In Prophetstown schliefen in dieser Nacht nur die Kinder. Die Erwachsenen fühlten alle, wie die Armee der Weißen sie einkreiste; für das Landgespür der Roten waren die von den Weißen ausgeworfenen Tarnungs- und Versteckzauber deutlicher als Trompeten und Fahnenbanner.
Nun, da der Tod aus Eisen und Feuer nicht mehr weit entfernt war, fanden nicht alle mehr den Mut, um ihrem Eid zu gehorchen. Doch in gewissem Ausmaß hielten auch sie diesen Eid. Sie versammelten ihre Familien und schlüpften aus Prophetstown hinaus, zogen lautlos an Kompanien weißer Soldaten vorbei, die sie weder hörten noch sahen. Da sie wußten, daß sie nicht sterben konnten, ohne sich zu verteidigen, verließen sie die Stadt, damit nicht ein einziger Roter den Eid des Propheten befleckte, sich im Kampf zu wehren.
Tenskwa-Tawa war nicht überrascht, daß einige ihn verließen; es überraschte ihn vielmehr, daß so viele blieben. Fast alle. So viele, die an ihn glaubten, so viele, die dieses Vertrauen mit ihrem Blut unter Beweis stellen würden. Er fürchtete sich vor dem Morgen; schon der Schmerz eines einzigen Mordes, der in seiner unmittelbaren Nähe geschehen war, hatte ihn viele Jahre lang mit dem Fluch des schwarzen Geräusches heimgesucht. Gewiß, es war sein Vater gewesen, der da gestorben war, so daß der Schmerz noch schlimmer gewesen war; doch liebte er das Volk von Prophetstown etwa weniger, als er seinen Vater geliebt hatte?
Und doch mußte er das schwarze Geräusch abwehren, mußte bei klarem Verstand bleiben, sonst würde ihr Tod vergeblich sein. Wenn ihr Sterben nichts bewirken konnte, würde er sie nicht zum Tod bewegen. So viele Male hatte er den Kristallturm erforscht, hatte nach einer Möglichkeit gesucht, diesem Tag zu begegnen, nach einem Pfad, der in etwas Gutem endete. Die beste Lösung, die er gefunden hatte, bestand darin, das Land zu teilen, damit die Roten westlich des Mizzipy lebten und die Weißen östlich des Flusses. Doch selbst dies ließ sich nur durch eine gefährliche Gratwanderung erreichen. Zuviel hing dabei von dem weißen Jungen ab, von Tenskwa-Tawa, ja von dem weißen Mörder Harrison selbst. Denn auf allen Pfaden, auf denen Harrison auch nur die geringste Gnade walten ließ, trug das Massaker von Tippy-Canoe nichts dazu bei, um die Vernichtung der Roten aufzuhalten und mit ihr die Vernichtung des Landes. Auf all diesen möglichen Zukunftspfaden würde der rote Mann immer kleiner werden, würden die Roten in winzige Reservate eingesperrt werden, bis das ganze Land weiß geworden und brutal unterworfen worden war, aufgerissen und geplündert und vergewaltigt, bis es riesige Mengen an Nahrung hervorbrachte, die nur eine Imitation der wirklichen Ernten waren, durch die Verschlagenheit der Alchimie zu falschem Leben verlockt. Sogar der weiße Mann selbst mußte in diesen Visionen der Zukunft leiden, doch es würde noch viele Generationen dauern, bis er erkannte, was er getan hatte. Und doch gab es hier — hier in Prophetstown — einen Tag, da die Zukunft auf einem zwar unwahrscheinlicheren, aber besseren Pfad gelenkt werden konnte. Auf einen Pfad, der doch noch zu einem lebendigen Land führen würde, auch wenn es verstümmelt war; der eines Tages zu einer Kristallstadt führte, die das Sonnenlicht einfing und es für alle, die in ihr lebten, in Visionen der Wahrheit verwandelte.
Das war Tenskwa-Tawas Hoffnung, daß er nämlich durch all den Schmerz des morgigen Tages hindurch die strahlende Vision würde festhalten können, um den Schmerz, das Blut, das schwarze Geräusch des Mordens in ein Ereignis umzuwandeln, das die Welt verändern würde.
Noch bevor die ersten Strahlen des Lichts am Horizont erschienen, spürte Tenskwa-Tawa die nahende Dämmerung. Er spürte sie zum Teil im sich regenden Leben im Osten, aber auch in der Bewegung unter den Weißen, als diese sich daranmachten, die Zündhölzer für ihre Kanonen zu entfachen. Vier Feuer, von Zaubern und Hexerei verborgen und dadurch enthüllt. Vier Kronen, aufgestellt, um die Stadt zu bombardieren.
Tenskwa-Tawa schritt durch die Stadt, summte leise vor sich hin. Die Bewohner hörten ihn und weckten ihre Kinder. Die Weißen wollten sie im Schlafe töten. Statt dessen jedoch traten sie in die Dunkelheit hinaus, begaben sich sicheren Fußes zur großen Weide, die als Versammlungsort diente. Hier gab es nicht genug Platz, als daß alle auch nur hätten sitzen können. So blieben sie stehen, die Familien beieinander, Vater und Mutter mit ihren Kindern, und warteten darauf, daß der weiße Mann ihr Blut vergoß.
