18. Detroit

Für Frederic, Comte de Maurepas, war es eine herrliche Zeit. Weit davon entfernt, das Leben in Detroit, das keine der Annehmlichkeiten von Paris aufwies, als Hölle zu empfinden, erlebte er ausnahmsweise einmal die Begeisterung, an etwas Großem teilzuhaben. Krieg war im Anzug, in der Festung herrschte Unruhe; die heidnischen Roten sammelten sich aus allen Ecken der Wildnis, und schon bald würden die Franzosen unter dem Kommando de Maurepas' die amerikanische Lumpenarmee vernichten, die Old Chestnut nördlich des Maw-Nee geführt hatte. Oder hieß er Old Willow? Wie auch immer.

Natürlich war er auch ein wenig verunsichert. Frederic war nie ein Mann der Tat gewesen, und nun geschah plötzlich so viel auf einmal, daß er es kaum verstehen konnte. Manchmal machte es ihm zu schaffen, daß Napoleon die Wilden beim Kampf hinter Bäumen versteckte. Eigentlich sollten Europäer, selbst die barbarischen Amerikaner, doch ehrenhaft genug sein, um es den Roten nicht zu gestatten, einen unfairen Vorteil aus ihrer Fähigkeit zu ziehen, sich in den Wäldern zu verstecken. Aber sollten sie doch, Napoleon war davon überzeugt, daß die Sache gelingen würde. Was sollte auch schiefgehen? Alles entwickelte sich so, wie Napoleon es vorhergesagt hatte. Sogar der Gouverneur La Fayette, dieser hochverräterische, effeminierte Hund von einem Feuillant, schien sich für die bevorstehende Schlacht zu begeistern. Er hatte sogar ein weiteres Schiff mit Truppen geschickt, das Frederic keine zehn Minuten zuvor in den Hafen hatte einlaufen sehen.

»Mein Herr«, sagte der Abenddiener und meldete jemanden, ausgerechnet um diese Zeit.

»Wer ist es?«

»Ein Bote des Gouverneurs.«

»Herein mit ihm«, sagte Frederic. Er fühlte sich zu wohl, um den Mann erst einmal warten zu lassen, bis er sich die Fersen abgekühlt hatte. Schließlich war es schon Abend — da war es nicht nötig, so zu tun, als würde er noch schwer arbeiten. Genaugenommen war es schon nach vier!

Der Mann trat ein, in seiner Uniform sah er schneidig aus. Tatsächlich war es ein hochrangiger Offizier. Frederic hätte wahrscheinlich seinen Namen kennen müssen, andererseits war er ein Niemand, er besaß nicht einmal einen Vetter mit einem Titel. Also wartete Frederic ab, ohne ihn zu grüßen.

Der Major hielt zwei Briefe in der Hand. Einen davon legte er auf Frederics Tisch.

»Ist der andere auch für mich bestimmt?«

»Jawohl. Aber ich habe Anweisung vom Gouverneur, Euch erst diesen zu übergeben und zu warten, bis Ihr ihn in meiner Gegenwart gelesen habt, um dann zu entscheiden, ob ich Euch auch den anderen überreiche.«

»Anweisung vom Gouverneur! Ich soll so lange auf meine Post warten, bis ich erst seinen Brief gelesen habe?«

»Der zweite Brief ist nicht an Euch adressiert, mein Herr«, erwiderte der Major. »Daher handelt es sich auch nicht um Eure Post. Aber ich denke doch, daß Ihr ihn werdet sehen wollen.«

»Und was, wenn ich nun von meiner Arbeit erschöpft wäre und es vorzöge, den Brief erst morgen zu lesen?«

»Für diesen Fall habe ich noch einen weiteren Brief dabei, den ich Euren Soldaten vorlesen werde, sofern Ihr den ersten Brief nicht innerhalb von fünf Minuten lest. Dieser dritte Brief enthebt Euch Eures Kommandos und überträgt mir im Namen des Gouverneurs die Befehlsgewalt über Fort Detroit.«

»Welch empörendes Verhalten! Auf diese Weise zu mir zu sprechen!«

»Mein Herr, ich wiederhole nur die Worte des Gouverneurs. Ich ersuche Euch inständig, diesen Brief zu lesen. Es kann Euch nicht schaden, aber es hätte verheerende Auswirkungen, tätet Ihr es nicht.«

So etwas war wirklich impertinent! Für wen hielt der Gouverneur sich eigentlich? Gewiß, er war ein Marquis. Andererseits stand La Fayette jedoch weitaus weniger in der Gunst des Königs als…

»Fünf Minuten, mein Herr.«

Wütend öffnete Frederic den Brief. Er war schwer, und als er ihn auseinanderfaltete, fiel scheppernd ein Metallamulett an einer Kette auf den Schreibtisch.

