10. Gatlopp

Von Alvin bekam Measure wenig zu sehen. Er schien nur noch den Worten des Propheten lauschen zu wollen, seinen Geschichten und der sonderbaren poetischen Weisheit, die er verkündete.

Als Alvin einmal ausnahmsweise lange genug bei ihm war, um sich hinzusetzen und sich mit ihm zu unterhalten, fragte Measure ihn, warum er sich diese Mühe machte. »Selbst wenn diese Roten Englisch sprechen, kann ich sie immer noch nicht verstehen. Wie sie vom Land reden, als wäre es ein Mensch; davon, daß man nur jenes Leben nehmen soll, das sich selbst darbietet; davon, daß das Land östlich des Mizzipy sterben wird — es stirbt doch gar nicht, Al, das sieht doch jeder Narr! Und selbst wenn es die Pocken hätte, die Pest und zehntausend Henkersnägel, gäbe dennoch keinen Arzt, der es heilen könnte.«

»Tenskwa-Tawa weiß, wie man es könnte«, meinte Alvin.

»Dann laß es ihn tun, damit wir endlich wieder nach Hause können.«

»Noch einen Tag, Measure.«

»Ma und Pa werden krank vor Sorge sein, die halten uns für tot!«

»Tenskwa-Tawa sagt, daß das Land seinen eigenen Weg findet.«

»Jetzt fängst du schon wieder an! Land ist Land, und das hat nicht das geringste damit zu tun, daß Pa einen Haufen Leute zusammengeschart hat, um die Wälder nach uns zu durchkämmen!«

»Dann geh doch ohne mich.«

Doch dazu war Measure noch nicht bereit. Er war nicht erbaut von dem Gedanken, Ma in die Augen sehen zu müssen, wenn er ohne Alvin nach Hause zurückkehrte. »Och, als ich wegging, ging es ihm ganz gut. Er hat ein bißchen mit Tornados rumgespielt und ist mit einem einäugigen Roten auf dem Wasser spazierengegangen. Er wollte einfach noch nicht nach Hause zurück, du weißt doch, wie diese zehnjährigen Jungen sind.« Nein, Measure konnte nicht ohne Alvin zurückkehren. Und er war sicher, daß er Alvin nicht gegen seinen Willen mitnehmen konnte. Der Junge hörte nicht einmal zu, wenn er von Flucht sprechen wollte.

Das schlimmste daran war, daß alle Alvin zwar mochten und auf Englisch und Shaw-Nee mit ihm plapperten, daß aber keine Menschenseele mit Measure auch nur ein Wort wechselte, bis auf Ta-Kumsaw und den Propheten, der die ganze Zeit redete, ob jemand zuhörte oder nicht. Er fühlte sich ziemlich einsam, wie er den ganzen Tag allein umherschlendern mußte. Und nicht einmal weit. Zwar sprach niemand mit ihm, doch sobald er von den Dünen in Richtung Wald weiterschritt, schwirrte ein Pfeil herbei und senkte sich dicht neben ihm in den Sand. Die hatten ganz offensichtlich weitaus mehr Vertrauen in ihre Treffgenauigkeit als Measure. Ständig mußte er an Pfeile denken, die ein Stück abtrieben und ihn trafen.

Bei genauerer Betrachtung war der Gedanke an Flucht allerdings tatsächlich töricht. Die Roten hätten ihn sofort wieder aufgespürt. Er verstand jedoch nicht, weshalb sie ihn nicht gehen lassen wollten. Sie taten gar nichts mit ihm, er war völlig nutzlos. Und sie versicherten, daß sie nicht beabsichtigten, ihn zu töten oder auch nur ein bißchen anzukratzen.

Am vierten Tag in den Dünen kam es jedoch endlich zu einer Entscheidung. Er suchte Ta-Kumsaw auf und verlangte geradeheraus, freigelassen zu werden. Ta-Kumsaw wirkte verärgert, aber das war nicht ungewöhnlich. Diesmal gab Measure jedoch nicht nach.

»Wißt Ihr denn nicht, daß es einfach nur dumm ist, uns hier gefangenzuhalten? Es ist ja schließlich nicht so, als wären wir ohne jede Spur verschwunden, müßt Ihr wissen. Inzwischen müssen sie unsere Pferde gefunden haben, auf denen Euer Name steht.«

Es war das erste Mal, daß Measure merkte, daß Ta-Kumsaw nichts von den Pferden wußte. »Mein Name steht nicht auf Pferden.«

»Auf ihren Sätteln, Häuptling. Habt Ihr das nicht gewußt? Die Chok-Taw, die uns gefangennahmen — wenn das nicht Eure Jungs waren, und dessen bin ich mir nicht so sicher, wenn Ihr es genau wissen wollt —, die haben Euren Namen in den Sattel auf meinem Pferd geritzt und dem Pferd dann ein paar Stiche verpaßt, damit es wegläuft. Und in Alvins Sattel haben sie den Namen des Propheten geritzt.«

Ta-Kumsaws Gesicht verfinsterte sich, seine Augen glühten wie Blitze. »Alle Weißen«, sagte Ta-Kumsaw, »werden denken, daß ich euch entführt habe.«

»Habt Ihr das denn nicht gewußt?« fragte Measure. »Ich dachte, ihr Roten wüßtet immer alles, so wie ihr euch ständig aufführt. Ich habe sogar mal versucht, es einigen von Euren Jungs zu erzählen, aber die haben mir einfach nur den Rücken zugekehrt. Und dabei hat die ganze Zeit keiner von euch davon gewußt?«

»Ich habe es nicht gewußt«, sagte Ta-Kumsaw. »Aber ein anderer schon.« Und er stolzierte davon, so gut das in dem lockeren Sand ging; dann drehte er sich um. »Kommt mit, ich will Euch dabeihaben!«

Also folgte Measure ihm zu dem mit Baumrinde bedeckten Wigwam, wo der Prophet seine Bibelstunde gab, oder was immer er den lieben langen Tag tun mochte. Ta-Kumsaw machte keinen Hehl aus seinem Zorn. Er sagte kein Wort, statt dessen schritt er einfach nur um den Wigwam und trat die Steine beiseite, die ihn im Sand beschwerten. Dann packte er ein Ende und begann, daran zu reißen. »Dafür braucht man zwei Männer«, sagte er.

Measure kauerte sich neben ihn, bekam den Wigwam zu packen und zählte bis drei. Dann gab er einen Ruck. Ta-Kumsaw tat es nicht, so daß der Wigwam sich nur sechs Zoll hob und wieder zu Boden fiel.

