15. Zwei-Seelen-Mann

Geschichtentauscher erwachte, als es zu dämmern begann. Sofort merkte er, daß etwas nicht stimmte. Ta-Kumsaw saß auf dem Gras, das Gesicht nach Westen gewandt, schaukelte vor und zurück und atmete schwer, als würde er unter einem stumpfen und schweren Schmerz leiden. War er krank?

Nein. Alvin hatte versagt. Das Gemetzel hatte begonnen. Ta-Kumsaws Schmerz entsprang nicht seinem eigenen Körper. Es war Ta-Kumsaws sterbendes Volk, irgendwo in der Ferne, und was er spürte, das war nicht Trauer und nicht Mitleid, es war der Schmerz seines Todes. Für einen Roten wie Ta-Kumsaw bedeutete ein solch starkes Gefühl, daß viele, viele Seelen den Tod gefunden haben mußten.

Wie so oft schon zuvor, richtete Geschichtentauscher einige stumme Worte an Gott, die immer auf dieselbe Frage hinausliefen: Warum machst du uns so viele Mühe, wenn am Schluß doch alles sinnlos ist? Geschichtentauscher ertrug die Sinnlosigkeit des Ganzen nicht. Ta-Kumsaw und Alvin waren durch das Land gejagt, und er, Geschichtentauscher, war so schnell gelaufen, wie es ein weißer Mann nur konnte; und Alvin hatte den Achtgesichtigen Hügel aufgesucht — aber was hatte es bewirkt? Hatten sie auch nur ein Leben gerettet? Im Augenblick starben so viele, daß Ta-Kumsaw es sogar auf die weite Entfernung spürte.

Und wie üblich hatte Gott Geschichtentauscher nicht viel zu sagen.

Geschichtentauscher wollte Ta-Kumsaw nicht stören. Genauer gesagt erriet er, daß es Ta-Kumsaw nicht sonderlich danach verlangte, ausgerechnet in diesem Moment mit einem Weißen Mann zu reden. Und doch spürte er eine Vision, die in seinem Inneren wuchs. Keine Vision, wie sie die Propheten Gerüchten zufolgte schauten, keine Vision der inneren Schau. Geschichtentauscher erfuhr Visionen als Worte, und er wußte nicht, um welche Vision es sich handelte, bis seine eigenen Worte es ihm sagten. Und selbst dann wußte er noch, daß er kein Prophet war; seine Visionen waren nie von jener Art, wie sie die Welt veränderten, nur von jener, wie sie die Welt beschrieben, wie sie sie verstanden. Jetzt aber verwandte er keinen einzigen Gedanken darauf, ob seine Visionen würdig waren oder nicht. Die Vision kam zu ihm, und er mußte sie festhalten. Da ihm aber an diesem Ort die Möglichkeit genommen war, Worte aufzuschreiben, konnte er sie nicht schriftlich festhalten. Was blieb ihm dann anderes übrig, als sie laut auszusprechen?

Also sprach Geschichtentauscher, formte die Worte zu Zweizeilern, während er sie aufsagte, weil dies die Weise war, wie Visionen auszudrücken waren, durch Dichtung. Es war zunächst eine verwirrende Geschichte, und Geschichtentauscher war sich nicht sicher, ob es Gott oder Satan war, dessen entsetzliches Licht ihn blendete, als die Worte hervorperlten. Er wußte nur, daß der, der es sein mochte, der der Welt ein solches Gemetzel beschert hatte, Geschichtentauschers Zorn wahrhaftig verdient hatte, und so zögerte er auch nicht, ihn in seiner Sprache zu geißeln.

So intensiv war der Strom der Worte, daß Geschichtentauscher dabei kaum atmete, keine sinnspendende Pause im Rhythmus seiner Rede einlegte, daß seine Stimme lauter und lauter wurde, als sich ihm die Zeilen entrangen, und daß er gegen die harte Mauer aus Luft anrannte, die ihn umgab, als wollte er Gott herausfordern, ihn anzuhören und seinem Trotz zu widerstehen.

»Halt!«

Es war Ta-Kumsaw. Geschichtentauscher wartete mit aufgesperrtem Mund, weitere Worte, weitere Pein wartete darauf, aus ihm hervorzuströmen. Doch Ta-Kumsaw war jemand, dem man gehorchte.

»Es ist vorbei«, sagte Ta-Kumsaw.

»Sind alle tot?« flüsterte Geschichtentauscher.