»Was ist denn das?«

»Der Brief, mein Herr.«

Frederic überflog ihn schnell. »Ein Amulett! Ein heiliger Mann! Was soll ich denn davon halten? Ist La Fayette etwa abergläubisch geworden?« Doch trotz seiner Kühnheit wußte Frederic sofort, daß er das Amulett anlegen würde. Ein Schutz gegen den Satan! Er hatte schon von solchen Amuletten gehört. Sie waren von unschätzbarem Wert, denn alle waren sie von der Heiligen Mutter persönlich berührt und mit ihrer Macht versehen worden. Ob es sich um ein solches handelte? Er öffnete die Kette und befestigte es am Hals. Dann schob er es unter sein Hemd, bis es nicht mehr zu sehen war.

»So«, sagte er. »Nun trage ich es.«

»Ausgezeichnet, mein Herr«, sagte der Major. Er reichte ihm den anderen Brief. Zu Frederics Erstaunen erblickte er das Siegel Seiner Majestät im Wachs. Der Brief war an der Marquis de La Fayette gerichtet und bereits einmal geöffnet worden. Er enthielt die Order, Napoleon Bonaparte sofort unter Arrest zu stellen und ihn in Ketten nach Paris zurückzubefördern, damit dieser sich dort vor einem Gericht wegen Hochverrats, Aufruhrs, Untreue und Gesetzesübertretungen verantworten konnte.


»Glaubt Ihr etwa, daß Euer Bitten mich rühren kann?« fragte de Maurepas.

»Ich möchte doch hoffen, daß Euch die Richtigkeit meiner Einwände rühren wird«, erwiderte Napoleon. »Morgen wird die Schlacht stattfinden. Ta-Kumsaw erwartet seine Befehle von mir. Ich allein weiß genau, was von der französischen Armee in diesem Feldzug erwartet wird.«

»Ihr allein? Was ist denn das für eine plötzliche Eitelkeit auf Eurer Seite, zu glauben, daß Ihr allein fähig wäret, das Kommando zu führen.«

»Aber selbstredend versteht Ihr alles, Comte de Maurepas. Doch Eure Aufgabe ist es, das Gesamtbild im Auge zu behalten, während ich…«

»Spart Euch Eure Worte«, erwiderte de Maurepas. »Ich lasse mich nicht mehr täuschen. Eure Hexerei, Euer satanischer Einfluß, dies alles treibt an mir vorbei wie Seifenblasen in der Luft, es bedeutet mir nichts. Ich bin stärker, als Ihr geglaubt habt. Ich verfüge über geheime Kräfte!«

»Es ist gut, wenn Ihr das tut, denn für die Öffentlichkeit werdet Ihr bald nichts anderes mehr besitzen als die Idiotie«, entgegnete Napoleon. »Die Niederlage, die Ihr ohne mich erleiden werdet, wird Euch zum größten Narren in der Geschichte der französischen Armee abstempeln. Wann immer in Zukunft jemand eine schändliche und vermeidbare Katastrophe erleidet, wird man ihn auslachen und sagen, daß er einen Maurepas begangen habe!«

»Genug«, sagte de Maurepas. »Hochverrat, Aufruhr, Gesetzesbruch, und, als wenn das nicht schon genügte, nun auch noch Insubordination. M. Guillotine wird noch mit Euch zu tun bekommen, davon bin ich überzeugt, mein eitler kleiner Zwerg! Geht nur und probiert Eure Klauen an Seiner Majestät aus, Ihr werdet schon selbst feststellen, wie tief sie sich noch ins Fleisch einschlagen, wenn Eure Glieder in Ketten liegen und Euer Kopf verwirkt ist.«


Erst am Morgen wurde der Verrat offenbar, doch dann lief es schnell und gründlich. Es begann damit, daß der französische Quartiermeister sich weigerte, an Ta-Kumsaws Leute Schießpulver auszugeben. »Ich habe meine Befehle«, sagte er.

Als Ta-Kumsaw mit Napoleon sprechen wollte, lachte man ihn aus. »Der wird Euch weder jetzt noch jemals später empfangen«, teilte man ihm mit.

Und de Maurepas?

