Malfurion sah Brox nicht springen, denn er konzentrierte sich bereits auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Jetzt, da er die Scheibe in Händen hielt, erkannte er erst, wie unwahrscheinlich es war, dass sein Vorhaben gelingen würde. Malfurion hatte gehofft, einer der anderen, in erster Linie Krasus, würde die Scheibe fangen. Aber die Dinge waren durch die Zauber, die sie alle unterschätzt hatten, und durch die schockierenden Taten des schwarzen Drachen auf den Kopf gestellt worden. Jetzt hing alles von ihm ab, aber er wusste nicht genau, was er eigentlich tun sollte.
Im gleichen Moment spürte er Tyrande in seinen Gedanken. Malfurion streckte seine Geistfühler nach ihr aus und bemerkte entsetzt, dass sie in Gefahr schwebte.
Tyrande! Was …
Malfurion, hier sind überall Dämonen. Illidan und ich glauben, dass Mannoroth dich durch uns angreifen will.
Er suchte nach einer Verbindung zu seinem Zwillingsbruder. Als er sie fand, schreckte er vor der Blutgier zurück, die er in Illidans Gedanken spürte. Der Druide spürte, wie sein Bruder gegen die Brennende Legion kämpfte, sah die Körper der Dämonenkrieger, die sich vor dem schwarz gekleideten Zauberer häuften.
Illidan bemerkte seine Anwesenheit. Bruder?
Illidan! Könnt ihr fliehen?
Wir sind umzingelt, und Mannoroth wartet bestimmt nur darauf, dass ich versuche, uns durch einen Zauber in Sicherheit zu bringen. Den würde er umleiten, damit wir statt dessen in seinen zärtlichen Armen landen …
Malfurion erschauderte. Ich komme. Ich werde euch helfen.
Doch noch während er den Gedanken formulierte, erkannte er, dass er den Brunnen nicht verlassen konnte. Das Portal musste zerstört werden, auch wenn das die Opferung von Tyrande und seinem Bruder bedeutete. Wie gerne wäre Malfurion in die alte Zeit zurückgekehrt, in der es noch keine Brennende Legion gegeben hatte. Die Zeit, in der er und sein Bruder Seite an Seite kämpften. Damals, als Kinder, waren er und Illidan unzertrennlich und unbesiegbar gewesen.
Wenn es doch noch einmal so sein könnte, dachte der Druide verzweifelt. Wenn ich doch noch einmal neben Illidan stünde. Gemeinsam mit ihm würde ich das Böse bekämpfen.
Zu spät bemerkte Malfurion das Aufleuchten der Dämonenseele.
Ein kurzer Schwindel überkam ihn. Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Stöhnend schüttelte Malfurion den Kopf … und erkannte, dass er plötzlich neben Illidan in den Ruinen von Zin-Azshari stand.
»Malfurion?«, keuchte Tyrande. Sie streckte ihre Hand nach dem Druiden aus, glitt aber durch seinen Körper hindurch.
Malfurion hingegen, der mit seiner Hand Illidan berührte, spürte dessen Haut. Sein Bruder wich überrascht zurück.
Malfurion blinzelte … und hockte wieder auf dem Drachen hoch über dem Brunnen der Ewigkeit.
Nur dass jetzt Illidan neben ihm saß.
Der Zauberer starrte Malfurion hinter seinem Schal misstrauisch und bewundernd an. »Was hast du getan, Bruder?«
Der Druide betrachtete die Dämonenseele und dachte an seinen Wunsch. Die Scheibe hatte ihn erfüllt.
Er und Illidan hielten sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten auf.
Malfurion akzeptierte es. Die Dämonenseele war zweifellos das Böse, aber sie hatte ihm die Chance gegeben, die er benötigte. »Hilf mir, Illidan«, rief er. »Hilf mir hier …« Er brachte ihn zurück nach Zin-Azshari. »… und hier.«
Sein Zwilling grinste, so wie er es früher getan hatte, und nickte.