»Von hier aus kann ich kein Leben spüren«, antwortet Ta-Kumsaw. »Ich kann den Tod spüren — die Welt ist zerrissen wie ein altes Tuch, nie kann sie wieder geflickt werden.« Verzweiflung wich sofort dem kalten Haß. »Aber man kann sie reinigen.«

»Wenn ich es hätte verhindern können, Ta-Kumsaw …«

»Ja, Ihr seid ein guter Mann, Geschichtentauscher. In Eurem Volk gibt es auch andere von Eurer Art. Brustwehr-Gottes Weaver ist ein solcher Mann. Und wenn alle weißen Männer, die kämen, so wären wie Ihr, um von diesem Land zu lernen, dann gäbe es zwischen uns keinen Krieg.«

»Es gibt auch keinen Krieg zwischen Euch und mir, Ta-Kumsaw.«

»Könnt Ihr die Farbe Eurer Haut ändern? Kann ich meine ändern?«

»Es ist nicht unsere Haut, es ist unser Herz…«

»Wenn wir dastehen, alle roten Männer auf einer Seite des Feldes und alle weißen Männer auf der anderen Seite, wo werdet Ihr dann stehen?«

»In der Mitte, um beide Seiten anzuflehen, zu…«

Wie hätte Geschichtentauscher ihm widersprechen können? Vielleicht hätte er den Mut aufgebracht, eine solche Entscheidung zu verweigern. Vielleicht aber auch nicht. »Betet zu Gott, daß es niemals dazu kommen wird.«

»Dazu ist es bereits gekommen, Geschichtentauscher.« Ta-Kumsaw nickte. »Nach diesem Tag werde ich keine Schwierigkeiten mehr haben, endlich meine Rotenarmee auszuheben.«

Geschichtentauschers Erwiderung brach spontan aus ihm heraus: »Dann ist es ein schreckliches Werk, das Ihr gewählt habt, wenn der Tod so vieler guter Menschen es beflügelt!«

Ta-Kumsaw antwortete mit einem Brüllen; plötzlich sprang er Geschichtentauscher an, und warf ihn auf den Grasboden der Wiese. Ta-Kumsaws rechte Hand packte des weißen Haar; seine Linke drückte gegen Geschichtentauschers Kehle. »Alle weißen Männer werden sterben, alle, die nicht über das Meer fliehen!«

Und doch stand ihm der Sinn nicht nach Mord. Selbst in seinem Zorn drückte Ta-Kumsaw nicht so fest zu, als daß er Geschichtentauscher erwürgt hätte. Im nächsten Augenblick stieß sich der rote Mann ab und rollte beiseite, vergrub sein Gesicht im Gras, Arme und Beine ausgestreckt, um mit seinem Körper soviel von der Erde zu berühren, wie er nur konnte.

»Es tut mir leid«, flüsterte Geschichtentauscher. »Ich war im Unrecht, so etwas zu sagen.«

»Lolla-Wossiky!« .rief Ta-Kumsaw. »Ich wollte nicht recht behalten, mein Bruder!«

»Ist er am Leben?« fragte Geschichtentauscher.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ta-Kumsaw. Er drehte den Kopf, um die Wange gegen das Gras zu pressen; seine Blicke jedoch durchbohrten Geschichtentauscher, als wollte er ihn damit töten. »Geschichtentauscher, diese Worte, die Ihr gesagt habt — was haben sie zu bedeuten? Was habt Ihr gesehen?«

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Geschichtentauscher. Und dann fuhr er fort, obgleich er die Wahrheit seiner Worte erst durch das Sprechen selbst erfuhr: »Es war Alvins Vision, von der ich gesprochen habe. Es war, was er schaute. Meine Brüder und mein Vater gehen voran, die Himmel befleckt von menschlichem Blute. Es war seine Vision und mein Gedicht.«

»Und wo ist der Junge?« fragte Ta-Kumsaw. »Die ganze Nacht hat er auf dem Hügel verbracht, und wo ist er jetzt?« Ta-Kumsaw sprang auf, er richtete sich nach dem Achtgesichtigen Hügel aus. »Niemand verbringt dort die ganze Nacht, und nun ist die Sonne schon aufgegangen und er ist nicht wieder zurückgekehrt.« Abrupt wandte sich Ta-Kumsaw Geschichtentauscher zu. »Er kann nicht herunterkommen.«

»Was meint Ihr damit?«

»Er braucht mich«, erklärte Ta-Kumsaw. »Ich kann es spüren. Eine schreckliche Wunde ist in ihm. Seine ganze Kraft verblutet in die Erde.«

»Was ist dort auf dem Hügel? Was hat ihn verwundet?«

»Wer weiß schon, was ein weißer Junge im Inneren des Hügels findet?« erwiderte Ta-Kumsaw. Dann wandte er sich wieder dem Hügel zu, als spürte er einen neuen Ruf. »Ja«, sagte er, und dann ging er schnell auf den Hügel.

