11

Für einen Orc gab es nichts Heiligeres als Blut. Sie schworen damit Eide, schmiedeten Allianzen, ein Krieger in der Schlacht wurde davon gestählt. Blutsbande zu beschmutzen galt als eines der verachtenswertesten Verbrechen.

Doch der Bruder des Druiden hatte genau das getan.

Brox betrachtete Illidan Stormrage mit einer Abscheu, die er nur wenigen Wesen entgegenbrachte. Sogar die Dämonen respektierte er in gewisser Weise, denn sie folgten nur ihrer Natur, egal, wie pervers und böse sie auch sein mochte. Aber hier stand jemand, der Seite an Seite mit Brox gekämpft hatte und der als Malfurions Zwillingsbruder dessen Zuneigung und Sorge für seine Kameraden hätte teilen sollen. Doch Illidan lebte nur für die Macht. Sogar seine engste Verwandtschaft konnte daran nichts ändern.

Wären seine Arme nicht gefesselt gewesen, der Orc hätte sein eigenes Leben geopfert, wenn es ihm auf diese Weise gelungen wäre, den Zauberer zu töten. Der Orc wusste, dass er selbst manchen Fehler hatte, doch verraten … verraten hatte er noch niemanden.

Malfurion stolperte neben dem ergrauten Krieger her. Man hatte ihnen die Arme hinter dem Rücken gefesselt und Seile um ihre Hüften geschlungen, an denen sie hinter den Nachtsäblern hergezogen wurden. Sie konnten kaum mithalten. Illidans Bruder hatte es noch schlimmer getroffen, denn sein verräterischer Zwilling hatte den Blindheitszauber nicht zurückgenommen. Malfurions Augen wurden von schwarzen Schatten bedeckt, die kein Licht hindurch ließen. Er stolperte und stürzte, hatte Schürf- und Schnittwunden. Einmal hätte er sich sogar beinahe den Kopf an einem Felsen aufgeschlagen.

Der Zauberer, der einen Schal vor den Augen trug, zeigte kein Mitleid. Wenn Malfurion strauchelte, zog Illidan nur an seinem Seil, bis sich der Druide wieder aufrichtete. Die Wachen, die hinter den Gefangenen hergingen, stießen sie daraufhin an, und alles begann wieder von vorne.

Brox betrachtete seine Axt, die am Sattel von Captain Varo’thens Katze hing. Der Orc hatte den vernarbten Offizier als das zweite wichtige Ziel ausgemacht, sollte es ihm und Malfurion gelingen, sich zu befreien. Die Dämonenkrieger waren zwar gefährlich, aber ihnen fehlte die teuflische Verschlagenheit, die Brox bei dem anderen Nachtelf bemerkte. In dieser Hinsicht konnte sogar Illidan nicht mithalten. Brox war das egal. Wenn die Geister ihm mit ihrem Segen beistanden, würde er beide töten.

Danach musste man sich um die Dämonenseele kümmern.

Überraschenderweise trug nicht Illidan die Scheibe. Er hatte sie zwar aufgenommen, aber nur wenige Minuten später hatte der Captain seine Hand ausgestreckt und sie eingefordert. Zur großen Verwunderung des Orcs hatte Malfurions Bruder nicht protestiert, sondern die Scheibe ohne Zögern losgelassen.

Doch solche Überraschungen interessierten den grünhäutigen Krieger nicht. Ihm war nur klar, dass er die beiden töten und die Dämonenseele an sich nehmen musste. Um dahin zu kommen, musste sich der Orc jedoch erst einmal befreien und die Dämonen niederstrecken, die ihn und Malfurion bewachten.

Brox schnaufte enttäuscht. Den Helden in den Epen gelangen solche Dinge immer, aber er bezweifelte, dass sie ihm gelingen würden. Captain Varo’then wusste, wie man eine Fessel anlegte. Er hatte seine Gefangenen gut gesichert.

Wortlos zogen sie weiter. Das Nest des schwarzen Drachens lag bereits weit hinter ihnen. Allerdings fühlte sich Brox nicht so sicher, wie es Illidan und der Captain taten. Er war überzeugt, dass Deathwing sie finden würde. Es grenzte an ein Wunder, dass der schwarze Gigant noch nicht aufgetaucht war. War er von etwas abgelenkt worden?

Seine Augen weiteten sich, und er verfluchte seine Dummheit. Natürlich war er nicht von etwas abgelenkt worden, sondern von jemandem – von Krasus.

Brox verstand, welches Opfer der Magier möglicherweise brachte. Weiser Mann, ich wünsche dir alles Gute. Ich werde von dir singen … bis zu meinem nicht allzu fernen Tod.

