Man hatte Tyrande noch nichts zu essen gegeben, trotzdem war sie nicht hungrig. Elune erfüllte sie immer noch mit der goldenen Liebe der Mondgöttin. Das war Nahrung genug. Die Frage war jedoch, wie lange das reichen würde. Die bösartigen Kräfte, die von den Dämonen und Hochgeborenen beschworen wurden, gewannen mit jeder Minute an Stärke. Hinzu kam, dass die Priesterin eine zweite, dunklere Präsenz wahrnahm. Sie war nicht Teil der Brennenden Legion, hielt sich aber in ihrer Nähe auf.
Vielleicht waren solche Gedanken nur Anzeichen eines beginnenden Irrsinns. Trotzdem fragte sich Tyrande, ob die Dämonen möglicherweise ebenso benutzt wurden, wie sie die Königin benutzten.
Jemand machte sich an der Zellentür zu schaffen. Tyrande zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte keine Schritte gehört. Die Person im Gang musste sich lautlos bewegt haben. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch die Wachen in den letzten Minuten auffallend still gewesen waren.
Die Tür öffnete sich. Tyrande fragte sich, wer wohl zu ihr geschlichen kam.
Illidan?
Aber es war nicht Malfurions Bruder, der ins Innere schlüpfte, sondern die Adlige, die als Azsharas oberste Zofe fungierte. Die Nachtelfe betrachtete die Gefangene abschätzig, dann schloss sie lautlos die Tür hinter sich. Durch den Spalt sah Tyrande, dass draußen keine Wachen standen. Waren sie nur außer Sichtweite oder ganz verschwunden?
Die Zofe sah sie an und lächelte. Vielleicht wollte sie Tyrande beruhigen, doch das gelang ihr nicht.
»Ich bin Lady Vashj«, sagte die Besucherin. »Du bist eine Priesterin der Elune.«
»Ich bin Tyrande Whisperwind.«
Vashj nickte geistesabwesend. »Ich bin hier, um dir bei der Flucht zu helfen.«
Tyrande dankte Mutter Mond. Sie hatte Vashj falsch eingeschätzt. Sie war wohl doch keine eifersüchtige Anhängerin der Königin.
Vashj trat so nah wie möglich an sie heran. »Ich habe diesen Talisman gestohlen. Damit kann man die dämonische Aura, die dich festhält, zerstören. Außerdem vermagst du damit der Aufmerksamkeit der Dämonen zu entgehen, so wie ich es getan habe.«
»Ich … bin dankbar. Aber wieso gehst du dieses Risiko ein?«
»Du bist eine Priesterin der Elune«, antwortete die Nachtelfe. »Wie könnte ich anders handeln?«
Vashj zog den Talisman hervor. Er bestand aus einem schwarzen Kreis, in den winzig kleine, groteske Schädel eingearbeitet waren. Aus der Mitte ragte eine zwanzig Zentimeter lange juwelenbesetzte Spitze.
Tyrande spürte die Magie und Bosheit des Gegenstands.
»Sei wachsam«, befahl die Zofe. »Gehorche all meinen Anweisungen, sonst wirst du eine Gefangene der Dämonen bleiben.«
Sie berührte die grüne Aura mit der Spitze des Talismans.
Die Juwelen leuchteten auf. Die kleinen Schädel öffneten ihre Kiefer und zischten.
Die Sphäre wurde in die winzigen Münder gesogen.
Tyrande spürte, wie sich der Zauber, der sie festhielt, auflöste. Sie musste sich noch in der Luft drehen, sonst wäre sie mit dem Gesicht auf die Steine gestürzt. Zusammengekauert landete die Priesterin auf dem Boden. Zu ihrer Überraschung spürte sie trotz der harten Landung keine Schmerzen. Elunes Berührung schützte sie noch immer.
Vashj sah sie frustriert an. Ohne die bindende Aura war das Mondlicht, das Tyrandes Körper umgab, deutlich zu sehen. Die Zofe schüttelte den Kopf.
»Du musst das ändern. Es wird dich verraten, sobald wir die Zelle verlassen.«
Tyrande schloss die Augen und dankte ihrer Göttin für die Hilfe, bat sie aber, diesen Schutz von ihr zu nehmen. Im ersten Moment schien Elune sie jedoch nicht zu erhören, denn der Schutzzauber blieb bestehen.
