose Tiere, die Abfälle fraßen, die schmutzige, scharrende Geräusche in ihren Nestern machten, abstoßend, wenn sie über die Haut krochen; doch sie gehörten zum Land, zum Leben, zur grünen Stille. Und ihr Tod war ein übles Geräusch, es war ein nutzloser Mord, weil sie einer Lüge vertraut hatten.

Deshalb bin ich gekommen, erkannte Lolla-Wossiky. Das Land hat mich hierher geführt, es wußte, daß dieser Junge solche Macht besitzt; daß niemand da ist, um ihm beizubringen, wie er sie nutzen muß; daß niemand ihm beibringt, daß er erst abwarten soll, bis er das Bedürfnis des Landes spürt, bevor er es verändert.

Ich bin nicht um meines eigenen Traumtieres willen gekommen, sondern um das Traumtier für diesen Jungen zu werden.

Der Lärm legte sich wieder. Schwestern, Eltern, Brüder gingen wieder schlafen. Lolla-Wossiky preßte die Finger in die Ritzen zwischen den Holzstämmen, kletterte vorsichtig hinauf, die Augen geschlossen, damit das Land ihn führte und er sich nicht auf sich selbst verlassen mußte. Die Fensterläden des Jungen waren geöffnet, und Lolla-Wossiky schob die Ellenbogen über das Sims und stützte sich dort auf, um hineinzublicken.

Zuerst mit geöffnetem Auge. Er sah ein Bett, einen Schemel mit säuberlich gefalteten Kleidern darauf und am Fuß des Bettes eine Wiege.

Lolla-Wossiky schloß wieder das Auge. Alvin lag im Bett. Er spürte die Aufregung des Jungen wie ein Fieber.

Mit erneut geöffnetem Auge kletterte Lolla-Wossiky über die Fensterbank und schwang sich auf den Boden. Er rechnete damit, daß Alvin ihn bemerken und losschreien würde; doch die Gestalt des Jungen lag reglos im Bett, es herrschte Stille.

Der Junge konnte ihn nicht sehen, solange er das Auge offenhielt, genausowenig wie er den Jungen sehen konnte. Dies war schließlich das Ende des Traumes, und Lolla-Wossiky war das Traumtier des Jungen. Es war seine Pflicht, dem Jungen Visionen zu geben, und nicht als er selbst gesehen zu werden, als Whisky-Roter, dem ein Auge fehlte.

Welche Vision werde ich ihm zeigen?

Lolla-Wossiky griff in seine Weißenhosen, dorthin, wo er noch immer seinen Lendenschurz trug, und holte sein Messer aus der Scheide. Er reckte beide Hände empor, in einer davon hielt er das Messer. Dann schloß er sein Auge.

Der Junge sah ihn immer noch nicht. Er hatte die Augen geschlossen. Also bündelte Lolla-Wossiky das weiße Licht, das er um sich fühlte, zog es zu sich heran, damit er sich immer heller und heller strahlen spürte. Das Licht trat aus seiner Haut hervor, und so riß er die Brust des Weißenhemdes auf, um dann die Hände wieder zu heben. Nun konnte der Junge sogar durch die Augenlider hindurch die Helligkeit wahrnehmen, worauf er die Augen öffnete.

Lolla-Wossiky spürte, wie sehr die Erscheinung, zu der er geworden war, den Jungen entsetzte. Er war zu einem strahlenden und leuchtenden roten Mann geworden, einäugig, mit einem scharfen Messer in der Hand. Doch es war nicht Angst, was Lolla-Wossiky auslösen wollte. Niemand sollte sich vor seinem eigenen Traumtier fürchten. Also sandte er dem Jungen das Licht, um ihn zu umhüllen, und mit dem Licht zusammen schickte er ihm Ruhe.

Der Junge beruhigte sich ein wenig, zappelte aber doch noch in seinem Bett, bis er schließlich aufrecht saß, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt.

Es war Zeit, den Jungen aus seinem Lebensschlaf zu wecken. Ohne nachzudenken, wußte Lolla-Wossiky genau, was er tun mußte. Er nahm das strahlende Messer, führte die Klinge über die andere Handfläche — und stieß zu. Scharf, hart, tief, bis das Blut aus der Wunde hervorschoß und den Unterarm entlangströmte, um sich in seinem Ärmel zu sammeln. Schnell begann es, zu Boden zu tropfen.