»Die Erde wird euer Blut nicht aufsaugen«, hatte Tenskwa-Tawa ihnen versprochen. »Es wird in den Fluß strömen, und ich werde es dort behalten, all die Kraft eures Lebens und alle eure Tode, und ich werde es nutzen, um das Land am Leben zu halten und den weißen Mann an die Ländereien zu binden, die er bereits erobert und zu töten begonnen hat.«
Und so bahnte sich Tenskwa-Tawa nun seinen Weg zum Ufer des Tippy-Canoe, um zuzusehen, wie die Weide sich mit seinem Volk füllte, mit den Menschen, von denen so viele vor seinen Augen sterben würden, weil sie an seine Worte glaubten.
»Stellt Euch neben mir auf, Mr. Miller«, sagte General Harrison. »Es ist Euer Blut, das wir heute rächen werden. Ich möchte Euch die Ehre zuteil werden lassen, die erste Kugel in diesem Krieg abzufeuern.«
Mike Fink sah zu, wie der rotäugige Miller sorgfältig Ladepfropf und Kugel in den Lauf seiner Muskete stopfte. Mike erkannte den Blutdurst in seinen Augen. Es war eine Art von Wahnsinn, die einen Mann überfiel und ihn gefährlich machte, die ihn dazu befähigte, Dinge zu tun, die sonst außerhalb seiner Reichweite geblieben wäre. Mike war ziemlich froh darüber, daß Miller nicht wußte, wann und wie sein Junge gestorben war. Gewiß, Gouverneur Bill hatte ihm nie geradeaus mitgeteilt, wer der junge Mann gewesen war, aber Mike Fink war nicht auf den Kopf gefallen. Harrison spielte ein raffiniertes Spiel, soviel aber war sicher: Er würde alles tun, um nach oben zu kommen und noch mehr Land und Menschen unter seine Herrschaft zu bringen. Und Mike Fink wußte auch, daß Harrison ihn nur so lange um sich dulden würde, wie er ihm nützlich war.
Merkwürdig war nur, daß Mike Fink sich selbst nicht für einen Mörder hielt. Für ihn war das Leben ein einziger Kampf, und jene, die nur die Zweitbesten waren, mußten eben sterben, doch das war nicht dasselbe wie Mord, es war eben ein fairer Kampf. So, wie er Hooch getötet hatte — Hooch hätte nicht so achtlos zu sein brauchen. Hooch hätte bemerken können, daß Mike nicht zusammen mit den anderen Schifferjungen am Ufer stand. Hooch hätte wachsam und vorsichtig sein können, und wäre er es gewesen, so hätte Mike Fink durchaus den Tod finden können. Hooch also hatte sein Leben verloren, weil er den Wettkampf verloren hatte, den Wettkampf zwischen ihm und Mike.
Aber der Junge gestern war kein Wettläufer gewesen. Der hatte nur nach Hause gewollt. Mike Fink rang nie mit einem Mann, der nicht kämpfen wollte, und er tötete nie einen Mann, der es nicht darauf abgesehen hatte, ihn als erster zu töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Gestern war das erste Mal gewesen, daß er jemanden getötet hatte, nur weil man es ihm aufgetragen hatte, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Mike begriff, Gouverneur Bill glaubte, daß er Hooch auf dieselbe Weise getötet habe, nur weil man es ihm befohlen hatte. Doch das stimmte nicht. Und heute sah Mike Fink den Vater des jungen Mannes an, sah all den Zorn in seinen Augen, und er sprach zu diesem Mann — aber stumm, damit niemand es hören konnte —, er sprach: Ich bin auf deiner Seite, ich stimme dir zu, daß der Mann, der deinen Jungen getötet hat, sterben sollte.
Das Problem war nur, daß dieser Mann Mike Fink selbst war. Und er schämte sich.
Das gleiche galt für die Roten in Prophetstown. Was war das für ein Wettkampf, sie mit Kartätschen zu wecken, die pfeifend durch ihre Häuser jagten, sie in Brand setzten, sich in ihre Leiber gruben, in die Leiber von Kindern und Frauen und alten Männern?
Das ist nicht mein Kampf, dachte Mike Fink.
Am Himmel erschienen die ersten Streifen der Morgendämmerung. Prophetstown war zwar immer noch ein bloßer Schatten, doch die Zeit war gekommen. Alvin Miller zielte mit seiner Muskete in die dichtstehenden Häuser und feuerte.
Wenige Sekunden später antworteten die Kanonen mit ihrem Donnern. Und schon kurz darauf loderten in der Stadt die ersten Flammen auf.
Wieder feuerten die Kanonen. Und doch lief keine Menschenseele schreiend aus einem Wigwam.
Hatte es denn niemand sonst bemerkt? Merkten sie denn nicht, daß die Roten Prophetstown alle verlassen hatten? Und wenn sie fort waren, so bedeutete das, daß sie bereits alles über den morgendlichen Angriff gewußt hatten. Und wenn sie das wußten, bedeutete dies wiederum, daß sie möglicherweise bereits im Hinterhalt lauerten. Vielleicht waren sie aber auch alle geflohen, oder vielleicht…
Mike Finks Glücksamulett brannte. Es war schrecklich heiß. Er wußte, was das zu bedeuten hatte. Zeit zu gehen. Wenn er blieb, würde ihm großes Unglück widerfahren.