»Umpf.«

Neben Brox stürzte Malfurion erneut. Dieses Mal gelang es dem Druiden jedoch, sich zu drehen. Er fiel nicht auf sein Gesicht, sondern auf die Seite. So entging er zwar einer blutigen Nase, aber der Sturz schüttelte trotzdem jeden Knochen in seinem Körper durch.

Der Orc hätte dem Nachtelf gern geholfen, doch das ging nicht. Durch zusammengebissene Zähne sagte er zu Illidan: »Gib ihm sein Augenlicht zurück. Dann wird er auch schneller gehen.«

»Sein Augenlicht? Wieso sollte ich?«

»Die Bestie hat Recht«, unterbrach Captain Varo’then. »Dein Bruder hält uns nur auf. Entweder schneide ich ihm hier und jetzt die Kehle durch oder du gibst ihm seine Augen zurück, damit er den Pfad sehen kann.«

Illidan lächelte ironisch. »Was für eine interessante Alternative. Na gut, bringt ihn her.«

Zwei Dämonen stießen Malfurion mit ihren Waffen vorwärts. Der Druide hielt sich so aufrecht wie möglich und trat seinem Zwilling ruhig entgegen.

»Von meinen Augen zu deinen«, murmelte Illidan. »Ich gebe dir, was ich nicht mehr benötige.«

Er schob den Schal nach oben.

Die Haare im Nacken des Orcs stellten sich auf, als er sah, was sich darunter befand. Brox schickte ein Stoßgebet zu den Geistern. Sogar der monströse Wächter neben ihm wirkte nervös.

Die Schatten verschwanden von Malfurions Augen. Er blinzelte, dann sah er Illidan an. Das Entsetzen, das er bei diesem Anblick verspürte, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

»Oh, Illidan …«, stieß Malfurion hervor. »Es tut mir so Leid.«

»Weshalb?« der Zauberer legte den Schal wieder über seine Augenhöhlen. »Ich habe jetzt etwas viel Besseres. Ein Augenlicht, von dem du nur träumen kannst. Ich habe nichts verloren, verstehst du mich? Nichts!« An den Offizier gewandt fuhr Illidan fort. »Jetzt kann er mithalten. Wahrscheinlich können wir das Tempo sogar erhöhen.«

Varo’then lächelte und gab den Befehl zum Aufbruch.

Malfurion stolperte auf den Orc zu. Brox half dem Nachtelf, seinen Rhythmus zu finden, dann murmelte er: »Es tut mir Leid wegen deines Bruders …«

»Illidan hat seinen Weg gewählt«, antwortete der Druide sanfter, als Brox es an seiner Stelle getan hätte.

»Er hintergeht uns!«

»Tut er das?« Malfurion starrte auf den Rücken seines Bruders. »Tut er das?«

Der Orc schüttelte den Kopfüber das Wunschdenken seines Begleiters und trottete schweigend weiter. Durch den alternden Tag zogen sie dahin. Ihre Wächter schienen sich keine Sorgen zu machen, aber Brox blickte immer wieder zurück zu den Bergen, erwartete jeden Moment, Deathwing zu sehen.

»Zauberer«, sagte der vernarbte Offizier nach mehr als einstündigem Schweigen. »Diese Scheibe kann all das, was du uns versprochen hast?«

»All das und noch mehr. Du weißt, was sie der Legion und den Nachtelfen angetan hat … und sogar den Drachen.«

»Ja.« Der Orc hörte die Bewunderung in Varo’thens Stimme. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Hand des Captains ständig über die Gürteltasche strich, in der sich die Scheibe befand. »Das stimmt also alles?«

»Frag Archimonde, wenn du möchtest.«

Varo’then zog seine Hand zurück. Der Verstand des Soldaten war noch klar genug, dass er den großen Dämon fürchtete.

»Ihre Macht sollte ausreichen, um das Portal nach Sargeras’ Wünschen zu gestalten«, fuhr Illidan fort. »Dann kann der Rest der Legion nach Kalimdor gebracht werden … und Sargeras wird sie anführen.«

Malfurion zog scharf die Luft ein, und Brox grunzte angewidert. Entsetzt sahen sie einander an, denn sie wussten, dass keine Streitmacht in der Lage sein würde, den Dämonenlord und die gesamte Legion zu besiegen.

»Müssen was tun …«, flüsterte Brox. Er spannte die Armmuskeln an, aber die Stricke gaben nicht nach.

»Ich tue schon etwas«, flüsterte Malfurion zurück. »Seit Illidan mir mein Augenlicht zurückgegeben hat. Vorher ging es nicht, weil ich ständig gestolpert bin und mich nicht konzentrieren konnte. Aber das ist jetzt kein Problem mehr.«

Brox achtete darauf, ob die Dämonen sie weiterhin ignorierten. »Was machst du?«, fragte er leise.

