Malfurion folgte dem Goblin, der sich schwerfällig durch die schmalen Schluchten bewegte. Er wusste, weshalb Krasus den Leichnam wiederbelebt hatte, aber der Anblick verstörte ihn trotzdem. Der Magier hatte ihm zwar versichert, dass der Zauber bei seinem Volk nur selten und unter großen Vorbehalten eingesetzt wurde, doch auch das beruhigte den Nachtelfen nicht wirklich.
Diese Zweifel ließ er sich jedoch nicht anmerken. Er achtete nur darauf, der toten Kreatur nicht allzu nahe zu kommen. Die Bewegungen des Goblins wurden mit der Zeit sicherer und geschickter, sodass er nach einer Weile beinahe lebendig wirkte.
Es überraschte den Druiden, dass Krasus aussprach, was er und Brox dachten. »Wie lange brauchen wir denn noch?«, murmelte der blasse Magier. »Diese Parodie des Lebens widert mich mehr und mehr an.«
Der Goblin schien ihn gehört zu haben, denn er beugte sich plötzlich vor. Malfurion sah Krasus an, glaubte im ersten Moment, der Magier habe den Anblick nicht mehr ertragen und den Goblin dem Tod zurückgegeben. Doch der nachdenkliche Gesichtsausdruck seines Gegenübers wies auf etwas anderes hin.
»Sieh hin …«, murmelte Krasus.
Der tote Goblin berührte einen Stein, der am Fuß des Berges lag. Der Stein wies keine Besonderheiten auf, wirkte wie einer von vielen, die irgendwann einmal den Berg herabgerutscht waren.
Doch als die Kreatur ihn ein wenig nach rechts zog, wurde die gesamte Felswand durchsichtig, und mehr als die Hälfte verschwand.
Brox grunzte. Krasus nickte.
»Sehr listig«, sagte er. »Seht, wo einst Stein war, liegt jetzt ein schmaler Stollen, der in den Berg führt.«
Sie folgten ihrem makabren Weggefährten einige Minuten lang, dann ließ ihn Krasus anhalten.
»Hört ihr das?«
Weit entfernt hallten hohe Goblin-Stimmen und metallisches Hämmern durch die Gänge.
Der Druide versteifte sich. »Wir sind da.«
»Dann können wir diese Obszönität endlich beenden.« Krasus machte eine Handbewegung, und der Goblin drehte sich um. Die Kreatur kroch über einen Felsen hinweg und verschwand. Einen Moment später machte der Drachenmagier eine schneidende Geste. »Man wird ihn finden … aber erst, wenn wir weg sind.«
Krasus wollte losgehen, aber Malfurion ergriff seinen Arm. »Warte«, flüsterte der Druide. »Du kannst dort nicht hinein.«
Die Überraschung, die er auf dem Gesicht des Magiers sah, war ein seltener Anblick. Krasus schaute ihn forschend an. »Aus welchem Grund sagst du das so spät?«
»Weil es mir eben erst eingefallen ist. Krasus, dich wird er doch am einfachsten erkennen. Du gehörst zu seiner Art. Er wartet doch nur darauf, dass die Drachen versuchen, ihm die Dämonenseele zu stehlen.«
»Ja, aber meine Art lässt sich am meisten durch die Scheibe beeinflussen, also würden wir uns wahrscheinlich von ihr fernhalten. Außerdem habe ich mich gut abgeschirmt.«
Malfurion nickte und fuhr fort. »Und dein Volk hat am meisten zu verlieren, wenn die Scheibe in seinem Besitz verbleibt. Es würde zu den Drachen passen, wenn sie es wenigstens versuchen würden … und davon geht sicherlich auch der Erdwächter aus. Er wird sich auf Drachenmagie vorbereitet haben, vor allem auf solche Schilde.«
»Und er ist ein Aspekt …« Der hagere Magier presste die Lippen zusammen. Malfurion rechnete damit, dass Krasus ihm zweifelsfrei darlegen würde, wo die Fehler in dieser Argumentation lagen, aber nach langem Schweigen antwortete er: »Du hast Recht. Wir würden es versuchen, und damit rechnet er auch. Ich kenne ihn gut. Darüber hätte ich schon früher nachdenken sollen, aber ich habe diesen Gedanken wohl verdrängt. Ich habe das Glück gehabt, mich ihm bis hierher nähern zu können, doch sein Nest wird sicherlich gegen Drachen gesichert sein.«
»Das denke ich auch.«
»Was aber nicht bedeutet, dass es für dich und Brox einfach werden wird«, mahnte Krasus. »Euer Vorteil ist, dass er nicht glaubt, dass zwei Angehörige der niederen Völker es wagen würden, in sein Reich einzudringen. Vielleicht könnt ihr euch deshalb an ihm vorbei schleichen. Vielleicht.«
»Brox sollte bei dir bleiben.«
»Nein, die Fähigkeiten des Orcs werden dir gelegener kommen. Euch stehen viele körperliche Gefahren bevor, unter anderem auch die zahlreichen Goblins, die in diesen Höhlen hausen. Du musst dich auf die Suche nach der Dämonenseele konzentrieren. Ich werde dir mit aller Kraft beistehen, aber du brauchst jemanden, der dir den Rücken freihält.«
»Niemand wird ihm ein Haar krümmen«, brummte Brox. Er hob die Axt und grinste. »Schreibst du ein gutes Lied über mich, weiser Mann?«
Krasus lächelte. »Ich werde mit der Komposition beginnen, sobald wir diesen Ort verlassen haben.«
Malfurion fiel kein weiteres Argument für einen Alleingang ein, deshalb akzeptierte er die Begleitung des Orcs. Der Nachtelf war sogar froh darüber. Brox war ein so erfahrener und guter Kämpfer, dass seine Angst vor dem Weg ins Drachennest ein wenig schwand.