Der Schmerz kam plötzlich, schon im nächsten Augenblick. Lolla-Wossiky wußte sofort, wie er aus dem Schmerz ein Bild formen und dieses in den Geist des Jungen einpflanzen konnte. Das Bild vom Zimmer seiner Schwestern, aus der Perspektive einer kleinen, schwachen Kreatur. Einer Kreatur, die in das Zimmer hineinstürzte, hungrig, gierig und gewiß, daß es hier Nahrung gab; auf dem weichen Körper lag die Verheißung, er mußte erklommen, die Nahrung mußte aufgespürt werden. Doch große Hände klatschten wieder und streiften sie, und die kleine Kreatur wurde zu Boden geschleudert. Und plötzlich flog ein Schatten heran und dann der Schmerz des Todes.

Immer wieder, jedes kleine Leben, erst hungernd und vertrauensvoll, dann verraten, zerquetscht, zertrampelt.

Viele überlebten, aber die es taten, versteckten sich ängstlich, huschten davon, flohen. Flohen aus dem Raum der Schwestern, dem Raum des Todes, doch nicht zurück an den alten Ort, nicht zurück an den Ort der Lügen. Diese Vision hatte keine Worte. Es gab keine Worte im Hirn einer Schabe. Aber die Angst vor dem Tod an diesem Ort war nicht so stark wie eine andere Form der Angst, die Angst vor einer verrückt gewordenen Welt, wo alles passieren konnte und wo man niemandem mehr trauen durfte. Ein grauenhafter Ort.

Lolla-Wossiky beendete die Vision. Der Junge hielt die Hände auf die Augen gepreßt, verzweifelt schluchzend. Noch nie hatte Lolla-Wossiky jemanden gesehen, den seine eigene Reue so sehr peinigte. Die Vision, die Lolla-Wossiky ihm gegeben hatte, war stärker als jeder Traum gewesen, den ein Mensch hätte träumen können. Ich bin ein schreckliches Traumtier, dachte Lolla-Wossiky. Er wird sich wünschen, daß ich ihn nicht aufgeweckt hätte. Aus Furcht vor seiner eigenen Kraft öffnete Lolla-Wossiky sein Auge.

Sofort verschwand der Junge, und Lolla-Wossiky wußte, daß der Junge nun glauben würde, daß Lolla-Wossiky selbst auch verschwunden war. Was nun? dachte er. Bin ich etwa hier, um diesen Jungen in den Wahnsinn zu treiben? Um ihm einen Schrecken einzujagen, der so schlimm ist, wie es das schwarze Geräusch für mich war?

Wieder schickte er dem Jungen Licht. Ruhe, Ruhe.

Das Weinen des Jungen wurde zu einem Wimmern, und er blickte erneut Lolla-Wossiky an, der noch immer von blendendem Licht strahlte.

Lolla-Wossiky wußte nicht, was er tun sollte. Während er schwieg und verunsichert war, fing Alvin an zu sprechen, zu flehen. »Es tut mir leid, ich werde es nie wieder tun. Ich…«

Er plapperte weiter und weiter. Lolla-Wossiky schickte ihm noch mehr Licht, um ihm beim Sehen zu helfen. Es erreichte den Jungen fast wie eine Frage. Was wirst du nie wieder tun?

Alvin konnte es nicht beantworten, er wußte es nicht. Was hatte er eigentlich getan? War es, daß er die Schaben in den Tod geschickt hatte?

Er blickte den leuchtenden Mann an und schaute das Bild eines roten Mannes, der vor einem Reh kniete, es herbeirief, um zu sterben; das Reh näherte sich, zitternd und mit geweiteten Augen, furchtsam; der Rote ließ einen Pfeil hervorschnellen, und im nächsten Moment traf er auch schon die Flanke des Rehs. Die Beine des Tieres bebten. Es war nicht das Sterben oder das Töten, das Alvins Sünde ausmachte, denn Sterben und Töten gehörten zum Leben.

War es die Macht, die er hatte? Die Fähigkeiten, die er besaß, dafür zu sorgen, daß die Dinge genau dort hingingen, wo er sie hinhaben wollte, daß sie genau an der richtigen Stelle zerbrachen oder sich so fest zusammenfügten, daß sie auf alle Zeiten zusammenblieben, ohne Leim oder Nagel? Die Fertigkeit, die er besaß, die Dinge sich so anordnen zu lassen, wie es sich gehörte? War es das?

