17. Beccas Webstuhl

Der Winter war einfach zu lang. Es war fast ein Jahr her seit jenem Frühjahrsmorgen, als sich Alvin mit Measure auf den Weg zum Hatrack River gemacht hatte. Damals war es ihm wie eine sehr lange Reise erschienen; heute dagegen erschien es ihm im Vergleich zu den Strecken, die er inzwischen schon zurückgelegt hatte, wie ein Tagesausflug. Sie waren tief im Süden gewesen, wo die Roten mehr Spanisch sprachen als Englisch, wenn sie überhaupt die Sprache der Weißen beherrschten. Sie waren im Westen in den nebligen Tiefebenen in der Nähe des Mizzipy gewesen. Sie hatten mit Cree-Ek gesprochen, mit Chok-Taw, mit den ›unzivilisierten‹ Cherriky des Bayou. Und sie hatten den Norden aufgesucht, wo die Seen so zahlreich und alle miteinander verbunden gewesen waren, daß man mit dem Kanu überall hinkam.

In jedem Dorf, das sie aufsuchten, war es das gleiche. »Wir haben von dir gehört, Ta-Kumsaw, du bist gekommen, um den Krieg zu verkünden. Wir wollen keinen Krieg. Aber wenn der weiße Mann hierherkommen sollte, werden wir kämpfen.«

Und dann erklärte Ta-Kumsaw, daß es bis dahin zu spät sein würde, daß sie allein dastehen und die Weißen wie ein Hagelschauer über sie einbrechen und sie alle in Grund und Boden stampfen würden. »Wir müssen gemeinsam eine große Armee aufstellen. Wenn wir das tun, können wir immer noch stärker werden als sie.«

Es war nie genug. Einige wenige jüngere Männer nickten, hätten gerne ja gesagt, doch die älteren Männer wollten keinen Krieg, sie wollten keinen Ruhm, sondern nur Frieden und Ruhe, und der weiße Mann war immer noch weit entfernt, war noch immer kaum mehr als ein Gerücht.

Dann pflegte Ta-Kumsaw sich an Alvin zu wenden und zu sagen: »Erzähle ihnen, was am Tippy-Canoe geschah.«

Nachdem er es zum drittenmal erzählt hatte, wußte Alvin, was geschehen würde, wenn er die Geschichte zum zehnten-, zum hundertstenmal erzählte. Er wußte es, sobald die Roten sich um das Feuer setzten, um ihn anzuschauen, abgestoßen, weil er weiß war, interessiert, weil er der weiße Junge war, der mit Ta-Kumsaw reiste. Wie schlicht er die Geschichte auch fassen mochte, wie immer er auch die Tatsache betonen mochte, daß die Weißen des Wobbish Territory geglaubt hatten, Ta-Kumsaw hätten ihn und Measure gefangengenommen und gemartert, stets lauschten die Roten der Geschichte in Trauer und mit grimmigem Zorn. Und am Ende nahmen die alten Männer die Handvoll Erde, rissen am Boden, als wollten sie irgendein schreckliches Untier der Erde loslassen; und die jungen Männer zogen die Steinklingen ihrer Messer sanft über ihre eigenen Oberschenkel, zogen feine Linien Blutes, lehrten ihre Messer, durstig zu sein, lehrten ihre eigenen Körper, den Schmerz zu suchen und ihn zu lieben.

»Wenn der Schnee von den Ufern des Hio verschwunden ist«, sagte Ta-Kumsaw.

»Wir werden dort sein«, sagten die jungen Männer, und die alten nickten zustimmend. In jedem Dorf, bei jedem Stamm verhielt es sich so. Gewiß, manchmal sprachen einige weniger vom Propheten und drängten auf Frieden; diese wurden als ›alte Weiber‹ verhöhnt; dabei waren es, soweit Alvin das beurteilen konnte, in der Regel gerade die alten Frauen, die in ihrem Haß am wildesten waren.

Und doch beklagte Alvin sich nie darüber, daß Ta-Kumsaw ihn dazu benutzte, um den Zorn gegen seine eigene Rasse anzustacheln. War denn die Geschichte, die Alvin erzählen mußte, nicht wahr? Er konnte es nicht ablehnen, sie zu erzählen, so wenig wie seine Familie sich unter dem Fluch des Propheten weigern konnte, zu sprechen. Nicht, daß an Alvins Händen sonst Blut geklebt hätte. Doch er hatte das Gefühl, daß auf ihm dieselbe Bürde lastete wie auf allen Weißen, die das Massaker vom Tippy-Canoe geschaut hatten. Die Geschichte vom Tippy-Canoe war wahr; doch wäre es für Alvin ein Grund gewesen, sie an diesem Wissen nicht teilhaben zu lassen, wenn jeder Rote, der diese Geschichte hörte, von Haß erfüllt wurde und nach Rache verlangte, wenn er jeden weißen Mann umbringen wollte, der nicht zurück nach Europa segelte? War es nicht vielmehr ihr Naturrecht, die Wahrheit zu erfahren, damit sie von der Wahrheit selbst zum Guten oder zum Bösen geführt wurden, wie immer sie sich entscheiden mochten?

Nicht, daß Alvin über Naturrecht und ähnliche Dinge laut hätte sprechen können. Es gab nicht viel Gelegenheit für Gespräche. Gewiß, er war nahe bei Ta-Kumsaw, nie mehr als eine Armlänge von ihm entfernt. Doch Ta-Kumsaw sprach fast nie mit Alvin, und wenn er es doch tat, so sagte er nur Dinge wie »Fang einen Fisch« oder »Komm jetzt mit mir«. Ta-Kumsaw machte deutlich, daß er jetzt keine Freundschaft für Alvin mehr hegte, ja, daß er tatsächlich eigentlich überhaupt keinen Weißen bei sich haben wollte. Ta-Kumsaw lief schnell, wie es die Art der Roten war, und niemals blickte er sich um, um nachzusehen, ob Alvin Schritt hielt.

Einmal, nachdem sie ein Dorf verlassen hatten, das so aufgebracht worden war, daß Alvin um seinen eigenen Skalp fürchten mußte, hatte Alvin sich aufgelehnt und gefragt: »Warum laßt Ihr mich ihnen nichts davon erzählen, wie Ihr und ich und Geschichtentauscher alle gemeinsam den Achtgesichtigen Hügel bestiegen haben?« Doch Ta-Kumsaws einzige Antwort bestand darin, so schnell zu laufen, daß Alvin den ganzen Tag rennen mußte, um mit ihm Schritt zu halten.