Ein wenig.
Malfurion wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab, und er glaubte auch, dass er diese Chance am ehesten nutzen würde. Das war keine Arroganz, sondern lediglich die Erkenntnis, dass seine lange Ausbildung ihn am besten auf diesen Tag vorbereitet hatte.
Sie beschlossen, dass Brox so lange vorausgehen würde, bis Malfurion die Umgebung wiedererkannte. Brox band seine Axt auf dem Rücken fest, denn der Gang war zu schmal für eine so große Waffe. Statt dessen zog er einen langen Dolch hervor, den er mit der gleichen Sicherheit einzusetzen wusste.
»Ich werde hier Wache halten«, versprach Krasus, als sie aufbrachen. »Zumindest das kann ich tun, ohne von dem Schwarzen entdeckt zu werden.«
Glücklicherweise benutzten die Goblins diesen Gang für den Transport von Rohstoffen, sonst hätte sogar Malfurion kaum hineingepasst. Aber auch so musste Brox die Arme eng am Körper halten. Er streckte den Dolch vor sich und beobachtete seine Umgebung voller Konzentration.
Die weit entfernten Geräusche wurden lauter, donnernder. Malfurion hoffte, dass die Goblins durch den Lärm, den sie auslösten, abgelenkt sein würden. Vielleicht bemerkten sie die Eindringlinge ja nicht.
Ein schwaches Licht erhellte schließlich den kurvenreichen Stollen. Brox spannte sich an. Malfurion legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wenn wir die Höhle betreten«, flüsterte der Druide, »sollte der Gang, den der Drache benutzte, zu unserer Linken liegen.«
Brox grunzte verstehend und ging weiter. Der Weg wurde heller, der Lärm ohrenbetäubend.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war chaotischer als bei Malfurions erstem Besuch. Doppelt so viele Goblins waren anwesend, und alle rannten umher, als ginge es um ihr Leben … was wahrscheinlich auch stimmte. Einige zerschlugen Erzbrocken, während andere Brennholz in die glühend heißen Öfen schaufelten. Geschmolzenes Metall floss durch ein kompliziertes Rohrsystem in gewaltige Formen. Riesige Wasserbottiche dienten zur Abkühlung. Schwitzende, in Dampf gehüllte Goblins zerrten an einer Form, die bereits fertig in einem Bottich lag.
Auf der rechten Seite der Höhle waren zwei große Platten zu sehen, die aus vorangegangenen, fehlgeschlagenen Versuchen stammten. Das Metall war von Haarrissen durchzogen und daher offenbar nutzlos für die Aufgabe geworden, die der Drache den Teilen zugedacht hatte.
»Ich verstehe nicht, was sie hier vorhaben«, murmelte Malfurion. »Will der Drache sich eine Rüstung schmieden lassen?«
Der Orc zog seine Augenbrauen zusammen. »Ich traue ihm alles zu.«
Der Nachtelf riss sich von dem Rätsel los und blickte nach links. Ein Weg verlief am Rand der Höhle entlang und endete in dem gewaltigen Tunnel, in dem Neltharion beim letzten Mal verschwunden war.