»Beeil dich«, drängte Lady Vashj.
Tyrande hielt die Augen weiterhin geschlossen. Mutter Mond verstand doch sicherlich, dass das Geschenk, das sie ihrer Dienerin gemacht hatte, diese jetzt gefährdete.
Schließlich löste sich das Mondlicht langsam auf …
… und ein Gefühl akuter Bedrohung hüllte Tyrande ein.
Sie öffnete die Augen und sah, wie Vashj mit dem Talisman auf ihre Kehle zielte, als wäre es ein Dolch. Die Spitze hätte eine tödliche Wunde gerissen, wäre nicht Tyrandes Kampfausbildung, die alle Priesterinnen genossen, gewesen. Sie hob eine Hand und schlug den Talisman zur Seite. Sie fühlte, wie etwas in ihre Haut stach, aber Vashj gelang es nicht, ihr Blut zu vergießen.
Mit ihrer freien Hand versuchte Azsharas Dienerin – deren Gesichtsausdruck so monströs geworden war wie der der Schädel – Tyrande die Augen auszukratzen. Die Priesterin hob ihr Knie und traf Vashj in den Unterleib. Aufstöhnend brach die Nachtelfe zusammen. Der Talisman entglitt ihren Fingern.
Tyrande setzte nach, aber Vashj war ebenfalls schnell. Sie warf sich zur Seite und griff nach dem Talisman. Tyrande versuchte sie zurückzureißen, aber die verräterische Zofe hatte das Objekt ihrer Begierde bereits erreicht.
Sie stieß kehlige, unverständliche Worte hervor und riss den Talisman empor.
Im gleichen Moment hüllte die dämonische Aura Tyrande wieder ein, doch sie spürte, wie Elunes Schutz zurückkehrte.
Bei der Flucht aus der Blase half ihr das natürlich nicht.
Lady Vashj erhob sich und sah ihre Widersacherin verbittert an. »Es wäre besser für dich gewesen, wenn du gestorben wärst. Du wirst niemals ihre Vertraute werden. Das bin ich – und ich werde es auch immer sein!«
»Ich will nicht die Vertraute der Königin werden.«
Doch das schien Vashj nicht zu verstehen. Sie blickte auf den Talisman und fauchte: »Ich dachte, das würde funktionieren, aber ich muss mir etwas anderes überlegen. Vielleicht einige geflüsterte Worte ins Ohr des Lichtes der Lichter, Worte darüber, dass man dir nicht vertrauen kann. Ja, das könnte funktionieren …«
Tyrande versuchte nicht mehr, die Zofe davon zu überzeugen, dass sie keine Dienerin Azsharas werden wollte. Vashj war offensichtlich nicht ganz bei Verstand und würde auf Vernunftsargumente nicht reagieren.
Vashj blickte hektisch zur Tür, als sie draußen Geräusche hörte. »Die Wachen! Sie werden gleich zurück sein. Ich habe sie abgelenkt.« Sie sah wieder zu ihrer Gefangenen und richtete den Talisman auf sie. »Alles muss so sein wie vorher.«
Erneut hoben sich Tyrandes Arme über ihren Kopf. Unsichtbare Fesseln legten sich um ihre Handgelenke und pressten ihre Beine zusammen.
»Ich wünschte, ich wüsste mehr über diesen Gegenstand«, stieß Vashj hervor. »Dann könnte ich dich bestimmt damit töten, aber ohne den richtigen Befehl …«
Die Geräusche kamen näher. Azsharas Dienerin verbarg den Talisman in ihren Gewändern und ging zur Tür. Dann warf sie einen letzten Blick zurück.
»Nie wirst du zu ihr gehören«, zischte sie. Dann verschwand sie im Gang.
Die Wachen kehrten nur Momente später zurück. Einer trat an das vergitterte Loch in der Tür und musterte Tyrande weitaus länger, als nötig gewesen wäre. Sein Gesichtsausdruck wirkte verstört, als habe er sie nicht dort erwartet. Vashj hatte ihren Plan wohl nicht allein ausgeführt.