Measure grunzte vor Anstrengung und sah Ta-Kumsaw finster an. »Warum habt Ihr nicht mit angehoben?«

»Ihr habt nur bis drei gezählt«, erwiderte Ta-Kumsaw.

»Genau, so zählt man ja auch, Häuptling! Eins, zwei, drei!«

»Ihr Weißen seid Narren! Jeder weiß doch, daß Vier die starke Zahl ist!«

Ta-Kumsaw zählte bis vier. Diesmal gelang es ihnen gemeinsam, den Wigwam umzustürzen. Inzwischen wußten natürlich alle in seinem Inneren, was los war, doch niemand sagte irgend etwas. Und als der Wigwam wie eine umgestürzte Schildkröte auf dem Rücken lag, erblickten sie den Propheten und Alvin und ein paar Rote, die mit gekreuzten Beinen auf Decken im Sand saßen, während der einäugige Rote immer noch weiterredete, als wäre überhaupt nichts passiert.

Ta-Kumsaw begann auf Shaw-Nee zu brüllen, und der Prophet antwortete ihm, zuerst ganz milde, doch dann wurde er immer lauter. Es war ein ausgemachter Streit, ein Gebrüll, wie es nach Measures Erfahrung in Handgreiflichkeiten enden mußte. Doch nicht bei diesen beiden Roten. Sie brüllten sich nur eine halbe Stunde lang an, und dann standen sie da, stierten einander wortlos an. Das Schweigen dauerte nur wenige Minuten, aber es kam Measure wie eine Ewigkeit vor.

»Verstehst du, was hier vorgeht?« fragte Measure.

»Ich weiß nur, daß der Prophet gesagt hat, daß Ta-Kumsaw heute kommen und sehr zornig sein würde.«

»Na, wenn er es gewußt hat, warum hat er nicht etwas dagegen unternommen? Was nützt es schon, die Zukunft zu kennen, wenn man nichts dagegen tut?«

»Oh, er tut schon Dinge«, sagte Alvin. »Nur, daß er den Leuten nicht unbedingt sagt, was er tut. Er will sichergehen, daß alles seinen rechten Weg läuft.«

»Worum geht es denn jetzt? Warum streiten die sich?«

»Das solltest eigentlich du mir erzählen, Measure. Du hast ihm doch dabei geholfen, den Wigwam umzustürzen.«

»Keine Ahnung. Ich habe ihm nur davon erzählt, wie man seinen und den Namen des Propheten in unsere Sättel geritzt hat.«

»Das hat er schon gewußt«, sagte Alvin.

»Na, er hat sich jedenfalls nicht so benommen, als hätte er schon jemals davon gehört.«

»Ich habe es dem Propheten selbst erzählt, an jenem Abend, nachdem er mich in den Turm geführt hat.«

»Ist dir vielleicht mal der Gedanke gekommen, daß der Prophet Ta-Kumsaw nichts davon erzählt hat?«

»Warum nicht?« fragte Alvin. »Warum sollte er es ihm nicht erzählen?«

Measure nickte. »Ich habe so ein Gefühl, als wäre das genau die Frage, die Ta-Kumsaw seinem Bruder gerade stellt.«

»Das wäre doch verrückt, ihm nichts davon zu erzählen«, meinte Alvin. »Ich dachte, daß Ta-Kumsaw inzwischen jemanden losgeschickt haben müßte, um unseren Eltern zu sagen, daß es uns gutgeht.«

»Weißt du, was ich glaube, Al? Ich glaube, daß dein Prophet uns alle zum Narren gehalten hat. Ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung, weshalb, aber ich glaube, daß er irgendeinen Plan verfolgt, und ein Teil dieses Planes besteht darin, uns von zu Hause fernzuhalten. Und da das wiederum bedeutet, daß unsere ganze Familie und die Nachbarn und alle anderen zu den Waffen greifen werden, kannst du es dir selbst zusammenreimen. Der Prophet möchte hier einen richtigen kleinen Krieg haben.«

»Nein!« widersprach Alvin. »Der Prophet sagt, daß kein Mensch einen anderen töten darf, der nicht sterben will, daß es genauso unrecht ist, einen Weißen zu töten, wie einen Bären oder einen Wolf, den man nicht essen will.«

»Vielleicht will er ja uns essen. Aber wenn wir nicht nach Hause kommen und unseren Leuten dort sagen, daß wir unversehrt sind, wird er seinen Krieg bekommen.«

In diesem Augenblick verstummten Ta-Kumsaw und der Prophet. Und es war Measure, der die Stille brach. »Na, seid ihr Jungs jetzt zu der Überzeugung gekommen, daß ihr uns doch nach Hause lassen wollt?« fragte er.

Der Prophet setzte sich sofort mit gekreuzten Beinen den Weißen gegenüber auf eine Decke. »Geht nach Hause, Measure«, sagte er.

»Nicht ohne Alvin.«

»O doch, ohne Alvin«, erwiderte der Prophet. »Wenn er in diesem Teil des Landes bleibt, wird er sterben.«

»Wovon redet Ihr da?«

»Von dem, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe!« sagte der Prophet. »Von Dingen, die kommen werden. Wenn Alvin jetzt nach Hause zurückkehrt, wird er in drei Tagen tot sein. Aber Ihr müßt gehen, Measure. Heute ist für Euch ein guter Tag, um zu gehen.«

»Was werdet Ihr mit Alvin tun? Meint Ihr etwa, daß er bei Euch sicherer wäre?«

»Nicht bei mir«, versetzte der Prophet. »Bei meinem Bruder.«

»Das alles ist eine törichte Idee!« rief Ta-Kumsaw.

»Mein Bruder wird viele Besuche machen. Bei den Franzosen in Detroit, bei den Irrakwa, bei der Appalachee-Nation, bei den Chok-Taw und den Cree-Ek, bei allen Roten und allen Weißen, die einen schlimmen Krieg verhindern könnten.«

»Wenn ich mit Roten spreche, Tenskwa-Tawa, dann werde ich zu ihnen davon sprechen, daß sie mit mir kommen sollen, um zu kämpfen, und daran, daß sie die weißen Männer über die Berge zurücktreiben sollen, zurück auf ihre Schiffe, zurück ins Meer!«

»Rede, was du willst«, sagte Tenskwa-Tawa. »Aber brich diesen Nachmittag auf und nimm den weißen Jungen mit, der wie ein roter Mann geht.«

»Nein«, sagte Ta-Kumsaw.