Wieder schaute er zum leuchtenden Mann hinüber, und wieder hatte er eine Vision. Diesmal sah er sich selbst, wie er gegen einen Stein drückte, der wie Butter unter seinen Händen zerschmolz und genau die Form annahm, die er haben wollte, glatt und rund, eine vollkommene Kugel, die immer größer und größer wurde, bis sie zu einer ganzen Welt geworden war, mit Bäumen und Tieren, die rannten und sprangen, flogen und schwammen, krabbelten und gruben. Nein, er verfügte über keine schreckliche Macht, es war vielmehr eine wunderbare Macht wenn er nur lernte, sie zu nutzen.

Nun, wenn es nicht das Sterben und seine Macht waren, was habe ich denn dann falsch gemacht?

Diesmal zeigte ihm der leuchtende Mann überhaupt nichts. Diesmal mußte er selbst nachdenken. Und da erkannte er es plötzlich.

Verwerflich war, daß alles nur ihm selbst gedient hatte. Er hatte den Schaben weh getan, den Schwestern, jedermann, hatte alle leiden lassen, und wozu? Damit Alvin Miller Junior wütend sein und sich rächen konnte…

Als er den leuchtenden Mann nun anschaute, sah er, wie ein Feuer aus seinem blitzenden Auge hervorsprang und ihn ins Herz traf. »Ich werde es niemals mehr für mich selbst anwenden«, murmelte Alvin Junior, und als er diese Worte aussprach, hatte er das Gefühl, als würde sein Herz brennen, so heiß war es darin. Und dann verschwand der leuchtende Mann wieder.

Keuchend stand Lolla-Wossiky da, ihm schwindelte. Er fühlte sich schwach, matt. Er hatte keine Ahnung, was der Junge denken mochte. Er wußte nur, welche Visionen er ihm schicken mußte, und dann, am Ende, hatte er überhaupt keine Vision mehr, da mußte er einfach nur dastehen, bis er dem Jungen plötzlich einen starken Feuerimpuls schickte und ihn in sein Herz bohrte.

Und nun? Zweimal hatte er sein Auge geschlossen und war dem Jungen erschienen. War er fertig? Nein, er wußte, daß er es nicht war.

Zum dritten Mal schloß Lolla-Wossiky das Auge. Nun konnte er erkennen, daß der Junge sehr viel heller strahlte als er selbst. Daß das Licht von ihm in den Jungen übergeströmt war. Ja, daß der Junge aber auch sein Traumtier war. Nun war es Zeit für ihn, aus seinem Traumleben zu erwachen.

Er machte drei Schritte vor und kniete neben dem Bett nieder, sein Gesicht war nur ein kleines Stück von dem kleinen, verängstigten Gesicht des Jungen entfernt, das nun so hell strahlte, daß Lolla-Wossiky kaum bemerkte, daß ihn nur ein Kind und nicht etwa ein erwachsener Mann ansah. Was will ich von ihm? Warum bin ich hier? Was kann er mir geben, dieser mächtige Junge?

»Mach alle Dinge ganz«, flüsterte Lolla-Wossiky. Er sagte es nicht auf Englisch, sondern in Shaw-Nee.

Verstand das Kind ihn? Alvin hob die kleine Hand, streckte sie sanft vor und berührte Lolla-Wossikys Wange unterhalb des gebrochenen Auges. Dann hob er den Finger, bis er das schlaffe Augenlid berührte.

Die Luft knisterte. Lichtfunken. Der Junge stöhnte auf und riß die Hand zurück. Lolla-Wossiky sah ihn jedoch nicht, denn plötzlich war der Junge unsichtbar geworden. Aber Lolla-Wossiky scherte sich nicht um das, was er sah, denn was er fühlte, war das Allerunmöglichste:

Stille. Grüne Stille. Das schwarze Geräusch war ganz und gar verschwunden. Sein Landgespür war zurückgekehrt, und die uralte Wunde war geheilt.

Lolla-Wossiky kniete am Boden, als das Land so zu ihm zurückkehrte, wie es früher gewesen war. So viele Jahre waren vergangen; er hatte vergessen, wie stark es war, wie man in alle Richtungen gleichzeitig blicken konnte, wie man den Atem eines jeden Tieres hören, den Duft einer jeden Pflanze riechen konnte. Es war genau das, wonach er sich gesehnt hatte, doch viel zu kräftig, viel zu plötzlich, er konnte es nicht beherrschen, konnte es nicht ertragen…

»Es hat nicht geklappt«, flüsterte der Junge. »Es tut mir leid.«

Lolla-Wossiky öffnete sein gesundes Auge, und nun sah er den Jungen zum ersten Mal als einen natürlichen Menschen. Alvin starrte sein fehlendes Auge an. Lolla-Wossiky fragte sich warum; er berührte es. Noch immer hing das Augenlid über die leere Höhle. Da begriff er. Der Junge hatte geglaubt, daß er das Auge hatte heilen sollen. Nein, sei nicht enttäuscht, Kind, du hast mich von der wirklich tiefen Verletzung geheilt, was kümmert mich da diese winzige Wunde? Ich habe mein Augenlicht nie verloren; verloren hatte ich mein Landgespür, und das hast du mir zurückgegeben.