»Der ist ein Comte. Er verhandelt nicht mit Wilden. Er ist kein Tierliebhaber wie der kleine Napoleon.«

Erst da merkte Alvin, daß alle Franzosen, mit denen sie heute zu tun bekamen, eben jene waren, die Napoleon bisher gemieden hatte. Alle Offiziere, die Napoleon bevorzugte und denen er vertraute, waren nicht mehr aufzufinden. Napoleon war gestürzt worden.

»Pfeil und Bogen«, sagte ein Offizier. »Damit sind Eure Krieger doch unschlagbar, nicht wahr? Mit Kugeln würdet Ihr doch Euren eigenen Männern mehr schaden als dem Feind.«

Ta-Kumsaws Kundschafter berichteten ihm, daß die amerikanische Armee bis zum Mittag eintreffen würde. Doch nun, da sie nicht mehr die Reichweite von Musketen besaßen, konnten sie kaum mehr tun, als die Armee Old Hickorys mit schwachen Pfeilschüssen zu belästigen, die aus viel zu großer Entfernung abgefeuert wurden, obwohl sie doch vorgehabt hatten, die Amerikaner mit einem Bleihagel in Empfang zu nehmen. Und weil die Bogenschützen sich den Amerikanern so weit nähern mußten, um überhaupt schießen zu können, wurden viele von ihnen getötet.

»Steh nicht neben mir«, sagte Ta-Kumsaw zu Alvin. »Sie wissen alle von der Prophezeiung. Sonst glauben sie noch, daß ich nur mutig bin, weil ich weiß, daß ich nicht sterben kann.«

Also stellte Alvin sich ein Stück abseits, blieb aber immer nahe genug, um tief in Ta-Kumsaws Körper hineinblicken zu können, bereit, jede etwaige Wunde zu heilen. Was er jedoch nicht heilen konnte, das waren die Furcht und der Zorn und die Verzweiflung, die sich in Ta-Kumsaws Seele bereits breitmachten. Ohne Schießpulver, ohne Napoleon war der einstmals sicher geglaubte Sieg zu einer Frage des schieren Glücks geworden.

Die grundlegende Taktik war erfolgreich. Old Hickory bemerkte die Falle sofort, doch das Gelände zwang ihn dazu, entweder hineinzulaufen oder den Rückzug zu wählen, und er wußte, daß der Rückzug das Verderben bedeutete. Also marschierte seine Armee kühn zwischen die Hügel, auf denen es von Roten nur so wimmelte, auf den schmalen Streifen zu, wo die französischen Kanonen und Gewehrschützen die Amerikaner unter Beschuß nehmen würden, während die Roten alles töten sollten, was zu fliehen versuchte. Es hätte einen vollständigen Sieg geben müssen. Nur daß man davon ausgegangen war, daß die Amerikaner demoralisiert, verwirrt und durch den Beschuß der Roten auf dem Weg zur Schlacht stark dezimiert sein würden.

Die Taktik war richtig, aber als die amerikanische Armee die französische erblickte und angesichts der Mündungen neun mit Kartätschen geladener Kanonen und zweitausend Musketen zögerte, zogen sich die Franzosen völlig unverständlicherweise zurück. Es war, als würden sie der Stärke ihrer eigenen Linien nicht trauen. Sie versuchten nicht einmal die Kanonen mitzunehmen. Sie wichen zurück, als fürchteten sie die sofortige Vernichtung.

Old Hickory wußte die Gelegenheit zu nutzen. Seine Soldaten ignorierten die Roten und stürzten sich auf die fliehenden Franzosen, machten alles nieder, was nicht davonlief, erbeuteten Kanonen, Musketen, Pulver und Kugeln.

Binnen einer Stunde hatten sie mit Hilfe der französischen Artillerie an drei Stellen Breschen in die Festungsmauern geschossen. Amerikaner strömten in Detroit ein; in den Straßen fanden blutige Kämpfe statt.

An diesem Punkt hätte Ta-Kumsaw sich zurückziehen sollen. Er hätte es den Amerikanern überlassen sollen, die Franzosen zu vernichten, hätte seine Männer in Sicherheit bringen sollen. Vielleicht fühlte er sich noch verpflichtet, den Franzosen zu helfen, selbst jetzt noch, nachdem sie ihn im Stich gelassen hatten. Vielleicht hoffte er aber auch noch darauf, daß seine Armee von Roten gegen die bereits in eine Schlacht verwickelten Amerikaner doch noch einen Sieg davontragen konnte. Vielleicht erkannte er aber auch, daß er nie wieder genug Kraft haben würde, um alle Krieger sämtlicher Stämme unter seinem Befehl zu vereinen.