Trauer überzog Tenskwa-Tawas Gesicht, und er stöhnte heftig auf. »Dann wird das ganze Land sterben, nicht nur ein Teil davon. Wenn du nicht heute tust, was ich dir sage, dann wird der weiße Mann das ganze Land töten, von einem Ozean bis zum anderen, vom Norden bis zum Süden, das ganze Land wird tot sein! Und der rote Mann wird sterben, bis auf einige wenige, die noch auf winzigen Stücken häßlichen Wüstenlandes leben werden wie in Gefängnissen, ihr ganzes Leben lang, weil du nicht dem gehorcht hast, was ich in meiner Vision schaute!«

»Ta-Kumsaw braucht diesen wahnsinnigen Visionen nicht zu gehorchen! Ta-Kumsaw ist das Gesicht des Landes, die Stimme des Landes! Der Kardinalvogel hat es mir gesagt, und das weißt du auch, Lolla-Wossiky!«

Der Prophet flüsterte. »Lolla-Wossiky ist tot.«

»Die Stimme des Landes gehorcht keinem einäugigen Whisky-Roten.«

Das traf den Propheten ins Herz, doch er zeigte keine Regung. »Du bist die Stimme des Zorns des Landes. Du wirst gegen eine mächtige Armee von Weißen in die Schlacht ziehen. Ich sage dir, daß dies geschehen wird, noch bevor der erste Schnee fällt. Wenn der weiße Junge Alvin nicht bei dir ist, wirst du geschlagen werden und dabei sterben.«

»Und wenn er bei mir ist?«

»Dann wirst du leben«, antwortete der Prophet.

»Ich komme gern mit«, sagte Alvin. Als Measure widersprechen wollte, berührte Alvin ihn am Arm. »Du kannst Ma und Pa sagen, daß es mir gutgeht. Aber ich will wirklich gehen. Der Prophet hat mir gesagt, daß ich von Ta-Kumsaw mehr lernen kann als von jedem anderen Menschen auf der Welt.«

»Dann komme ich auch mit dir«, entschied Measure. »Ich habe Ma und Pa mein Wort gegeben.«

Der Prophet musterte Measure kalt. »Ihr werdet zu Eurem eigenen Volk zurückkehren.«

»Dann kommt Alvin auch mit mir.«

»Ihr seid es nicht, der das entscheidet«, versetzte der Prophet.

»Aber Ihr, wie? Und warum? Weil Eure Jungs die ganzen Pfeile haben?«

Ta-Kumsaw streckte die Hand vor und legte sie Measure auf die Schulter. »Ihr seid kein Narr, Measure. Irgend jemand muß zurückkehren und Euren Leuten sagen, daß Ihr und Alvin nicht tot seid.«

»Woher weiß ich denn, daß er nicht tot ist, wenn ich ihn zurücklasse?«

»Ihr wißt es, weil ich Euch sage, daß kein roter Mann diesem Jungen etwas antun wird, solange ich lebe.«

»Und solange er bei Euch ist, kann Euch auch keiner was anhaben, ist es das? Mein kleiner Bruder ist eine Geisel, das ist doch alles…«

Measure erkannte, daß Ta-Kumsaw und Tenskwa-Tawa so zornig waren, wie sie nur sein konnten, ohne ihn gleich umzubringen; und er wußte, daß er selbst zornig genug war, um irgend jemandem das Gesicht einzuschlagen, selbst wenn er sich die Hand dabei brechen würde. Und vielleicht wäre es sogar dazu gekommen, wäre Alvin nicht aufgestanden und hätte mit seinen zehn Jahren das Kommando übernommen.

»Measure, du weißt besser als jeder andere, daß ich auf mich selbst aufpassen kann. Erzähl Pa und Ma einfach, was ich mit den Chok-Taw gemacht habe, dann werden sie schon einsehen, daß ich das kann. Sie wollten mich doch ohnehin fortschicken, nicht wahr? Um bei einem Schmied in die Lehre zu gehen. Nun, jetzt werde ich eben eine Weile bei Ta-Kumsaw in die Lehre gehen. Jedermann weiß, daß Ta-Kumsaw der größte Mann in ganz Amerika ist, vielleicht abgesehen von Tom Jefferson. Wenn ich Ta-Kumsaw irgendwie am Leben halten kann, dann ist das meine Pflicht. Und wenn du verhindern kannst, daß es zum Krieg kommt, indem du nach Hause zurückkehrst, dann ist das deine Pflicht. Siehst du das nicht ein?«

Measure sah es tatsächlich ein, und er pflichtete ihm sogar bei. Er wußte aber auch, was es bedeutete, seinen Eltern gegenüberzutreten. »In der Bibel gibt es eine Geschichte von Joseph, dem Sohn von Jakob. Er war der Lieblingssohn seines Vaters, aber seine Brüder haßten ihn und verkauften ihn in die Sklaverei. Und dann nahmen sie einige seiner Kleider und tauchten sie in Ziegenblut und zerrissen sie, und kamen zu seinem Vater und sagten: Schau mal, er wurde von Löwen gefressen. Und sein Vater hat sich die Kleider zerrissen und wollte niemals mehr aufhören zu trauern.«

»Aber du wirst ihnen doch erzählen, daß ich eben nicht tot bin.«

»Ich werde ihnen erzählen, daß ich gesehen habe, wie du ein Kriegsbeil weich wie Butter gemacht hast, wie du auf dem Wasser gegangen und in einem Tornado durch die Luft geflogen bist. Es wird sie sicherlich beruhigen, zu wissen, daß du mit diesen Roten hier ein ganz normales Leben führst, wie jeder andere Junge auch…«

Ta-Kumsaw unterbrach ihn. »Ihr seid ein Feigling«, sagte er. »Ihr fürchtet Euch davor, Eurem Vater und Eurer Mutter die Wahrheit zu sagen.«

»Ich habe ihnen mein Versprechen gegeben«, erwiderte Measure.

»Ihr seid ein Feigling. Ihr geht kein Risiko ein. Ihr meidet die Gefahr. Ihr wollt Alvin nur bei Euch haben, damit Ihr in Sicherheit seid!«

Das war zuviel für Measure. Er holte mit dem rechten Arm aus und wollte seine Faust in Ta-Kumsaws Gesicht rammen. Es überraschte ihn nicht, daß Ta-Kumsaw den Hieb blockierte — aber es war doch ein Schock für ihn, daß er Measures Handgelenk so mühelos packte und umdrehte. Measure wurde noch wütender, schlug Ta-Kumsaw in den Magen, und diesmal traf er auch. Doch der Bauch des Häuptlings war ungefähr so weich und nachgiebig wie ein Baumstumpf, und er packte auch Measures zweite Hand und hielt sie nun beide fest.