Obwohl er jede Sekunde mit Ta-Kumsaw zusammen war, konnte Alvin sich nicht erinnern, sich jemals im Leben derart einsam gefühlt zu haben. Warum gehe ich dann nicht? fragte er sich. Warum gehe ich mit ihm? Es macht nicht gerade Spaß, und ich helfe ihm doch nur dabei, einen Krieg gegen mein eigenes Volk vom Zaun zu brechen, und es wird ständig kälter, als hätte die Sonne es aufgegeben, weiterhin zu scheinen, und als müßte die Welt nur noch aus grauen, kahlen Bäumen und blendendem Schnee bestehen.

Warum machte Alvin weiter? Teilweise lag es an Tenskwa-Tawas Prophezeiung, daß Ta-Kumsaw niemals sterben würde, solange Alvin bei ihm blieb. Alvin mochte Ta-Kumsaws Gesellschaft zwar nicht genießen, doch er wußte, daß er ein großer und guter Mann war, und wenn Alvin sein Leben irgendwie schützen konnte, dann mußte er es tun.

Doch es war noch mehr als das, mehr als die Verpflichtung, die er gegenüber dem Propheten empfand, für seinen Bruder Sorge zu tragen; es war auch mehr als das Bedürfnis, die schreckliche Bestrafung seiner Familie mitzutragen, indem er die Geschichte von Tippy-Canoe im ganzen Land des roten Mannes erzählte. Es war auch nicht die Zeit der Worte, sondern die des Gespürs für das, was richtig war. Die Welt verändert sich, und irgendwie bin ich Teil dessen, was sie vorantreibt. Ta-Kumsaw baut etwas auf, er bringt die roten Menschen zusammen, um etwas aus ihnen zu machen.

Es war das erste Mal, daß Alvin begriff, wie man mit Menschen etwas aufbauen konnte, daß die Roten, wenn Ta-Kumsaw sie durch seine Reden dazu brachte, mit einem Herz zu empfinden und mit einer Hand zu handeln, zu etwas Größerem wurden, als nur ein paar Stämmen; und etwas Derartiges aufzubauen, das war doch ein Akt wider den Entmacher, gegen den großen Urschöpfer, oder nicht?

Ta-Kumsaw erschafft etwas Neues, wo es vorher nichts gab, doch dieses Neue wird nicht ohne mich entstehen.

Es erfüllte ihn mit der Furcht, etwas zu erschaffen, das er nicht verstand; gleichzeitig aber auch der Drang, die Zukunft zu schauen. Also machte er weiter, drängte voran, verschliß seine Kräfte, sprach mit Roten, die am Anfang mißtrauisch und am Ende haßerfüllt waren, und starrte die meiste Zeit auf den Rücken Ta-Kumsaws, der vor ihm immer tiefer in den Wald hineinlief. Das Grün des Holzes wurde gold und rot, dann, mit den Herbstregen in den kahlen Bäumen schwarz, und schließlich grau und weiß und still. All seine Sorgen, all seine Entmutigung, all seine Verwirrtheit, all seine Trauer über die schrecklichen Dinge, die er kommen sah und die schrecklichen Dinge, die er in der Vergangenheit geschaut hatte — all dies verwandelte sich in eine müde Abneigung gegen den Winter, in ein ungeduldiges Warten darauf, daß die Jahreszeit wechselte, daß der Schnee schmolz und der Frühling kam und danach der Sommer.

Der Sommer: jene Zeit, da er zurückblicken und all dies hier als Vergangenheit würde betrachten können. Im Sommer würde er ziemlich genau wissen, wie alles sich entwickelte, zum Guten oder Bösen, ohne diese gräßliche, schneeweiße Frucht, die alle anderen Gefühle verbarg, so wie der Schnee die Erde verbarg.

Bis Alvin eines Tages merkte, daß die Luft tatsächlich etwas wärmer zu werden schien, und daß der Schnee auf dem Gras schon fast verschwunden war. Genau an diesem Tag wandte sich Ta-Kumsaw gen Osten, er stand auf einer Hügelkette, oben auf einem Fels, um im nördlichen Teil des weißen Staats von Appalachee auf ein Tal hinunterzublicken, das mit Farmen des weißen Mannes übersät war.

Es war ein Anblick, wie ihn Alvin noch nie in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; nicht wie in der französischen Stadt Detroit, wo die Menschen alle dicht aufeinandergedrängt lebten, aber auch nicht wie im Wobbish-Land mit seinen spärlichen Siedlungen, wo jede Farm wie eine Schneise im Laubwald wirkte. Hier waren die Bäume alle ordentlich aufgereiht, um die Felder der Farmen voneinander abzugrenzen. Nur auf den Hügeln, die das Tal umgrenzten, war der Baumbewuchs wieder etwas wilder. Und da der Boden in den letzten Tagen weicher geworden war, brachen dort Farmer, mit ihren Pflügen die Erde auf, bearbeitete ebenso sanft und seicht das Antlitz der Erde, wie es die Steinklingen der roten Krieger auf ihren Schenkeln taten, die Klinge lehrend, zu dürsten, die Erde lehrend, zu ertragen, damit, so wie das Blut unter den Messern der Roten aufstieg, Weizen oder Mais oder Roggen oder Hafer aus den Wunden der Erde wachsen mochten. Dieses ganze Tal wirkte gebrochen wie ein altes Pferd.

Ich dürfte nicht so empfinden, dachte Alvin. Ich sollte froh sein, wieder Land der Weißen zu sehen. Im ganzen Tal stiegen Rauchfahnen aus hundert Kaminen empor. Hier gab es Menschen, Kinder, die wieder im Freien spielen konnten, nachdem sie den ganzen Winter lang eingesperrt gewesen waren, Männer, die in der kalten Luft des Frühjahrs schwitzten, während sie ihrer Arbeit nachgingen, schwer schaffende Pferde, aus deren Nüstern Dampf aufstieg. Es war doch wie zu Hause, oder nicht? Es war die Zivilisation: ein Haushalt, der an den anderen angrenzte, Ellenbogenkämpfe, die Parzellierung des Landes, bis niemand mehr auch nur einen Zweifel hatte, wem jeder Zoll davon gehörte, wer das Nutzrecht hatte und wer ein Eindringling war und besser weiterzog.

Doch nach diesem Jahr, das er fort war und unter den Roten verbracht hatte, ohne jemals einen weißen Mann zu Gesicht zu bekommen, sah Alvin dieses Tal nicht mehr mit den Augen eines Weißen. Er sah es wie ein Roter, und so erschien es Alvin wie das Ende der Welt.

»Was tun wir hier?« fragte Alvin Ta-Kumsaw.

Anstatt zu antworten, stieg Ta-Kumsaw einfach den Berg hinab ins Tal des weißen Mannes, ganz so, als hätte er ein Recht dazu. Alvin konnte sich zwar keinen Reim darauf machen, folgte ihm aber.

Als sie durch ein halbgepflügtes Feld stapften, schrie der Farmer ihnen zu Alvins Überraschung nicht etwa zu, daß sie auf die Furchen achtgeben sollten, er hob nur den Blick, blinzelte sie an und winkte. »Howdy, Ike!« rief er.