Also schlüpfte er an der Reihe der Soldaten vorbei — oder an dem, was hier als Soldaten galt, da kaum mehr als ein oder zwei Tage des Drills zur Verfügung gestanden hatten, um diese rohen Farmer auszubilden. Niemand beachtete Mike Fink. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die brennenden Wigwams zu beobachten. Einige von ihnen hatten endlich bemerkt, daß anscheinend niemand mehr in der roten Stadt war, und besorgt sprachen sie miteinander darüber. Mike sagte nichts, er schritt einfach nur die Linien entlang, dem Bach entgegen.
Die Kanonen befanden sich alle auf hohem Gelände. Als er unten am Flußufer ankam, blieb Mike stehen, er traute seinen Augen nicht: Tausende und Tausende von Roten, die Schulter an Schulter auf der Weide standen. Manche von ihnen weinten leise — zweifellos waren einige verirrte Schrapnellgeschosse und Musketenkugeln bis zu ihnen gelangt, da zwei der Kanonen an gegenüberliegenden Enden der Stadt standen und in diese Richtung feuerten. Und doch rührten sie keinen Finger, um sich zu verteidigen. Es war kein Hinterhalt. Sie besaßen keine Waffen. Diese Roten hatten sich alle aufgestellt, um zu sterben.
Am Ufer befanden sich etwa ein Dutzend Kanus. Mike Fink schob eines davon ins Wasser und rollte sich hinein. Er würde flußabwärts fahren, den ganzen Wobbish hinunter bis zum Hio. Das hier war kein Krieg, sondern ein Massaker, und das war einfach nicht Mike Finks Art zu kämpfen. Fast für jeden Menschen gab es irgend etwas, das so schlimm war, daß er es niemals tun würde.
In der Dunkelheit des Kellers konnte Measure nicht erkennen, ob Alvin wirklich da war oder nicht. Doch er konnte seine Stimme hören, die sanft, aber eindringlich auf ihn einredete und sich über den Schmerz hinweg bemerkbar machte. »Ich versuche dich zu heilen, Measure, aber ich brauche dazu deine Hilfe.«
Measure war unfähig zu antworten.
»Ich habe dein Genick gerichtet und einige deiner Rippen und auch die aufgerissenen Eingeweide«, berichtete Alvin. »Und die Knochen deines linken Arms waren ziemlich gerade, die sind also schon in Ordnung, kannst du es spüren?«
Es stimmte, daß Measures linker Arm keinen Schmerz mehr ausstrahlte. Er besaß etwas Kraft, er konnte ihn bewegen.
»Deine Rippen«, sagte Alvin. »Sie stehen hervor. Du mußt sie wieder an die richtige Stelle zurückdrücken.«
Measure drückte an einer und wäre vor Schmerz fast wieder in Ohnmacht gefallen. »Das kann ich nicht.«
»Du mußt es tun.«
»Sorg dafür, daß es nicht weh tut.«
»Measure, ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Jedenfalls nicht so, daß du dich dann auch noch bewegen kannst. Du mußt es durchstehen. Alles, was du wieder an die richtige Stelle bringst, kann ich richten, aber dann wird es auch nicht mehr weh tun, aber zunächst mußt du es zurechtlegen, du mußt einfach!«
»Tu du es doch.«
»Ich kann es nicht, Measure, weil ich nicht hier bin.«
Das ergab für Measure keinen Sinn. Vielleicht träumte er ja nur. Aber Alvin ließ sich nicht abschütteln. Also drückte Measure. Es tat fürchterlich weh, doch Alvin hielt Wort. Kurz darauf schmerzte die behandelte Stelle nicht mehr.
Es dauerte alles so lang. Der Schmerz schien nicht mehr enden zu wollen. Doch zwischendurch, während Alvin die einzelnen Knochen heilte, erklärte Measure ihm, was gesehen war, und Alvin erzählte ihm, was er wußte, und schon bald begriff Measure, daß es hier um noch sehr viel mehr ging als darum, das Leben eines jungen Mannes in einem Kartoffelkeller zu retten.
Endlich, endlich war es vorbei. Measure konnte es kaum glauben. Er hatte so lange unter Schmerzen gelitten, daß es schon richtig seltsam geworden war, keine Schmerzen mehr zu empfinden.
Er hörte das Donnern, das Donnern von feuernden Kanonen. »Hörst du das, Alvin?« fragte er.
Alvin konnte es nicht hören.
»Die Schießerei hat angefangen. Die Kanonen.«
»Dann lauf, Measure! Lauf so schnell du kannst!«
»Alvin, ich befinde mich in einem Kartoffelkeller. Die haben die Tür verriegelt.«
Alvin fluchte und benutzte dabei einige Worte, von denen Measure nicht geglaubt hätte, daß der Junge sie überhaupt jemals gehört hatte.
»Alvin, da hinten habe ich einen halben Tunnel ausgegraben. Du kommst doch so gut mit Gestein zurecht. Vielleicht könntest du die Erde dort für mich etwas lockern, dann könnte ich mich sehr schnell ins Freie vorgraben.«
Und so funktionierte es auch. Measure ließ sich ins Loch rollen und schloß einfach die Augen, dann krallte er die Hände ins Erdreich über seinem Kopf. Es war völlig anders als am Vortag, als er sich die Finger wundgescheuert hatte. Jetzt glitt alles nur so unter seinen Fingern davon; und unter seinen Füßen wurde die Erde wieder fest.