»Da! Wir können dem Weg folgen.«
Brox nickte, hielt Malfurion jedoch zurück, als dieser den Stollen verlassen wollte. »Vorsicht, da sind Goblins. Wir müssen warten.«
Die Kreaturen, die er entdeckt hatte, beseitigten Trümmer, die von der Erzlieferung übrig geblieben waren. Der Druide beobachtete den Fortschritt ihrer Arbeit und kam schon bald zu dem Schluss, dass sie viel zu lange brauchen würden.
»Wir müssen sie loswerden oder wenigstens irgendwie ablenken, Brox …«
»Vielleicht ein Zauber.«
Malfurion dachte an die Dinge, die er in seinen Gürteltaschen trug und betrachtete die Höhle. Es gab ein paar Sprüche, die man verwenden konnte.
Doch als er in einen Beutel griff, donnerte Neltharions Stimme durch die riesige Höhle. »Meklo! Ich bin zurück! Wenn die nächste nicht funktioniert, werde ich mich an deinem ganzen Volk laben … und du wirst die Vorspeise!«
Der ältere Goblin, den Malfurion schon einmal gesehen hatte, tauchte auf der anderen Seite der Höhle auf. Er trat einige Arbeiter, um sie zu größerer Eile anzutreiben, dann ging er auf den großen Gang zu. Er murmelte unentwegt in seinen Bart. Malfurion nahm mit seinem scharfen Gehör wahr, dass es sich um Berechnungen handelte.
Bevor Meklo den Tunnel jedoch erreichen konnte, schob sich Neltharion daraus hervor.
Brox fluchte überrascht, denn er hatte den Erdwächter ja noch nicht in diesem Stadium seiner Verwandlung gesehen. Doch seine Worte gingen im Gebrüll der Drachenstimme unter.
»Meklo! Du nichtsnutziger Sohn eines Wurms! Meine Geduld ist am Ende. Hast du die neuen Platten oder nicht?«
»Zwei! Zwei, Milord, seht Ihr?« Er zeigte auf mehrere Arbeiter, die versuchten, die Platten von ihren Formen zu befreien. Trotz der Wasserbottiche strahlten sie eine so große Hitze aus, dass sich jemand schwer an ihnen verbrennen konnte.
»Ich hoffe, sie sind robuster als die letzten. Die haben mich enttäuscht!«
Der ältere Goblin nickte aufgeregt. »Sie bestehen aus den feinsten Metallen, sind fester als Stahl! Dank der Energien, die Ihr in sie hineingelegt habt, werden sie jedem Druck standhalten und doch so leicht wie eine Feder sein.«
Die Goblins, die jetzt die erste Platte aus der Form gehoben hatten, schienen diese letzte Aussage zu bekräftigen, denn sie trugen das Metall mit Leichtigkeit durch die Höhle. Malfurion hatte gedacht, sie würden die zehnfache Anzahl Goblins dafür benötigen.
Neltharion betrachtete die Platte aufgeregt. Sein Atem wurde schneller, als das heiße, rot schimmernde Metall an ihm vorbei getragen wurde.
»Die Platten müssen jetzt noch in einem Wassertank auskühlen, dann …«
»Nein!«, schrie der Erdwächter.
Der Goblin begann zu zittern. »Wie meint Ihr, Milord?«
Aus wahnsinnigen Augen starrte der Drache auf die Platte. »Ich will, dass sie jetzt versiegelt wird!«
»Aber die Resthitze wird Euren Körper noch mehr schädigen. Die Nägel müssen heiß sein, das geht nicht anders, aber die Platte … Ihr solltet wirklich besser warten, bis …«
Der schwarze Riese stampfte mit dem Fuß auf – nur Zentimeter von Meklo entfernt. »Jetzt!«
»Ja, Milord Neltharion! Sofort, Milord Neltharion! Bewegt euch, ihr Nichtsnutze!« Meklo brüllte mit diesem letzten Satz die Goblins an, die die Platte zwischen sich trugen.
Während sie sich noch umdrehten, ging der Drache bereits zur anderen Seite der Höhle, wo es bedeutend leerer war. Malfurion und der Orc sahen neugierig zu, als sich der Leviathan setzte und dabei seine rechte Flanke zeigte. Die gewaltigen Risse, die darin entstanden waren, brannten immer noch.
»Versiegelt sie!«, brüllte Neltharion. »Versiegelt sie!«
»Was soll das heißen?«, fragte der Nachtelf leise.
Brox schüttelte nur den Kopf. Er wusste es ebenfalls nicht.