All dies wollte er dem Jungen zurufen, er wollte vor Freude laut jubilieren und singen. Doch alles war zuviel für ihn. Die Worte erreichten nie seine Lippen. Nicht einmal Visionen konnte er ihm noch schicken, denn nun waren sie beide erwacht. Der Traum war zu Ende. Jeder war das Traumtier des anderen gewesen.

Lolla-Wossiky ergriff den Jungen mit beiden Händen, drückte ihn eng an sich, küßte ihn auf die Stirn, hart und fest, wie ein Vater seinen Sohn, oder wie wahre Freunde vor dem Tag, an dem sie sterben werden. Dann lief er zum Fenster, schwang sich über die Fensterbank und verschwand. Die Erde gab seinen Füßen nach, wie sei es bei den anderen roten Männern tat, wie sie es für ihn schon so viele Jahre lang nicht mehr getan hatte; das Gras erhob sich kräftiger, wo er hintrat; die Sträucher teilten sich für ihn, die Blätter wurden weicher und nachgiebiger, als er zwischen den Bäumen dahinlief; und nun endlich begann er wirklich zu jubilieren, schrie er, sang er, war es ihm gleichgültig, wer ihn hörte. Die Tiere liefen nicht mehr vor ihm davon, wie sie es getan hatten; nun kamen sie herbei, um sein Lied zu vernehmen; Vögel erwachten, um mit ihm zusammen zu singen; ein Reh sprang aus dem Wald herbei und lief neben ihm über die Weide, und er ließ dabei die Hand auf seiner Flanke ruhen.

Er lief, bis ihm das Atmen schwer wurde, und die ganze Zeit traf er auf keinen Feind, spürte er keinen Schmerz. Er war wieder ganz geworden, so, wie es wichtig war. Am Ufer des Wobbish River blieb er stehen, gegenüber der Mündung des Tippy-Canoe, er keuchte und lachte.

Erst dann merkte er, daß das Blut noch immer von seiner Hand troff, aus der Wunde, die er sich zugefügt hatte, um dem weißen Jungen Schmerz zu senden. Seine Hosen und das Hemd waren voll von Blut. Kleider der Weißen! Die habe ich nie gebraucht. Er streifte sie ab und warf sie in den Fluß.

Da geschah etwas Merkwürdiges. Die Kleider bewegten sich nicht. Sie legten sich auf die Wasseroberfläche, ohne zu versinken oder mit der Strömung zu treiben.

Wie konnte so etwas sein? War der Traum denn noch nicht vorbei? War er denn noch immer nicht erwacht?

Lolla-Wossiky schloß sein Auge. Sofort erblickte er etwas Entsetzliches und schrie auf vor Furcht. Sobald er sein Auge geschlossen hatte, sah er das schwarze Geräusch wieder, eine große, harte, gefrorene Schicht. Es war der Fluß. Es war das Wasser. Es war der Tod.

Er öffnete das Auge, und da war es wieder Wasser, doch noch immer bewegte sich seine Kleidung nicht.

Er schloß das Auge und sah, daß dort, bei den Kleidern, Licht auf der Oberfläche der Schwärze funkelte. Es sammelte sich, es schimmerte, es blendete. Es war sein eigenes Blut, was da leuchtete.

Nun konnte er erkennen, daß das schwarze Geräusch kein Ding war. Es war Nichts. Leere. Die Stelle, wo das Land endete, und die Leere begann; es war das Ende der Welt. Doch dort, wo sein eigenes Blut funkelte, war es wie eine Brücke über das Nichts. Lolla-Wossiky kniete nieder, das Auge immer noch geschlossen, und berührte mit seiner zerschnittenen und immer noch blutenden Hand das Wasser.

Es war warm und feucht. Er verschmierte sein Blut auf der Oberfläche, und es wurde eine Plattform daraus. Er kroch auf die Plattform hinaus. Sie war glatt und hart wie Eis, aber auch warm und einladend.