Tyrande bedauerte die vergebene Chance. Sie hätte wissen müssen, dass man Vashj nicht trauen durfte. Elune hatte sie gelehrt, immer nach dem Guten in anderen zu suchen, aber wenn Tyrande vorsichtiger gewesen wäre, hätte sie die Zofe vielleicht zu überrumpeln vermocht. Dann wäre sie wenigstens keine Gefangene mehr gewesen, sondern hätte versuchen können, sich aus dem Palast zu schleichen.
»Mutter Mond, was soll ich tun?« Sie wusste, dass sich die Göttin nur in sehr begrenztem Maße einmischen konnte. Es war ein Wunder, dass Elune sie überhaupt beschützte.
Tyrande dachte an Malfurion. Der Gedanke an ihn tröstete sie, jagte ihr aber zugleich auch Angst ein. Er würde alles versuchen, um sie zu retten. Über die Gefahr, in die er sich selbst brachte, würde er nicht nachdenken. Sie wusste, dass Malfurion sich notfalls opfern würde, um ihr die Freiheit zu ermöglichen.
Tyrande Whisperwind erkannte mit wachsender Verzweiflung, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte.
Malfurion suchte lange nach einem friedlichen Ort, um mit Cenarius zu sprechen, fand aber nur ein kleines Waldstück. Mit übereinander geschlagenen Beinen setzte sich der Druide auf den Boden und betrachtete die bemitleidenswerten Pflanzen ringsum. Die Brennende Legion hatte diesen Ort zwar noch nicht erreicht, aber ihr Gestank dehnte sich schon so weit aus, dass er auch hier das Leben vergiftete. Die Bäume spürten bereits das Unheil, das sich auf sie zu bewegte und bereiteten sich langsam darauf vor. Die meisten Tiere waren schon geflohen. Jetzt regierte die Stille.
Malfurion versuchte all das zu ignorieren und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf den Halbgott. Er streckte seinen Geist nach Cenarius aus, rief ihn und stellte sich die Gottheit in seinem Geist vor.
Zu seiner Überraschung antwortete der Halbgott sofort. Ein Bild des Waldgotts erschien. Er war gewaltig, viel größer als Nachtelfen, Tauren, Furbolgs oder Dämonen. Auf den ersten Blick sah er Malfurion ein wenig ähnlich, denn sein Gesicht und sein Oberkörper erinnerten an einen Nachtelf, auch wenn er sehniger und gebräunter war. Doch damit endete die Übereinstimmung auch schon. Von der Hüfte abwärts hatte er den Körper eines mächtigen Hirsches. Vier kräftige Beine stützten seinen mehr als drei Meter hohen Leib. Sie verliehen ihm die Schnelligkeit des Windes und eine Wendigkeit, die jedes Tier übertraf.
Cenarius hatte goldfarbene Augen. Moosgrünes Haar fiel bis auf seine Schultern. Darin und in seinem Vollbart wuchsen Zweige und Blätter. Auf seinem Kopf – genau dort, wo auch Malfurions Wülste entstanden waren – trug der Herr des Waldes ein gewaltiges Geweih.
Ich weiß, weshalb du mich gerufen hast, sagte der Halbgott.
Kann ich irgendetwas gegen die Magie des schwarzen Drachen unternehmen?
Er ist listig, trotz seines Wahnsinns, antwortete Cenarius, ohne den Mund zu bewegen. Er war nur eine Vision, die dem Druiden die Konzentration erleichtern sollte, mehr nicht. Der wahre Herr des Waldes war meilenweit entfernt. Doch es gibt einige Dinge, die ich über Drachen weiß. Das vermutet er wahrscheinlich nicht.
Malfurion fragte Cenarius nicht, woher sein Wissen stammte. Er hatte gehört, dass der Halbgott wahrscheinlich ein Kind des grünen Drachens Ysera war, der Herrin der Träume. Ihr Clan bewohnte hauptsächlich den Smaragdtraum.
Es hätte den Nachtelf nicht überrascht, wenn Ysera ihrem Sohn einige streng gehütete Geheimnisse anvertraut hätte.