Also tat Measure, was alle guten Ringer konnten. Er rammte sein Knie direkt zwischen Ta-Kumsaws Beine.

Measure hatte das nur zweimal zuvor in seinem Leben getan, und jedesmal war der andere zu Boden gegangen und hatte sich gekrümmt wie ein halbzertretener Wurm. Ta-Kumsaw jedoch stand einfach nur da, starr, als würde er den Schmerz aufsaugen, und wurde wütender und wütender. Noch immer hielt er Measures Arme fest, und Measure glaubte, daß er nun wohl sterben müsse, in Stücke gerissen — so zornig sah Ta-Kumsaw aus. Plötzlich aber ließ Ta-Kumsaw Measures Arme fahren. Measure rieb sich die Handgelenke, wo die Handabdrücke des Häuptlings prangten und schmerzten. Der Häuptling sah wirklich zornig aus, doch sein Zorn galt Alvin. Er drehte sich zu dem Jungen um und sah so aus, als würde er ihm am liebsten bei lebendigem Leib die Haut abziehen.

»Du hast deine schmutzigen Weißentricks mit mir veranstaltet«, sagte er.

»Ich wollte nicht, daß einer von euch verletzt wird«, erklärte Alvin.

»Meinst du, ich wäre ein Feigling wie dein Bruder? Meinst du, daß ich mich vor dem Schmerz fürchte?«

»Measure ist kein Feigling!«

»Er hat mich mit den Tricks des weißen Mannes zu Boden geworfen.«

Measure empörte sich. »Ihr wißt genau, daß ich ihn nicht darum gebeten habe! Ich nehme es jetzt gerne mit Euch auf, wenn Ihr wollt! Ich werde ehrlich und offen mit Euch kämpfen!«

»Indem Ihr einen Mann mit dem Knie stoßt?« fragte Ta-Kumsaw. »Ihr wißt überhaupt nicht, wie man als Mann kämpft.«

»Ich kämpfe so mit Euch, wie Ihr wollt«, sagte Measure.

Ta-Kumsaw lächelte. »Dann also das Gatlopp.«

Inzwischen hatte sich eine ganze Schar von Roten um sie versammelt, und als sie das Wort Gatlopp hörten, begannen sie zu jauchzen und zu lachen.

Es gab nicht einen Weißen in ganz Amerika, der nicht davon gehört hatte, wie Dan Boone das Gatlopp gelaufen und immer weiter gelaufen war, als er das erste Mal vor den Roten floh; es gab aber auch andere Geschichten von Weißen, die dabei zu Tode geprügelt wurden. Geschichtentauscher hatte ab und zu davon erzählt, als er letztes Jahr zu Besuch gewesen war. Es ist wie ein Juryurteil, hatte er gesagt, wobei die Roten einen hart oder leicht schlagen, abhängig davon, wie sehr man ihrer Meinung nach den Tod verdient hat. Halten sie dich für einen tapferen Mann, schlagen sie hart zu, um dich mit Schmerz zu prüfen. Halten sie dich aber für einen Feigling, brechen sie dir die Knochen, so daß du das Spießrutenlaufen nicht überlebst. Der Häuptling kann ihnen auch nicht sagen, wie heftig sie schlagen sollen und wohin. Das ist so ziemlich das demokratischste und heimtückischste Justizsystem, das es je gegeben hat.

»Ich sehe, daß Ihr Euch davor fürchtet«, sagte Ta-Kumsaw.

»Natürlich tue ich das«, erwiderte Measure. »Ich wäre ein Narr, wenn ich es nicht täte, vor allem, da Eure Jungs mich ohnehin schon für einen Feigling halten.«

»Ich werde das Gatlopp vor Euch durchlaufen«, entschied Ta-Kumsaw. »Ich werde ihnen sagen, sie sollen mich ebenso kräftig schlagen wie Euch.«

»Das werden sie nicht tun«, widersprach Measure.

»Sie werden es tun, wenn ich es ihnen befehle«, erwiderte Ta-Kumsaw. Er mußte Measures ungläubige Miene bemerkt haben, denn er fügte hinzu: »Und wenn sie es nicht tun, werde ich das Gatlopp noch einmal durchlaufen.«

»Und wenn sie mich töten, werdet Ihr dann auch sterben?«

Es war nicht zu verkennen, daß die Feldarbeit Measure zwar kräftig, aber nicht zäh gemacht hatte. »Der Schlag, der Euch umbringen kann, würde mich wahrscheinlich nur verletzen.«

»Ihr gebt also zu, daß es nicht fair ist.«

»Fair ist es, wenn zwei Männer demselben Schmerz ins Auge sehen. Tapfer ist es, wenn zwei Männer demselben Schmerz ins Auge sehen. Ihr wollt es nicht fair haben, sondern leicht. Ihr seid ein Feigling. Ich wußte, daß Ihr es nicht tun würdet.«

»Ich werde es tun«, versetzte Measure.

»Und du!« rief Ta-Kumsaw und zeigte auf Alvin. »Du wirst nichts berühren, du wirst nichts heilen, du wirst nichts gesund machen, du wirst keinen Schmerz fortnehmen!«

Alvin sagte kein Wort, er blickte ihn nur an. Doch Measure kannte diesen Blick. Diese Miene setzte Alvin immer auf, wenn er keinerlei Absicht hatte, das zu tun, was man ihm sagte.

»Al«, sagte Measure. »Du solltest mir lieber versprechen, daß du dich nicht einmischen wirst.«

Al verkniff nur die Lippen und sagte nichts.

»Du solltest mir lieber versprechen, daß du dich nicht einmischen wirst, Alvin Junior, sonst kehre ich nicht nach Hause zurück.«

Alvin versprach es. Ta-Kumsaw nickte und ging fort, um mit seinen Shaw-Nee zu reden. Measure war übel vor Furcht.

»Warum fürchtet Ihr Euch, weißer Mann?« fragte der Prophet.

»Weil ich nicht dumm bin«, antwortete Measure. »Nur ein dummer Mann würde sich nicht vor dem Gatlopp fürchten.«

Der Prophet lachte nur und ging davon.

Die Krieger stellten sich in zwei Reihen auf. Sie trugen schwere Äste, die von Bäumen herabgefallen oder abgeschnitten worden waren. Measure sah zu, wie ein alter Mann Ta-Kumsaw die Halskette mit den Perlen abnahm, dann entkleidete er ihn auch noch seines Lendenschurzes. Ta-Kumsaw wandte sich an Measure und grinste. »Der weiße Mann ist nackt, wenn er keine Kleidung hat. Der rote Mann ist niemals nackt in seinem eigenen Land. Der Wind ist meine Kleidung, das Feuer der Sonne, der Staub der Erde, das Wasser des Regens. Alle diese trage ich am Leib. Ich bin die Stimme und das Antlitz des Landes.«

»Kommt endlich zur Sache«, erwiderte Measure.