Geschichtentauscher folgte ihm, ohne ein Wort über den Widerspruch des ganzen zu verlieren — den Widerspruch, der darin bestand, daß Ta-Kumsaw geschworen hatte, Krieg gegen die Weißen zu führen, bis alle entweder tot waren oder sein Land verlassen hatten, um dann doch zum Achtgesichtigen Hügel zurückzueilen, um einen weißen Jungen zu retten.

Gemeinsam blieben sie an der Stelle stehen, wo Alvin seinen Aufstieg begonnen hatte.

»Könnt Ihr die Stelle sehen?« fragte Geschichtentauscher.

»Da ist kein Pfad«, antwortete Ta-Kumsaw.

»Aber gestern habt Ihr ihn doch gesehen«, warf Geschichtentauscher ein.

»Gestern gab es auch noch einen Pfad.«

»Dann muß es einen anderen Weg geben«, entschied Geschichtentauscher. »Euren eigenen Weg auf den Hügel.«

»Ein anderer Weg würde mich nicht zur selben Stelle führen.«

»Komm schon, Ta-Kumsaw, der Hügel ist zwar groß, aber doch nicht so groß, daß Ihr dort oben jemanden nicht finden würdet, wenn Ihr nur eine Stunde nach ihm sucht.«

Ta-Kumsaw musterte Geschichtentauscher nur verächtlich.

Eingeschüchtert sprach Geschichtentauscher schon weniger zuversichtlich weiter. »Man muß also immer denselben Weg nehmen, um zum selben Ort zu gelangen?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Ta-Kumsaw. »Ich habe noch nie davon gehört, daß jemand den Hügel emporgestiegen ist und daß ein anderer ihm auf demselben Pfad gefolgt wäre.«

»Geht ihr denn nie zu zweit oder zu dritt hinauf?«

»Dies ist der Ort, wo das Land zu allen Wesen spricht, die hier leben. Die Sprache des Landes sind das Gras und die Bäume; seine Zier sind die Tiere und Vögel.«

Geschichtentauscher bemerkte, daß Ta-Kumsaw das Englische wie ein weißer Mann beherrschte, wenn er wollte. Nein, wie ein gebildeter Weißer. Zier. Wo hätte er im Hio-Land ein solches Wort lernen können? »Wir können also nicht hinauf?«

Ta-Kumsaws Miene blieb ausdruckslos.

»Nun, ich sage, wir sollten dennoch hinauf. Wir wissen, welchen Weg er genommen hat — also nehmen wir ihn auch, ob wir ihn sehen können oder nicht.«

Ta-Kumsaw antwortete nicht.

»Wollt Ihr etwa nur dastehen und ihn dort oben sterben lassen?«

Zur Antwort trat Ta-Kumsaw einen Schritt vor, so daß er Gesicht an Gesicht — nein, Brust an Brust — vor Geschichtentauscher stand. Ta-Kumsaw packte seine Hand, legte den anderen Arm um Geschichtentauscher, drückte ihn eng an sich. Ihre Beine verworben sich miteinander; ein Außenstehender hätte wohl kaum noch feststellen können, wem welches Bein gehörte. Geschichtentauscher spürte den Herzschlag des roten Mannes, sein Rhythmus wirkte auf Geschichtentauschers Körper gebieterischer als der Schlag seines eigenen heißen Pulses. »Wir sind nicht zwei Männer«, flüsterte Ta-Kumsaw. »Wir sind hier kein Roter und kein weißer Mann, zwischen denen vergossenes Blut fließt. Wir sind ein einziger Mann mit zwei Seelen, einer roten Seele und einer weißen Seele, ein einziger Mann.«

»Also gut«, sagte Geschichtentauscher. »Es soll so geschehen, wie Ihr sagt.«

Ta-Kumsaw hielt Geschichtentauscher immer noch fest, während er sich in der Umarmung drehte; ihre Köpfe preßten sich aneinander, ihre Ohren verschmolzen so eng, daß Geschichtentauscher nichts mehr hören konnte außer Ta-Kumsaws Puls, wie das Hämmern von Meereswellen in seinem Ohr. Doch nun, da ihre Körper so eng miteinander verbunden waren, daß sie beide nur noch einen einzigen gemeinsamen Herzschlag zu kennen schienen, konnte Geschichtentauscher plötzlich deutlich einen Weg erkennen, der den Hang des Hügels hinaufführte.