Es gibt unterschiedliche Wege im Smaragdgrünen Traum, Malfurion, viele, viele Ebenen. Die Herrin der Träume entdeckte sie durch ihre Erfahrung. Der Erdwächter weiß wahrscheinlich nichts davon. Wenn du seine Verteidigung umgehen und seiner Aufmerksamkeit entgehen willst, solltest du einen dieser Pfade benutzen.
Das war eine unerwartete Wendung. Malfurion spürte neue Hoffnung. Wenn ihm das gelang, konnte er vielleicht auf diese Weise in den Palast eindringen.
Doch er musste sich zuerst auf seine aktuelle Aufgabe konzentrieren. Sein Herz sehnte sich zwar danach, Tyrande zu retten, aber das Schicksal seines Volkes – und der Tauren, Irdenen und der anderen – war weitaus wichtiger. Auch sie hätte das so empfunden und gesagt.
Doch das minderte seine Schuldgefühle nicht.
Kann ich rasch lernen, wie das funktioniert?, fragte er den Halbgott.
Ja, natürlich, es ist nur eine Frage der Perspektive … sieh mal …
Er machte eine Geste und rund um die beiden entstand eine idyllische Landschaft. Sie war ohne Makel. Malfurion erkannte Hügel und Täler, die in der Welt der Sterblichen von der Brennenden Legion verwüstet worden war. Im Smaragdtraum war die Welt noch so wie zu Beginn der Schöpfung.
Der Druide sah sich um, aber er bemerkte nur Dinge, die ihm bereits vertraut waren.
Du siehst nur den Höhepunkt, aber selbst Perfektion kennt Unterschiede, enthält Verborgenes. Sieh …
Cenarius beugte sich nach unten. Seine riesige Hand berührte die jungfräuliche Welt. Der Herr der Waldes griff nach dem Boden … und drehte die gesamte Welt einfach um.
Sie verschwand, als er sie losließ. An ihrer Stelle erschien ein primitives Kalimdor, beinahe so wie zuvor, doch mit leichten, erkennbaren Veränderungen. Die Hügel waren an einigen Stellen nicht ganz so hoch, und ein Fluss, den Malfurion kannte, floss nicht durch die gleiche Gegend wie früher. Eine kleine Bergkette erhob sich dort, wo sich früher eine Ebene befunden hatte.
Vor der Schöpfung gab es das Stadium des Wachstums und des Ausprobierens, so wie hier.
Einerseits war dies der Smaragdtraum, andererseits aber auch wieder nicht. Der Druide erkannte sofort, dass dies ein eingeschränkter Ort war, ein Kalimdor, durch das er nicht zu jedem Ort in der sterblichen Welt reisen konnte.
Und doch glaubte Cenarius, dieser Traum könne ihm gegen den schwarzen Drachen helfen.
Der Waldgott zeigte in die Ferne. Durchquere den Traum so wie den anderen, Malfurion, aber bleibe den Rändern fern. Dies ist ein unvollendeter Ort, und wer aus ihm heraus fällt, landet im Nichts. Ich spreche aus schrecklicher Erfahrung.
Cenarius verriet nicht mehr, aber die Bedeutung seiner Worte war klar genug. Wenn Malfurion vom Weg abkommen sollte, würde keine Rettung möglich sein.
Trotz dieses erschütternden Wissens war der Druide entschlossen, es zu wagen. Wie kann ich zurückkehren?
So wie immer. Suche den Weg zurück zu deinem Körper. Du wirst den richtigen Pfad erkennen.
Es war alles so einfach – wenn man über Malfurions Ausbildung verfügte. Cenarius’ Abbild begann zu verblassen, aber der Druide hielt ihn auf.
Die anderen, sagte er und bezog sich dabei auf die restlichen Halbgötter. Konntest du sie überzeugen?
Aviana hat mich unterstützt. Die Würfel sind gefallen. Wir müssen nur noch über den richtigen Weg entscheiden.
Malfurion gelang es nur schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte die Halbgötter ersucht, auf Seiten der Nachtelfen in den schrecklichen Krieg einzugreifen. Cenarius schien es zwar gelungen zu sein, die anderen davon zu überzeugen, aber jetzt mussten sie erst einmal über die Angelegenheit diskutieren. Bei solchen Wesen konnte sich eine Diskussion jedoch über eine lange Zeit erstrecken. Bis dahin war Kalimdor vielleicht schon längst vernichtet.