»Ich kenne jemanden, der meint, daß ein Mann wie Ihr keine Poesie in der Seele hat«, sagte Ta-Kumsaw.

»Und ich kenne jede Menge Leute, die der Meinung sind, daß ein Mann wie Ihr nicht einmal eine Seele hat.«

Ta-Kumsaw funkelte ihn an, dann bellte er seinen Männern einige Worte zu und trat zwischen die Linien.

Er schritt langsam dahin, das Kinn emporgereckt und arrogant. Der erste Rote schlug ihn auf die Waden mit dem dünnen Ende eines Astes. Ta-Kumsaw riß ihm den Ast aus den Händen, drehte ihn um und ließ ihn erneut zuschlagen, diesmal gegen die Brust, ein harter Schlag, der Ta-Kumsaw die Luft aus den Lungen peitschte. Measure konnte das Grunzen hören. Die Männer standen am Abhang der Düne, so daß er nur langsam den Hügel hinaufkam. Ta-Kumsaw stockte nicht, als die Hiebe ihn trafen. Seine Männer hatten strenge, pflichtbewußte Mienen aufgesetzt. Sie halfen ihm dabei, seinen Mut unter Beweis zu stellen, deshalb fügten sie ihm Schmerzen zu, doch keine Hiebe, die ihn dauerhaft hätten schaden können. Das Schlimmste bekamen seine Waden, der Bauch und die Schultern ab. Doch die waren bald schon blutig genug. Ich bin wirklich ein prächtiger Narr, dachte Measure. Da stehe ich nun hier und messe meinen Mut mit dem des mutigsten Mannes in ganz Amerika.

Ta-Kumsaw erreichte das Ende der Reihe, drehte sich um und sah Measure vom Gipfel der Düne aus an. Sein Körper troff vor Blut, und er lächelte. »Kommt zu mir, tapferer weißer Mann«, rief er.

Measure zögerte nicht. Er schritt sofort auf das Gatlopp zu. Es war eine Stimme von hinten, die ihn wieder stehenbleiben ließ. Der Prophet, der etwas auf Shaw-Nee rief. Die Roten sahen ihn an. Als er fertig war, spuckte Ta-Kumsaw aus. Measure, der nicht wußte, was der Prophet gesagt hatte, ging wieder los. Als er den ersten Roten erreichte, erwartete er einen mindestens ebenso harten Schlag, wie ihn Ta-Kumsaw erhalten hatte. Doch nichts geschah. Er machte einen weiteren Schritt vorwärts. Wieder nichts. Vielleicht wollten sie ihm zum Zeichen ihrer Verachtung in den Rücken schlagen, doch er stieg die Düne immer weiter hoch, und noch immer gab es keinen einzigen Schlag, keine Bewegung.

Er wußte, daß er hätte erleichtert sein sollen, statt dessen war er jedoch wütend. Sie hatten Ta-Kumsaw dabei geholfen, seinen Mut zu beweisen, und nun machten sie Measures Spießrutenlaufen zu einem Gang der Schande anstelle der Ehre. Er wirbelte herum und sah den Propheten an, der am Fuße der Düne stand, den Arm auf Alvins Schulter gelegt.

»Was habt Ihr ihnen gesagt?« wollte Measure wissen.

»Ich habe ihnen gesagt, daß jeder behaupten würde, daß Ta-Kumsaw und der Prophet diese Jungen entführt und ermordet haben, wenn sie Euch töten sollten. Ich habe ihnen gesagt, daß man sich bei Euch zu Hause erzählen würde, man habe Euch gemartert, falls sie Euch auch nur eine Wunde zufügen sollten.«

»Und ich sage Euch, daß ich eine faire Chance haben will, um zu beweisen, daß ich kein Feigling bin!«

»Das Gatlopp ist eine törichte Einrichtung für Männer, die ihre Pflicht vernachlässigt haben.«

Measure beugte sich vor und riß einem der Roten die Keule aus der Hand. Er schlug sich immer und immer wieder damit auf die eigenen Waden, versuchte, Blut zu ziehen. Es tat weh, doch nicht sehr schlimm, denn ob er wollte oder nicht, stets zuckten seine Arme bei dem Gedanken zurück, er solle sich selbst Schmerz zufügen. Also drückte er dem Krieger wieder den Ast in die Hand und verlangte: »Schlagt mich!«

»Je größer ein Mann ist, um so mehr Menschen dient er«, sagte der Prophet. »Ein kleiner Mann dient nur sich selbst. Größer ist es, der eigenen Familie zu dienen. Noch größer ist es, dem eigenen Stamm zu dienen. Und danach dem eigenen Volk. Am größten aber ist es, allen Menschen und allen Ländern zu dienen. Zeigt Mut für Euch selbst. Für Eure Familie, für Euren Stamm, für Euer Volk, für mein Volk — für das Land und alle Menschen darin durchlauft Ihr diese Gatlopp ohne eine Wunde.«

Langsam dreht sich Measure um, schritt die Düne zu Ta-Kumsaw empor, unberührt. Wieder spuckte Ta-Kumsaw auf den Boden, diesmal vor Measures Füße.

»Ich bin kein Feigling«, sagte Measure.

Ta-Kumsaw ging davon. Er ging, rutschte, glitt die Düne hinab. Die Krieger des Gatlopp schritten ebenfalls fort. Measure stand oben auf der Düne, voller Scham, er war wütend und fühlte sich benutzt.

»Geht!« rief der Prophet. »Geht nach Süden!«

Er reichte Alvin einen Beutel, worauf dieser die Düne emporkletterte und ihn Measure gab. Measure öffnete ihn. Er enthielt Pemmican und getrockneten Mais, den er unterwegs lutschen konnte.

»Kommst du mit?« fragte Measure.

»Ich gehe mit Ta-Kumsaw«, sagte Alvin.

»Ich hätte es durch das Gatlopp schaffen können«, sagte Measure.

»Ich weiß«, erwiderte Alvin.