»Könnt Ihr…«, fing Ta-Kumsaw an.

»Ich sehe ihn«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Bleibt weiterhin so dicht bei mir«, gebot Ta-Kumsaw. »Nun sind wir wie Alvin — eine rote Seele und eine weiße Seele in einem einzigen Körper.«

Es war beschwerlich, ja regelrecht albern, zu versuchen, den Hügel auf diese Weise zu besteigen. Doch sobald sie sich beim Aufstieg nur ein wenig voneinander lösten, schien der Pfad sofort wieder beschwerlicher zu werden, versteckte er sich hinter irgendeinem Schlinggewächs, einem Strauch, einem herabhängenden Ast. Also klammerte sich Geschichtentauscher so eng an Ta-Kumsaw, wie der rote Mann sich an ihn klammerte, und zusammen bahnten sie sich einen Weg den Hügel hinauf.

Oben angekommen, stellte Geschichtentauscher zu seiner Überraschung fest, daß sie sich nicht auf dem Gipfel eines einzigen Hügels befanden, sondern vielmehr auf einem Ring aus acht verschiedenen Hügeln, zwischen denen ein achteckiges Tal lag. Ta-Kumsaw war davon ebenso überrascht. Er wirkte verunsichert und hielt Geschichtentauscher nicht mehr ganz so fest.

»Wo würde ein weißer Mann hier hingehen?« fragte Ta-Kumsaw.

»Nach unten, natürlich«, erwiderte Geschichtentauscher. »Wenn ein weißer Mann ein Tal erblickt, geht er hinunter, um nachzusehen, was es dort gibt.«

»Ist das für euch immer so?« fragte Ta-Kumsaw. »Nicht zu wissen, wo ihr seid, wo irgend etwas ist?«

Erst dann erkannte Geschichtentauscher, daß Ta-Kumsaw hier nicht über seinen Landsinn verfügte. An diesem Ort war er ebenso blind wie ein weißer Mann.

»Gehen wir hinunter«, sagte Geschichtentauscher. »Und noch etwas — wir brauchen uns jetzt nicht mehr so fest aneinanderzuklammern. Es ist ein grasbewachsener Hügel, und wir brauchen keinen Weg.«

Sie überquerten einen Bach und fanden den Jungen auf einem Grasstück, dicht hing der Nebel über dem Boden. Alvin war nicht verletzt, doch er lag zitternd da wie im Fieber, obwohl seine Stirn kühl war und sein Atem flach und schnell ging. Wie Ta-Kumsaw gesagt hatte: Er lag im Sterben.

Geschichtentauscher berührte ihn, streichelte ihn, dann schüttelte er ihn; er versuchte, den Jungen zu wecken. Alvin gab kein Anzeichen von sich, daß er sie bemerkte. Ta-Kumsaw war keine Hilfe. Er saß neben dem Jungen und hielt seine Hand, und wimmerte leise.

Doch Geschichtentauscher war kein Mensch, der der Verzweiflung nachgab, falls es das sein sollte, was Ta-Kumsaw tat. Er blickte sich um. In der Nähe stand ein Baum, sein Laub war so gelbgrün, daß es im Licht der Dämmerung wirkte, als sei es aus Blattgold. Am Baum hing eine helle Frucht, nein, es war eine weiße Frucht. Und plötzlich, kaum hatte er sie erblickt, konnte Geschichtentauscher sie riechen, nahm er ihren stechend-süßen Geruch wahr, so daß er sie auch beinahe schmecken konnte. Ohne nachzudenken schritt er auf den Baum zu, pflückte die Frucht, brachte sie zu Alvin zurück, der auf dem Boden lag, wie ein ganz kleines Kind. Geschichtentauscher fuhr mit der Frucht unter Alvins Nase hin und her, damit ihr Dürft wie Riechsalz wirken und ihn wiederbeleben konnte. Plötzlich begann Alvin zu keuchen. Er öffnete die Augen, seine Lippen lösten sich voneinander, und zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen ertönte ein Wimmern, das fast genauso klang wie Ta-Kumsaws; fast wie das Wimmern eines getretenen Hundes.

»Nimm einen Bissen«, sagte Geschichtentauscher.