Ich schwimme durch die Erde, so ist das, dachte er, und er begann zu lachen, so leicht und so seltsam war alles.
Sein Lachen verstummte, als er auf der Oberfläche angekommen war. Nun befand er sich direkt hinter dem Keller. Der Himmel war schon ziemlich hell, es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis die Sonne aufging. Der Kanonendonner war verstummt. Bedeutete das etwa, daß es schon zu spät war? Aber vielleicht ließen sie ja auch nur die Rohre auskühlen. Oder sie bewegen die Kanonen an eine andere Stelle. Vielleicht war es den Roten aber auch sogar gelungen, die Kanonen zu erbeuten…
Doch wäre das wirklich eine gute Nachricht? Ob sie im Recht waren oder nicht, seine Brüder und sein Vater befanden sich bei diesen Kanonen, und wenn die Roten diese Schlacht gewinnen sollten, würden einige von ihnen möglicherweise sterben. Er mußte die Schlacht aufhalten, und so rannte er, rannte, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte. Alvins Stimme war inzwischen verstummt, doch Measure bedurfte keiner Ermutigung mehr. Er flog förmlich den Weg entlang.
Unterwegs begegneten ihm zwei Leute. Mrs. Hatch, die gerade mit ihrem Wagen die Straße entlangkam, um Vorräte zu bringen, erblickte Measure, kreischte auf — immerhin trug er ja einen Lendenschurz und war so schmutzig, wie man es sich nur vorstellen konnte, kein Wunder, daß sie ihn für einen Roten hielt, der sie skalpieren wollte. Measure konnte nicht einmal mehr ihren Namen rufen, so schnell war sie vom Wagen gesprungen. Aber das paßte ihm gut. Er riß das Pferd aus seinem Geschirr, und dann ritt er schon auf dem Tier, galoppierte den Weg entlang und hoffte nur, daß das Pferd nicht stolpern und ihn abwerfen würde.
Die zweite Person, die er auf dem Weg traf, war Brustwehr-Gottes. Brustwehr kniete mitten auf der Gemeindewiese vor seinem Geschäft und betete sich das Herz aus dem Leib, während die Kanonen brüllten und die Musketen ihre Kugeln über den Fluß schickten. Measure rief ihm etwas zu, und Brustwehr sah ihn an, als hätte er soeben den wiederauferstandenen Jesus erblickt. »Measure!« rief er. »Halt, halt!«
Measure wollte eigentlich weiter, wollte sagen, daß er keine Zeit habe, doch da war Brustwehr auch schon mitten auf den Weg gesprungen.
»Measure, seid Ihr ein Engel oder seid Ihr noch am Leben?«
»Ich bin noch am Leben, aber nicht dank Harrison. Der hat versucht mich zu ermorden. Ich bin noch am Leben und Alvin auch. Alles war Harrisons Schuld, und ich muß ihm ein Ende setzen.«
»Nun, so könnt Ihr jedenfalls nicht gehen«, meinte Brustwehr. »Wartet, habe ich gesagt! Ihr könnt dort nicht einfach in einem Lendenschurz erscheinen, über und über mit Schmutz bedeckt, da halten die Euch doch für einen Roten und erschießen Euch auf der Stelle!«
»Dann springt hinter mir aufs Pferd und gebt mir unterwegs Eure Kleider!«
Also hob Measure Brustwehr-Gottes hinter sich aufs Pferd, und gemeinsam ritten sie zur Furt hinüber.
Peter Ferrymans Frau betätigte dort gerade die Winde. Es genügte ihr, einen Blick auf Measure zu werfen, um zu wissen, was zu tun war. »Beeilt Euch«, sagte sie. »Es ist schlimm! Der Fluß färbt sich schon rot.«
An Bord der Fähre streifte Brustwehr seine Kleider ab, während Measure sich im Wasser etwas reinigte. Zwar war er danach nicht sauber, doch wenigstens sah er in etwas wieder aus wie ein Weißer. Immer noch naß, legte er Brustwehrs Hemd und Hose an und dann auch die Weste. Nichts davon paßte ihm besonders gut, weil Brustwehr kleiner war als er, dennoch zog er mit einem Achselzucken die Jacke an. Während er das tat, sagte er: »Es tut mir leid, Euch hier nur in Euren Sommerunterhosen zurücklassen zu müssen.«
»Wenn ich damit dieses Massaker beendeten könnte, würde ich mich den halben Tag lang nackt vor allen Damen in der Kirche aufstellen«, erwiderte Brustwehr-Gottes. Falls er mehr gesagt haben sollte, hörte Measure es jedenfalls nicht mehr, weil er schon auf und davon war.
Nichts lief so, wie Alvin Miller Senior es erwartet hatte. Er hatte sich vorgestellt, daß er mit seiner Muskete auf dieselben kreischenden Wilden schießen würde, die seine Jungen mit Messern bearbeitet und umgebracht hatten. Doch die Stadt war leer, und sie fanden alle Roten auf der Stadtweide vor, als würden sie dort auf eine Predigt ihres Propheten warten. Miller hatte nie gewußt, daß es so viele Rote in Prophetstown gab, weil er sie nicht alle auf einmal an einem Ort gesehen hatte. Aber immerhin waren es doch Rote, nicht wahr? Also feuerte er seine Muskete trotzdem ab, genau wie die anderen Männern, feuerte und lud nach, schaute kaum, ob er überhaupt irgend etwas getroffen hatte. Wie hätte er auch danebenschießen sollen, so eng, wie sie alle nebeneinanderstanden?