»Wenn er es mich nicht durchlaufen lassen wollte«, fuhr Measure fort, »warum hat der Prophet es dann überhaupt geschehen lassen?«

»Das verrät er nicht«, sagte Alvin. »Aber es wird etwas Entsetzliches passieren. Und er will, daß es passiert. Wenn du vorher gegangen wärst… Aber wenn du jetzt gehst, wirst du genau das tun, was er will.«

»Will er, daß ich umgebracht werde oder so etwas?«

»Er hat mir versprochen, daß du es überleben wirst, Measure. Und unsere ganze Familie. Und er und Ta-Kumsaw auch.«

»Was ist dann so entsetzlich daran?«

»Ich weiß es nicht. Ich fürchte mich nur vor dem, was geschehen wird. Ich glaube, daß er mich mit Ta-Kumsaw schickt, um mein Leben zu retten.«

Ein letztes Mal wollte er es noch versuchen. »Alvin, wenn du mich liebst, dann komm jetzt mit mir.«

Alvin begann zu weinen. »Measure, ich liebe dich, aber ich kann nicht mitkommen.« Immer noch weinend, lief er die Düne hinunter. Measure wollte nicht abwarten, bis er außer Sichtweite war, deshalb setzte er sich in Bewegung. In Richtung Süden. Er würde keine Schwierigkeiten haben, den Weg zu finden. Aber er fühlte sich krank vor Trauer und vor Scham darüber, daß er sich dazu hatte überreden lassen, ohne seinen Bruder loszugehen.

Den ganzen Rest des Tages marschierte er weiter, um die Nacht in einer mit Laub gefüllten Grube zu verbringen. Am nächsten Nachmittag erreichte er einen Bach, der nach Süden floß. Der würde entweder in den Tippy-Canoe oder in den Wobbish münden. Da das Wasser zu tief war und die Böschung zu dicht bewachsen, ging er in einigem Abstand weiter den Bach entlang. Das Gehen war mühsam, und er wünschte sich immer wieder ein Pferd und einen guten Weg.

Doch so schwierig es auch war, durch den Wald zu laufen, er hielt durch. Teilweise, weil Alvin seine Füße für ihn widerstandsfähiger gemacht hatte. Teilweise auch, weil er inzwischen tiefer atmete als jemals zuvor. Doch es war mehr als das. In seinen Muskeln federte die Kraft auf eine Weise, wie er es noch nie in seinem Leben empfunden hatte. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt wie jetzt. Und er dachte sich: Wenn ich jetzt ein Pferd hätte, würde ich mir wahrscheinlich wünschen, daß ich zu Fuß wäre.

Es war am späten Nachmittag des zweiten Tages, als er im Fluß, den er nicht sehen konnte, Geräusche hörte. Es gab keinen Zweifel — man führte Pferde durch den Strom. Das bedeutete Weiße, vielleicht sogar Leute aus Vigor Church, die noch immer nach ihm und Alvin suchten.

Er kletterte die Böschung zum Flußufer hoch, wobei er sich ziemlich schlimm zerkratzte. Sie ritten stromabwärts, von ihm fort, vier Männer zu Pferde. Erst als er selbst bereits im Fluß stand und sich fast die Lunge aus dem Leib schrie, bemerkte er, daß sie die grüne Uniform der US-Armee trugen. Noch nie hatte er davon gehört, daß Soldaten in dieses Gebiet gekommen wären. Es war das Land, das von den Weißen gemieden wurde, weil sie die Franzosen in Fort Chicago nicht aufstacheln wollten.

Sie hörten ihn sofort und rissen die Pferde herum, um ihn anzuschauen. Und beinahe ebenso schnell hatten drei von ihnen auch schon die Musketen angelegt.

»Nicht schießen!« rief Measure.

Die Soldaten ritten auf ihn zu, doch kamen sie nur sehr langsam voran, weil es ihren Pferden schwerfiel, gegen die Strömung zu laufen.

»Nicht schießen, um Gottes willen«, sagte Measure. »Ihr seht doch, daß ich nicht bewaffnet bin, ich habe nicht einmal ein Messer dabei!«

»Der spricht wirklich gut Englisch, nicht wahr?« meinte einer der Soldaten.

»Natürlich tue ich das! Ich bin doch schließlich ein Weißer!«

»Hat man so etwas schon einmal gehört«, meinte ein anderer Soldat. »Das ist das erste Mal, daß ich erlebe, daß einer von denen behauptet, weiß zu sein.«

Measure sah an sich herab. Die Sonne hatte seine Haut tatsächlich gerötet, aber sie war viel heller als die eines wirklichen roten Mannes. Gewiß, er trug einen Lendenschurz und sah ziemlich verwildert und schmutzig aus.

Die Männer gingen kein Risiko ein. Nur einer kam auf ihn zugeritten. Die anderen hielten sich ein Stück zurück, die Musketen immer noch feuerbereit angelegt für den Fall, daß Measure ein paar Leute dabei hatte, die am Flußufer einen Hinterhalt planten. Er sah, daß der Mann, der auf ihn zukam, sich zu Tode fürchtete und mal hierher schaute, mal dorthin, darauf wartend, daß ein Roter einen Pfeil auf ihn abschoß. Ganz schön idiotisch, dachte Measure, da man einen Roten im Wald ohnehin erst erkennen konnte, wenn sein Pfeil bereits in einem steckte.

Der Soldat kam nicht ganz heran. Er schlug einen Bogen, um sich ihm dann von der Seite zu nähern. Dann machte er eine Schlaufe in ein Seil und warf es Measure zu. »Leg dir das um die Brust unter die Arme«, sagte der Soldat.

»Wofür?«

»Damit ich dich führen kann.«

»Den Teufel werde ich tun«, antwortete Measure. »Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr versuchen würdet, mich an einem Seil mitten durch einen Fluß zu zerren, dann wäre ich auf dem trockenen Land geblieben und allein nach Hause gegangen.«

»Wenn du nicht in fünf Minuten dieses Seil um dich gelegt hast, werden die Jungs dort hinten dir den Kopf wegpusten.«

»Wovon redet Ihr überhaupt?« versetzte Measure. »Ich bin Measure Miller. Ich bin vor fast einer Woche zusammen mit meinen kleinen Bruder Alvin gefangengenommen worden und will gerade nach Hause zurück nach Vigor Church.«

»Ach, das ist aber eine hübsche Geschichte«, meinte der Soldat. Er holte das Seil ein, das inzwischen klitschenaß war, und warf es erneut. Diesmal traf es Measure im Gesicht. Measure griff danach, hielt es mit der Hand fest. Der Soldat zückte seinen Degen. »Fertigmachen zum Feuern, Jungs!« rief der Soldat. »Es ist tatsächlich dieser Überläufer!«

»Überläufer! Ich…« Dann endlich merkte Measure, daß irgend etwas schrecklich schiefgelaufen war. Sie wußten, wer er war, und dennoch wollten sie ihn gefangennehmen.