Ta-Kumsaw beugte sich vor, packte Alvins Unterkiefer mit der einen Hand und den Oberkiefer mit der anderen, seine Finger verschränkten sich über Alvins Zähnen. Mit ungeheurer Anstrengung riß er Alvins Mund auf. Geschichtentauscher preßte Alvin die Frucht zwischen die Zähne. Dann drückte Ta-Kumsaw wieder zusammen. Die Frucht brach auf, sie ergoß ihren klaren Saft in Alvins Mund und er troff seine Wange hinab ins Gras. Langsam und mit gewaltiger Anstrengung begann Alvin zu kauen. Tränen strömten aus seinen Augen. Er schluckte. Plötzlich streckte er die Hände aus, packte Geschichtentauscher am Hals und Ta-Kumsaw an den Haaren, und richtete sich auf, bis er aufrecht saß. Er hielt sich an den beiden fest, zog ihre Gesichter so eng an seines heran, daß sie alle gemeinsam dieselbe Luft atmeten, und weinte, bis ihrer aller drei Gesichter von Tränen benetzt waren; und weil Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher ebenso weinten, konnte sich keiner sicher sein, wessen Tränen es waren, die die Haut eines jeden bedeckten.

Alvin sprach nur wenig, aber genug. Er erzählte ihnen alles, was an diesem Tag am Tippy-Canoe geschehen war, vom Blut in dem Fluß, von den tausend Überlebenden, die das glatt und hart gewordene Wasser überquert hatten; vom Blut an den Händen der Weißen und vor allem vom Blut an den Händen eines bestimmten Mannes.

»Das genügt nicht«, sagte Ta-Kumsaw.

Geschichtentauscher widersprach nicht. Es stand einem weißen Mann nicht an, Ta-Kumsaw zu sagen, daß die Mörder seines Volkes die gerechte Strafe erlitten hatten. Und außerdem war Geschichtentauscher sich nicht sicher, ob sie überhaupt gerecht war.

Alvin berichtete ihnen, wie er den Abend und die Nacht damit verbracht hatte, Measure dem Tod zu entreißen, und wie er am Morgen dem Propheten das unermeßliche Leid genommen hatte, als neuntausend unschuldig Gemetzelte unentwegt in seinem Geist aufschrien — neuntausendmal jener dumpfe, schwarze Schrei, der ihn Jahre zuvor heimgesucht hatte. Was war schwieriger gewesen — Measure zu heilen oder Lolla-Wossiky? »Es war genau, wie Ihr gesagt habt«, flüsterte Alvin Geschichtentauscher zu. »Ich kann diese Ziegelmauer einfach nicht schneller aufbauen, als sie zusammenbricht.« Dann schlief er ein, erschöpft, aber beruhigt.

Geschichtentauscher und Ta-Kumsaw blickten einander an. »Jetzt kenne ich seine Wunde«, sagte Ta-Kumsaw. »Er trauerte um sein eigenes blutbeflecktes Volk.«

»Seine Trauer galt den Toten und auch den Lebenden«, erwiderte Geschichtentauscher. »So, wie ich Alvin kenne, besteht seine tiefste Wunde darin, daß er glaubt, versagt zu haben, daß er sich nur stärker hätte abmühen müssen, um Measure rechtzeitig dorthin zu bringen, bevor der erste Schuß fiel.«

»Weiße Männer trauern nur um Weiße«, sagte Ta-Kumsaw.

»Belügt Euch ruhig selbst, wenn es Euch gefällt«, entgegnete Geschichtentauscher, »aber mich könnt Ihr mit Lügen nicht narren.«

»Rote Männer aber trauern überhaupt nicht«, fuhr Ta-Kumsaw fort. »Rote Männer werden weißer Blut in die Erde strömen lassen für jenes Blut, das heute vergossen wurde.«

»Ich dachte, Ihr würdet dem Land dienen«, warf Geschichtentauscher ein. »Begreift Ihr denn gar nicht, was heute geschehen ist? Erinnert Ihr Euch denn nicht daran, wo wir hier sind? Ihr habt einen Teil des Achtgesichtigen Hügels kennengelernt, von dem Ihr nicht einmal wußtet, daß er existiert, und weshalb? Weil das Land uns gemeinsam an diesen Ort geführt hat, um …«

Ta-Kumsaw hob eine Hand. »Um diesen Jungen zu retten.«

»Weil Rot und Weiß dieses Land teilen können, wenn wir…«

Ta-Kumsaw streckte den Arm vor und legte einen Finger auf Geschichtentauschers Lippen.

»Ich bin kein Farmer, der Geschichten von fernen Orten hören will«, sagte Ta-Kumsaw. »Geht und erzählt Eure Geschichten jenen, die sie hören wollen.«

Geschichtentauscher schlug Ta-Kumsaws Hand beiseite. Eigentlich hatte er lediglich den Arm des roten Mannes wegschieben wollen, statt dessen aber schlug er mit viel zu großer Kraft zu, so daß Ta-Kumsaw das Gleichgewicht verlor. Ta-Kumsaw sprang sofort auf, und Geschichtentauscher tat es ihm gleich.