Ike?

Und Ta-Kumsaw hob die Hand zum Gruß und schritt weiter.

Alvin hätte am liebsten laut losgelacht. Ta-Kumsaw war hier so bekannt, daß ein Weißer auch auf diese Entfernung wußte, wer er war. Ta-Kumsaw, der heftigste Weißenhasser im ganzen Waldgebiet, wurde mit dem Namen eines Weißen gerufen!

Doch Alvin war zu klug, um eine Erklärung dafür zu fordern. Er folgte Ta-Kumsaw einfach, bis sie schließlich am Ziel angelangt waren.

Es sah aus wie jedes andere Haus, vielleicht um eine Spur älter. Jedenfalls war es groß und schien ziemlich planlos immer wieder erweitert worden zu sein. Vielleicht war es ursprünglich einmal eine Blockhütte gewesen, mit einem steinernen Fundament, jetzt aber war es zu einem verschachtelten, zweigeschossen Haus geworden, in dem sich die ganze Geschichte dieses Tals widerspiegelte: ein Wahrzeichen des siegreichen Kriegs des weißen Mannes gegen das Land, wie es einmal war.

Ta-Kumsaw schritt auf eine kleine, schäbige Tür an der Hinterseite des Hauses zu, er klopfte nicht einmal an, sondern öffnete die Tür einfach und trat ein.

Zum ersten Mal wußte Alvin nicht, was er tun sollte. Aus Gewohnheit wollte er Ta-Kumsaw ins Haus folgen, wie er ihm schon in unzählige Hütten des roten Mannes gefolgt war. Doch eine noch ältere Gewohnheit sagte ihm, daß man nicht einfach in ein solches Haus eintrat. Normalerweise ging man nach vorn an die richtige Eingangstür und klopfte höflich an, bis die Bewohner einen zum Eintreten aufforderten.

Also blieb Alvin an der Hintertür stehen, die Ta-Kumsaw sich natürlich nicht einmal zu schließen die Mühe machte, und sah zu, wie die ersten Fliegen des Frühlings hinein summten. Fast vermeinte er seine Mutter schreien hören, daß die Leute gefälligst die Türen schließen sollten, damit die Fliegen nicht hereinkamen und in der Nacht mit ihrem Gesumme alle in den Wahnsinn treiben konnten. Und da Alvin so dachte, tat er, was Ma ihnen stets zu tun aufgetragen hatte: Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Doch er wagte es nicht, tiefer in der Haus einzudringen als bis in die Diele, wo einige schwere Mäntel an Kleiderhaken hingen.

»Isaac«, sagte eine Frauenstimme.

Dann merkte Alvin, welches Geräusch er die ganze Zeit gehört hatte: ein rhythmisches Klopfen — wie ein Webstuhl. Das Geräusch hörte plötzlich auf. Ta-Kumsaw mußte sofort in das Zimmer hineingegangen sein, wo irgendeine Frau saß und webte. Nur daß er hier kein Fremder war, sie kannte ihn unter demselben Namen wie der Farmer draußen auf dem Feld. Isaac.

»Isaac«, sagte sie wieder, wer immer sie auch sein mochte.

»Becca«, erwiderte Ta-Kumsaw.

Ein schlichter Name, überhaupt kein Grund für Alvins Herz, plötzlich heftig zu pochen. Doch die Art, in der Ta-Kumsaw ihn aussprach — das war ein Ton, der Herzen zum Pochen bringen sollte. Ta-Kumsaw sprach ihn nicht etwa mit den merkwürdig verzerrten Vokalen des englischsprechenden Roten aus, sondern mit einem richtigen Akzent, als sei er aus England. Ja, er klang fast wie Reverend Thrower.

Nein, das war gar nicht Ta-Kumsaw, es war ein anderer Mann, ein weißer Mann im selben Raum mit der weißen Frau, das war alles. Und Alvin schritt lautlos im Gang entlang, um die Stimmen zu suchen, um den weißen Mann zu sehen, dessen Gegenwart alles erklären würde.

Statt dessen jedoch gelangte er an eine offene Tür und sah in einen Traum, in dem Ta-Kumsaw gerade eine weiße Frau an den Schultern hielt, in ihr Gesicht hinabblickte, während sie zu ihm aufsah. Niemand sagte ein Wort, die beiden sahen sich nur an. Kein weißer Mann war im Raum.

»Mein Volk sammelt sich am Hio«, sagte Ta-Kumsaw in seinem sonderbaren Englisch.

»Ich weiß«, erwiderte die Frau. »Es ist bereits im Gewebe.« Dann drehte sie sich zu Alvin um, der in der Tür stand. »Und du bist auch nicht allein gekommen.«

Noch nie hatte Alvin solche Augen gesehen. Er war noch zu jung, um Frauen nachzulaufen, wie es Wastenot und Wantnot getan hatten, als sie vierzehn geworden waren.

So empfand er auch nicht das Begehren eines Mannes für eine Frau, als er in ihre Augen schaute. Er blickte nur in sie hinein, wie er manchmal in ein Feuer blickte, und den Flammen beim Tanz zusah, ohne sie darum zu bitten, einen Sinn zu offenbaren; er beobachtete lediglich die schiere Willkür des Ganzen. So waren ihre Augen — als hätten sie schon hunderttausend Dinge geschehen sehen, als würden alle diese Dinge noch immer in diesen Augen umherwirbeln und als hätte sich niemals jemand die Mühe gemacht, diese Visionen hervorzuholen und vernünftige Geschichten daraus zu formen.

Alvin fürchtete, daß sie über irgendeine Zauberei verfügte, mit der sie Ta-Kumsaw in einen weißen Mann verwandelte.

»Mein Name ist Becca«, sagte die Frau.

»Sein Name ist Alvin«, sagte Ta-Kumsaw — oder genauer, Isaac sagte es, denn er hörte sich überhaupt nicht mehr wie Ta-Kumsaw an. »Er ist der Sohn eines Müllers aus dem Wobbish-Land.«

»Er ist der Faden, den ich im Gewebe gesehen habe und der nicht an Ort und Stelle war.« Sie lächelte Alvin an. »Komm her«, sagte sie. »Ich möchte den legendären Jungen Renegado sehen.«

»Wer ist das denn?« fragte Alvin. »Der junge Rene…«

»Renegado. Weiß du denn nicht, daß man sich in ganz Appalachee Geschichten erzählt? Von Ta-Kumsaw, der am einen Tag in Osh-Kontsy-Land erscheint und am anderen in einem Dorf am Ufer des Yazoo, um die Roten zu Massakern und zur Marter anzustacheln. Und stets wird er von einem weißen Jungen begleitet, der die Roten dazu drängt, noch brutaler zu sein, der sie die geheimen Methoden der Folter lehrt, wie sie von der papistischen Inquisation in Spanien und Italien angewandt wurden.«

»Das stimmt doch gar nicht«, erwiderte Alvin.