Der Blutrausch hatte ihn gepackt, er war wahnsinnig vor Zorn. Er bemerkte nicht, daß einige der anderen Männer sich zu beruhigen begannen. Daß sie plötzlich weniger schossen. Er lud immer nur nach, feuerte und lud nach, jedesmal eine Elle oder zwei weiter vortretend, heraus aus der Deckung des Waldes, hinaus auf die Lichtung; erst als die Kanonen ausgerichtet wurden, stellte er das Schießen ein, machte ihnen Platz, sah er zu, wie sie riesige Schneisen in die Schar der Roten mähten.
Da bemerkte er zum ersten Mal richtig, was mit den Roten geschah, was sie taten und was sie nicht taten. Sie schrien nicht, sie wehrten sich nicht. Sie standen einfach nur da, Männer und Frauen und Kinder, blickten zu den Weißen hinüber, die sie töteten. Kein einziger von ihnen kehrte dem Hagel aus Schrapnellgeschossen auch nur den Rücken zu. Kein Vater, keine Mutter versuchte, ein Kind vor dem Feuersturm zu schützen. Sie standen nur da, warteten und starben.
Die Kartätschen schnitten Breschen in die Menschenmenge. Miller sah die Opfer zu Boden stürzen. Wer es noch konnte, erhob sich wieder oder kniete zumindest nieder, wenn er nicht den Kopf über die Leichenberge hob, um von der nächsten Feuergarbe getötet zu werden.
Was ist denn das, wollen die etwa sterben?
Miller blickte sich um. Er und die Männer, die bei ihm waren, standen in einem Meer von Leichen — sie waren bereits an den äußeren Rand der Rotenschar vorgeschritten. Zu seinen Füßen lag der Leichnam eines Jungen, der kaum älter war als Alvin; lag zusammengerollt da, ein Auge war ihm von einer Musketenkugel aus dem Kopf gerissen worden. Vielleicht war das meine eigene Kugel, dachte Miller. Vielleicht habe ich diesen Jungen getötet.
Während der Pausen zwischen den Kanonensalven konnte Miller Männer rufen hören. Nicht die Roten, nicht die Überlebenden, nein, es waren seine eigenen Nachbarn, weiße Männer, die neben ihm oder hinter der Linie standen. Manche von ihnen sprachen, flehten. Hört auf, sagten sie. Bitte, hört auf!
Bitte, hört auf. Sprachen sie etwa zu den Kanonen? Oder mit den roten Männern und Frauen, die darauf beharrten, stehenzubleiben, die nicht einmal versuchten zu fliehen, die nicht vor Furcht aufschrien? Oder zu ihren Kindern, die sich den Gewehren ebenso tapfer stellten wie ihre Eltern? Oder sprachen sie zu dem grauenhaften, nagenden Schmerz in ihrem eigenen Herzen, als sie sahen, was sie getan hatten, was sie immer noch taten, was sie noch tun würden?
Miller fiel auf, daß das Blut nicht im Gras der Weide versickerte. Es bildete Rinnsale, Bäche, floß in gewaltigen Massen den Weidenhang hinunter in den Tippy-Canoe. Das morgendliche Sonnenlicht dieses strahlenden Tages brach sich in lebhaftem Rot auf dem Wasser des Flusses.
Während er zusah, wurde das Wasser plötzlich so glatt wie Glas. Nun tänzelte das Sonnenlicht darauf, es brach sich wie in einem Spiegel und blendete ihn fast. Doch er konnte einen einzelnen roten Mann sehen, der auf dem Wasser ging, genau wie Jesus in der Bibel.
Nun war es kein bloßes Winseln mehr, was hinter ihm ertönte. Nun war es ein einziger Schrei, dem sich immer mehr Männer anschlössen. Hört auf zu schießen! Hört auf! Legt die Waffen nieder! Und dann andere, die über den Mann sprachen, der auf dem Wasser stand.
Ein Horn ertönte. Die Männer verstummten. »Zeit, sie zu erledigen, Männer!« rief Harrison. Er saß auf einem tänzelnden Hengst, wollte sie den vom Blut schlüpfrig gewordenen Hügel hinabführen. Keiner der Farmer war bei ihm, doch seine uniformierten Soldaten bildeten eine Linie und kamen mit, mit aufgepflanzten Bajonetten. Dort, wo einst zehntausend Rote gestanden hatten, war nur noch ein einziges Feld von Leichen zu sehen, und unten am Fuße des Hügels hatten sich vielleicht tausend Überlebende versammelt.
In diesem Augenblick kam ein großer junger Weißer aus dem Wald am Fuße des Hügels herangelaufen, in einen Anzug gekleidet, der ihm viel zu klein war, mit nackten Füßen, Jacke und Weste nicht zugeknöpft, das Haar naß und zerzaust, das Gesicht schmutzverschmiert und feucht. Doch Miller erkannte ihn schon, noch bevor er seine Stimme gehört hatte.
»Measure!« rief er. »Das ist mein Junge Measure!«
Er warf seine Muskete fort und rannte auf das Leichenfeld hinaus, den Hügel hinab und seinem Sohn entgegen.