Und so griffen die mit Pfeil und Bogen, mit Keulen und Messern bewaffneten Roten die amerikanische Armee von hinten an. Zuerst brachten sie blutige Ernte ein, schlugen die Weißen zu Boden, durchbohrten sie mit ihren Feuersteinklingen. Ta-Kumsaw befahl ihnen, Musketen, Pulver und Munition der Gefallenen an sich zu nehmen, und viele der Roten gehorchten. Doch dann setzte Old Hickory den disziplinierten Kern seiner Truppe ein. Die Kanonen wurden gewendet. Und die auf offenem Feld kämpfenden Roten fielen im gewaltigen Kartätschenhagel.

Am Abend brannte Detroit, und der Rauch zog durch den nahen Wald. Ta-Kumsaw stand in der Dunkelheit mit einigen wenigen hundert seiner eigenen Shaw-Nee. Hier und dort leistete ein Stamm noch Widerstand; die meisten aber verzweifelten und flohen in den Wald, wohin ihnen kein Weißer folgen konnte. Old Hickory führte persönlich den letzten Ansturm gegen Ta-Kumsaws hölzerne Festung.

Es schien, als würden die Kugeln von allen Seiten auf sie niederprasseln. Doch Ta-Kumsaw stand aufrecht da und feuerte seine Männer an, mit den Musketen zu kämpfen, die sie den gefallenen Amerikanern entwendet hatten.

Fünfzehn Minuten lang, die wie eine schiere Ewigkeit wirkten, kämpfte Ta-Kumsaw wie ein Wahnsinniger, und seine Shaw-Nee kämpften und starben neben ihm. Ta-Kumsaws Körper blühte von scharlachfarbenen Wunden; das Blut strömte von Rücken und Bauch. Schlaff hing ein Arm von seiner Seite herab. Niemand wußte, woher er die Kraft hatte, stehenzubleiben, so viele Wunden hatte er sich schon zugezogen. Doch Ta-Kumsaw war aus Fleisch und Blut wie jeder andere Mann, und schließlich fiel auch er in der raucherfüllten Dämmerung, von einem halben Dutzend Wunden niedergestreckt.

Als Ta-Kumsaw fiel, ließ das Feuer nach. Es war, als hätten die Amerikaner gewußt, daß sie nur diesen einen Mann zu töten brauchten, um den Kampfgeist der Roten auf alle Zeiten zu brechen. Die wenigen überlebenden Shaw-Nee-Krieger krochen im Rauch und der Dunkelheit davon, um die bittere Nachricht von Ta-Kumsaws Tod in jedes Dorf der Shaw-Nee zu tragen. Die große Schlacht war ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen; man konnte dem weißen Mann nicht trauen, ob er Franzose war oder Amerikaner, so daß Ta-Kumsaws großer Plan niemals hätte gelingen können. Und doch erinnerten die Roten sich daran, daß sie sich wenigstens für eine Weile unter der Führung eines großen Mannes vereint hatten, daß sie zu einem einzigen Volk geworden waren und vom Sieg geträumt hatten. Und so erinnerte man sich Ta-Kumsaws in Liedern, als ganze Dörfer und Familien nach Westen über den Mizzipy zogen, um sich dem Propheten anzuschließen. Man gedachte seiner in Geschichten, die man sich an Kaminen erzählte; Familien erinnerten sich an ihn, die die Kleidung der Weißen trugen und auch ihre Arbeit taten. Doch immer noch wußten sie, daß es einst eine andere Art zu leben gegeben hatte und daß der größte aller Roten im Walde ein Mann namens Ta-Kumsaw gewesen war.