Sie lächelte. Die Flammen in ihren Augen tänzelten.

»Die müssen mich hassen«, meinte Alvin. »Ich weiß nicht einmal, was eine Inquitition ist.«

»Inquisition«, erklärte Isaac.

Alvins Herz wurde ihm schwer. Wenn die Leute solche Geschichten über ihn erzählten, dann sahen sie in ihm doch einen Verbrecher, ein Ungeheuer. »Ich gehe nur mit…«

»Ich weiß, was du tust, und ich weiß auch, warum«, antwortete Becca. »Wir hier in dieser Gegend kennen Isaac gut genug, um solchen Lügen über ihn und dich keinen Glauben zu schenken.«

Doch Alvin war ›diese Gegend‹ gleichgültig. Was ihm dagegen nicht gleichgültig war, war seine Heimat im Wob-bish-Land.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Becca. »Niemand weiß, wer dieser legendäre weiße Junge ist. Bestimmt nicht einer der beiden Unschuldigen, die Ta-Kumsaw im Wald in Stücke gehauen hat. Gewiß nicht Alvin oder Measure. Welcher von beiden bist du eigentlich?«

»Alvin«, sagte Isaac.

»Ach, ja«, sagte Becca. »Das hast du mir bereits erzählt. Es fällt mir immer so schwer, mir Namen zu merken.«

»Ta-Kumsaw hat niemanden in Stücke gehauen.«

»Du wirst dir wahrscheinlich denken können, Alvin, daß wir diese Geschichte auch nicht geglaubt haben.«

»Oh.« Alvin wußte nicht, was er sagen sollte, und da er schon so lange Zeit wie ein Roter gelebt hatte, tat er, was Rote zu tun pflegten, wenn sie nichts zu sagen hatten, etwas, worauf ein weißer Mann kaum jemals kam: Er sagte überhaupt nichts.

»Wollt ihr Brot und Käse?« fragte Becca.

»Zu gütig. Danke«, erwiderte Isaac.

Wenn das nicht die Höhe war! Ta-Kumsaw sagte danke wie ein richtiger Gentleman. Nicht, daß er unter seinesgleichen nicht edel und redegewandt gewesen wäre. Doch wenn er die Sprache des weißen Mannes benutzte, so geschah es sonst immer nur auf solch kalte, unblumige Art. Bis jetzt. Hexerei.

Becca läutete eine kleine Glocke.

»Es ist einfache Kost, aber in diesem Haus leben wir auch einfach. Und besonders ich hier, in diesem Raum… Es ist ein solch schlichter Ort.«

Alvin sah sich um. Sie hatte recht. Erst jetzt merkte er, daß es sich bei diesem Zimmer um das ursprüngliche Blockhaus handelte, dessen verbliebenes Fenster ein südliches Licht in den Raum warf. Die Wände waren immer noch aus grobem alten Holz; er hatte es nur noch nicht bemerkt, weil überall Stoff hing. Ein merkwürdiger Stoff, er besaß viele Farben, doch bildeten die Farben keinerlei Muster, alles war nur mal hierhin, mal dorthin gewoben worden, in sich ändernden Schattierungen und Farben, und alles war miteinander verflochten.

Als Antwort auf Beccas Läuten trat jemand in den Raum, dem Klang seiner Stimme nach ein älterer Mann; sie schickte ihn aus, um etwas zu essen zu holen, doch Alvin bemerkte nicht einmal, wie er aussah, denn er konnte die Augen nicht von dem Stoff abwenden. Wozu diente soviel Stoff?

Und wo endete er?

Er schritt zu einer Stelle hinüber, an der etwa ein Dutzend Stoffrollen in einer Ecke standen, und er merkte, daß jede der Rollen aus der davorstehenden hervorwuchs. Irgend jemand hatte das Ende des Stoffs von einer Rolle genommen und zusammengerollt, um damit die nächste anzufangen, es waren also gar nicht verschiedene Stoffe, alles war nur ein einziges Tuch, so lange aufgerollt, bis es fast zu schwer war, um es noch bewegen zu können, und dann hatte man sofort mit der nächsten Rolle begonnen, ohne daß auch nur eine Schere den Stoff berührt hätte. Alvin begann im Zimmer umherzuschlendern, mit den Fingern zog er das Stoffmuster nach, folgte seinem Pfad hinauf über die Haken an den Wänden, hinunter zu den Falten am Boden, wo der Stoff zusammengelegt worden war. Er folgte ihm, er folgte ihm immer weiter, bis schließlich der alte Mann mit dem Brot und dem Käse wiederkehrte und er das Ende des Stoffes gefunden hatte. Der Stoff mündete in Beccas Webstuhl.

Die ganze Zeit hatte Ta-Kumsaw mit Becca in seiner Isaac-Stimme gesprochen, und sie hatte auf ihre tiefmelodische Weise geantwortet, die irgendwie ein wenig fremdländisch klang, wie bei einigen der Holländer in der Gegend um Vigor Church. Erst jetzt, da Alvin neben dem Webstuhl stand und das Essen auf einem niedrigen Tisch stand, der von drei Stühlen umgeben war, erst jetzt achtete er auf das, was sie sagten, und auch das nur, weil er Becca so gerne danach gefragt hätte, wofür dieser ganze Stoff dem gut sei; schließlich mußte sie über ein Jahr daran gesponnen haben, damit er so lang werden konnte, ohne einmal die Schere angesetzt zu haben. Das war etwas, was Ma stets eine schändliche Vergeudung zu nennen pflegte: etwas zu besitzen und es nicht zu nutzen.

»Iß«, sagte Ta-Kumsaw. Und als er so barsch zu Alvin sprach, wurde er wieder der richtige Ta-Kumsaw. Es beruhigte Alvin, zu wissen, daß hier keine Hexerei am Werk war, daß Ta-Kumsaw nur auf zwei verschiedene Weisen sprechen konnte; andererseits aber weckte es in ihm auch weitere Fragen, etwa die, wie Ta-Kumsaw jemals eine solche Sprache hatte lernen können. Alvin hatte nicht einmal gerüchteweise davon gehört, daß Ta-Kumsaw weiße Freunde in Appalachee hatte, und doch hätte sich so etwas eigentlich herumsprechen müssen. Andererseits fiel es nicht schwer zu erraten, weshalb Ta-Kumsaw dies nicht unbedingt an die große Glocke hängen wollte. Was würden all diese aufgestachelten Roten wohl denken, wenn sie Ta-Kumsaw jetzt sehen könnten? Und was für Folgen hätte das für Ta-Kumsaws Krieg?

Und überhaupt: Wie konnte Ta-Kumsaw nur einen solchen Krieg führen, wenn er doch wirkliche weiße Freunde wie die Menschen in diesem Tal hatte? Das Land hier war ohne Zweifel tot, jedenfalls das Land, wie die Roten es kannten. Wie konnte Ta-Kumsaw es nur ertragen?