»So fängt es an!« rief Ta-Kumsaw.

Alvin, der zu ihren Füßen zwischen ihnen lag, bewegte sich.

»Ein roter Mann hat Euch zornig gemacht, und Ihr habt ihn geschlagen, genau wie ein Weißer, keine Geduld…«

»Ihr habt mir gesagt, ich solle schweigen, Ihr habt gesagt, meine Geschichten wären…«

»Worte, das ist es, was ich Euch gegeben habe, Worte und eine sanfte Berührung, und Ihr habt mir mit einem Hieb geantwortet.« Ta-Kumsaw lächelte. Es war ein entsetzliches Lächeln, wie die Zähne eines Tigers, die in der Dunkelheit des Dschungels aufblitzten, seine Augen glühten, seine Haut war flammenhell.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht…«

»Der weiße Mann will nie irgend etwas, er kann sich nur nicht beherrschen, immer war alles nur ein Versehen. Das denkt Ihr doch wohl, nicht wahr, weißer Lügner! Alvins Volk hat mein Volk getötet, weil es ein Versehen war, weil sie glaubten, daß zwei weiße Jungen tot seien, und wegen zweier weißer Jungen haben sie zugeschlagen, genau wie Ihr es getan habt, und sie haben neuntausend von meinem Volk getötet, Säuglinge und Mütter, alte Männer und kleine Jungen, ihre Kanonen…«

»Ich habe auch gehört, was Alvin erzählt hat.«

»Gefällt Euch meine Geschichte etwa nicht? Wollt Ihr sie gar nicht hören? Ihr seid Weiß, Geschichtentauscher. Ihr seid wie alle weißen Männer, schnell dabei, um Verzeihung zu bitten, doch sehr langsam, wenn Ihr sie selbst gewähren sollt. Immer erwartet Ihr Geduld, braust dabei aber auf wie ein Windstoß — Ihr brennt doch gleich einen ganzen Wald nieder, nur weil Ihr über eine Wurzel gestolpert seid!« Ta-Kumsaw machte kehrt und begann, schnell den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.

»Wie könnt Ihr ohne mich gehen!« rief Geschichtentauscher ihm nach. »Wir müssen zusammen von hier fort!«

Ta-Kumsaw blieb stehen, drehte sich um, legte den Kopf zurück und lachte ohne Fröhlichkeit. »Um hinunterzukommen brauche ich keinen Pfad, weißer Lügner!« Dann lief er auch schon weiter.

Alvin war inzwischen erwacht.

»Es tut mir leid, Alvin«, sagte Geschichtentauscher. »Ich wollte nicht…«

»Nein«, erwiderte Alvin, »laß mich raten, was er getan hat. Er hat Euch auf diese Weise berührt.« Und Alvin berührte Geschichtentauschers Lippen genauso wie Ta-Kumsaw es getan hatte.

»Ja.«

»Das tun Shaw-Nee-Mütter mit kleinen Jungen, die zuviel Lärm machen. Aber wenn ein roter Mann das mit einem anderen tut… Er wollte Euch provozieren.«

»Ich hätte ihn nicht schlagen dürfen.«

»Dann hätte er Euch so lange weiter provoziert, bis Ihr es doch getan hättet.«

Darauf wußte Geschichtentauscher keine Antwort. Wahrscheinlich hatte der Junge recht. Das einzige, was Ta-Kumsaw heute nicht ertragen konnte, war das friedliche Zusammensein mit einem weißen Mann.

Alvin schlief wieder ein.


Die Sonne neigte sich schon am Horizont, als Alvin wieder erwachte und Geschichtentauscher ihm auf die Beine half.

»Wenn ich stehen muß, fühle ich mich wie ein neugeborenes Fohlen«, sagte Alvin. »Ich fühlte mich so schwach.«

»Du hast ja auch in den letzten vierundzwanzig Stunden nur knapp die Hälfte der Arbeiten des Herkules vollbracht«, meinte Geschichtentauscher.