Seite an Seite standen die Brüder in der nebligen Stadt, während die Dämonen ihnen über die Trümmer entgegen kletterten. Dutzende starben, wurden aufgespießt von meterlangen Schwertern, die Illidan aus schwarzer Energie erschuf. Gleichzeitig bündelte Malfurion die Kräfte der Natur zu einem Sturm, dessen Regentropfen Rüstungen und Fleisch der Dämonen auflöste. Tyrande stand neben ihnen und beschwor Elune. Das Licht der Mondgöttin blendete und verbrannte die monströsen Krieger.
Zur gleichen Zeit saßen Illidan und Malfurion aber auch auf Ysera und kämpften gegen den Zauber, der das Portal zusammen hielt. Es wunderte beide, dass Sargeras noch nicht hindurch getreten war, aber sie stellten ihr Glück nicht in Frage.
Trotz der Dämonenseele erreichten sie nichts. Der Himmel war voller Verdammniswachen, die nach denen suchten, die ihren Herrn aufhalten wollten. Krasus, Rhonin und die Drachen töteten sie gleich dutzendweise, aber sie schienen nicht weniger zu werden. Brox war nicht zu sehen, aber der Druide hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
Ysera wehrte einen Angriff nach dem anderen ab, doch Malfurion wusste, dass sie das nicht ewig durchhalten konnte. Er und Illidan gaben zwar ihr Bestes, doch selbst die Dämonenscheibe vermochte das Portal nicht zu schließen.
Dann endlich erkannte er das Problem. Malfurion sah seinen Bruder an. »Wir machen alles falsch. Wir benutzen die Scheibe, um unsere Zauber zu verstärken.«
»Natürlich«, entgegnete Illidan. Die Umgebung veränderte sich. In Zin-Azshari erschlug der Zauberer gerade eine Teufelswache. »Wie sollten wir sie auch sonst einsetzen?«
Sie kehrten zum Brunnen zurück und zu dem Himmel voller Dämonen. Der Druide betrachtete Deathwings unselige Schöpfung. Sein eigener Plan widerte ihn an. »Die Dämonenseele ist ein Teil des Portalzaubers. Wir dürfen nichts aus ihr herausziehen, sondern müssen etwas in sie hineinlegen. Wir müssen unsere Zauber durch die Scheibe weben und sie nicht wie eine Axt oder ein Schwert behandeln.«
Illidan schien widersprechen zu wollen, schloss den Mund aber, als er erkannte, dass sein Bruder Recht hatte.
Malfurion stand wieder in Zin-Azshari. Sofort bemerkte er, dass sich eine neue Kraft zu den Dämonen der Stadt gesellt hatte, eine Kraft, die sich gezielt auf die Ruinen zu bewegte, in denen sich Tyrande und die Brüder aufhielten. Ihr Gestank war ihm nur allzu vertraut.
»Satyrn!«
Die Ziegenwesen sprangen über die Dämonen hinweg, während die Nachtelfen bereits die ersten Zauber sprachen. Sie lachten irre, einige meckerten sogar.
Doch als sich die Ungeheuer den Brüdern näherten, saß Malfurion plötzlich wieder auf Ysera. Die ständigen Ortswechsel lenkten ihn ab, und er befürchtete, dass die Fähigkeit, an zwei Kämpfen gleichzeitig teilzunehmen, schon bald nachlassen würde.
»Verbinde dich mit mir, Illidan! Jetzt!«
Der Zauberer zögerte nicht. Sein Geist verband sich mit dem Malfurions, verschmolz mit ihm, bis sie beinahe eins waren. Der Druide las in den Gedanken seines Bruders, wie er versucht hatte, sich zum Helden von Kalimdor aufzuspielen. Und er erkannte, wie die dunklen Kräfte der Scheibe, die auch ihn hatten manipulieren wollen, Illidans Arroganz für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt hatten.
Er hatte die Drei, wie Krasus sie nannte, völlig vergessen. Sie versuchten also noch immer zu fliehen, und Sargeras Portal stellte ihr Tor zur Freiheit dar. Der Druide wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab: Er musste die Dämonenseele einsetzen, um das Portal zu zerstören.
Halte dich bereit!, befahl er Illidan.