»Die Katzen. Ich rede mit ihnen, versuche sie zu überzeugen …«

Der Orc hob die Augenbrauen. Malfurion hatte schon früher gedanklich mit Tieren gesprochen. »Ich bin bereit, Druide. Wird es bald so weit sein?«

»Das ist schwerer als ich dachte. Die Anwesenheit der Legion hat sie … verwirrt, aber ich denke … ja, halte dich bereit. Sie werden bald handeln.«

Zuerst gab es keinen Hinweis darauf, doch plötzlich stoppte Captain Varo’thens Reittier. Der Offizier trat nach der Katze, aber sie bewegte sich nicht.

»Was ist nur los mit dieser verdammten …«

Varo’then brachte den Satz nicht zu Ende, denn im gleichen Moment stellte sich sein Nachtsäbler auf die Hinterläufe. Der Offizier konnte sich nicht mehr halten und rutschte zu Boden.

Illidan blickte über seine Schulter, doch da folgte sein eigenes Reittier bereits dem Beispiel des anderen. Der Zauberer war jedoch darauf vorbereitet. Er glitt zwar aus dem Sattel, stürzte aber nicht.

»Du Narr!«, schrie er, auch wenn unklar war, wen er damit meinte. »Du dummer …«

Brox reagierte in dem Moment, als die Katzen sich aufrichteten. Er lief zu Varo’thens Reittier und suchte nach seiner Axt. Der Nachtsäbler kam ihm entgegen, indem er seine Flanke in die richtige Richtung drehte … ein Kommando, das er sicherlich von Malfurion erhalten hatte.

Brox drehte sich und rieb seine Fesseln über die Klinge der Axt. Die Stricke fielen sofort. Nur ein wenig Blut floss über den Arm des Orcs.

Brox griff nach seiner Waffe. »Druide, zu mir! Wir reiten auf diesem …«

Doch der Nachtsäbler lief an ihm vorbei und prallte mit einer Teufelswache zusammen, die Malfurion hatte angreifen wollen. Die anderen Dämonen wichen zurück, wussten für einen Moment nicht, wie sie auf die verwirrende Situation reagieren sollten.

Die Katze begann in der Zwischenzeit an Malfurions Fesseln zu nagen. Der Nachtelf sah zu Brox hinüber und rief: »Achte nicht auf mich! Die Tasche, Brox, die Tasche!«

Der Orc drehte sich zu Varo’then um. Der Palastoffizier saß auf dem Boden und rieb sich den Schädel. Die Tasche, in der sich die Dämonenseele befand, baumelte an seinem Gürtel. Er schien nicht zu bemerken, dass der Orc neben ihm stand.

Mit erhobener Axt lief Brox dem Captain entgegen, doch der vernarbte Nachtelf erholte sich schneller, als er gehofft hatte. Der hagere Kämpfer sah die große, grüne Gestalt, die ihm entgegen stürmte und rollte sich zur Seite. Dann kam er auf die Beine.

»Komm schon her, du primitiver Mistkerl«, lockte er. »Ich schneid’ dich auseinander und verfüttere dich an die Katzen … wenn sie dich vertragen.«

Brox schlug zu. Der Hieb hätte Varo’then gespalten, wenn er getroffen hätte. Doch der Captain war schnell wie ein Blitz. Die Waffe des Orcs riss den Boden auf und hinterließ eine mehr als einen Meter lange Furche.

Varo’then sprang vor und stach nach seinem Gegner. Das Schwert hinterließ einen blutigen Schnitt in der linken Schulter des Orcs. Brox ignorierte den Schmerz und setzte zu einem neuen Angriff an.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Malfurion den reiterlosen Nachtsäbler auf die Teufelswache hetzte. Der erste Dämon wich zurück, da er nicht wusste, ob er Varo’thens Reittier angreifen sollte. Dieser Zweifel kostete ihn das Leben, denn der Panther warf ihn um und zerfetzte seine Kehle.

Brox wollte nach Illidan suchen, aber er musste sich auf seinen eigenen Gegner konzentrieren. Er hoffte, dass Malfurion seinen Bruder im Auge behielt. Wenn der Magier auch nur einen Zauber sprach, waren sie verloren.

Er schrie auf, als Varo’then ein zweites Mal seine Schulter traf.

Der Nachtelf grinste. »Erste Regel im Nahkampf: Lass dich nie ablenken.«

Die Antwort des Orcs bestand aus einem gewaltigen Schwung seiner Axt. Beinahe hätte er den Soldaten geköpft. Varo’then hörte auf zu grinsen und wich zurück.

»Zweite Regel«, knurrte Brox. »Nur Narren reden so viel auf dem Schlachtfeld.«

Sein Körper knisterte plötzlich. Seine Bewegungen wurden langsam und schwerfällig. Die Luft schien sich um ihn herum zu verhärten.