Die Mahlzeit wurde begleitet von Beccas freundlichem Geplapper über die Ereignisse im Tal, wobei sie Namen erwähnte, die Alvin nichts bedeuteten, nur daß hinter jedem davon auch jemand zu Hause in Vigor Church hätte stehen können — es gab sogar Leute hier, die Miller hießen, was auch nur zu erwarten war, da ein Tal von dieser Größe sicherlich mehr Getreide hervorbrachte, als ein einziger Müller hätte mahlen können.

»Hast du meinen Stoff gesehen?« fragte Becca.

Ta-Kumsaw nickte. »Darum bin ich gekommen.« Becca lächelte und führte ihn zum Webstuhl. Dort nahm sie Platz und legte das frischeste Tuch in ihren Schoß. Sie begann etwa drei Ellen von der Mündung des Webstuhls entfernt.

»Hier«, sagte sie. »Die Versammlung deines Volkes in Prophetstown.«

Alvin sah, wie sie mit der Hand über ein ganzes Bündel von Fäden fuhr, die aus ihrer richtigen Bahn zu laufen schienen, um sich oben am Rand zu sammeln.

»Rote aller Stämme«, sagte sie. »Die Stärksten deines Volks.«

Obwohl die Fasern einen grünlichen Ton besaßen, waren sie tatsächlich schwerer als die meisten Fäden. Becca gab etwas Stoff aus ihrem Schoß nach. Die Versammlung der Fäden wurde immer stärker und deutlicher, und die Fäden selbst wurden zu einem noch helleren Grün. Wie konnten sie nur so die Farbe verändern? Und wie konnte sich ihr Lauf angesichts des mechanischen Webstuhls nur so verändern?

»Und nun die Weißen, die sich gegen sie zusammengeschart haben«, fuhr sie fort.

Ta-Kumsaw streckte die Hand vor und zog den Stoff näher heran. Er zog so lange, bis er eine Stelle freigegeben hatte, an der all diese reinen grünen Fäden plötzlich schlaff wurden und endeten, jedenfalls die meisten. Hier wurde das Gewebe fadenscheinig und dünn, es war etwa nur noch jeder zehnte Faden übrig, wie bei einem abgenutzten Ellenbogen eines alten Hemds.

Wenn die grünen Fäden für Prophetstown standen, dann gab es kein Zweifel daran, was es bedeutete. »Tippy-Canoe«, murmelte Alvin. Nun wußte er, worum es bei diesem Stoff ging.

Becca beugte sich über den Stoff, und ihre Tränen fielen darauf.

Ta-Kumsaw zog gleichmäßig weiter an dem Stoff, doch ohne zu weinen. Alvin sah, wie der Rest der grünen Fäden, die wenigen, die nach dem Massaker am Tippy-Canoe übriggeblieben waren, sich an den Rand des Stoffs zogen und dort endeten. An dieser Stelle war der Stoff um so viele Fäden schmaler. Nur daß hier eine weitere Versammlung stattfand, doch diese Fäden waren nicht grün. Sie waren überwiegend schwarz.

»Schwarz vor Haß«, sagte Becca. »Du versammelst dein Volk mit Haß.«

»Kannst du dir einen Krieg vorstellen, der mit Liebe geführt wird?« fragte Ta-Kumsaw.

»Das wäre ein Grund, überhaupt jeden Krieg zu verweigern«, sagte sie sanft.

»Sprich nicht wie eine weiße Frau«, versetzte Ta-Kumsaw.

»Aber sie ist doch eine«, warf Alvin ein.

Beide sahen sie Alvin an. Ta-Kumsaw ungerührt, Becca mit — Belustigung? Mitleid? Dann wandten sie sich wieder dem Stoff zu.

Sehr schnell gelangten sie an die Stelle, wo der Stoff über dem Balken hing und im Webstuhl mündete. Auf dem Weg dorthin scharten sich die schwarzen Fäden von Ta-Kumsaws Armee immer enger zusammen, verknoteten sich, wurden miteinander verwoben. Und andere Fäden, manche blau, manche gelb, einige schwarz, versammelten sich an der anderen Stelle, wodurch der Stoff stark aufgebauscht wirkte. Hier war er zwar dicker, doch schien es Alvin nicht so, als wäre er auch nur um eine Spur stärker. Eher sogar schwächer.

»Dieser Stoff wird nicht sehr viel wert sein, wenn das so weitergeht«, meinte Alvin.

Becca lächelte grimmig. »Noch nie hat jemand etwas Wahreres gesagt, Junge.«

»Wenn das die Geschichte eines einzigen Jahres ist«, sagte Alvin, »dann müßt Ihr hier an die zweihundert Jahre versammelt haben.«

Becca legte den Kopf schräg. »Noch mehr«, sagte sie.

»Wie stellt Ihr fest, was alles geschieht, um es in den Stoff einzuspinnen?«

»Ach, Alvin, es gibt eben Dinge, die manche Menschen einfach tun, ohne zu wissen, wie«, erwiderte sie.

»Und wenn Ihr die Fäden verändert, könntet Ihr dann auch die Geschehnisse verändern?« Alvin dachte an eine vorsichtige Umordnung, bei der man die Fäden gleichmäßiger verteilen und diese schwarzen Fäden weiter von einander abhalten könnte.

»So funktioniert das nicht«, sagte sie. »Mit dem, was ich hier tue, bewirke ich nichts. Die Dinge, die geschehen, verändern mich. Mach dir deswegen keine Sorgen, Alvin.«

»Aber vor zweihundert Jahren gab es in diesem Teil Amerikas doch noch gar keine Weißen. Wie kann dieser Stoff dann noch weiter zurückführen?«

Sie seufzte. »Isaac, warum hast du ihn mitgebracht? Damit er mich mit Fragen plagt?«

Ta-Kumsaw lächelte sie an.

»Junge, wirst du es auch niemandem erzählen?« fragte sie. »Wirst du das Geheimnis wahren, wer ich bin und was ich tue?«

»Ich verspreche es.«

»Ich webe, Alvin. Das ist alles. Meine ganze Familie bestand schon seit Menschengedenken aus Webern.«

»Dann ist das Euer Name? Becca Weaver? Mein Schwager, Brustwehr-Gottes, dessen Vater ist ein Weaver und…«

»Niemand nennt uns Weber«, erwiderte Becca. »Wenn sie überhaupt einen Namen für uns hätten, würden sie uns… nein.«

Sie wollte es ihm nicht sagen.

»Nein, Alvin, damit kann ich dich nicht belasten. Denn dann würdest du kommen wollen, um zu sehen…«

»Um was zu sehen?« fragte Alvin.