Doch es waren nicht nur die Roten, die sich an Ta-Kumsaw erinnerten. Noch während sie ihre Musketen auf seine schattenhafte Gestalt im Wald abfeuerten, bewunderten die amerikanischen Soldaten ihn. Er war ihnen ein großer Held aus alter Zeit. Im Grunde ihres Herzens waren die Amerikaner alle Bauern und Ladenbesitzer. Ta-Kumsaw verkörperte für sie Figuren wie Achilles oder Odysseus, Cäsar oder Hannibal, David oder die Makkabäer. »Er kann nicht sterben«, murmelten sie, als sie mitansahen, wie er ihren Kugeln trotzte. Und als er schließlich doch fiel, da suchten sie nach seinem Leichnam und fanden ihn nicht. »Die Shaw-nee haben ihn mitgeschleppt«, entschied Old Hickory, und dabei ließ man es bewenden. Er ließ sie nicht einmal nach dem Renegado-Jungen suchen, weil er davon ausging, daß ein solcher weißer Verräter sicherlich ebenso untreu sein würde wie die Franzosen und sich während des Kampfs davonstehlen würde. Laßt es, sagte Old Hickory, und wer wollte dem alten Mann schon widersprechen? Hatte er nicht den Sieg für sie errungen? Hatte er nicht den Widerstand der Roten ein für alle Male gebrochen? Old Hickory, Andy Jackson — sie wollten ihn am liebsten zum König machen, doch sie würden sich eines Tages mit dem Präsidentenamt begnügen müssen. Bis dahin aber konnten sie Ta-Kumsaw nicht vergessen, und so breiteten sich Gerüchte aus, daß er irgendwo doch noch am Leben sei, von seinen Wunden verkrüppelt, daß er darauf warte, wieder gesund zu werden und eine große rote Invasion von jenseits des Mizzipy anzuführen, aus den Sümpfen des Südens oder aus irgendeiner geheimen, verborgenen Festung in den Appalachees.


Während der ganzen Schlacht arbeitete Alvin mit aller Kraft daran, Ta-Kumsaw am Leben zu erhalten. Mit jeder neuen Kugel, die das Fleisch durchbohrte, heilte Alvin zerfetzte Adern, versuchte er, Ta-Kumsaws Blut in seinem Körper zu behalten. Für den Schmerz hatte er keine Zeit, doch Ta-Kumsaw schienen die schrecklichen Wunden nichts auszumachen. Alvin kauerte in seinem Versteck zwischen einem stehenden und einem umgestürzten Baum und beobachtete Ta-Kumsaw nur mit dem inneren Auge. Er war so sehr darauf konzentriert, daß er nicht einmal den stechenden Schmerz der Kugel spürte, die in den Rücken seiner linken Hand einschlug.

Doch am Rande seines inneren Gesichtsfelds erblickte er den Entmacher, jenen großen Vernichter, wie einen durchsichtigen Schatten, seine schimmernden Finger schnitten durch den Wald. Den roten Ta-Kumsaw konnte Alvin heilen. Doch wer konnte den Laubwald heilen? Wer konnte die Wunden heilen, die allen Indianern zugefügt wurden? Alles, was Ta-Kumsaw aufgebaut hatte, fiel der Zerstörung anheim, und alles, was Alvin tun konnte, war, einen einzigen Mann am Leben zu halten. Gewiß, einen großen Mann, einen Mann, der die Welt verändert hatte, der etwas aufgebaut hatte, auch wenn dieses Etwas am Ende zu noch mehr Leid und Schmerz führte. Ta-Kumsaw war ein Erbauer, und doch wußte Alvin schon jetzt, da er sein Leben rettete, daß Ta-Kumsaws Tage des Erbauens zu Ende waren. Höchstwahrscheinlich neidete der Entmacher Alvin nicht das Leben seines Freundes. Was war schon Ta-Kumsaw, verglichen mit dem, was der große Urschöpfer bei diesem Fest noch alles verschlang? Und schließlich, als die vielen Wunden Alvins Kräfte überstiegen und das Blut nur noch so hervorströmte, stürzte Ta-Kumsaw in Alvins Unterschlupf, fiel er auf den Jungen, der unter seiner Last beinahe erstickte.

Alvin hörte kaum, wie man um sie herum nach Ta-Kumsaw suchte. Er war zu sehr damit beschäftigt, Wunden zu heilen, zerrissenes Fleisch ganz zu machen, zerfetzte Nervenstränge miteinander zu verbinden und gebrochene Knochen zu richten. In seinem verzweifelten Bemühen, Ta-Kumsaws Leben zu retten, öffnete er die Augen und schnitt mit seinem eigenen Steinmesser ins Fleisch des roten Mannes hinein, um Geschosse herauszuhebeln und die Wunden danach wieder zu heilen. Und die ganze Zeit war es, als würden sich Rauch und Pulverdampf über ihnen zusammenballen, so daß niemand in das kleine Versteck hineinschauen konnte, wo der Entmacher Alvin gefangengehalten hatte.

Alvin erwachte erst am nächsten Nachmittag wieder. Neben ihm lag Ta-Kumsaw, matt und erschöpft, aber heil.