Malfurion beschwor die Urenergien Kalimdors, die gleichen Kräfte, die ihm auch schon im Kampf gegen Captain Varo’then gedient hatten. Doch dieses Mal verlangte er ein weit größeres Opfer von ihnen. Die Kraft, um die er seine Welt bat, war um ein Vielfaches stärker als die, mit der er einst Krasus und später Korialstrasz gerettet hatte. Vielleicht würde er die Welt damit sogar ausdörren und zu dem gleichen Schicksal verdammen, das auch die Brennende Legion ihr zugedacht hatte.
Noch während er Kalimdor darum bat, ihm diese Kräfte zu gewähren, spürte er, wie sein Bruder damit begann, seine eigene Macht aus dem Brunnen der Ewigkeit zu ziehen. Als beide ihr Ziel erreicht hatten, verbanden die Brüder ihre Energien miteinander und schickten sie in die Dämonenseele.
Malfurion und Illidan zuckten zusammen, als ihre Magie mit der Macht der Scheibe verschmolz. Der Druide kehrte einen Moment lang nach Zin-Azshari zurück, wo ein Satyr sich gerade auf Tyrande stürzen wollte. Der Druide schlug mit einem Schwert, das er aus einem gezackten Blatt gebildet hatte, nach dem Dämon. Dessen Kopf rollte von den Schultern.
Malfurion kehrte zum Brunnen zurück. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Dämonenseele.
Er und Illidan wurden zu einem Teil der Scheibe. Sie wurden … zur Dämonenseele …
Eine endlose Welle des Bösen, die auf seinen Tod aus war, rollte ihm entgegen.
»Kommt schon!«, schrie Brox und trat nach dem abgetrennten Bein eines Dämons, der sich in die Reichweite seiner Axt gewagt hatte. Er stand auf einem Leichenberg, den er selbst geschaffen hatte. Sein Blut lief über seinen Körper, dennoch war der Orc von einer Stärke erfüllt, die er schon seit Jahren nicht mehr gespürt hatte Wütendes Chaos umgab den einsamen Kämpfer. Dies war der Wahnsinn, der im Reich der Brennenden Legion herrschte. Es gab keinen Boden, keinen Himmel, nur ein Wirbeln feuriger Farben und unkontrollierter Energien. Wenn sich Brox nicht völlig auf seine Gegner konzentriert hätte, wäre er wahrscheinlich schon wahnsinnig geworden.
Hinter ihm pulsierte das Portal bedrohlich. Grüne Flammen tanzten um es her wie irre Dämonen. Die Brennende Legion wurde von ihnen angezogen wie die sprichwörtliche Motte vom Licht. Brox hatte mit seinem sofortigen Tod gerechnet, aber noch lebte er. Und bisher war es ihm sogar gelungen, den Dämonen den Weg durch das Portal zu versperren.
Der ergraute Krieger wusste jedoch nicht, wie lange er noch durchhalten würde. Er hoffte, die Zerstörung des Portals zu erleben, bevor sein Leben endete. Die magische Axt verschaffte ihm zwar einen enormen Vorteil, aber die Waffe nützte ihm nur etwas, so lange er die Kraft hatte, sie zu heben.
Ein schwarzer Schatten zu seiner Rechten erregte seine Aufmerksamkeit. Instinktiv wandte er sich ihm zu …
… und wurde von einer Kraft getroffen, gegen die all die anderen Dämonenangriffe verblassten. Brox’ Schulter knirschte, und er spürte, wie sich einige Rippen in seine Organe bohrten. Schmerz wütete in seinem Körper.
Er versuchte sich zu erheben, aber die Schläge prasselten auf ihn nieder. Seine Beine wurden zerquetscht, sein Kiefer gebrochen. Brox schmeckte sein Blut, ein Geschmack, der ihm nur allzu vertraut war. Ein Auge war angeschwollen und hatte sich bereits geschlossen. Nur atmen konnte der Orc noch.
Die Hand, die ihm noch geblieben war, umklammerte die Axt. Brox mobilisierte seine letzten Kräfte und holte aus.