»Wie Isaac hier. Ihm hätte ich es auch nie sagen dürfen.«

»Er hat aber das Geheimnis bewahrt. Er hat niemals auch nur ein Wort davon erzählt.«

»Er hat es aber nicht vor sich selbst bewahrt. Er ist gekommen, um zu sehen.«

»Um was zu sehen?« fragte Alvin wieder.

»Um zu sehen, wie lang die Fäden sind, die meinen Webstuhl emporströmen.«

Erst dann bemerkte Alvin den hinteren Teil des Webstuhls, wo die Fäden von einem Gitter aus feinen Stahldrähten geordnet wurden. Die Fäden besaßen überhaupt keine Farbe. Sie waren von ungebleichtem Weiß. Baumwolle? Jedenfalls keine Wolle. Vielleicht Leichen. Angesichts all der Farben im fertigen Tuch hatte er gar nicht bemerkt, woraus es überhaupt bestand.

»Woher kommen die Farben?« fragte Alvin.

Niemand antwortete ihm.

»Manche der Fäden werden schlaff.«

»Manche von ihnen enden«, sagte Ta-Kumsaw.

»Viele von ihnen enden«, sagte Becca. »Und viele beginnen. Das ist das Muster des Lebens.«

»Was siehst du, Alvin?« fragte Ta-Kumsaw.

»Wenn diese schwarzen Fäden Euer Volk sind«, sagte Alvin, »dann würde ich sagen, daß eine Schlacht bevorsteht, in der viele sterben werden. Allerdings nicht wie am Tippy-Canoe. Nicht so schlimm.«

»Das sehe ich auch«, meinte Ta-Kumsaw.

»Und diese anderen Farben, die sich hier bündeln, was ist das? Eine Armee aus Weißen?«

»Es heißt, daß ein Mann namens Andrew Jackson aus dem westlichen Tennizy-Gebiet eine Armee aufstellt. Man nennt ihn Old Hickory.«

»Ich kenne den Mann«, sagte Ta-Kumsaw. »Er sitzt nicht allzu fest im Sattel.«

»Er hat mit den Weißen getan, was du mit den Roten getan hast, Isaac. Er ist im Westen auf und ab geritten, um die Leute aufzuwiegeln und ihnen etwas von der roten Gefahr zu erzählen. Über dich Isaac. Für jeden roten Soldaten, den du aufgestellt hast, hat er zwei Weiße rekrutiert. Und er vermutet, daß du nach Norden gehen willst, um dich mit einer französischen Armee zu verbünden. Er kennt alle deine Pläne.«

»Er weiß gar nichts«, antwortete Ta-Kumsaw. »Alvin, sage mir, wie viele Fäden der weißen Armee enden?«

»Viele. Vielleicht mehr. Ich weiß es nicht. Es ist ungefähr ausgewogen.«

»Dann sagt es mir nichts.«

»Es sagt dir, daß du deine Schlacht bekommen wirst«, sagte Becca. »Es sagt, daß es deinetwegen noch mehr Blut und Leid auf der Welt geben wird.«

»Aber es sagt nichts vom Sieg«, sagte Ta-Kumsaw.

»Das tut es nie.«

Es war dem menschlichen Auge unmöglich, den Anfang der Fäden auszumachen. Doch Alvin konnte mit anderen Augen schauen, mit inneren Augen, so wie er in das winzige Geschehen im menschlichen Körper hineinschauen konnte, und in die kalten, inwendigen Ströme des Gesteins. Und mit diesem verborgenen Blick schaute er in einen einzigen Faden hinein und verfolgte seinen Weg, bis er schließlich, weit von der Stelle entfernt, wo alle Fäden für das gewöhnliche Auge endeten, ebenfalls sein Ende fand. Der Mensch, von dessen Seele dieser Faden kündete, hatte ein recht langes Leben vor sich.

Alle diese Fäden mußten enden, wenn die entsprechenden Menschen starben. Und irgendwie mußten neue Fäden dort anfangen, wo ein Baby geboren wurde. Aus dem Nichts trat ein neuer Faden hervor.

»Es endet nie«, sagte Becca. »Ich kann alt werden und sterben, Alvin, aber der Stoff wird nicht aufhören.«

»Wißt Ihr, welcher Faden zu Euch gehört?«

»Nein«, antwortete sie. »Ich will es auch gar nicht wissen.«

»Ich glaube, ich würde es gern sehen. Ich möchte wissen, wie viele Jahre ich noch lebe.«

»Viele«, sagte Ta-Kumsaw. »Oder wenige. Alles, was zählt, ist, was du aus den Jahren machst, die du hast.«

»Es zählt aber auch, wie lange ich leben werde«, sagte Alvin. »Erzählt mir nicht, daß es nicht stimmt, weil Ihr es doch selbst nicht glaubt.«

Becca lachte.

»Miß Becca«, sagte Alvin, »wozu tut Ihr das, wenn Ihr die Dinge nicht geschehen macht?«

Sie zuckte die Achseln. »Es ist eine Aufgabe. Jeder hat seine Aufgabe, und das hier ist meine.«

»Ihr könntet hinausgehen und für die Menschen Dinge weben, die sie tragen könnten.«

»Die sie tragen und abnutzen, ja«, erwiderte sie. »Nein, Alvin, ich kann nicht hinausgehen.«

»Soll das heißen, daß Ihr die ganze Zeit im Zimmer bleibt?«

»Ich bleibe immer hier«, erwiderte sie. »In diesem Zimmer an meinem Webstuhl.«

»Ich habe dich einmal gebeten, mit mir zu kommen«, sagte Isaac.

»Und ich habe dich einmal gebeten, zu bleiben.« Sie lächelte zu ihm auf.

»Ich kann nicht für immer dort leben, wo das Land tot ist.«

»Und ich kann keinen Augenblick ohne meinen Stoff leben. Das Land lebt in deinem Geiste, Isaac, und so leben auch alle Seelen Amerikas in meinem. Aber ich liebe dich. Selbst jetzt noch.«

Alvin hatte das Gefühl, daß er besser nicht anwesend gewesen wäre. Ihm war, als hätten sie vergessen, daß er bei ihnen war, obwohl er gerade eben noch mit ihnen gesprochen hatte. Endlich ahnte er, daß sie wahrscheinlich lieber allein wären. Also trat er beiseite, ging wieder zu dem Tuch hinüber und begann erneut damit, seiner Bahn zu folgen, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, auf der Suche nach dem frühesten Ende des Tuchs. Doch er konnte es nicht finden. Tatsächlich mußte er in die falsche Richtung geschaut oder sich verirrt haben, denn schon bald fand er sich auf derselben, vertrauten Bahn wieder, die er schon einmal verfolgt hatte, der Bahn, die ihn beim ersten Mal zu dem Wegstuhl geführt hatte. Er kehrte wieder um und fand sich dennoch schon kurze Weile später wieder auf der Bahn zum Webstuhl.