»Des Herrn was?«

»Herkules. Ein Grieche.«

»Ich muß Ta-Kumsaw suchen«, sagte Alvin. »Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen, aber ich war so müde.«

»Du bist auch weiß«, erwiderte Geschichtentauscher. »Glaubst du etwa, daß er dich bei dir haben will?«

»Tenskwa-Tawa hat prophezeit«, erwiderte Alvin, »daß Ta-Kumsaw so lange nicht sterben wird, wie ich bei ihm bin.«

Geschichtentauscher stützte Alvin. Sie stiegen den sanften, grasbewachsenen Abhang hinauf. Dann blieben sie stehen und sahen nach unten. Geschichtentauscher konnte keinen Pfad ausmachen — nur Dornensträucher, Schlingpflanzen, Büsche. »Da komme ich nicht durch.«

Alvin musterte ihn verwundert. »Der Pfad ist doch ganz deutlich zu sehen.«

»Für dich vielleicht«, antwortete Geschichtentauscher. »Aber für mich nicht.«

»Ihr seid doch auch hierhergekommen«, wandte Alvin ein.

»Ja, zusammen mit Ta-Kumsaw«, versetzte Geschichtentauscher.

»Der ist auch hinuntergekommen.«

»Ich bin kein roter Mann.«

»Ich werde Euch führen.«

Alvin machte einige forsche Schritte vorwärts, ganz leicht, wie bei einem Sommerspaziergang. Für Geschichtentauscher aber sah es so aus, als würden sich die Dornensträucher kurz für ihn öffnen, um sich hinter ihm sofort wieder dicht zu schließen. »Alvin!« rief er. »Bleib bei mir!«

Alvin kam zurück und nahm ihn bei der Hand. »Geht ganz dicht hinter mir«, forderte er ihn auf.

Geschichtentauscher versuchte es, doch noch immer schnellten die Dornenzweige zurück und schlugen ihm ins Gesicht.

Solange Alvin voranging, kam auch Geschichtentauscher weiter, doch er fühlte sich dabei, als würde man ihn von hinten durchpeitschen. Nicht einmal seine Lederkleidung konnte solchen dolchspitzen Dornen und peitschenden Zweigen längere Zeit trotzen. Er spürte, wie ihm das Blut die Arme, den Rücken und die Beine hinunterströmte. »Ich kann nicht mehr weitergehen, Alvin«, sagte Geschichtentauscher.

»Ich sehe ihn«, erwiderte Alvin.

»Wen?«

»Ta-Kumsaw. Wartet hier.«

Er ließ Geschichtentauschers Hand los. Einen kurzen Augenblick verschwand er, dann war er auch schon wieder zurück. »Folgt ganz dicht hinter mir. Es ist nur noch ein Schritt.«

Geschichtentauscher nahm seinen ganzen Mut zusammen und machte einen Schritt.

Dann führte Alvin seine Hand ein Stück nach vorn, bis sie eine andere Hand berührte, und plötzlich teilten sich die Dornensträucher ein wenig, und Geschichtentauscher konnte Ta-Kumsaw erblicken, der dort auf dem Boden lag, während ihm das Blut aus hundert Wunden seines fast nackten Körpers strömte. »Er ist allein bis hierher gekommen«, bemerkte Alvin.

Ta-Kumsaw öffnete die Augen, sie flackerten vor Zorn. »Laßt mich hier liegen«, flüsterte er.

Zur Antwort legte Geschichtentauscher Ta-Kumsaws Kopf in die Beuge seines freien Arms. Je mehr ihre Körper sich berührten, um so mehr schienen die Dornensträucher zurückzuweichen; nun konnte Geschichtentauscher eine Art Pfad ausmachen, wo zuvor keiner zu sehen gewesen war.

»Nein«, erwiderte Ta-Kumsaw.

»Wir kommen nur von hier runter, wenn wir einander helfen«, erläuterte Geschichtentauscher. »Ob es Euch gefällt oder nicht, wenn Ihr am weißen Mann Rache üben wollt, so braucht Ihr dazu anscheinend die Hilfe eines Weißen.«

»Dann laßt mich hier«, flüsterte Ta-Kumsaw. »Rettet Euer Volk, indem Ihr mich sterben laßt.«

»Ohne Euch komme ich auch nicht hinunter«, antwortete Geschichtentauscher.

»Um so besser«, antwortete Ta-Kumsaw.

Geschichtentauscher bemerkte, daß Ta-Kumsaws Wunden mittlerweile weniger geworden zu sein schienen. Und jene, die übriggeblieben waren, waren bereits verkrustet und fast geheilt. Dann fiel ihm auf, daß seine eigenen Wunden ebenfalls nicht mehr weh taten. Er blickte sich um. Alvin saß in der Nähe, an einen Baumstamm gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als hätte ihn jemand gerade durchgeprügelt, so matt und erschöpft wirkte er.