Zauberei.

Malfurion hatte sich nicht um Illidan gekümmert, so wie es der Krieger befürchtet hatte. Die Familienbande hatten ihn zögern lassen, und das rächte sich jetzt.

Das Grinsen kehrte auf Captain Varo’thens Gesicht zurück. Selbstsicher schritt er seinem langsamen Gegner entgegen. »Ich mag es eigentlich nicht, wenn ein Kampf zu leicht ist, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme.« Er richtete sein Schwert auf Brox’ Brust. »Mal sehen, ob dein Herz am gleichen Fleck ist wie das unsere.«

Doch im gleichen Moment hüllte ein dunkler Schatten beide Gegner ein. Brox wollte nach oben sehen, doch er war mittlerweile so langsam geworden, dass der Nachtelf ihn getötet hätte, ohne dass er den Kopf wieder hätte senken können. Wenn er schon sterben sollte, dann wollte der Orc seinem Mörder wenigstens in die Augen blicken, so wie es eines Kriegers geziemte.

Aber Königin Azsharas Diener sah den Orc nicht mehr an. Er blickte zum Himmel. Sein Mund zuckte ärgerlich.

»Weg von ihm, Schurke!«, brüllte eine dunkle Stimme.

Varo’then wich mit einem Satz zurück. Brox konnte nur hilflos zusehen. Keine Sekunde später traf ein Feuerstoß die Stelle, an der der Nachtelf eben noch gestanden hatte.

Die Flammen wurden so präzise gesteuert, dass Brox die Hitze kaum spürte. Das überraschte ihn, denn er war davon ausgegangen, dass ein Drache über ihnen schwebte, und zwar nicht irgendeiner, sondern …

Deathwing.

Doch wenn es sich tatsächlich um den schwarzen Giganten handelte, wieso verschonte er Brox dann? Abgesehen von Deathwing gab es nur einen Drachen, der wusste, welche Gruppe sich in den Bergen aufhielt: Korialstrasz. So viel war seit der Flucht aus dem Drachennest geschehen, dass er den großen roten Leviathan ganz vergessen hatte. Doch der hatte anscheinend ihn und Malfurion nicht vergessen.

»Haltet euch bereit!«, rief Korialstrasz. »Ich komme.«

Brox konnte nichts tun, nur auf das Können des Drachen vertrauen.

Einen Moment später legten sich Klauen um seinen Körper, und er wurde hoch in die Luft gerissen.

Wind stach in sein Gesicht. Brox spürte, wie die Gewichte von seinen Gliedmaßen abfielen. Entweder hatte der Rote etwas damit zu tun, oder Illidans Zauber hatte sich zufällig im gleichen Moment gelöst.

Malfurion hing in der anderen Klaue des Drachen. Der Druide wirkte erschöpft und verzweifelt. Er zeigte auf den Boden weit unter sich und rief dem Drachen und dem Orc etwas zu.

Brox verstand nach einem Moment seine Worte. »Die Scheibe!«, schrie Malfurion. »Sie haben noch immer die Scheibe!«

Der Orc wollte antworten, aber in der gleichen Sekunde ließ sich Korialstrasz wieder dem Kampf entgegen fallen. Der Drache näherte sich der Gruppe und taxierte seine Feinde nacheinander.

»Welcher ist es?«, brüllte der Riese. »Welcher?«

Die Frage war überflüssig, denn Captain Varo’then zog bereits die Dämonenseele aus der Tasche. Brox dachte an die Probleme, die Malfurion beim ersten Versuch gehabt hatte und hoffte, dass es dem Offizier ähnlich ergehen würde.

Das Glück schien auf ihre Seite zurückgekehrt zu sein, denn Varo’then hob böse grinsend die Dämonenseele – doch nichts geschah.

Korialstrasz stürzte sich brüllend auf den Captain. Dessen Gesicht verriet Verzweiflung.

Doch entgegen aller Logik leuchtete die Scheibe auf. Eine zweite Stimme meldete sich über dem Drachen. »Weg! Schnell, oder wir werden alle …«

Der Rote wurde nur von einem Ausläufer der Kräfte aus der Dämonenseele getroffen, aber das reichte bereits. Brox spürte die Schockwelle, in die Korialstrasz hinein flog. Der Drache zitterte, stöhnte … und hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.

Der Leviathan stürzte den Berggipfeln entgegen. Der Boden kam auf ihn zu. Brox begann die Namen seiner Ahnen aufzuzählen und bereitete sich auf seinen Aufprall vor.

Die graue Granitwand eines Berges füllte sein Blickfeld völlig aus.


»Was hast du getan?«, zischte Illidan.