»Bereitet die Nägel vor!«, befahl Meklo. »Sie müssen so heiß wie möglich sein.«
Zwei Gruppen, die aus je zwölf Goblins bestanden, schoben riesige Zange in einen der Öfen. Heraus zogen sie einen Nagel, der fast so groß wie der Orc war.
»Hammergruppe! Bereitet die Maschine vor.«
Angestrengtes Keuchen antwortete ihm von der rechten Seite. Zwanzig Goblins zogen einen Gegenstand in die Höhle, der auf den ersten Blick wie ein seltsam geformtes Katapult aussah. Doch der hölzerne Arm der Maschine endete nicht in einem Teller, sondern in einem riesigen Hammerkopf. Ketten und Flaschenzüge hingen daran, deren Sinn Malfurion nicht durchschauen konnte.
»Die Platte!« Neltharion wurde immer ungeduldiger. »Bringt sie an!«
Hektisch gehorchten die Goblins. Mehrere Male taumelten sie auf ihrem Weg, doch daran war nicht das Gewicht der Platte Schuld, sondern der Atem des Drachen, der die kleinen Wesen und ihre Last immer wieder zurückwarf. Schließlich erreichten sie seine Flanke jedoch und stemmten die Platte auf Meklos Signal gegen die Schuppenhaut.
Die beiden Beobachter traten entsetzt einen Schritt zurück, als Metall und Fleisch aufeinander prallten. Ein brutzelndes Geräusch hallte durch die Höhle. Der offene Riss rieb gegen die Platte, doch sie blieb hängen.
»Noch hält sie«, verkündete Meklo. »Beeilt euch! Holt die Nägel.«
Malfurion traute kaum seinen Augen. »Sie … sie wollen sein Fleisch versiegeln. Das ist doch Wahnsinn!«
Brox sagte nichts. Seine Augen hatten sich verengt, seine Hand schloss sich so fest um den Dolch, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Der Erdwächter schien in Ekstase zu geraten. Sein gewaltiges Maul verzog sich zu einem reptilienhaften Lächeln. Seine roten Augen waren halb geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich immer schneller.
Die Goblins, die die Zange bedient hatten, trugen den riesigen Nagel zu einem von mehreren Löchern, die sich an den Rändern der Platte befanden. Der Nachtelf zählte mindestens ein Dutzend Löcher.
War jedes davon für einen Nagel gedacht, der durch die Schuppen getrieben werden sollte?
Die ständigen Bewegungen des Drachenkörpers stellten die Goblins vor Probleme. Erst beim dritten Anlauf trafen sie eines der oberen Löcher. Der Nagel glitt ein Stück weit hinein. Die Kreaturen stützten ihn mit ihren langen Zangen.
Meklo winkte die andere Gruppe ungeduldig heran. »Bringt den Hammer in Position! Macht ihn bereit!«
Grunzend und keuchend schoben die Goblins die Maschine vor Neltharion. Die halb geschlossenen Augen des Giganten beobachteten interessiert, wie seine Diener die Maschine in die richtige Position brachten.
Meklo sprang überraschend geschickt und schnell auf den Hammer. Dann blickte er in das Loch. Auf seinen Befehl hin verschob die Gruppe die Maschine noch ein wenig, dann sprang er wieder herunter.
»Zieht!«, rief er.
Die Gruppe ließ die Maschine stehen und wandte sich den Ketten zu. In alle möglichen Richtungen zerrten sie daran. Der Druide verstand nicht, wie die Erfindung der Goblins funktionierte, doch was sie leisten sollte, erschloss sich ihm schnell.
Das flache Ende des Metallhammers schlug hart gegen den Nagel.
Das Geräusch des Zusammenpralls klang wie das Brechen eines gewaltigen Knochens. Der Nagel schob sich tief in die Schuppen, versank fast bis zum Kopf.
Neltharion brüllte, aber es war nicht zu erkennen, ob vor Schmerz oder Zufriedenheit.
»Noch einmal!«, schrie er. »Noch einmal!«
Meklo kletterte nach oben und ließ seine Helfer die Maschine erneut zurechtrücken. Dann landete er wieder auf dem Boden. »Zieht!«
Die Goblins rissen an den Ketten. Flaschenzüge hoben und senkten sich, dann fiel der Hammer erneut noch unten.
Neltharions Schrei übertönte den Zusammenprall. Der Nagel rutschte tiefer.
»Er ist drin!«, rief der Anführer der Goblins.
Die einzige Antwort des schwarzen Drachen bestand in einem lauten, wahnsinnigen Lachen.