»Schaut Euch an, was es ihn kostet, uns zu heilen«, sagte Geschichtentauscher.

Zur Abwechslung verriet Ta-Kumsaws Miene einmal richtige Überraschung; und dann wallte Zorn in ihm auf. »Ich habe dich nicht gebeten, mich zu heilen!« schrie er. Er riß sich aus Geschichtentauschers Umarmung und versuchte Alvin zu erreichen. Doch plötzlich schlang sich Dornengestrüpp um seinen Arm, und er schrie auf, doch nicht im Schmerz, sondern vor Wut. »Ich lasse mich nicht zwingen!« rief er.

»Warum solltet Ihr der einzige Mensch sein, der nicht gezwungen wird?« versetzte Geschichtentauscher.

»Ich werde tun, was ich mir vorgenommen habe, und nichts anderes, was immer das Land auch sagen mag!«

»Das sind die Worte des Schmieds in seiner Esse«, meinte Geschichtentauscher. »So etwas sagt der Farmer, wenn er die Bäume fällt.«

»Wagt es nicht, mich mit einem weißen Mann zu vergleichen!«

Doch das Gestrüpp hielt ihn fest, bis Geschichtentauscher sich seinen schmerzhaften Weg zu Ta-Kumsaw gebahnt und ihn wieder umarmt hatte. Wieder spürte Geschichtentauscher seine eigenen Wunden heilen, sah er, wie Ta-Kumsaws Verletzungen ebenso schnell verschwanden, wie die Schlingpflanzen von beiden abließen und abfielen. Alvin sah sie mit flehender Miene an, als wollte er sagen: Wieviel wollt ihr mir noch von meiner Kraft rauben, bevor ihr endlich tut, was ihr tun müßt?

Mit einem letzten, gequälten Schrei drehte sich Ta-Kumsaw um und umarmte Geschichtentauscher so kräftig wie zuvor. Gemeinsam folgten sie einem breiten Pfad hinunter zum Fuß des Hügels. Alvin stolperte ihnen nach.

Die Nacht verbrachten sie an derselben Stelle wie zuvor, doch es war ein unruhiger Schlaf. Am Morgen sammelte Geschichtentauscher seine wenigen Habseligkeiten ein, einschließlich des Buchs, dessen Buchstaben an diesem Ort keinen Sinn ergaben. Dann küßte er Alvin auf die Stirn und ging davon. Zu Ta-Kumsaw sagte er nichts, und auch Ta-Kumsaw sprach kein Wort mit ihm. Beide wußten, was das Land gesagt hatte, und beide wußten auch, daß Ta-Kumsaw zum ersten Mal in seinem Leben gegen das handelte, was gut für das Land war, um ein anderes Bedürfnis zu befriedigen. Geschichtentauscher versuchte nicht einmal mehr, mit ihm darüber zu diskutieren. Er wußte, daß Ta-Kumsaw seinen Weg gehen würde, egal, was geschah, und wenn es ihm tausend blutende Wunden einbrachte. Er hoffte nur, daß Alvin genug Kraft besaß, um bis zum Schluß bei ihm zu bleiben und ihn am Leben zu halten, wenn alle Hoffnung verschwunden war.

Gegen Mittag, nachdem er den ganzen Morgen in Richtung Westen gewandert war, machte Geschichtentauscher halt und zog sein Buch aus seinem Beutel. Zu seiner Erleichterung konnte er die Worte wieder lesen. Er öffnete das Siegel jenes hinteren Teils des Buches, in den er selbst zu schreiben pflegte, und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, alles aufzuschreiben, was ihm widerfahren war, und alles, was Alvin ihm erzählt hatte.

Geschichtentauscher konnte nicht reisen wie ein roter Mann, indem er durch die Nacht schritt und ihm Gehen schlief. So brauchte er mehr als nur ein paar Tage, um nach Vigor Church zu gelangen, wo es viele Menschen geben würde, die ihm lange und bittere Geschichten zu erzählen hatten. Wenn es jemals Menschen gegeben hatte, die einen Mann wie Geschichtentauscher brauchten, damit er sich ihre Geschichte anhörte, so waren sie es. Aber es hatte noch nie eine Geschichte gegeben, vor der sich Geschichtentauscher so sehr fürchtete wie ihre. Und er scheute nicht davor zurück, sie aufzusuchen. Er konnte es ertragen. Bevor Ta-Kumsaw am Ende war, würde es noch sehr viele finstere Geschichten zu erzählen geben; da war es besser, wenn er jetzt schon anfing, um den Ereignissen nicht nachzuhinken.

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