Die Klinge traf auf Widerstand, und für einen Moment spürte der Orc neue Hoffnung. Doch das Winseln, das er unmittelbar darauf hörte, verriet ihm, dass er nur eine Teufelsbestie getroffen hatte, die sich zu nahe an ihn heran gewagt hatte.
Wie bedauerlich …
Trotz dieser Worte gab es kein Mitleid in der dunklen Stimme, die durch seinen Kopf dröhnte. Ein gewaltiger Schatten fiel über den Orc.
Wie bedauerlich, dass jemand mit solcher Blutgier der anderen Seite dient …
Brox stieß seinen Kriegsschrei aus und richtete sich stöhnend auf. Er holte mit der Axt aus.
Dieses Mal stand ihm kein Dämonenhund gegenüber.
Ein wütender Schrei raubte dem verletzten Orc beinahe das Gehör. Mit seinem gesunden Auge sah Brox eine gewaltige gehörnte Gestalt in tiefschwarzer Rüstung, deren dichtes Haar und Bart aus wild tanzenden Flammen zu bestehen schien. Der Orc konnte das Gesicht dahinter nicht erkennen, wusste jedoch, dass es gleichzeitig perfekt und entsetzlich sein würde.
Der Titan hob seine Hand. Er hielt ein riesiges Schwert, dessen Klinge in der Mitte abgebrochen war. Der Rest war jedoch noch scharf genug, um zu töten.
Der Orc sprach sein Todesgebet.
Das Schwert traf ihn und durchbohrte seine Wirbelsäule. Brox begann zu zittern. Das Licht in seinen Augen schwand. Die Axt entfiel seinen reglosen Fingern.
Mit einem letzten Seufzen gesellte sich Brox zu seinen toten Kameraden.
»Es sind zu viele!«, rief Rhonin.
»Wir müssen durchhalten. Malfurion braucht Zeit!«, antwortete Krasus von Alexstraszas Rücken aus.
»Kann er es schaffen?«
»Er ist ein Teil Kalimdors. Es muss ihm einfach gelingen. Niemand außer ihm ist dazu in der Lage.«
Rhonin nickte stumm und schickte ein weiteres Dutzend Dämonen in ein hoffentlich höllisches Jenseits.
Der Lärm, der draußen vor dem Palast und sogar im Inneren erklang, raubte Königin Azshara auch die letzte Ruhe. Sie trug ihr schönstes Kleid, um den großen Sargeras angemessen zu begrüßen, rauschte damit jedoch durch die Gänge, während ihre Dämonenwachen ihr hinterhereilten. Nachtelfensoldaten salutierten nervös, wenn sie an ihnen vorbeikam.
»Vashj! Lady Vashj!«
Azsharas Zofe lief ihr aus einem Zimmer entgegen und kniete nieder. »Ja, Herrin? Ich bin hier, um zu gehorchen.«
»Du bist hier, um Fragen zu beantworten! Man sagte mir, alles sei in Ordnung, aber jetzt scheint Chaos zu herrschen. Das beleidigt meine Sinne. Die Ordnung muss wiederhergestellt werden, ist das klar? Was soll denn Lord Sargeras sonst denken?«
Vashj hielt den Kopf weiter nach unten geneigt. Jede Fliese des Marmorfußbodens enthielt ein Relief von Azsharas perfektem Gesicht. »Ich bin nur eine einfache Dienerin, Licht der Lichter. Ich habe Lord Mannoroth um Neuigkeiten gebeten, aber er hat mich weggeschickt und gedroht, mich zu häuten.«
»Unverschämtheit!« Azshara blickte in den Gang, der zu dem Turm führte, in dem Dämonen und Hochgeborene ihrer Arbeit nachgingen. »Das werden wir ja sehen. Komm, Vashj!«
Die Königin und ihre nervöse Dienerin stiegen die Steintreppe hinauf. Normalerweise hätte sich Azshara von ihren Dienern einen pompösen Auftritt vorbereiten lassen, aber sie war zu wütend, um sich dafür die Zeit zu nehmen. Dieses eine Mal mussten Vashj und ihre Leibwache ausreichen.