»Beeilt euch mit dem nächsten Nagel«, befahl Meklo. »Macht schon!«
Malfurion ließ sich zitternd gegen die Stollenwand sinken. »Er will alle diese Platten an seinem Körper befestigen. Warum nur?«
»Zur Verteidigung«, antwortete der Orc. »Sie sind fest, aber leicht. Das hast du gesehen.« Brox hob die Schultern. »Und vielleicht auch, damit er nicht auseinander gerissen wird.«
»Aber die Schmerzen! Hast du gesehen, wie tief der Nagel eingeschlagen wurde? Und die Platte ist immer noch heiß.«
»Er ist wahnsinnig, aber vielleicht hilft uns dieser Wahnsinn, Druide.«
Malfurion sah ihn interessiert an. »Wie meinst du das?«
Brox zeigte in die Höhle. »Die Augen der Goblins …«
Im ersten Moment verstand Malfurion nicht, worauf der Orc hinaus wollte, dann bemerkte er, dass sämtliche Kreaturen ihre Arbeit eingestellt hatten, um das Schauspiel zu beobachten. An ihrer Stelle hätte das wohl jeder getan, aber ihre Unaufmerksamkeit bot den Eindringlingen die Chance, auf die sie gewartet hatten.
»Wir müssen handeln, sobald der nächste Nagel bereit ist«, sagte Malfurion.
»Das wird nicht lange dauern, Druide.«
Die Goblins mit den Zangen waren bereits zu dem Höhlenbereich zurückgekehrt, wo die Nägel hergestellt wurden. Sie nahmen einen heraus und trugen ihn zu einem brüllend heißen Ofen. Nur wenige Sekunden später zogen sie einen rot glühenden Nagel heraus.
»Mach dich bereit«, drängte Brox.
Sie sahen zu, als die Goblins den Nagel zu Neltharion trugen. Der Drache hatte nur Augen für die Arbeiten, die man an ihm durchführte. Er sah den Nagel an, als wäre das Metall eine Geliebte.
»Beeilt euch …«, murmelte der Erdwächter.
Der Nagel wurde über die Platte gehoben. Malfurion und Brox spannten sich an. Langsam näherte sich die Metallspitze dem für sie vorgesehenen Loch.
Als sie hineinzurutschen begann, bewegten die beiden sich vorwärts. Brox zog seine Axt und lief auf den gewaltigen Gang zu. Er war auf alles vorbereitet, auch auf Goblins, die sich möglicherweise noch in dem Stollen aufhielten. In einiger Entfernung brüllte Meklo die Arbeiter an der Maschine an. Das Knirschen und Quietschen der Flaschenzüge übertönte die Schrittgeräusche der Eindringlinge.
Sie hatten die Halle fast zur Hälfte durchquert, als die Goblin-Maschine anhielt. Urplötzlich wurde es still. Malfurion und sein Begleiter wagten es nicht, sich zu bewegen.
Die Hand des Druiden schwebte über der Gürteltasche, für die er sich gerade entschieden hatte. Sollten die Goblins sie bemerken, konnte er mit dem Inhalt einen Zauber wirken, der die Kreaturen und ihren Herrn hoffentlich ablenkte.
Doch Meklo brüllte erneut einige Befehle, und der Lärm setzte wieder ein. Der Hammer wurde in Position gebracht, aber da hatten der Elf und sein Begleiter den Rand der Höhle auch schon erreicht.
Hinter ihnen rief die hohe Stimme des Goblins: »Zieht!«
Das Krachen des Hammerschlags hallte in Malfurions Kopf wider, während er und Brox den Gang betraten. Die Erschütterungen, hervorgerufen von den furchtbaren Verstümmelungen, die sich der Drache selbst zufügte, riefen sogar ein noch stärkeres Echo hervor. Neltharion hatte sich vom Wahnsinn verschlingen lassen. Jetzt passte der Name endlich, den Krasus und Rhonin dem Erdwächter schon längst gegeben hatten.
Deathwing.
Brox wartete, bis Malfurion ihn eingeholt hatte. »Druide … nun musst du uns anführen.«
Der Nachtelf erkannte einige Abschnitte des Gangs wieder und war sich sogar sicher, dass er das Versteck der Scheibe wiederfinden würde. Doch auf einen Erfolg wagte er immer noch nicht zu hoffen, denn im Nest des Erdwächters warteten sicherlich noch mehr Gefahren.
Hinter ihnen krachte es, dann lachte der schwarze Drache irre. Malfurion beschleunigte seine Schritte.