»Ich habe die Scheibe benutzt«, antwortete Captain Varo’then staunend und beeindruckt. Dann riss er sich zusammen und betrachtete zuerst die Scheibe, dann seinen Begleiter. »Du hattest Recht. Sie erfüllt alle Versprechen, die du gemacht hast und bietet noch weit mehr. Mit ihr könnte man herrschen wie ein König …«

»Oder von Sargeras bei lebendigem Leibe gehäutet werden, nur weil man diesen Gedanken hatte.«

Die Versuchung verschwand von Varo’thens Gesicht. »Und das wäre auch richtig so, Zauberer. Ich hoffe, dir ist kein so dummer Gedanke gekommen.«

Malfurions Zwilling lächelte knapp. »Genauso wenig wie dir, Captain.«

»Die Königin wird über den Erfolg unserer Mission erfreut sein. Wir haben die Scheibe und konnten ihre Macht an einem ausgewachsenen roten Drachen testen. Und wir haben die zur Strecke gebracht, die uns bisher behindert haben.«

»Wenn du die Scheibe anders eingesetzt hättest«, sagte der Magier, »könnten wir die beiden jetzt noch befragen.«

Varo’then schnaubte. »Was sollten sie uns noch verraten? Das hier …« Er hielt Illidan die Scheibe entgegen. »… ist alles, was wir für den Sieg brauchen.« Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. »Oder bedauerst du vielleicht das Schicksal deines Bruders? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?«

Illidan rückte seinen Schal zurecht und stieß die Luft aus. »Du hast gesehen, wie ich mit ihm umgegangen bin. Sah das für dich nach Bruderliebe aus?«

»Da hast du Recht«, stimmte der Captain nach einem Moment zu. Dann steckte er die Scheibe wieder in seine Tasche. Irritiert hob er die Augenbrauen.

»Stimmt etwas nicht, Captain?«

»Nein … da waren nur … es klang wie Stimmen … nein … es war nichts.« Er bemerkte nicht den interessierten Ausdruck auf dem Gesicht des Nachtelfs, der in dem Moment verschwand, als er ihn ansah. »Vergiss es. Komm jetzt. Die Katzen stehen wieder unter unserer Kontrolle. Die Scheibe muss so schnell wie möglich nach Zin-Azshari zurückgebracht werden.«

»Natürlich.«

Varo’then stieg auf sein Reittier. Illidan tat das Gleiche, schaute jedoch noch einmal zurück zu den Bergen.

Sein Blick war verbittert.


Sie hätten längst zurück sein müssen. Daran dachte Rhonin, wenn er in die Richtung blickte, in die Krasus und die anderen geritten waren. Sie hätten zurück sein müssen. Er spürte, dass etwas schief gelaufen war. Als die Nachtsäbler mit Krasus’ Notiz ins Lager getrabt waren, hatte Rhonin neue Hoffnung geschöpft. Mit Korialstrasz’ Hilfe hätte die Gruppe weitaus schneller vorankommen müssen. Sie hätten ihr Ziel schon vor langer Zeit erreicht gehabt, und Krasus hätte sicherlich keine Zeit verschwendet, sondern sich sofort auf die Suche nach der Scheibe gemacht.

Aber etwas war furchtbar schiefgegangen.

Gegenüber Jarod erwähnte er seine Sorge nicht, denn der Nachtelf hatte andere Probleme. Das Treffen in Blackforests Zelt war ein Erfolg gewesen. Jarod hatte seine Position gefestigt, indem er einfach nur er selbst gewesen war. Der ehemalige Wachsoldat hatte während der letzten Schlacht einen Punkt erreicht, an dem er törichte Befehle, egal, von welcher Kaste sie stammten, nicht mehr hinnehmen konnte.

Als ein anderer Adliger ein Flankenmanöver vorschlug, das die Streitmacht zerrissen hätte, war Jarod aufgestanden und hatte erklärt, dass dies in einem Debakel und der Vernichtung der Nachtelfen enden würde. Dass er dies überhaupt Personen erklären musste, die als gebildet und weise galten, überraschte den Menschen. Schließlich war es Jarod gelungen, jeden einzelnen Adligen auf seine Seite zu ziehen. Es erleichterte sie, dass sie jemanden gefunden hatten, der Militärtaktiken instinktiv verstand.

Rhonin hatte anfangs geglaubt, er müsse Jarod unterstützen, doch dann bemerkte er, dass der junge Nachtelf tatsächlich wusste, was er tat. Der Zauberer kannte Leute wie Jarod. Sie verfügten über ein natürliches Talent, das kein Studium verleihen konnte. Er dankte Elune oder welche Gottheit auch immer dafür gesorgt hatte, dass jemand wie Jarod Ravencrests Platz eingenommen hatte.