Und mit drei Musketen und einem Degen konnten sie ihn wahrscheinlich auch recht leicht töten, wenn er versuchte davonzulaufen. Aber das war doch die US-Armee, nicht wahr? Wenn er erst einmal einen Offizier zu sprechen bekam, würde sich das alles schon bald aufklären. Also zog er sich das Seil über den Kopf und schob die Schlinge um seinen Brustkorb.

Es war nicht allzu schlimm, solange sie im Wasser waren; manchmal trieb er einfach weiter. Aber schon bald gingen sie wieder an Land und ließen ihn hinter sich herlaufen, während sie sich ihren Weg durch den Wald bahnten. Sie schlugen einen Bogen nach Osten, umgingen Vigor Church.

Measure versuchte etwas zu sagen, doch sie befahlen ihm zu schweigen. »Ich will dir was sagen — wir haben den Auftrag, Überläufer wie dich tot oder lebendig zurückzubringen. Ein Weißer, der gekleidet ist wie ein Roter — wir wissen genau, was du bist.«

Aus ihren Gesprächen konnte er einiges entnehmen. Sie waren im Auftrag von General Harrison auf einem Spähtrupp. Measure wurde ganz übel bei dem Gedanken, daß die Dinge sich so schlimm entwickelt hatten, daß sie diesen mit Branntwein handelnden Taugenichts in den Norden gerufen hatten. Und er war auch verdammt schnell zur Stelle gewesen.

Die Nacht verbrachten sie auf einer Lichtung. Sie machten so viel Lärm, daß es Measure schon wie ein Wunder erschien, daß sie am nächsten Morgen nicht von sämtlichen Roten im ganzen Land umringt werden.

Am nächsten Tag weigerte er sich geradeheraus, sich an einem Seil mitzerren zu lassen. »Ich bin fast nackt, ich habe keine Waffen, und ihr könnt mich jetzt entweder umbringen oder mich reiten lassen.« Und so saß er schließlich hinter einem der Soldaten auf dem Pferd und hielt die Arme um die Hüften des Mannes geschlungen. Bald erreichten sie ein Gebiet, in dem es Pfade und Wege gab, und kamen gut voran.

Kurz vor Mittag erreichten sie ein Armeelager. Es war keine besonders beeindruckende Armee, vielleicht hundert Uniformierte und zweihundert weitere, die gerade auf einem Exerzierplatz umhermarschierten. Measure wußte den Namen der Familie nicht mehr, die hier wohnte. Es waren neue Leute, die erst vor kurzem aus dem Gebiet um Carthage gekommen waren. Doch stellte sich heraus, daß es ohnehin keine Rolle spielte. General Harrison hatte ihr Haus zum Hauptquartier gemacht; die Späher führten ihn direkt zu ihm.

»Ah«, sagte Harrison. »Einer der Überläufer.«

»Ich bin kein Überläufer«, erwiderte Measure. »Den ganzen Weg hat man mich behandelt wie einen Gefangenen. Ich kann beschwören, daß die Roten mich besser behandelt haben als Eure weißen Soldaten.«

»Das überrascht mich nicht sonderlich«, versetzte Harrison. »Die haben Euch bestimmt richtig nett behandelt. Wo ist der andere Überläufer?«

»Welcher andere Überläufer? Meint Ihr etwa meinen Bruder Alvin? Ihr wißt, wer ich bin, und Ihr laßt mich doch nicht nach Hause?«

»Erst mal beantwortet Ihr meine Fragen, dann werde ich es mir schon überlegen, ob ich auch Eure beantworten will.«

»Mein Bruder Alvin ist nicht hier, und er kommt auch nicht. Und nach allem, was ich bisher gesehen habe, bin ich auch ganz froh darüber.«

»Alvin? Ah, ja, man hat mir gemeldet, daß Ihr behauptet, Measure Miller zu sein. Nun, wir wissen aber, daß Measure Miller von Ta-Kumsaw und dem Propheten ermordet wurde.«

Measure spuckte aus. »Das wißt Ihr? Woher denn? Von ein paar zerrissenen, blutigen Kleidern? Nein, mir macht Ihr nichts vor. Meint Ihr denn, ich würde nicht sehen, was Ihr hier tut?«

»Bringt ihn in den Keller«, befahl Harrison. »Und seid schön sanft zu ihm.«

»Ihr wollt überhaupt nicht, daß die Leute erfahren, daß ich noch am Leben bin, denn dann werden sie merken, daß sie Euch hier oben gar nicht brauchen!« rief Measure. »Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn Ihr es gewesen wärt, der die Chok-Taw überhaupt dazu gebracht haben, uns gefangenzunehmen!«

»Wenn das wahr wäre«, meinte Harrison, »dann würde ich an Eurer Stelle meine Zunge hüten. Dann würde ich mir nämlich ziemlich viel Sorgen machen, ob ich überhaupt jemals wieder lebendig nach Hause käme. Schaut Euch doch einmal an. Eure Haut, so rot wie ein Kardinalvogel, in einen Lendenschurz gekleidet, so verwildert wie ein Alptraum. Nein, ich schätze, wenn man Euch aus Versehen erschießen würde, könnte uns niemand deswegen einen Vorwurf machen.«

»Mein Vater würde es wissen«, sagte Measure. »Den könnt Ihr mit einer solchen Lüge nicht ins Bockshorn jagen, Harrison. Und Brustwehr-Gottes, der …«

»Brustwehr-Gottes? Dieser erbärmliche Schwächling? Der den Leuten ständig sagt, daß Ta-Kumsaw und der Prophet unschuldig sind und daß wir nicht versuchen sollten, sie auszulöschen? Auf den hört inzwischen niemand mehr, Measure.«

»Das werden sie aber tun. Alvin ist noch am Leben und den werdet Ihr nie fangen.«

»Warum nicht?«

»Weil er bei Ta-Kumsaw ist.«

»Ach, und wo ist das?«

»Jedenfalls nicht hier, darauf könnt Ihr wetten.«

»Ihr habt ihn gesehen? Und den Propheten auch?«

Der gierige Ausdruck in Harrisons Augen ließ Measure verstummen. »Ich habe nur gesehen, was ich gesehen habe«, sagte Measure. »Und ich werde nur sagen, was ich sagen will.«

»Beantwortet meine Fragen, sonst seid Ihr ein toter Mann«, erwiderte Harrison.