Es dauerte länger als erwartet, bis er die erste Biegung vor sich sah. Malfurion hatte bei seinen Berechnungen vergessen, dass die Schrittlänge des Drachen erheblich größer als seine eigene war und dass er nur in seiner Traumgestalt mühelos mit dessen Geschwindigkeit mithalten konnte. Diese zweite Reise würde wohl wesentlich länger als die erste dauern.
Er erklärte dem Orc das Problem, doch der hob nur die Schultern und antwortete. »Dann müssen wir eben schneller laufen.«
Und das taten sie auch. Trotzdem schien zwischen der ersten und der zweiten Kurve eine Ewigkeit zu liegen. Doch Malfurion zog Hoffnung aus der Tatsache, dass er immer mehr Einzelheiten erkannte. Über die Hälfte des Weges lag bereits hinter ihnen.
Brox griff plötzlich nach den Schultern des Nachtelfs und drückte ihn gegen die andere Seite des Tunnels. Malfurion öffnete den Mund, aber der Krieger schüttelte warnend den Kopf.
Der Druide hörte donnernde Schritte, der Grund für die Besorgnis des Orc. Er presste sich gemeinsam mit Brox gegen die gekrümmte Wand, als er sah, wie eine dunkle Gestalt aus einem der anderen Gänge in den ihren trat.
Sie bewegte sich auf zwei Beinen und hatte ähnliche Körperumrisse wie die beiden Eindringlinge. Dornen ragten aus ihrem Körper, und sie bewegte sich merkwürdig. Der Kopf wirkte verzerrt; Malfurion sah im ersten Moment keine Augen.
Als die Gestalt näher kam, hielt der Druide unwillkürlich den Atem an.
Sie bestand aus Stein, hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit den Irdenen oder den Höllenkreaturen. Statt dessen wirkte die Gestalt, als habe jemand Steine aufeinander gestapelt und eine menschenähnliche Statue aus ihnen gebildet. Sie bewegte sich jedoch so schnell, dass Malfurion sich fragte, wer bei einer Verfolgungsjagd wohl gewinnen würde … falls die Gestalt die Eindringlinge entdeckte.
Das Steinwesen stoppte und sah sich im Gang um. Es hatte tatsächlich Augen, beziehungsweise zwei schwarze Lücken, die sich in seinem Kopf befanden. Sie blickten auf die Wand, an der sich die Eindringlinge verborgen hatten, wandten sich dann jedoch einem anderen Bereich des Stollens zu.
Der Wächter – um nichts anderes konnte es sich bei dem Wesen handeln – ging zwei Schritte vorwärts, bis er direkt neben dem Krieger und dem Druiden stand. Er war so gewaltig wie ein Drache. Mit seinen steinernen Füßen hätte er den Nachtelf leicht zerquetschen können.
Das Wesen sah sich um. Malfurion nahm an, dass es ihre Anwesenheit irgendwie spürte, doch dann drehte es sich plötzlich um und ging in die Richtung, aus der er und der Orc gekommen waren.
Als es sich entfernt hatte, krochen der Druide und sein Begleiter aus ihrem Versteck.
»Glaubst du, es wird wiederkommen?«, fragte Malfurion.
»Ja … wir müssen uns beeilen.«
Sie gingen weiter den gewundenen Gang entlang. Der Druide musste ab und zu anhalten, um nach Orientierungspunkten zu suchen. Einmal gingen sie sogar mehrere Meter in einen Gang hinein, bis Malfurion erkannte, dass sie sich in die falsche Richtung bewegten.
Schließlich fanden sie jedoch die schmale Höhle, die Malfurion niemals vergessen würde. Er hielt an ihrem Eingang an, war überrascht, dass sie ihr Ziel doch noch erreicht hatten.
»Da vorne.« Der Nachtelf zeigte auf den falschen Vorsprung. »Dort, wo der Fels vorsteht. Direkt neben dem Riss.«
Brox sah zwar nichts, steckte aber seine Axt weg und antwortete: »Wenn du es sagst, Druide.«
Das Problem war allerdings, wie man den Vorsprung erreichen sollte. In seiner Traumgestalt war Malfurion der Weg nach oben leicht gefallen. Nun jedoch blickte er zweifelnd in die Höhe. Um das Versteck der Dämonenseele zu erreichen, mussten sie an einer steilen und gefährlich aussehenden Wand empor klettern.
Im Hintergrund hörten sie immer noch das Hämmern und die gelegentlichen Schreie des Drachens. Der Lärm trieb sie voran, und sie begannen den Aufstieg. Malfurion, der kleiner und drahtiger war, übernahm anfangs die Führung, doch der starke, ausdauernde Brox holte ihn rasch ein.