Er öffnete das Auge. Wieder war es ein Fluß, nur daß er unter ihm fest war. Überall, wo sein Blut damit in Berührung gekommen war, war das Wasser hart und glatt.

Er kroch hinaus zu der Kleidung, schob sie vor sich hin. Bis zur Mitte des Flusses kroch er weiter und über sie hinaus, hinterließ eine dünne, glühende Blutbrücke, die zur anderen Seite führte.

Was er hier tat, war unmöglich. Der Junge hatte noch sehr viel mehr getan, als ihn zu heilen. Er hatte die Ordnung der Dinge verändert. Es war angsteinflößend und wunderbar zugleich. Lolla-Wossiky sah in das Wasser zwischen seinen Händen hinab. Sein einäugiges Spiegelbild blickte zu ihm auf. Dann schloß er das Auge, und eine völlig neue Vision überkam ihn.

Er sah sich auf einer Lichtung stehen, wie er zu Hunderten von roten Männern sprach, zu Tausenden, zu Roten aller Stämme. Er sah sie eine Stadt bauen, tausend, fünftausend, zehntausend Rote, alle kräftig und gesund, frei vom Branntwein des weißen Mannes, vom Haß der Weißen. In seiner Vision nannten sie ihn den Propheten, doch er beharrte darauf, daß er nichts dergleichen sei. Er war nur das Tor, das geöffnete Tor. Tretet hindurch, sagte er, und seid stark, ein Volk, ein Land.

Das Tor. Tenskwa-Tawa. In seiner Vision erschien das Gesicht seiner Mutter, die dieses Wort zu ihm sagte. Tenskwa-Tawa. Das ist nun dein Name, denn der Träumer ist erwacht.

In dieser Nacht sah er noch sehr viel mehr, wie er in das feste Wasser des Wobbish River hinabstarrte, sah so viel, daß er es niemals alles würde erzählen können; er schaute die ganze Geschichte des Landes, das Leben eines jeden Mannes und einer jeden Frau, ob weiß oder rot oder schwarz, das Leben all jener, die jemals den Fuß darauf gesetzt hatten. Er sah den Anfang, wie er auch das Ende schaute. Große Krieger und kleine Grausamkeiten, all die Menschenmorde, all die Sünden; aber auch all die Güte, all die Schönheit.

Und über alledem eine Vision der Kristallstadt — Crystal City. Die Stadt, die aus Wasser bestand, das so fest und klar war wie Glas, Wasser, das niemals schmelzen würde, zu kristallenen Türmen geformt, so hoch, daß sie sieben Meilen lange Schatten über das Land hätten werfen müssen. Doch weil sie so rein und klar waren, warfen sie überhaupt keine Schatten, drang das Sonnenlicht ungehindert durch jeden Zoll und jede Meile von ihnen. Wo immer ein Mann oder eine Frau stehen mochten, konnten sie tief in den Kristall hineinschauen und alle Visionen erkennen, die Lolla-Wossiky nun schaute. Vollkommenes Verstehen, das war es, was sie besaßen, mit Augen aus reinem Sonnenlicht zu schauen und mit der Stimme des Blitzes auszusprechen.

Lolla-Wossiky, der von nun an Tenskwa-Tawa heißen sollte, wußte nicht, ob er die Kristallstadt erbauen, darin leben oder sie vor seinem Tod zu sehen bekommen würde. Es genügte, die ersten Dinge zu tun, die er im festen Wasser des Wobbish River schaute. Er schaute und schaute, bis sein Geist nichts mehr erkennen konnte. Dann kroch er ans gegenüberliegende Ufer, hinauf ans Land und ging so lange weiter, bis er zu der Weide gelangte, die er in seiner Vision geschaut hatte.

Hier würde er die Roten zusammenrufen, würde sie lehren, was er in seiner Vision geschaut hatte. Und er würde ihnen helfen, nicht die Stärksten zu werden, aber stark; nicht die Größten, aber groß; nicht die Freiesten, aber frei.


Ein gewisses Faß im Wipfel eines gewissen Baumes. Den ganzen Sommer lang war es verborgen geblieben, doch dann hatte der Regen es entdeckt und die Hitze des Hochsommers und die Insekten und die Zähne der salzhungrigen Eichhörnchen. Schließlich barst es, nur wenig, aber genug; die Flüssigkeit troff hervor, Tropfen um Tropfen; binnen weniger Stunden war das Faß leer.

Niemand vermißte es jemals. Niemand trauerte, als es vom Eis des Winters zerbrach, als die Äste den Baum hinab in den Schnee stürzten.

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