Zwei Teufelswachen und zwei Teufelsbestien versuchten, ihr den Weg zu versperren. »Geht zur Seite. Das ist ein Befehl!«
Die Hunde winselten, wollten ihr offensichtlich gehorchen, doch die beiden Krieger schüttelten den Kopf.
Azshara warf ihrer eigenen Leibwache einen kurzen Blick zu, lächelte und sagte: »Entfernt sie.«
Ihre Wachen stellten sich ohne zu zögern gegen ihre Kameraden. Sie waren schon so lange bei der Königin, dass sie ihrem Charme erlegen waren. Die zahlenmäßig unterlegenen Dämonen starben schnell, ebenso wie die Hunde. Ein Leibwächter verlor ebenfalls sein Leben, aber welche Bedeutung hatte das schon verglichen mit den Wünschen einer Königin?
Die Leichen wurden beiseite geräumt, dann ging Azshara weiter. Vashj öffnete die Tür und versteckte sich hinter ihrer Königin.
In dem Raum hinter der Tür herrschte geschäftiges Treiben. Hagere schwitzende Zauberer arbeiteten angestrengt und duckten sich unter Mannoroths wachsamen Blicken. Satyrn, Eredar und Schreckenslords woben ebenfalls Zauber, die sich offenbar auf einen Ort jenseits der Palastmauern konzentrierten.
Azshara interessierte der Stress nicht, unter dem die Magier standen. Hoch erhobenen Hauptes ging sie auf den riesigen Dämon Mannoroth zu, der ebenfalls vor Anstrengung schwitzte. Er bemerkte ihre Anwesenheit im ersten Moment nicht einmal, eine Beleidigung, über die die Königin nur mühsam hinweg sah.
»Lord Mannoroth«, sagte sie kühl. »Ich bin sehr enttäuscht, über die fehlende Ordnung in diesem Palast, so kurz vor Lord Sargeras’ Ankunft.«
Er fuhr herum. Sein Krötengesicht verriet, wie überrascht er über eine solche Unverschämtheit war. »Kleine Kreatur, du solltest besser gehen. Meine Geduld neigt sich ihrem Ende zu. Für diese Störung sollte ich dir den Kopf abreißen und dein Blut trinken!«
Azshara antwortete nicht, sondern sah ihn nur verärgert an.
Zischend holte Mannoroth aus. Seine Absicht war klar: Er hatte keine weitere Verwendung für die Nachtelfe.
Aber obwohl Mannoroth kurz davor stand, ihr den Kopf abzuschlagen, kam es nicht dazu. Das lag nicht etwa daran, dass er glaubte, Sargeras habe noch etwas mit der silberhaarigen Kreatur vor, sondern daran, dass er einfach nicht zuschlagen konnte. Die Macht der Königin war so groß, dass nur Sargeras sich gegen sie zu stellen vermocht hätte. Mannoroth wäre es leichter gefallen, sich selbst zu köpfen als sie.
Er wich zurück. Er fühlte sich unwohl in der Gegenwart einer Kreatur, die er so sehr unterschätzt hatte. Gleichzeitig musste er sich der Gefahr widmen, die dem Portal drohte.
»Da du Lord Sargeras’ Diener bist«, erklärte Azshara königlich, »vergebe ich dir deinen Ausbruch … dieses Mal.«
Mannoroth wandte sich von ihr ab, damit sie nicht sehen konnte, wie verstört er war. »Ich habe keine Zeit. Das Portal muss geschützt …«
Ihre Augenbrauen hoben sich. »Das Portal ist gefährdet? Wodurch?«
Der Dämon biss seine gelben Fänge zusammen. »Wegen der Verzweiflungstat einiger Nichtsnutze. Alles wird gut … wenn ich nicht mehr unterbrochen werde.«
Azshara schürzte die Lippen, als sie seinen beleidigenden Tonfall hörte, verstand jedoch den Grund dafür. »Nun gut, Lord Mannoroth. Ich werde in meine Räumlichkeiten zurückkehren … aber ich erwarte, dass dieser Zwischenfall ein baldiges Ende findet und Lord Sargeras zu mir geleitet wird. Wir sind hier fertig, Vashj.«
Die Königin der Nachtelfen verließ den Raum mit königlicher Würde. Mannoroth sah ihr nach. Er konnte immer noch nicht fassen, wie mächtig sie war. Dann riss er sich zusammen und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Die Rebellen mussten besiegt werden. Das Tor, das den Herrn der Brennenden Legion in diese Welt bringen würde, durfte nicht geschlossen werden. Er fühlte, wie sich Sargeras dem Portal näherte, das trotz des Diebstahls der Drachenseele immer noch offen stand.
