Napoleon trug keine Ketten während seiner Rückkehr nach Frankreich. Er schlief in der zweiten Kabine und speiste am Tisch des Gouverneurs La Fayette, der nur zu froh war, ihn dabeizuhaben. In den heißen Nachmittagen der Atlantiküberquerung vertraute La Fayette Napoleon alle seine Revolutionspläne an, ihm, seinem liebsten Freund; und Napoleon machte hilfreiche Vorschläge, wie man die Revolution sehr viel schneller und sehr viel wirkungsvoller vorantreiben könne.
»Das Beste an all diesen traurigen Ereignissen«, sagte La Fayette an dem Tag, als der Ausguck zum ersten Mal die Küste der Bretagne ausmachte, »ist, daß wir jetzt Freunde sind und daß die Revolution ihres Sieges sicher sein kann, weil Ihr nun Teil davon seid. Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch einst mißtraute, weil ich Euch für ein Werkzeug des Königs hielt. Ein Werkzeug Charles'! Doch schon bald wird Frankreich erfahren, welch ein Held Ihr seid, und es wird dem König und Frederic die Schuld für die Einnahme und das Schleifen Detroits geben. Dieses ganze Gebiet ist nun in den Händen von Protestanten und Wilden, während wir dagegen dem Volk Frankreichs ein besseres Leben anbieten können. Ach, Napoleon, in all den Jahren, da ich die Demokratie plante, habe ich mich nach einem Mann gesehnt, wie Ihr einer seid. Alles, was wir dazu brauchten, wir Feuillants, war ein Führer, ein Mann der uns leiten, der Frankreich in die wahre Freiheit führen konnte.« Und La Fayette seufzte und sank noch tiefer in die Kissen seines Sessels.
Napoleon hörte zwar zufrieden zu, zugleich aber war er auch traurig. Denn er hatte geglaubt, daß La Fayette aufgrund irgendeiner inwendigen Kraft gegen seinen Charme immun gewesen sei. Und nun hatte er erfahren, daß es nur ein närrisches Amulett gewesen war, daß La Fayette wie jeder andere gewöhnliche Mensch war, wenn es darum ging, Napoleon Widerstand zu entbieten. Und nun, da dieses Amulett in einem Massengrab vor Detroit lag, zweifellos noch immer an die verfaulenden Knochen des Frederic de Maurepas gekettet, erkannte Napoleon, daß er auf dieser Welt niemals seinesgleichen finden würde. Kein Mensch würde ihm je widerstehen können. Also lauschte er La Fayettes Geplauder mit wehmütiger Sehnsucht nach jenem Mann, für den er La Fayette einst gehalten hatte.
Die Männer an Deck waren emsig und eilten umher, machten zehntausend Geräusche, denn nun liefen sie Land an; Napoleon war endlich wieder zu Hause.
Ta-Kumsaw brauchte den dichten Nebel nicht zu fürchten, der sich an der Mündung des Hio über das Wasser legte und in den Mizzipy ergoß, denn er kannte den Weg, kannte die Strömungen: Nach Westen. Jenes Ufer würde sein Refugium sein, seine Sicherheit, das Ende seines Lebens.
Denn etwas anderes sah er nicht mehr vor sich. Das Land westlich des Mizzipy war das Land seines Bruders, der Ort, an den der weiße Mann nicht kommen würde. Das Land selbst, das Wasser, jedes Lebewesen würde darauf hinarbeiten, jene Weißen abzuhalten, die töricht genug waren zu glauben, daß der rote Mann noch einmal besiegt werden könnte. Doch was das rote Volk jetzt brauchte, war die Gabe des Propheten und nicht die eines Kriegers wie Ta-Kumsaw. Im Osten, unter den gefallenen Roten und den törichten Weißen, mochte er eine legendäre Gestalt sein, doch im Westen würde man wissen, was er war: Ein Mann mit blutbefleckten Händen, der sein Volk ins Verderben geführt hatte.
Das Wasser leckte an seinem Kanu. Nicht weit entfernt hörte er einen Kardinalvogel singen. Der Nebel wurde heißer, blendender; dann brach er auf, und die Sonne schien hervor, raubte ihm die Sicht. Mit drei Paddelstößen lenkte er sein Kanu ans Ufer, und dort stand zu seiner Überraschung ein Mann, eine Silhouette in der Spätnachmittagssonne. Der Mann sprang hinunter, packte das Ende von Ta-Kumsaws Kanu und zog es kräftig ans Ufer. Dann half er Ta-Kumsaw aus dem kleinen Boot. Ta-Kumsaw konnte sein Gesicht nicht erkennen, so geblendet waren seine Augen. Doch er wußte, wer es war, er erkannte ihn an der Berührung seiner Hand. Und dann hörte er die murmelnde Stimme: »Laß das Kanu forttreiben. Niemand wird mehr ans andere Ufer wechseln, mein Bruder.«
»Lolla-Wossiky!« rief Ta-Kumsaw. Dann weinte er und kniete zu Füßen seines Bruders nieder, umklammerte seine Knie. All der Schmerz, all das Leid brach aus ihm hervor, während ihm Lolla-Wossiky, genannt Tenskwa-Tawa, der Prophet, ein Lied der Trauer vorsang, ein Lied, das vom Tod der Bienen handelte.