Doch würde das Talent des Captains ohne die Scheibe ausreichen?

Jarod trat neben den Magier. Der Anführer der Streitmacht wider Willen trug eine neue polierte Rüstung, die ihm Blackforest geschenkt hatte. Es befand sich kein Wappen auf der Brust, nur rote und orangefarbene Streifen, die an den Hüften endeten. Der Umhang zeigte die gleichen Farben und umschmiegte seinen Körper wie eine Geliebte. Er trug einen Helm, dessen feuerroter Fellschwanz aus gefärbtem Nachtsäblerfell bestand und fast bis auf die Schultern reichte.

Ihm folgte ein Tross aus Unter- und Verbindungsoffizieren. Jarod schickte sie weg, bevor er sich an Rhonin wandte.

»Früher einmal habe ich von einem hohen Rang und feiner Kleidung geträumt«, sagte er säuerlich, »aber jetzt sehe ich aus wie ein aufgeblasener Narr.«

»Da widerspreche ich dir nicht«, gab Rhonin zu. »Aber es beeindruckt deine Offiziere, also musst du mitspielen, zumindest fürs erste. Wenn du größere Autorität erlangt hast, kannst du die Sachen immer noch ablegen.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

Der Zauberer führte ihn weiter von den anderen weg. »Du solltest bessere Laune ausstrahlen, Jarod. Du bist die große Hoffnung deiner Leute, aber du wirkst niedergeschlagen. Das könnte sie auf die Idee bringen, dass die Chancen schlecht stehen.«

»Ich fürchte, dass unsere Chancen schlecht stehen, vor allem, wenn ich die Armee anführen soll.«

Der Mensch ließ diesen Satz nicht auf sich beruhen. Er beugte sich vor und knurrte: »Nur wegen dir haben wir überlebt! Ohne dich wäre auch ich tot. Das musst du endlich akzeptieren! Wir haben noch nichts von den anderen gehört. Das könnte bedeuten, dass du, ich und die Soldaten, die in der Schlacht sterben werden, vielleicht die einzige Hoffnung sind, die Kalimdor noch bleibt … und der Zukunft!«

Er ging nicht weiter darauf ein, denn der Offizier hätte die Wahrheit nicht verstanden. Jarod wusste nicht, dass Rhonin aus einer zehntausend Jahre entfernten Zukunft stammte. Wie sollte ihm der Zauberer erklären, dass er nicht nur für die Lebenden kämpfte, sondern auch für die, die erst noch geboren werden sollten und die er mehr als alle anderen liebte.

»Ich wollte das nie …«, protestierte Jarod.

»Keiner von uns wollte es.«

Der Nachtelf seufzte. Er zog den hässlichen Helm ab und wischte sich über die Stirn. »Du hast Recht, Rhonin. Vergib mir. Ich werde tun, was ich kann, auch wenn ich nicht versprechen kann, dass es etwas nützen wird.«

»Mach einfach so weiter wie bisher … du machst alles richtig. Wenn du dich in Lord Desdel Stareye verwandeln würdest, wären wir alle verloren.«

Der frisch gebackene Kommandant blickte auf seine makellose Rüstung und schnaubte abwertend. »Dass das nicht passieren wird, kann ich versprechen.«

Der Zauberer lächelte über diese Antwort. »Das freut …«

Ein Horn wurde geblasen. Ein Schlachthorn.

Rhonin sah über seine Schulter. »Das kommt vom Rand der rechten Flanke. Da können sich keine Legionskrieger aufhalten. Wir hätten einen solchen Vorstoß doch bemerkt.«

Jarod setzte seinen Helm auf. »Und doch ist es geschehen.« Er winkte die Soldaten zu sich. »Steigt auf und bringt mir meine Katze. Auch die des Magiers. Wir müssen herausfinden, was da hinten passiert.«

Die Tiere wurden augenblicklich gebracht. Eine solche Effizienz hatte Rhonin unter Stareyes Kommando nicht festgestellt. Diese Soldaten respektierten Jarod, und das lag nicht daran, dass die Adligen ihn unterstützten. Seine Taten hatten sich herumgesprochen. Die Kämpfer wussten, dass er die Zügel in die Hand genommen hatte, als bereits alles verloren schien.

Während der Captain – nein, der ehemalige Captain, korrigierte sich Rhonin – aufsaß, schien eine Veränderung in ihm vorzugehen. Sein ehemals unschuldiges Gesicht zeigte mit einem Mal grimmige Entschlossenheit. Er trieb seinen Nachtsäbler zur Eile an und übernahm die Führung.