»Wenn Ihr mich umbringt, dann sage ich überhaupt nichts. Aber eins will ich Euch sagen: Ich habe gesehen, wie der Prophet einen Tornado aus einem Gewitter herbeigerufen hat. Ich habe ihn auf dem Wasser gehen sehen. Ich habe gesehen, wie er Dinge prophezeit hat, und seine Prophezeiungen sind alle wahr geworden. Er weiß alles, was Ihr vorhabt. Ihr meint, daß Ihr tätet, was Ihr wollt, aber am Ende werdet Ihr doch nur seinen Plänen dienen, wartet nur ab.«

»Welch ein Gedanke!« sagte Harrison lachend. »Nach dieser Rechnung müßte es doch seinen Zwecken dienen, daß Ihr in meine Gewalt geraten seid, nicht wahr?« Er wedelte mit den Händen, und die Soldaten zerrten Measure aus dem Haus und brachten ihn hinunter in den Vorratskeller. Auf dem Weg dorthin behandelten sie ihn richtig sanft — sie traten ihn und schlugen ihn zu Boden und taten alles, was sie ihm nur antun konnten, bevor sie ihn schließlich die Treppe hinunterwarfen und über ihm die Luke verriegelten.

Da die Leute, die hier eigentlich wohnten, aus dem Gebiet um Carthage stammten, besaß die Kellertür nicht nur einen Riegel, sondern auch ein Schloß. Unten zwischen den Rüben, den Kartoffeln und den Spinnen verlor Measure keine Zeit. Sein ganzer Körper schmerzte, doch er wußte, daß Harrison ihn nicht mehr lebendig von hier fortziehen lassen durfte. Er hatte die Späher losgeschickt, um nach ihm und Alvin Ausschau zu halten. Wenn sie jetzt lebendig wiederkehrten, würde das alle seine Pläne zunichte machen; und das wäre wirklich schade, da im Augenblick doch alles so lief, wie Harrison es haben wollte. Nach all diesen Jahren war er nun hier bei Vigor Church, um die Leute des Ortes zu Soldaten zu drillen, während niemand mehr auf das Wort von Brustwehr-Gottes hörte. Measure mochte den Propheten zwar nicht besonders, aber verglichen mit Harrison war der Prophet der reinste Heilige.

Doch war er das wirklich? Der Prophet hatte ihn auf das Gatlopp warten lassen — warum? Damit er nicht schon am Morgen, sondern erst am Nachmittag losging. Damit er den Tippy-Canoe genau im richtigen Augenblick erreichte, als die Soldaten dort entlangritten. Sonst wäre er nach Prophetstown gekommen und von dort nach Vigor Church übergesetzt, ohne auch nur einem Soldaten zu begegnen. Die hätten ihn nie gefunden, wenn er sie nicht selbst sogar angerufen hätte. Gehörte all dies zum Plan den Propheten?

Und wenn dem so sein sollte? Vielleicht verhieß der Plan des Propheten etwas Gutes, vielleicht aber auch nicht — Measure aber hielt nicht allzu viel davon. Jedenfalls würde er nicht in einem Kartoffelkeller herumsitzen und abwarten, wie gut sich der Plan bewährte.

Im hinteren Teil des Kellers grub er sich einen Weg durch die Kartoffeln. Schon bald hatte er sich hineingegraben und seine Bahn hinter sich mit Kartoffeln bedeckt. Sollte jetzt jemand die Tür öffnen, würde er nur einen Haufen Kartoffeln zu sehen bekommen.

Es war ein normaler Keller, ausgehoben, mit Holz ausgeschlagen, überdacht, das Dach mit dem ausgehobenen Erdreich bedeckt. Er würde sich durch die Hinterwand graben und hinter dem Keller herauskommen, ohne daß man vom Haus aus etwas davon sah. Es bedeutete zwar, mit bloßen Händen zu schaufeln, aber die Erde war hier recht locker. Am Ende würde er zwar mehr einem Schwarzen als einem Roten gleichen, wenn er herauskam, doch das machte ihm nicht viel aus.

Leider bestand die hintere Wand aber nicht aus Erdreich, sondern aus Holz. Sie hatten den Keller bis zum Boden mit Holzwänden ausgeschlagen. Ordentliche Leute. Der Boden allerdings war aus Erdreich. Das bedeutete jedoch, daß er erst ein Loch unter der Wand hindurch graben mußte, bevor er wieder in die Höhe stieß. Das war nichts, was er in einer Nacht hätte schaffen können, wie er gehofft hatte, es würde Tage dauern. Und dabei konnten sie ihn jederzeit erwischen. Oder sie zerrten ihn einfach heraus und erschossen ihn. Vielleicht übergaben sie ihn aber auch den Chok-Taw, damit die zu Ende führen konnten, was sie begonnen hatten — so würde es zum Schluß doch noch so aussehen, als hätten Ta-Kumsaw und der Prophet ihn gemartert.

Sein Heim lag keine zehn Meilen entfernt. Das war es, was ihn schier in den Wahnsinn trieb. Er war so dicht am Ziel, und niemand wußte davon, niemand ahnte, daß er hierher kommen mußte, um ihm zu helfen. Er erinnerte sich an das Fackelmädchen vom Hatrack River vor vielen Jahren, das gesehen hatte, wie sie im Fluß festsaßen, und das ihnen Hilfe geschickt hatte. Die könnte ich jetzt gebrauchen, ich brauche eine Fackel, jemanden, der mich aufspürt und mir Hilfe schickt.

Doch das war nicht allzu wahrscheinlich. Nicht für Measure. Ja, wenn es um Alvin gegangen wäre, dann hätte es wahrscheinlich zahllose Wunder gegeben, alles, was ihn in Sicherheit gebracht hätte. Doch für Measure gab es immer nur das, was er sich selbst erarbeitete.

Schon in den ersten zehn Minuten des Grabens brach er sich einen halben Fingernagel ab. Der Schmerz war ziemlich schlimm, und er wußte, daß er blutete. Würden sie ihn jetzt hinauszerren, würden sie sofort erkennen, daß er einen Tunnel graben wollte. Doch es war seine einzige Chance. Also grub er weiter, trotzte dem Schmerz, und hielt dann und wann inne, um eine Kartoffel hinauszuwerfen, die in sein Loch hinabgerollt war.

Schon bald nahm er seinen Lendenschurz ab und benutzte ihn für die Arbeit. Er lockerte das Erdreich mit den Händen, häufte es auf das Tuch und hob es damit aus dem Loch. Das war zwar nicht so gut wie ein Spaten, aber immer noch um einiges besser, als das Erdreich mit den Händen herauszuheben. Wieviel Zeit hatte er noch? Waren es Tage? Waren es Stunden?

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