Sorge dich nicht, Malfurion, sagte der Herr des Waldes mit wissendem Lächeln. Ich werde dafür sorgen, dass sie sich beeilen.
Der Druide hatte seine innersten Gedanken enthüllt, ein Anfängerfehler. Vergebt mir, ich wollte nicht respektlos erscheinen. Ich …
Cenarius löste sich bereits auf, schüttelte aber noch einmal den Kopf. Er zeigte mit einem Finger aus verkrümmtem Holz auf den Druiden. Es ist keine Respektlosigkeit, wenn man die zur Eile mahnt, die ihre Pflichten vernachlässigen.
Mit diesen Worten verschwand der Hirschgott.
Der Druide hatte eigentlich sofort zu seinem Körper zurückkehren wollen, um den anderen von seiner Begegnung zu erzählen. Aber die unvollendete Landschaft lag einladend vor ihm. Malfurion fragte sich, ob es ihm nicht schwerfallen würde, die urzeitliche Landschaft Kalimdors wiederzufinden, wenn er sie jetzt verließ, um in die Welt der Sterblichen zurückzukehren.
Er konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und sprang. Das diesige grünliche Licht durchdrang die gesamte Landschaft, genau wie auf dem Pfad, den er normalerweise beschritt. Offen gesagt bemerkte Malfurion, abgesehen von einigen landschaftlichen Abweichungen, keine Veränderungen zwischen den beiden Ebenen.
Malfurion flog über Hügel, Täler und Ebenen. Krasus hatte ihm die Richtung verraten, in der er die Drachen wahrscheinlich finden würde. Sicherlich würde der Erdwächter sich nicht in unmittelbarer Nähe der anderen verbergen, aber Krasus hatte ihm versichert, dass das uralte Volk Angewohnheiten nur schwer ablegte. Wenn der Druide seine Jagd in der Nähe der Drachenwohnstätten begann, würde er früher oder später wahrscheinlich fündig werden.
Unter ihm wurde das Land bergiger, doch die Gipfel waren nicht so perfekt geformt wie bei seinen anderen Reisen im Smaragdtraum. Aber auch nicht so verwittert wie in der Welt der Sterblichen. Statt dessen waren sie, wie Cenarius angedeutet hatte, unfertig. Bei einem fehlte sogar die Nordseite; der Boden und der Fels wirkten, als seien sie von einem gewaltigen Messer abgetrennt worden. Malfurion sah Erzschichten und Höhlen im Inneren. Ein anderer Gipfel wies eine seltsame Krone auf, die wirkte, als habe jemand angefangen, sie aus Ton zu formen, dann aber das Interesse verloren.
Der Druide nahm den Blick von diesen faszinierenden Einzelheiten und konzentrierte sich auf die gesamte Gegend. Er hatte das Land der Drachen erreicht. Jetzt musste er nur noch Neltharions Spur finden.
Malfurion setzte dieselben Kräfte ein wie auf der anderen Ebene, um nach dem Drachen zu suchen. Er entdeckte andere Spuren, die er als Yseras und möglicherweise Alexstraszas identifizierte. Es gab schwächere Fährten, die Malfurion von den weniger großen Drachen verursacht glaubte und die ihn daher nicht interessierten.
Der Druide bewegte sich langsam und suchte alle Richtungen ab. Nach jedem Fehlschlag fragte er sich, ob Neltharion vielleicht doch nicht so naiv gewesen war, wie Cenarius es vermutet hatte. In diesem Fall würde Malfurion auch nach einer Ewigkeit keine Spur von ihm finden.