Bald … es würde nicht mehr lange dauern …
Malfurion und Illidan kämpften weiter gegen die Dämonen in den Ruinen. Gleichzeitig versetzten sie sich selbst in die Scheibe. Illidan wollte sich mit aller Kraft hineinstürzen, aber Malfurion hielt seinen Zwilling zurück. Sie mussten vorsichtig handeln, auch wenn jede Sekunde so wertvoll wie ein letzter Atemzug war.
Dann endlich waren sie bereit.
Doch als sie ihren abschließenden Zauber beginnen wollten, spürte Malfurion, wie etwas entsetzlich Böses seinen Geist berührte, etwas, das nicht identisch mit Sargeras war. Stimmen flüsterten in seinem Kopf und versprachen ihm die Erfüllung aller Wünsche. Er würde über Kalimdor herrschen, mit Tyrande an seiner Seite und der Brennenden Legion als seiner Armee. Alle würden sich vor ihm verneigen. All das würde geschehen, wenn er seinen Zauber nur ein wenig veränderte.
Der Druide kämpfte gegen die Stimmen an. Er wusste, was sie tatsächlich wollten. Mühsam setzte er seinen Zauber fort.
Aber im gleichen Moment versuchte Illidan, das zu tun, was die Stimmen von Malfurion verlangt hatten. Dem Druiden war es gelungen, der Versuchung zu widerstehen, Illidan hingegen war ihr Opfer geworden.
Illidan! Malfurions Gedanken waren wie ein Schlag ins Gesicht des Bruders. Er spürte, wie sich die Dunkelheit, die seinen Zwilling festgehalten hatte, löste.
Ich bin wieder ich selbst, versicherte Illidan ihm einen Moment später.
Malfurion traute ihm zwar nicht völlig, setzte seine Arbeit jedoch fort. Sie hatten nur noch wenig Zeit. Die Drei waren zwar zurückgeschlagen worden, aber wenn niemand das Portal schloss, würden sie Sargeras früher oder später nach Kalimdor folgen.
Malfurion wusste, welches Leid sie über die Welt bringen würden. Selbst sein gefährlicher Zauber war im Vergleich dazu nur ein laues Lüftchen.
Stille hing über der Landschaft. Es war, als existiere kein Geräusch in der Welt. Der Wind war so lautlos wie die aufgepeitschten Wellen und der unhörbare Donner.
Dann erschütterte ein gewaltiges Heulen Zin-Azshari und den Rest von Kalimdor. Ein furchtbarer Sturm erfasste Malfurion, aber Ysera stemmte sich rasch dagegen. Der neue Wind tobte wütender als jeder Sturm, den Malfurion jemals erlebt hatte. Die anderen Drachen wurden im ersten Moment taumelnd mitgerissen, gewannen die Kontrolle über ihren Flug aber schon bald zurück, so als existiere der Sturm für sie nicht länger.
Die Verdammniswachen und die anderen fliegenden Dämonen hatten nicht so viel Glück. Sie wurden hinweg gerissen, konnten weder gegen den Sturm, noch gegen ihre anderen Feinde ankämpfen. Einige stießen zusammen und brachen sich die Knochen. Viele starben, stürzten aber nicht in die Tiefe, da der Wind ihre Leichen durch die Luft wirbelte. Sie sahen aus wie makabre Tänzer.
Der Sturm steigerte sich um das Zehnfache, das Hundertfache, aber die Drachen und ihre Reiter blieben davon verschont. Nur die Dämonen wurden von ihm umhergewirbelt …
… und Stück für Stück zu dem Portal gezogen.