»Mein Junge Measure! Er lebt! Du lebst!«
Dann glitt er im Blut aus, vielleicht stolperte er auch über eine Leiche, jedenfalls stürzte er, seine Hände klatschten in einen Fluß von Blut, bespritzten Brust und Gesicht.
Er vernahm Measures Stimme, keine zehn Ellen von ihm entfernt, so laut, daß jeder ihn hören konnte. »Die Roten, die mich gefangen hatten, wurden von Harrison angeheuert. Ta-Kumsaw und Tenskwa-Tawa haben mich gerettet. Als ich vor zwei Tagen nach Hause zurückkehrte, haben Harrisons Soldaten mich gefangengenommen und wollten es nicht zulassen, daß ich euch die Wahrheit sage. Harrison hat sogar versucht, mich umzubringen.« Measure sprach langsam und klar, damit jedes Wort, jedes Geräusch deutlich verstanden wurde. »Die Roten sind unschuldig. Es sind unschuldige Menschen, die ihr hier umbringt.«
Miller erhob sich von dem blutigen Feld und streckte die Arme hoch über den Kopf, dickes Blut rann seine Hände hinab. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, von Qual und Verzweiflung getrieben. »Was habe ich getan! Was habe ich nur getan!« Ein Dutzend, hundert, dreihundert Stimmen wiederholten diesen Schrei.
Und dann ritt General Harrison auf seinem tänzelnden Pferd heran. Sogar seine eigenen Soldaten hatten inzwischen ihre Gewehre fortgeworfen.
»Das ist eine Lüge!« rief Harrison. »Niemals habe ich diesen Jungen gesehen! Irgend jemand hat mich hereingelegt!«
»Er ist nicht hereingelegt worden!« schrie Measure. »Hier ist sein Taschentuch — gestern haben sie es mir in den Mund gestopft, um mich zu knebeln, während sie mir die Knochen brachen!«
Deutlich konnte Miller das Taschentuch in der Hand seines Sohnes erkennen. Die Buchstaben WHH waren in großen, deutlichen Lettern an einem Zipfel eingestickt.
Nun meldeten sich sogar einige von Harrisons eigenen Soldaten zu Wort. »Das ist wahr! Vor zwei Tagen haben wir diesen Jungen zu Harrison gebracht.«
»Wir haben nicht gewußt, daß es einer der Jungen war, von dem es hieß, die Roten hätten ihn getötet!«
Ein schriller Schrei hallte über die Weide. Alle sahen hinunter zu dem einäugigen Propheten, der auf dem festen, roten Wasser des Tippy-Canoe stand.
»Komm zu mir, mein Volk!« sagte er.
Die überlebenden Roten schritten langsam, stetig auf das Wasser zu. Sie schritten über die Wasseroberfläche und versammelten sich auf der anderen Seite.
»Mein ganzes Volk komme zu mir!«
Etwa tausend Verwundete erhoben sich zwischen den Leichenbergen und versuchten, den Strom zu erreichen. Viele von ihnen brachen zusammen und starben, bevor sie dort angelangt waren. Jene, die bis zum Wasser kamen, torkelten, krochen über seine Oberfläche. Die Roten auf der anderen Seite halfen ihnen.
Miller bemerkte etwas Seltsames. Alle diese verwundeten Roten, aber auch alle unverwundeten, alle waren sie über den blutroten Fluß gegangen, und doch klebte an ihren Händen und Füßen nicht ein einziger Blutfleck.
»All mein Volk, alle, die gestorben sind — kommt heim, spricht das Land!«
Um sie herum war die Weide mit Leichen übersät. Bei den Worten des Propheten schienen die toten Körper nun zu erzittern, zu zerbröckeln; sie versanken im Gras der Weide. Es dauerte vielleicht eine Minute, dann waren sie verschwunden, sproß das Gras wieder üppig und grün.
»Komm zu mir, mein Freund Measure.« Der Prophet sagte es leise und streckte die Hand vor.
Measure kehrte seinem Vater den Rücken zu und schritt den grasbewachsenen Abhang bis zur Wasserkante hinunter.
»Schreite zu mir«, sagte der Prophet.
»Ich kann nicht auf dem Blute deines Volkes dahinschreiten«, antwortete er.
»Sie haben ihr Blut gegeben, um dich zu erheben«, sagte der Prophet. »Komm zu mir oder nimm den Fluch auf dich, der auf jeden weißen Mann auf dieser Weide fallen wird.«
»Dann werde ich wohl bleiben«, sagte Measure. »Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, ich glaube kaum, daß ich anders gehandelt hätte, als sie es getan haben. Wenn sie schuldig sind, so bin ich es auch.«
Der Prophet nickte.
Alle weißen Männer spürten etwas Warmes und Feuchtes und Klebriges an den Händen. Einige von ihnen schrien auf, als sie es sahen. Von den Ellenbogen bis zu den Händen troffen sie vor Blut. Manche versuchten, es an ihren Hemden abzuwischen. Einige suchten nach Wunden, die vielleicht bluteten, doch es gab keine Wunden, nur blutige Hände.
»Wollt ihr Eure Hände vom Blut meines Vaters reinigen?« fragte der Prophet. Er schrie nicht mehr, dennoch hörten ihn alle, jedes Wort. Und die Antwort lautete ja. Ja, sie wollten ihre Hände reinigen.