»Da oben … ziemlich genau unter dem Versteck … liegt eine kleine Höhle«, keuchte der Druide. »Dort können wir uns ausruhen.«
»Gut«, knurrte der grünhäutige Krieger.
Beide sahen nicht nach unten. Sie wussten, dass ein Blick in die Tiefe sie aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Die kleine Höhle, in die sie beide knapp hineinpassen würden, war ihr nächstes Ziel.
Eine vertraute Stimme meldete sich plötzlich in Malfurions Geist. Achtet auf die Trolle!
Es dauerte einen Moment, bis Krasus’ geistige Warnung zu dem Nachtelf durchsickerte. Es überraschte Malfurion nicht, dass der ältere Zauber eine Verbindung zu ihm aufrecht erhalten hatte, aber seine Warnung ergab keinen Sinn. Trolle? Was sollte das heißen?
Staub rieselte auf ihn herab. Malfurion wandte das Gesicht ab, um seine Augen zu schützen.
Er blinzelte den restlichen Staub weg und blickte im Höhleneingang auf einen lang gezogenen Kopf, dessen Ohren so spitz wie die eines Nachtelfs waren und dessen Haar wild vom Haupt abstand. Zwei gelbe Stoßzähne ragten aus dem Unterkiefer. Ein schwarzer, leuchtender Edelstein saß in der Mitte der Stirn. Wahrscheinlich kontrollierte Deathwing seine Wächterkreaturen auf diesem Weg. Die Kreatur war ein wenig größer als Malfurion. Ihre dunkelgraue Haut verschmolz mit der Felswand.
»Hallo, Abendessen …«, zischte der Troll. Er beugte sich nach unten, um Malfurion nach hinten zu stoßen.
Der Druide lehnte sich so weit wie möglich zurück. Die scharfen Klauen des Trolls wischten an seinem Gesicht vorbei. Malfurion versuchte die Höhle zu umgehen, aber der Troll schob sich heraus und kletterte seiner Beute wie eine Spinne entgegen.
Er hörte Brox’ wütendes Knurren und sah aus dem Augenwinkel, dass sich ein zweiter Troll von unten auf den Orc zu bewegte. Aus anderen Löchern krochen ein dritter, dann ein vierter Troll. Alle eilten den Eindringlingen entgegen.
»Ihr kommt genau richtig zum Essen«, sagte der erste Troll grinsend. »Eure Gehirne werden wir roh verspeisen und eure Leber kochen.«
Er griff erneut nach Malfurion und schloss seine Klaue um dessen Handgelenk. Mit bemerkenswerter Kraft versuchte er, den Druiden von der Felswand zu pflücken.
Es schien keinen Zauber zu geben, der Malfurion in dieser Situation beistehen konnte. Er hielt sich mit aller Macht an der Felswand fest und krallte seine Finger so tief in den Stein, dass die Haut aufriss.
Ein Schrei, der von unten ertönte, lenkte den Troll ab. Brox hatte seinen Dolch eingesetzt und die Klinge in die Schulter seines Angreifers gerammt. Der Troll löste sich von der Wand und stürzte in den Tod. Dabei nahm er jedoch die Klinge des Orcs mit.
Der Troll, der das Handgelenk des Druiden gepackt hielt, zischte und zog noch stärker daran.
Malfurion kämpfte gegen den Druck an. Erschreckt sah er, dass sich ein zweiter Angreifer von unten auf ihn zu bewegte. Wahrscheinlich wollte der Troll nach den Füßen des Druiden greifen. In diesem Fall hätte er sich nicht länger halten können.
Malfurion fiel ein kleiner Käfer auf, der über dem Troll an der Wand entlang kroch. Er konzentrierte sich, hoffte, dass er sich noch lange genug festhalten konnte.
Der Käfer wandte sich dem Gegner des Druiden zu. Andere krochen ebenfalls aus dem Fels hinaus und sammelten sich unter dem Troll.
Im ersten Moment bemerkte Malfurions Feind nichts von dem Angriff, doch dann begann er sich zu winden. Er versuchte die Käfer zu ignorieren, die über seinen Körper liefen, aber die Ablenkung war zu nachhaltig. Der Troll zischte wütend, ließ Malfurions Hand los und begann nach den Insekten zu schlagen, die über seine Brust krochen.
Malfurion holte mit der Faust aus. Er traf seinen Gegner nur am Arm, aber das reichte. Die Insekten hatten den Troll so sehr abgelenkt, dass er abrutschte und sich nicht mehr halten konnte.