Erneut erklang das Horn. Der Zauberer bemerkte, dass es sich um ein Nachtelfenhorn handelte. Jarod hatte unmittelbar nach Übernahme seines Kommandos angeordnet, die Reihen der Nachtelfen und ihrer Verbündeten stärker zu mischen. Huln und Dungards Krieger standen nicht mehr an einer Seite, sondern waren den Nachtelfen-Einheiten zugeteilt worden. Sogar die Furbolgs hatten eine Aufgabe erhalten. Sie verstärkten die Keilformationen und sorgten mit ihren Keulen dafür, dass keine Teufelswache bis zu den wertvollen Zauberern und Bogenschützen vorzudringen vermochte.

Viele Kleinigkeiten waren verändert worden, Dinge, die Rhonin vorher kaum bemerkt hatte. Doch jetzt musste sich zeigen, ob die neu gestaltete Streitmacht dem Druck eines unerwarteten Angriffs gewachsen war. Niemand hatte geglaubt, dass Archimonde so schnell reagieren würde.

Aber als sie sich dem Schlachtfeld näherten, stießen sie nicht etwa auf das Erwartete, sondern fanden hauptsächlich Verwirrung. Nachtelfen versuchten nach vorne zu stürmen, doch die Tauren und Irdenen, die Rhonin sah, nahmen am Kampf nicht teil. Sie standen reglos zwischen Kämpfern, die verzweifelt versuchten, die Lücken in den Reihen zu füllen, die durch ihre Teilnahmslosigkeit entstanden.

»Bei Mutter Mond, was tun sie da?«, stieß Jarod hervor. »Sie ruinieren alles. Ausgerechnet jetzt, wo ich die Adligen von ihrem Nutzen überzeugt habe!«

Rhonin wollte antworten, bemerkte jedoch im gleichen Moment eine Bewegung hinter der Linie. Der Feind war näher als erwartet. Der Zauberer sah gewaltige Gestalten, geflügelte Kreaturen und einige seltsame Wesen, denen er trotz zahlreicher Kämpfe gegen die Legion noch nie begegnet war.

Sie bewegten sich beinahe gemütlich und stießen kein Kriegsgeschrei aus. Riesen, gegen die jeder Dämon, den Rhonin je gesehen hatte, wie ein Zwerg wirkte, marschierten zwischen ihnen. Die geflügelten Wesen, die über ihnen schwebten, gehörten nicht zur Verdammniswache. Solche Kreaturen waren ihm unbekannt.

Jarod hielt seinen Nachtsäbler neben einem Tauren an, der sich als Huln herausstellte. »Was soll das? Wieso kämpft ihr nicht?«

Der Taure blinzelte und sah Jarod an, als habe dieser den Verstand verloren. »Wir werden nicht gegen sie kämpfen! Das geht nicht.«

Zwei Irdene, die neben ihm standen, stimmten seinen Worten nickend zu. Jarod wirkte einen Moment lang verzweifelt, doch schließlich kehrte seine Entschlossenheit zurück.

»Dann werden wir allein gegen sie kämpfen«, knurrte er und lenkte sein Reittier an dem Tauren vorbei.

Aber Rhonin hatte einen Verdacht, weshalb die Verbündeten zögerten. »Warte, Jarod!«

»Bist du jetzt auch gegen uns?«

Die Gestalten waren in der Zwischenzeit so nahe herangekommen, dass Rhonin ihre Gesichter erkennen konnte. Erleichtert bemerkte er, dass es richtig gewesen war, Jarod aufzuhalten.

»Sie gehören nicht zur Legion. Sie wollen sich uns anschließen. Dessen bin ich mir sicher.«

Erst jetzt sah er das gewaltige Wesen, das die anderen anführte. Es bewegte sich auf vier Beinen und trug ein mächtiges Geweih auf dem Kopf. Ihm folgten Gestalten, die an Satyrn erinnerten. Sie hatten den Oberkörper einer Nachtelfe, aber die Beine eines Rehs. Alle waren weiblich, jung und schön. Sie schienen Mischwesen aus Tieren und Pflanzen zu sein, denn ihre Haut bestand aus grünen Blättern. Sie wirkten zwar zerbrechlich, aber in ihrem Blick lag eine Härte, die jeden Feind davor warnte, sie zu unterschätzen.

Die Soldaten waren mit ihren Kampfvorbereitungen beschäftigt und achteten nicht auf die einzelnen Wesen. Rhonin erkannte, dass eine Katastrophe drohte.

»Jarod, komm mit. Schnell!«

Der Zauberer lenkte seinen Nachtsäbler an den verwirrten Soldaten vorbei, den Wesen entgegen. Jarod folgte ihm, rief jedoch: »Bist du wahnsinnig? Was soll das?«

»Vertrau mir, das sind Verbündete!«

Der Anführer der Wesen stand so plötzlich vor Rhonin, dass der Magier beinahe mit ihm zusammengeprallt wäre.