Er blickte wieder zu Ta-Kumsaw und Becca hinüber. Ta-Kumsaw saß mit gekreuzten Beinen vor ihr auf dem Boden, er hielt den Kopf vorgeneigt. Mit sanften Händen streichelte sie sein Haar.

»Dieses Tuch ist älter als der älteste Teil dieses Hauses«, bemerkte Alvin.

Becca antwortete nicht.

»Dieses Tuch besteht schon ewig.«

»Seit Männer und Frauen zu weben gewußt haben, ist dieses Tuch durch den Webstuhl gelaufen.«

»Aber nicht durch diesen Webstuhl. Dieser Webstuhl ist neu«, sagte Alvin.

»Von Zeit zu Zeit wechseln wir die Webstühle. Wir bauen neue um die alten herum. Das tun Menschen unserer Art eben.«

»Dieses Tuch ist älter als die ältesten weißen Siedlungen in Amerika«, sagte Alvin.

»Es war einst Teil eines größeren Tuchs. Doch eines Tages, es war noch in unserer alten Heimat, da sahen wir, wie viele der Fäden sich an den Rand des Tuchs bewegten. Mein Urururgroßvater baute einen neuen Webstuhl. Wir hatten die Fäden, die wir brauchten. Sie lösten sich vom alten Tuch; wir haben sie von dieser Stelle aus fortgeführt. Es ist noch immer damit verbunden — das ist es, was du siehst.«

»Aber nun ist es hier.«

»Es ist hier und dort. Versuch nicht, es zu verstehen, Alvin. Ich habe es auch vor langem aufgegeben. Aber ist es nicht gut zu wissen, daß alle Lebensfäden in ein einziges, gewaltiges Tuch gesponnen werden?«

»Wer webt das Tuch für die Roten, die mit Tenskwa-Tawa nach Westen gegangen sind?« wollte Alvin wissen. »Diese Fäden sind aus dem Tuch ausgetreten.«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Becca. »Sagen wir einmal, daß ein neuer Webstuhl gebaut und nach Westen gebracht wurde.«

»Aber Ta-Kumsaw hat gesagt, daß kein Weißer jemals den Fluß nach Westen überqueren würde. Und der Prophet hat es auch gesagt.«

Ta-Kumsaw drehte sich langsam auf dem Boden um, ohne sich zu erheben. »Alvin«, sagte er, »du bist noch ein Junge.«

»Und ich war noch ein Mädchen«, erinnerte ihn Becca, »als ich dich zum ersten Mal liebte.« Sie wandte sich an Alvin. »Es ist meine Tochter, die den Webstuhl in den Westen gebracht hat. Sie konnte dorthin gehen, weil sie nur zur Hälfte weiß ist.« Wieder streichelte sie Ta-Kumsaws Haar. »Isaac ist mein Mann. Meine Tochter Wieza ist seine Tochter.«

»Mana-Tawa«, sagte Ta-Kumsaw.

»Eine Weile glaubte ich, daß Isaac hierbleiben würde, um bei uns zu leben. Doch dann sah ich, wie sich sein Faden von uns fortbewegte, obgleich sein Körper noch bei uns war. Ich wußte, daß er zu seinem Volk gehen würde. Ich wußte, weshalb er zu uns gekommen war, ganz allein aus dem Wald. Es gibt ein Verlangen, das noch tiefer gründet als das Verlangen des roten Mannes nach dem Gesang des lebenden Waldes, tiefer als die Sehnsucht des Schmieds nach dem heißen, feuchten Eisen, tiefer sogar noch als das Sehnen des Rutengängers nach dem hohlen Herz der Erde. Dieses Verlangen hat Ta-Kumsaw in unser Haus geführt. Damals war meine Mutter noch die Weberin am Webstuhl. Ich habe Ta-Kumsaw Lesen und Schreiben gelehrt; er hat sämtliche Bücher im Tal gelesen, und dann haben wir nach Philadelphia um weitere Bücher geschickt, und die hat er auch gelesen. Damals hat er dann seinen eigenen Namen gewählt, den Namen des Mannes, der die Principia geschrieben hat. Als wir volljährig wurden, hat er mich geheiratet. Ich habe ein Baby bekommen. Er ist fortgegangen. Als Wieza drei Jahre alt war, kam er zurück, hat einen Webstuhl gebaut und sie nach Westen über den Berg gebracht, damit sie bei seinem Volk lebt.«

»Und Ihr habt Eure eigene Tochter ziehen lassen?«

»Ja, wie einst eine meiner Vorfahrinnen an ihrem alten Webstuhl saß und ihre Tochter ziehen ließ, über den Ozean in dieses Land.« Becca lächelte Alvin traurig an. »Jeder von uns hat seine Aufgabe, aber es gibt keine Aufgabe, die nicht auch ihren Preis hätte. Als Isaac sie mitnahm, befand ich mich bereits in diesem Zimmer. Alles, was geschehen ist, war gut.«

»Ihr habt Ihn nicht einmal gefragt, wie es Eurer Tochter geht, als wir hier eintrafen! Ihr habt ihn immer noch nicht gefragt.«

»Ich brauchte ihn nicht zu fragen«, antwortete Becca. »Den Hütern des Webstuhls widerfährt nichts Böses.«

»Nun, und wenn Eure Tochter jetzt fort ist, wer soll dann einst Euren Platz einnehmen?«

»Vielleicht wird irgendwann ein anderer Ehemann kommen. Einer, der in diesem Haus bleibt und mir einen andern Webstuhl baut und… und noch einen weiteren für eine Tochter, die noch nicht geboren ist.«

»Und was geschieht danach mit Euch?«

»Das sind viele Fragen, Alvin«, sagte Ta-Kumsaw. Doch seine Stimme war sanft und müde. Alvin aber hegte keine Ehrfurcht vor dem Ta-Kumsaw, der die Bücher des weißen Mannes las, und so beachtete er den milden Tadel nicht.

»Was geschieht mit Euch, wenn Eure Tochter Euren Platz einnimmt?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Becca. »Aber es heißt, daß wir dann an den Ort zurückkehren, aus dem die Fäden entspringen.«

»Was tut ihr da?«

»Wir spinnen.«

Alvin versuchte sich Beccas Mutter vorzustellen und ihre Großmutter und die Frau davor, alle in einer Reihe. Er versuchte sich vorzustellen, wie viele es sein mochten, wie sie alle an ihren Spinnrädern saßen und Fäden aus der Spindel hervortreten ließen, einen weißen Faden, der irgendwohingehen würde, hingehen und verschwinden, bis er irgendwann riß.