Die Stadt hatte sich verändert. Als Alvin auf Vigor Church zukam, sah er, daß man dort neue Gebäude errichtet hatte. Inzwischen lebten die Bewohner recht eng zusammen, und Vigor Church war zu einer richtigen Stadt geworden. Doch niemand grüßte ihn auf der Straße, und selbst die Kinder, die auf der Gemeindewiese spielten, hatten kein Wort für ihn übrig. Zweifellos hatten ihre Eltern ihnen beigebracht, keinen Fremden willkommen zu heißen; vielleicht waren sie es aber auch nur müde, mitanhören zu müssen, wie ihre Väter und älteren Brüder jedem Fremden, der hier zu Besuch kam, ihre schreckliche Geschichte erzählten.
Und auch Alvin hatte sich verändert. Er war größer geworden, er bewegte sich anders, eher wie ein Roter, der nicht an die Wege des Weißen gewöhnt war. Vielleicht bin ich selbst hier inzwischen auch ein Fremder. Vielleicht habe ich im letzten Jahr zuviel mitangesehen und zuviel getan, um noch länger Alvin Junior zu sein.
Dennoch kannte Alvin den Weg. Noch immer führten Brücken über jeden kleinen Bach auf dem Weg zum Hause seines Vaters. Alvin versuchte das Gefühl von früher wachzurufen, den Zorn zu spüren, den das Wasser gegen ihn hegte. Doch das finstere Böse, das einst sein Feind gewesen war, erkannte ihn kaum, nun, da er dahinschritt wie ein Roter, völlig eins mit der lebendigen Welt. Das macht nichts, dachte Alvin. Wenn das Land zahm geworden und gebrochen ist, wird mein Schritt wieder der eines Weißen sein, dann wird der Entmacher mich schon wieder aufspüren.
Cally stand auf der Veranda. Er war es, der losschrie, der ihn sofort wiedererkannte.
»Alvin! Ally! Alvin Junior! Er ist wieder da! Du bist wieder da!«
Der erste, der auf seinen Ruf herbeistürzte und mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Axt in der Hand, war Measure. Sobald er sah, daß es wirklich Alvin war, ließ er die Axt fallen und nahm Alvin Junior bei den Schultern, musterte ihn von oben bis unten, um sich zu überzeugen, daß er nicht zu Schaden gekommen war. Und auch Alvin suchte Narben an Measure. Es waren keine zu sehen, alles war richtig verheilt. Doch Measure entdeckte einige tiefere Wunden in Alvins Inneren, und sanft sagte er: »Du bist älter geworden, Al.« Darauf wußte Alvin nichts zu antworten, und eine Weile blickten sie einander nur in die Augen, und jeder wußte, daß kein anderer weißer Mann jemals verstehen würde, was sie wußten.
Dann trat Ma auf die Veranda, und Pa kam aus der Mühle zum Haus hinüber, und nun gab es Umarmungen und Küsse, Gelächter und Rufe, Tränen und Schweigen. Sie schlachteten zwar nicht das gemästete Kalb, doch dafür gab es immerhin ein Ferkel. Cally rannte zu den Farmen der Brüder und in Brustwehr-Gottes Geschäft und berichtete, was geschehen war, und schon bald hatte sich die ganze Familie versammelt, um Alvin Junior zu begrüßen. Sie hatten zwar gewußt, daß er nicht tot war, hatten aber schon jede Hoffnung verloren, ihn jemals wiederzusehen.
Und dann, als es spät wurde, vergrub Pa die Hände in seinen Taschen, und die anderen Männer und Frauen verstummten, bis Alvin nickte und sagte: »Ich weiß, welche Geschichte ihr erzählen müßt. Also erzählt sie mir jetzt, ihr alle, und dann werde ich euch davon erzählen, welche Rolle ich darin spielte.«
Sie taten es, und er tat es, und dann flossen noch mehr Tränen, diesmal jedoch waren es Tränen der Trauer und nicht der Freude. Dieses Wobbish-Tal war das einzige Zuhause, was sie jetzt noch kennenlernen würden; es war die einzige Möglichkeit, das Leben zu ertragen; so war es für alle Menschen, die den Mord am Tippy-Canoe begangen hatten. Es war recht so, daß sie zusammenblieben und keine Fremden sahen. Wohin hätten sie auch noch gehen und in Frieden leben können, nach dem, was sie allen, die zu ihnen kamen, erzählen mußten? »Wir müssen also bleiben, Al Junior. Aber du und Cally nicht. Und vielleicht können wir immer noch an deine Lehre denken, was meinst du?«
»Darüber können wir auch später noch nachdenken«, warf Ma ein. »Er ist wieder zu Hause, und das genügt erst mal. Dankt dem Herrn, daß er mich nicht zur Prophetin gemacht hat, als ich verkündete, daß ich meinen lieben kleinen Alvin nie wiedersehen würde.«
Alvin sagte seiner Mutter nicht, daß ihre Prophezeiung doch wahr geworden war. Daß es nicht ihr lieber kleiner Alvin war, der nach Hause zurückgekehrt war. Das sollte sie schon selbst herausfinden.
In der Nacht, als er in seinem Bett lag, lauschte Alvin dem fernen Grüngesang, der immer noch warm war und schön, immer noch fröhlich und hoffnungsfroh, obwohl der Wald so spärlich wurde, obwohl die Zukunft so düster aussah. Denn im Gesang des Lebens war keine Furcht vor der Zukunft, sondern nur die immerfrohe Gegenwart. Das ist alles, was ich jetzt haben will, dachte Alvin. Die Gegenwart. Die ist mir schon gut genug.