»Ich grüße dich, Rhonin Redhair«, donnerte die Stimme des gehörnten Wesens. Die weiblichen Gestalten sahen den Zauberer neugierig an. »Wir wollen gemeinsam mit euch um unsere Welt kämpfen.« Er blickte zu Jarod Shadowsong. »Sollen wir unsere Handlungen mit ihm absprechen?«

Der Mensch sah seinen Begleiter an, der mit offenem Mund auf seinem Reittier saß. »Ja. Vergebt ihm. Ich bin selbst überrascht, dass Ihr gekommen seid, Cenarius.«

»Cenarius …«, murmelte Jarod. »Der Herr des Waldes?«

»Ja, und ich glaube, er hat ein wenig Unterstützung mitgebracht«, fügte Rhonin hinzu und sah an dem mystischen Wächter vorbei.

Es kam ihm vor, als seien die Legenden aus seiner Kindheit zum Leben erwacht … und vielleicht stimmte das auch. Rhonin und der Nachtelf blickten empor zu Giganten, die es nur in den Träumen der Sterblichen gab. Der Herr des Waldes war zwar groß, aber gegen einige seiner Begleiter erschien er geradezu zwergenhaft. Zwei Bärenwesen, so groß wie Berge, rahmten ihn ein. Eines der beiden Geschöpfe betrachtete Rhenin interessiert. Hinter ihnen ragte eine Gestalt auf, die nur wenig kleiner war und an einen Vielfraß erinnerte. Sie hatte sechs Beine, und ihr Schlangenschwanz peitschte aufgeregt in Erwartung des bevorstehenden Kampfes. Ihre Klauen rissen den Boden auf und hinterließen tiefe Furchen.

Über allen erhob sich ein gewaltiger Eber, dessen Mähne aus scharfen, vielleicht sogar tödlichen Dornen bestand. Rhonin war über den Namen einst bei seinen Studien gestolpert. Agamaggan … ein Halbgott voller Urwut.

Andere Wesen waren kleiner, aber ebenso beeindruckend. Rhonin sah eine gefährlich wirkende Vogelfrau, die von Vogelschwärmen umkreist wurde. Ein kleiner roter Fuchs mit gnomenhaften Gesichtszügen lief zwischen den Beinen der Riesen umher. Männer mit Schmetterlingsflügeln, die Schwerter trugen, schwebten neben ihnen.

Ein strahlend weißer Schemen blitzte am Rand von Rhonins Gesichtsfeld auf. Er drehte sich danach um, sah jedoch nichts. Doch in seinen Gedanken tauchte das Bild eines gewaltigen Hirschs auf, dessen Geweih bis in den Himmel reichte.

Die Prozession der Gestalten riss nicht ab. Rhonin sah Männer, die ihre Gesichter unter Kapuzen verbargen und deren Haut aus der Rinde einer Eiche zu bestehen schien. Hippogriffs und Greife flatterten über ihnen, während große Käfer mit menschlichen Gesichtern geduldig in der leichten Brise flogen. Weiter hinten standen Wesen, so fremdartig, dass der Zauberer sie kaum beschreiben konnte, aber jedes einzelne erinnerte ihn an einen bestimmten Aspekt der Natur.

Rhonin spürte die gewaltigen Energien, die ein jedes dieser Beschützer-Wesen umgab. In ihnen vereinten sich die natürlichen Kräfte der Welt.

»Jarod Shadowsong«, brachte der Zauberer schließlich hervor, »darf ich dir die Halbgötter Kalimdors vorstellen? Alle Halbgötter Kalimdors?«

»Wir stehen dir zur Verfügung«, fügte Cenarius hinzu und kniete mit seinen Vorderläufen nieder. Die anderen Halbgötter folgten seinem Beispiel.

Der neue Kommandant der Armee schluckte und rang um Worte.

Rhonin sah sich um. Hinter ihm zeigten die Soldaten, die Tauren, Irdenen und Furbolgs den gleichen staunenden Gesichtsausdruck. Die meisten wussten, dass die Wesen, die vor ihnen standen, uralt und mächtig waren … und nun wussten sie außerdem, dass sie Jarod als ihren Kommandanten anerkannten.

Cenarius erhob sich. Er sah den Nachtelf wie ein gleichberechtigtes Wesen an. »Wir erwarten deine Befehle.«

Der ehemalige Captain straffte sich und antwortete: »Ich danke euch. Eure Stärke ist uns willkommen. Mit etwas Glück wird es uns jetzt gelingen, diesen Kampf zu überleben.«

Der Herr des Waldes nickte. Sein Blick glitt über die sterblichen Kämpfer. Sein bärtiges Gesicht verriet Entschlossenheit. »Ja, du hast Recht, Lord Shadowsong … mit etwas Glück …«

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