Und während er sich dies vorstellte, meinte er auch, daß er etwas von diesem Gewebe verstand. Davon, wie es immer kräftiger wurde, wie jeder Faden darin verwoben wurde. Wie jene, die oben am Rande des Tuchs umhersprangen und nur gelegentlich ins mittlere Muster eindrangen, nur wenig zur Stärke des Tuchs beitrugen, aber viel zu seiner Farbe. Während manche, deren Farbe kaum zu sehen war, am tiefsten verwoben und alles zusammenhielten. In diesen verborgenen, verbindenden Fäden lag etwas Gutes. Von diesem Augenblick an sollte Alvin immer wieder einen ruhigen Mann oder eine stille Frau bemerken, die von den anderen kaum beachtet wurden und dennoch das Leben eines Dorfs zusammenhielten und alles miteinander verbanden. Stumm sollte Alvin solchen Menschen in seinem Herzen Ehre erweisen, weil er wußte, wie ihr Leben den Stoff kräftigte.

Er dachte auch an die vielen Fäden, die an jenem Punkt endeten, an dem Ta-Kumsaws Schlacht stattfinden sollte. Es war, als hätte Ta-Kumsaw an das Tuch die Schere angelegt.

»Gibt es denn keine Möglichkeit, die Dinge zu heilen?« fragte Alvin. »Gibt es denn keine Hoffnung darauf, diese Schlacht von vorneherein zu verhindern, damit alle diese Fäden nicht zerstört werden?«

Becca schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Isaac sich weigern würde hinzugehen, würde die Schlacht doch ohne ihn stattfinden. Nein, die Fäden werden durch nichts zerstört, was Isaac getan hat. Sie sind in jenem Augenblick zerrissen, als irgendein roter Mann sich zu einer Handlung entschied, die mit Sicherheit seinen Tod in der Schlacht bedeuten mußte. Sollte dir das Sorgen machen, so kann ich dir sagen, daß dies nicht zu jener Zeit war, als du und Isaac umherwanderten und den Tod predigten. Ebensowenig hat Old Hickory Menschen getötet. Ihr seid alle nur umhergegangen und habt verschiedene Wege gewiesen. Sie hätten euch nicht glauben müssen. Sie hätten sich nicht zum Sterben entscheiden müssen.«

»Aber sie wußten doch gar nicht, was sie da wählten.«

»Sie wußten es doch«, widersprach Becca. »Wir wissen es immer. Wir gestehen es uns zwar nicht ein; erst im Augenblick des Todes selbst, Alvin, erkennen wir unser ganzes Leben und begreifen, wie wir an jedem Tag unseres Lebens die Art unseres Todes gewählt haben.«

»Und was ist, wenn irgend jemandem etwas auf den Kopf fällt?«

»Dann hat er es sich ausgesucht, genau dort zu sein, wo so etwas passieren kann, und er hat nicht nach oben geschaut.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Alvin. »Ich glaube, daß die Menschen immer ändern können, was auf sie zukommt, und ich glaube auch, daß manchmal Dinge geschehen, die niemand haben wollte.«

Becca lächelte ihn an und streckte den Arm aus. »Komm her, Alvin. Laß mich dich festhalten. Ich liebe deinen schlichten Glauben, Kind. Diesen Glauben möchte ich festhalten, auch wenn ich selbst nicht daran glauben kann.«

Sie hielt ihn eine Weile fest, und ihr Arm fühlte sich so sehr wie der seiner eigenen Mutter an, kräftig und sanft zugleich, daß er ein wenig weinte. Er war zu klug, darum zu bitten, seinen eigenen Faden schauen zu dürfen, obwohl er sich vorstellte, daß sein Faden leicht zu finden sein mußte — es war der eine Faden, der in jenem Teil des Stoffs geboren worden war, welcher dem weißen Mann gehörte, der aber hinüberwechselte und grün wurde. Bestimmt war er grün, wie die Fäden der Anhänger des Propheten.

Einer Sache war er sich auch gewiß, daß er nicht einmal fragte, obwohl er sich wahrhaftig nicht scheute, jede Frage zu stellen, die ihm einfiel: Er war sicher, daß Becca wußte, welcher Faden Ta-Kumsaw gehörte, und er wußte auch, daß seiner und Ta-Kumsaws Faden miteinander verknüpft waren, zumindest für eine Weile. Solange Alvin bei ihm blieb, würde Ta-Kumsaw am Leben bleiben. Alvin wußte, daß die Prophezeiung zwei Wege kannte: Jenen, in dem Alvin zuerst starb und Ta-Kumsaw allein zurückließ, der dann ebenfalls sterben würde; und jener, in dem keiner von beiden starb und ihre Fäden weiterliefen, bis sie schließlich verschwanden.

Alvin verbrachte die Nacht auf einer Matte auf dem Fußboden der Bibliothek. Er schlief ein, nachdem er ein paar Seiten in einem Buch gelesen hatte, das von einem Mann namens Adam Smith geschrieben war. Er wußte nicht, wo Ta-Kumsaw schlief, und er wollte auch nicht danach fragen. Alvin war klar, daß es Kinder nichts anging, was ein Mann mit seiner Frau tat; doch er fragte sich, ob Ta-Kumsaws Hauptgrund, hierher zurückzukehren, nicht so sehr sein Wunsch gewesen war, den Webstuhl zu betrachten, sondern vielmehr das Verlangen, von dem Becca gesprochen hatte. Das Bedürfnis, eine weitere Tochter für Beccas Webstuhl zu zeugen. Alvin fand, daß es keine schlechte Idee war, das Gewebe des weißen Amerika den Händen der Tochter eines roten Mannes zu überantworten.

Am nächsten Morgen führte Ta-Kumsaw ihn wieder zurück in den Wald. Sie sprachen weder von Becca noch von sonst etwas. Das einzige, was Ta-Kumsaw von sich gab, waren Anweisungen. Alvin hörte ihn nicht mehr in seiner Isaac-Stimme sprechen, so daß er sich schon zu fragen begann, ob er sie wirklich gehört hatte.

Am Nordufer des Hio, dort, wo der Wobbish mündete, versammelte sich die Armee der Roten; es waren mehr Menschen, als Alvin es sich jemals hätte vorstellen können.

Weil eine solche Gesellschaft zwangsläufig hungrig werden mußte, kamen die Tiere auch zu ihnen, ihr Bedürfnis spürend und das erfüllend, wofür sie geboren worden waren. Wußte der Wald etwa, daß all seine Hoffnungen darauf, daß er den Ängsten des weißen Mannes würde widerstehen können, von Ta-Kumsaws Sieg abhingen?

Nein, entschied Alvin, der Wald tat nur, was er immer tat — er sorgte für die Seinen.

Es regnete und die Brise wehte kühl an jenem Morgen, als sie vom Hio gen Norden aufbrachen, doch was bedeutete dem roten Mann schon der Regen? Der Kundschafter der Franzosen in Detroit war eingetroffen. Es war an der Zeit, die Truppen zusammenzuführen und die Armee von Old Hickory nach Norden zu locken.

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