Wer noch atmen konnte, heulte, schrie und biss um sich, doch es half alles nichts. Aus allen Richtungen flogen die Dämonen dem Tor entgegen, hinter dem ihre Brüder kampfeslustig warteten.
»Es funktioniert!«, rief Illidan und lachte triumphierend. »Es funktioniert!«
Malfurion jubelte nicht, denn er spürte den Widerstand, der sich gegen den Zauber aufbaute. Er wusste nicht, ob Sargeras oder die Drei dafür verantwortlich waren. Der Druide wusste nur, dass er nicht aufgeben durfte, sonst war die Welt verloren.
Der Wind wurde immer noch stärker. Er riss die Dämonen in das Portal im Zentrum des Brunnens. Innerhalb weniger Sekunden flog kein Dämon mehr am Himmel, doch der Sturm flaute nicht ab.
Malfurion, der sich immer noch an zwei Orten gleichzeitig aufhielt, sah zu, wie die Dämonen, die sich ihm, Illidan und Tyrande genähert hatten, plötzlich in Panik gerieten. Riesige Teufelswächter und monströse Dämonenhunde klammerten sich am Boden fest. Eine Höllenkreatur kämpfte sich ein paar Schritte auf die Nachtelfen zu, kam dann aber auch nicht mehr weiter.
Dann flog die erste Teufelsbestie aus der Ruine heraus. Ihr Jaulen hallte durch Zin-Azshari. Sie verschwand im Brunnen.
Eine weitere Teufelsbestie folgte, dann die Teufelswachen. Als sei nun ein Damm gebrochen worden, flogen Dämonen gleich dutzendweise zum Himmel auf. Es war, als sähe man einem bizarren, umgedrehten Regen zu. Sie wurden über die dunklen Wasser gerissen, und Malfurion beobachtete, wie ihre Körper flüssiger, fast schon durchscheinend wurden.
Schwindel erfasste ihn. Beinahe hätte der Nachtelf die Kontrolle über den Zauber verloren. Die Ruinen Zin-Azsharis verschwanden. Malfurion drehte sich zur Seite und entdeckte, dass sein Bruder nicht mehr neben ihm saß. Die Verbindung zwischen ihm und Illidan existierte zwar noch, aber sie war wesentlich schwächer geworden.
Der Druide konzentrierte sich weiter. Die natürliche Kraft der Welt floss wie Blut durch seine Adern. Die Bäume, das Gras, die Felsen, die Fauna … alle opferten einen Teil ihrer selbst, um ihm die Stärke zu geben, die er benötigte. Malfurion ahnte, dass das, was er hier tat, weit über die Lehren des Cenarius hinausging und weit über alles, das er jemals versucht hatte. Illidans Magie war noch immer mit der seinen verschmolzen und verstärkte sie.
Er schrie auf, als tausend Nadeln seinen Geist zu treffen schienen. Sargeras griff ihn an. Die Aura des Dämonenlords erfüllte ihn, versuchte ihn von innen heraus zu verzehren.
Malfurion kämpfte gegen den Schmerz. Kalimdor gab ihm auch weiterhin alle Kraft, die es aufbringen konnte. Er war jetzt sein Wächter, mehr noch als Cenarius, Malorne oder sogar die Drachen. Von ihm allein hing alles ab.
Er bot der Brennenden Legion und den Drei ganz allein die Stirn.
»Schuftet, ihr Hunde!« Mannoroth schrie die Zauberer und Dämonen an. »Härter!«
Einer der Hochgeborenen brach in die Knie. Wie die anderen auch war er bis auf die Knochen abgemagert. Die einst extravaganten Gewänder schlotterten nur noch um ihre Körper. Der Gefallene hustete, bemerkte dann erst den riesigen Schatten, der auf ihn fiel.
»Bitte, Lord Mannoroth! Ich brauche doch nur …«
Mit einer Hand ergriff der Dämon seinen Kopf und zerquetschte ihn. Mannoroth schüttelte den leblosen Körper als Warnung für die entsetzten Nachtelfen und Hexenmeister. »Arbeitet!«
Trotz ihres schlechten Zustands gehorchten die Zauberer und verdoppelten ihre Anstrengungen. Aber Mannoroth war immer noch nicht zufrieden. Er warf die Leiche zur Seite und betrat den magischen Kreis. Die Zauber benötigten seine Unterstützung.