Mit einem Aufschrei stürzte der Troll in die Tiefe. Der Druide hatte Glück, denn sein Gegner riss auch den zweiten Gegner mit sich.
Malfurion wandte den Blick ab, bevor sie auf dem Felsboden aufschlugen. Dann sah er zu dem Orc hinüber.
»Rasch!«, brüllte Brox, der sich gerade gegen den letzten Troll zur Wehr setzte. »Die Scheibe! Hol sie dir.«
Malfurion zögerte einen Moment, dann gehorchte er. Brox hatte sich schon gegen ganz andere Wesen zur Wehr gesetzt. Er würde auch einen einzelnen Troll besiegen.
Sei vorsichtig …, meldete sich Krasus’ Stimme. Ich konnte einige Schutzzauber entfernen, aber es gibt andere, um die du dich kümmern musst.
Der Druide spürte sie bereits. Einige waren leicht zu erkennen, andere geschickt versteckt. Er untersuchte den Ursprung eines jeden Zaubers und entfernte oder umging ihn. Es überraschte ihn, dass sich dieser Teil seiner Aufgabe so mühelos erledigen ließ. Malfurion hatte von Deathwing mehr erwartet.
Er hörte einen weiteren Schrei, den Schrei eines Trolls. Der Nachtelf sah nicht einmal mehr zu Brox hinüber, denn er hörte bereits, dass der Orc weiter nach oben kletterte.
Malfurion stoppte vor dem falschen Vorsprung. Er untersuchte ihn mit seinem Geist. Es gab einige neue Zauber, die sich jedoch recht leicht überwinden ließen.
Er sah nach unten. Brox hatte inzwischen die Höhle erreicht und blickte hinein.
»Wind … vielleicht ein Weg nach draußen, Druide.«
Alles, was ihre Aufenthaltsdauer in den Höhlen verkürzte, freute Malfurion. Er nickte und wandte sich wieder dem falschen Vorsprung zu. Bisher hatten sie Glück gehabt, denn der Lärm der Arbeiten, die in der Haupthöhle stattfanden, hatte die Todesschreie der Trolle übertönt. Doch dieses Glück würde nicht ewig halten …
Er umging die letzten beiden Schutzzauber und zog an dem falschen Fels. Er war sehr schwer, aber Malfurion gelang es, ihn so weit zur Seite zu schieben, dass er durch die entstandene Lücke ins Innere des Verstecks klettern konnte.
»Ich beeile mich!«, rief er.
Brox nickte.
Malfurion hatte im Inneren mit Dunkelheit gerechnet, statt dessen strahlte ihm ein helles Licht entgegen, das seine Augen im ersten Moment reizte, sie dann aber zu erfrischen schien.
Der Nachtelf blinzelte. Die Dämonenscheibe lag unweit entfernt auf einem königlich wirkenden, roten Tuch, das so groß war wie ein Schiffssegel. Die Scheibe war so klein, dass sogar Malfurion sie in eine Hand nehmen konnte. Trotz des Leuchtens, das von ihr ausging, wirkte sie unspektakulär. Doch der Nachtelf, der wusste, welche Macht in der Schöpfung des schwarzen Drachen steckte, behandelte sie mit größtmöglichem Respekt und Vorsicht.
Malfurion beugte sich über die Scheibe. Wie viel Kraft in etwas so Kleinem stecken konnte … In der Klaue des Drachen hatte sie größer gewirkt, dabei wusste er, dass sich ihre Größe nicht verändert hatte.
»Druide!«, hörte er Brox rufen. »Etwas nähert sich. Ich glaube, es ist der Steinerne.«
Malfurion dachte an den monströsen Golem und ermahnte sich zur Eile. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er die Scheibe von ihrer Ruhestätte.
Erst dann erkannte er seinen furchtbaren Fehler.
Ein Schrei wie von Hunderten sterbenden Drachen erfüllte die Kammer. Malfurion brach zusammen, als die Schreie durch seine Seele hallten. Die Essenz eines jeden Drachens, die in der Dämonenseele steckte, schien nach Freiheit zu rufen, doch in Wirklichkeit handelte es sich bei den Lauten nur um einen letzten Schutzzauber. Er war so subtil angelegt, dass er selbst den feinen Sinnen des Druiden entgangen war.
Die Schreie verebbten, doch ein neuer, schrecklicherer Laut hallte durch die Höhlen.
Der wütende, wahnsinnige Schrei von Deathwing.