»Dann kehrt nach Hause zurück und berichtet euren Frauen und Kindern, euren Nachbarn und euren Freunden diese Geschichte. Erzählt ihnen aber die ganze Geschichte. Laßt nichts aus. Sagt ihnen nicht, daß irgend jemand euch getäuscht hätte — ihr alle wußtet, daß es Mord war, als ihr auf Menschen feuertet, die keine Waffen besaßen, als ihr auf Kinder anlegtet, die in den Armen ihrer Mütter ruhten, auf alte Männer und Frauen; ihr habt uns gemordet, weil wir Rote waren. Also erzählt die Geschichte so, wie sie geschah, und wenn ihr sie wahrhaftig erzählt, werden eure Hände rein bleiben.«
Kein Mann auf dieser Weide, der nicht vor Scham weinte oder zitterte. Ihren Frauen und Kindern, ihren Eltern, ihren Geschwistern von diesem Tagewerk zu berichten, das erschien ihnen unerträglich. Aber wenn sie es nicht täten, würden ihre blutigen Hände die Geschichte an ihrer Stelle erzählen.
Doch der Prophet hatte noch nicht alles gesagt. »Wenn irgendein Fremder kommen sollte und ihr ihm nicht vor dem Schlafengehen die ganze Geschichte erzählt, so wird das Blut an euren Händen zurückkehren und dort so lange bleiben, bis ihr sie ihm berichtet habt. So wird es bleiben bis zum Ende eures Lebens — jeder Mann und jede Frau, denen ihr begegnet, wird die wahre Geschichte von euren eigenen Lippen hören müssen, oder eure Hände werden wieder befleckt. Und solltet ihr jemals, aus welchem Grund auch immer, ein anderes Menschenwesen töten, dann sollen eure Hände und euer Gesicht auf alle Zeiten von Blut triefen, sogar noch im Grabe.«
Sie nickten, sie willigten ein. Es war nur gerecht. Sie konnten jene, die sie getötet hatten, nicht wieder zum Leben erwecken, aber sie konnten dafür Sorge tragen, daß über dieses Töten niemals eine Lüge erzählt wurde. Nicht einer würde jemals behaupten können, daß es am Tippy-Canoe einen Sieg oder auch nur eine Schlacht gegeben hatte. Es war ein Massaker; Weiße hatten es begangen, und nicht ein einziger Roter hatte seine Hand zur Verteidigung erhoben.
Eines aber blieb noch — die Schuld des Mannes auf dem tänzelnden Hengst.
»Weißer Mörder Harrison!« rief der Prophet. »Komm zu mir!«
Harrison schüttelte den Kopf, versuchte sein Pferd abzuwenden; doch die Zügel entglitten seinen blutigen Händen und das Pferd schritt den Hügel hinunter. Alle Weißen sahen ihm stumm zu, sie haßten ihn dafür, daß er sie belogen und aufgehetzt hatte. Das Pferd führte ihn bis an den Rand des Wassers. Er blickte zu dem einäugigen Roten hinunter, der einst unter seinem Tisch gesessen und um Whisky gebettelt hatte.
»Dein Fluch soll der gleiche sein«, sprach der Prophet, »nur daß deine Geschichte viel länger und häßlicher ist. Und du wirst nicht erst auf Fremde warten, die vorbeikommen, bevor du sprichst. An jedem Tag deines Lebens wirst du irgend jemanden finden müssen, der diese Geschichte noch nie von deinen Lippen gehört hat, und du wirst sie ihm erzählen — jeden Tag einmal! —, sonst sollen deine Hände von Blut triefen. Und solltest du dich verstecken, heimlich um mit blutüberströmten Händen zu leben, anstatt neue Menschen zu finden, denen du deine Geschichte erzählen mußt, so sollst du den Wundschmerz meines Volkes spüren, an jedem Tag eine weitere neue Wunde, bis du die Geschichte wieder erzählst, für jeden Tag, den du ausgelassen hast, einmal. Und versuche nicht, dich selbst zu töten — du kannst es nicht. Du wirst dieses Weißenland von einem Ende bis zum anderen durchwandern. Die Menschen werden dich kommen sehen und sich verstecken, sie werden den Klang deiner Stimme fürchten; du wirst sie anflehen, stehenzubleiben und dich anzuhören. Sogar deinen alten Namen werden sie vergessen, und sie werden dich bei jenem Namen nennen, den du dir heute verdient hast. Tippy-Canoe. Das ist dein neuer Name, weißer Mörder Harrison. Dein wahrer Name, bis du als alter, uralter Mann eines natürlichen Todes stirbst.«
Harrison beugte sich über die Mähne seines Pferdes und weinte über seine blutigen Hände. Doch es waren Tränen der Wut, nicht der Trauer oder der Scham. Tränen des Zornes darüber, daß all seine Pläne gescheitert waren. Wenn er gekonnt hätte, er hätte den Propheten selbst jetzt noch getötet. Überall würde er nach irgendeiner Hexe oder einem Zauberer suchen, die diesen Fluch brechen konnten. Er konnte es nicht ertragen, daß dieser erbärmliche, einäugige Rote ihn besiegt hatte.