Doch als er jene beiseite stieß, die ihm im Weg standen, erfasste ihn ein seltsamer Schwindel. Seine Bewegungen wurden langsamer, und als er zu einem der Eredar blickte, bemerkte er, dass auch der Hexenmeister davon betroffen war. Sogar die Nachtelfen wurden langsamer.
»Was-geht-hier-vor?«, fragte er niemanden und alle.
Sein Schwanz schlug schwer auf den Steinboden. Mannoroth versuchte einen Zauber zu weben, doch als er die Hand hob, weiteten sich seine Augen. Seine Schuppenhaut wirkte durchsichtig. Der Dämon konnte seine Sehnen und Knochen erkennen, die ebenfalls an Substanz verloren hatten.
»Unmöglich!«, schrie der geflügelte Dämon. »Unmöglich!«
Die Turmmauer, die dem Brunnen der Ewigkeit am nächsten lag, brach heraus.
Eine gewaltige Kraft zog an den Dämonen. Die, die dem Loch in der Mauer am nächsten standen, wurden auf das schwarze Wasser hinausgerissen und verschwanden in großer Entfernung. Schwer gepanzerte Krieger wurden vom Boden emporgehoben wie Federn.
Der Zirkel löste sich auf. Die Furcht der Nachtelfen vor dem, was als nächstes geschehen würde, überstieg sogar die Angst, die sie vor Mannoroth hatten. Die Eredar, die ebenfalls an ihre Grenzen gestoßen waren, versuchten ihnen zu folgen, fielen aber dem gleichen furchtbaren Wind zum Opfer, der auch schon die Teufelswachen erfasst hatte. Laut aufheulend verschwanden sie durch das Loch.
Schließlich blieb nur Mannoroth zurück. Seine unglaubliche Stärke und die Masse seines Körpers arbeiteten für ihn. Der geflügelte Dämon stemmte sich gegen den Wind. Seine Augen richteten sich auf den vergehenden Zauber. Er bewegte sich auf den Zirkel zu. Es befand sich noch Magie darin, genug, um seine eigene Kraft zu verstärken und einen Schutzzauber zu errichten, hinter dem er das Ende des Angriffs abwarten konnte.
Jeder Schritt fiel ihm schwer, aber er kämpfte sich vorwärts. Sein linker Fuß trat in den Zirkel, dann sein rechter. Seine Flügel schlugen wie wild, trieben ihn nach vorne. Der Dämon grinste breit und triumphierend, als auch seine Hinterbeine den Zirkel betraten.
Er hob seine Klauenhände und beschwor die Magie des Zirkels. Es fiel ihm unendlich schwer, seine Arme zu bewegen, aber es gelang ihm schließlich.
Eine grün leuchtende, brennende Kuppel bildete sich um ihn her. Der Wind ließ nach. Mannoroth wandte sich der zerstörten Wand zu und begann laut zu lachen. Gegen niedere Dämonen hatte der Wind zwar gesiegt, aber nicht gegen ihn, nicht gegen Mannoroth, den Häuter! Mannoroth, den Zerstörer! Einen von Sargeras’ Auserwählten …
Die Flammen der Kuppel wurden zum Loch in der Wand gezogen. Entsetzt sah der Dämon, wie sein Schutzzauber hinweg gerissen wurde.
Er wollte zurückweichen, aber der Wind ergriff auch ihn. Mannoroth keuchte, als er vom Boden gehoben wurde. Wütend schrie er auf. Er prallte gegen ein Mauerstück, das ebenfalls vom Wind mitgerissen wurde.
Er hielt sich am Rest der Mauer fest. Einen Moment lang keimte Hoffnung, doch dann rutschten die Klauen ab, und er wurde endgültig aus dem Turm gerissen.
Brüllend raste Mannoroth dem Brunnen der Ewigkeit entgegen.