Vorsichtig kroch Alvin unter Ta-Kumsaw hervor, der sich so leicht anfühlte wie eine Feder. Inzwischen war der Rauch verflogen, doch Alvin fühlte sich noch immer unsichtbar, wie er so bei hellichtem Tageslicht wie ein Roter gekleidet umherging. Aus dem Lager der Amerikaner neben den Ruinen von Detroit ertönte betrunkener Gesang. Noch immer zogen vereinzelte Rauchschwaden durch die Bäume. Und überall, wo Alvin ging, lagen die Leichen von roten Männern wie nasses Stroh auf dem Waldboden. Es stank nach Tod.

Alvin fand einen Bach und trank, wusch sich Gesicht und Hände, tauchte den Kopf ins Wasser, um sich abzukühlen. Dann kehrte er zu Ta-Kumsaw zurück, um ihn zu wecken und ihm etwas zu trinken zu bringen.

Ta-Kumsaw war bereits wach. Er stand über den Leichnam eines gefallenen Freundes gebeugt. Den Kopf hatte er zurückgelegt und den Mund weit geöffnet, als würde er einen Schrei hervorstoßen, der so tief und so laut war, daß menschliche Ohren ihn nicht vernehmen konnten. Alvin lief auf ihn zu, schlang die Arme um ihn, klammerte sich an ihn, ganz das Kind, das er war, nur daß es Alvin war, der dabei Trost spendete. Er flüsterte: »Ihr habt Euer Bestes gegeben. Ihr habt getan, was getan werden konnte.«

Und Ta-Kumsaw antwortete nicht, obwohl sein Schweigen auch eine Antwort war, so als würde er sagen: Ich bin am Leben, was bedeutet, daß ich nicht genug getan habe.

Am Nachmittag gingen sie davon und machten sich dabei nicht einmal die Mühe, sich zu verbergen. Später erwachten einige weiße Männer verkatert und schworen, daß sie Ta-Kumsaw und den Renegado-Jungen gesehen hätten, wie sie zwischen den Gefallenen der Rotenarmee dahingeschritten seien, doch niemand hörte auf sie.

Bis sie zum Oberlauf des My-Ammy gelangt waren, wechselten Alvin und Ta-Kumsaw kein Wort. Und selbst als sie sich dort ein Kanu bauten, sagte Ta-Kumsaw kaum etwas zu ihm. Alvin ließ das Holz an den richtigen Stellen weich werden, so daß sie kaum eine halbe Stunde brauchten. Eine weitere halbe Stunde benötigten sie, um ein gutes Paddel anzufertigen. Dann brachten sie das Kanu ans Ufer. Als das Kanu schon halb im Wasser war, drehte sich Ta-Kumsaw zu Alvin um, streckte die Hand aus und berührte ihn im Gesicht. »Wenn alle weißen Männer so treu und wahrhaftig wären wie du, Alvin, wäre ich nie zu ihrem Feind geworden.«

Und als Alvin zusah, wie Ta-Kumsaw den Fluß entlangpaddelte, bis er verschwunden war, meinte er, daß es sich einfach nicht so anfühlte, als hätte Ta-Kumsaw verloren. Als sei es in der Schlacht überhaupt nicht um Ta-Kumsaw gegangen. Es war um den weißen Mann gegangen und darum, ob er dieses Land wert war. Der weiße Mann mochte glauben, daß er gesiegt habe, doch in Wahrheit war er es, der verloren hatte. Denn als Ta-Kumsaw den Wobbish hinunter zum Hio paddelte, den Hio hinunter zum Mizzipy, nahm er das Land mit, den Grüngesang; was der weiße Mann mit soviel Blut und Unehrlichkeit gewonnen hatten, war nicht das lebendige Land des roten Mannes, sondern nur sein Leichnam. Und er würde unter seinen Fingern zu Staub werden.

Aber Alvin war ein weißer Mann und kein Roter, was immer andere auch sagen mochten. Und ob es nun unter seinen Füßen verfaulte oder nicht, dieses Land war alles, was sie hatten.

Und so schritt Alvin am Ufer des Wobbish flußabwärts; er wußte, daß er dort, wo sich der Tippy-Canoe in den größten Strom ergoß, seinen Pa und seine Ma finden würde, die darauf warteten zu erfahren, was mit ihm in jenem Jahr geschehen war, seit er sich aufgemacht hatte, um am Hatrack River eine Lehre als Schmied anzutreten.

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