Measure sprach den Propheten vom Ufer aus an. »Wohin werdet Ihr nun gehen, Tenskwa-Tawa?«
»Nach Westen«, erwiderte Tenskwa-Tawa. »Mein Volk, all jene, die noch an mich glauben, wir alle werden westlich des Mizzipy ziehen. Wenn ihr eure Geschichte erzählt, so sagt den Weißen folgendes: Daß das Land westlich des Mizzipy das Land des roten Mannes ist. Kommt nicht dorthin. Das Land kann die Berührung durch den Fuß eines weißen Mannes nicht ertragen. Ihr atmet den Tod; eure Berührung ist Gift; eure Worte sind Lügen; das lebendige Land wird euch nicht dulden.«
Er drehte sich um, schritt zu den Roten hinüber, die am anderen Ufer auf ihn warteten, und half einem verwundeten Kind, die Böschung in den Wald hinaufzugehen. Hinter ihm begann das Wasser des Tippy-Canoe wieder zu strömen.
Miller schritt den Abhang hinunter zu der Stelle, wo sein Sohn stand. »Measure«, sagte er.
Measure drehte sich um und streckte die Arme aus, um seinen Vater zu umarmen. »Alvin lebt, Vater, weit im Osten. Er ist bei Ta-Kumsaw und…«
Doch Miller bedeutete ihm zu schweigen, hielt die Hände seines Sohnes vor sich. Sie troffen von Blut, genau wie Millers eigene. Miller schüttelte den Kopf. »Es ist alles meine Schuld«, sagte er. »Alles meine Schuld.«
»Nicht alles, Vater«, widersprach Measure. »Es gibt genug Schuld für jeden.«
»Aber nicht für dich, Sohn. Das ist meine Schande an deinen Händen.«
»Nun, vielleicht wirst du sie dann weniger spüren, weil wir sie zu zweit tragen können.« Measure streckte wieder den Arm vor und nahm seinen Vater an der Schulter, drückte ihn an sich. »Wir haben das Schlimmste mit angesehen, was Menschen tun können, Pa, und wir sind das Schlimmste gewesen, was Menschen sein können. Aber das bedeutet nicht, daß wir nicht eines Tages auch das Beste zu sehen bekommen werden. Und wenn wir nach alledem nie wieder vollkommen sein können, nun, dann können wir immer noch ziemlich gut sein, nicht wahr?«
Vielleicht, dachte Miller. Doch er bezweifelte es. Oder vielleicht bezweifelte er nur, daß er es jemals würde glauben können, selbst wenn es wahr sein sollte. Nie wieder würde er in sein eigenes Herz hineinschauen und auch mögen, was er dort vorfand.
Dann kamen Millers andere Söhne herbei. Sie kamen mit blutigen Händen — David, Calm, Wastenot, Wantnot.
»Wir müssen nach Hause«, sagte Measure.
»Nein«, sagte Miller.
»Sie werden sich alle Sorgen machen«, sagte Measure. »Ma, die Mädchen, Cally.«
Miller erinnerte sich an seinen Abschied von Faith. »Sie hat gesagt, daß sie… wenn ich… wenn das…«
»Ich weiß, wie Ma manchmal redet; aber ich weiß auch, daß deine Kinder ihren Vater brauchen, und sie wird dich schon nicht hinauswerfen.«
»Ich werde ihr erzählen müssen, was wir getan haben.«
»Ja, und den Mädchen und Cally auch. Wir alle werden es ihnen erzählen müssen, und Calm und David müssen es ihren Frauen berichten. Es ist besser, es gleich zu tun und unsere Hände dadurch zu reinigen, damit unser Leben weitergehen kann. Alle zur gleichen Zeit. Alle auf einmal. Und auch ich habe eine Geschichte zu erzählen, nämlich von mir und Alvin. Wenn wir mit dieser Geschichte fertig sind, werde ich meine erzählen. Bist du damit einverstanden?«
Brustwehr empfing sie am Wobbish. Measure streifte seine blutigen Kleider ab. Brustwehr machte ihnen keine Vorwürfe, doch keiner der anderen konnte seinem Schwager in die Augen sehen. Measure nahm ihn beiseite und berichtete ihm von dem Fluch, während die Fähre langsam ans andere Ufer gezogen wurde. Brustwehr hörte zu, dann schritt er zu Miller hinüber, der ihm den Rücken zukehrte, und das ferne Ufer anstarrte.
»Vater«, sagte Brustwehr-Gottes.
»Du hast recht gehabt, Brustwehr«, sagte Miller, ohne ihn anzusehen. Er hob seine Hände. »Hier ist er, der Beweis dafür, daß du recht hattest.«
»Measure hat mir gesagt, daß ich von jedem von Euch die Geschichte einmal hören muß«, sagte Brustwehr und wandte sich um, um seine Worte an alle zu richten. »Aber danach werdet ihr von mir kein weiteres Wort mehr darüber hören. Ich bin noch immer euer Sohn und Bruder, sofern ihr mich haben wollt; meine Frau ist eure Tochter und eure Schwester, und ihr seid die einzigen Verwandten, die ich hier draußen habe.«
»Zu deiner Schande«, flüsterte David.
»Bestrafe mich jetzt nicht dafür, daß meine Hände rein sind«, sagte Brustwehr.
Calm streckte ihm eine blutige Hand entgegen. Brustwehr nahm sie ohne zu zögern, schüttelte sie fest, dann ließ er sie fahren.
»Schaut euch das an, wenn du uns berührst, geht es auf dich über!«
Zur Antwort streckte Brustwehr dieselbe befleckte Hand Miller entgegen. Nach einer Weile nahm Miller sie.