Er hielt abrupt an. Eine Fährte, die er im ersten Moment einem niederen Drachen zugeordnet hatte, erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Sie kam ihm vertraut vor, was eigentlich unmöglich war. Malfurion konzentrierte sich darauf …
Die schützende Fassade brach beinahe augenblicklich in sich zusammen. Neltharions Spur leuchtete dem Druiden entgegen. Die Zauber, die den Erdwächter in der sterblichen Welt und im Smaragdtraum vor allen verborgen hätten, waren hier lächerlich schwach. Malfurion achtete sorgfältig darauf, sich nicht zu sicher zu fühlen. Den schwarzen Drachen zu finden, war eine Sache, sich seiner Aufmerksamkeit auf allen Ebenen zu entziehen, eine ganz andere. Der wahnsinnige Neltharion litt unter extremem Verfolgungswahn, der sogar seine höheren Sinne durchsetzte. Der Druide durfte sich keinen auch noch so winzigen Fehler erlauben.
Malfurion folgte der Spur mit der allergrößten Vorsicht. Sie führte ihn in eine Gegend, in der die Landschaft vager und verschwommener wurde. Der Druide dachte an Cenarius’ Warnung und wurde langsamer.
Der schwarze Drache war nahe. Malfurion spürte ihn dort, wo die Berge verschwammen. Er fühlte aber auch etwas anderes, einen schwachen Gestank, der die Gegend erfüllte und weitaus älter als alles andere zu sein schien. Er erinnerte den Druiden an das, was er im Inneren der Dämonenseele empfunden hatte. Doch darin hatte er den Gestank dank der anderen Eindrücke kaum wahrgenommen.
Was war das nur?
Malfurion schob den Gedanken beiseite. Er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Die Landschaft erbebte – und plötzlich betrat seine Traumgestalt die Welt der Sterblichen.
Die gewaltige Höhle, in der er stand, schien aus einem Alptraum entsprungen zu sein. Giftig aussehende Wolken aus grün-grauem Gas hingen über den Lavagruben im Felsboden. Die Lava blubberte und zischte. Ab und zu kochte sie über und schwappte gegen den geschwärzten Stein. Die vulkanische Aktivität sorgte für ein rötliches Licht, das lange tanzende Schatten über die Wände warf. Die Höhle war das passende Versteck für jemanden, der so viele mitleidlos ermordet hatte.
Malfurion bemerkte neben dem Blubbern und Zischen noch ein anderes Geräusch im Hintergrund. Je stärker er sich darauf konzentrierte, desto deutlicher hörte der Druide Hammerschläge und andere Arbeitsgeräusche. Hohe nörgelnde Stimmen mischten sich dazwischen.
Malfurion wurde neugierig. In seiner Traumgestalt flog er durch den meterdicken Fels. Die Geräusche hallten durch den Berg. Sie wurden immer lauter, schienen zu einer gewaltigen Schmiede im Berginneren zu gehören.
Die Felsen verschwanden und offenbarten Malfurion eine Höhle, gegen die die Lavagruben fast anheimelnd wirkten.
Goblins. Die kleinen Gestalten liefen überall umher. Einige arbeiteten an großen Becken und Öfen. Sie schütteten dampfendes flüssiges Metall in gewaltige rechteckige Formen. Andere schlugen mit Hämmern auf heiße Platten ein, die wie Teile der Rüstung eines Riesen wirkten. Weitere Goblins glätteten Metall. Während der Arbeit redeten sie aufgeregt miteinander. Egal, wohin Malfurion auch blickte, überall arbeiteten Goblins an den unterschiedlichsten Projekten. Ein paar hasteten in schmutzigen Lederschürzen durch die Höhle und koordinierten die Arbeiten. Gelegentlich trieben sie einen besonders faulen Goblins durch einen Schlag auf dessen grünen, mit spitzen Ohren versehenen Kopf an.
Malfurion war klar, dass diese Goblins nichts Gutes im Schilde führten. Neugierig schwebte er näher, konnte aber trotzdem nicht erkennen, was die kleinen Wesen hier trieben.
»Meklo!«, donnerte plötzlich eine Stimme durch die Höhle. »Komm her!«
Der Druide erstarrte. Für einen Moment überkam ihn Panik.
Er kannte diese Stimme wie jeder, der den ersten Angriff der Dämonenseele überlebt hatte.
Nur einen Augenblick später trat der schwarze Drache aus einem Gang.
Malfurion versteckte sich rasch hinter einem Ofen. Er hätte zwar eigentlich auch für Neltharion unsichtbar sein sollen, aber frühere Begegnungen hatten gezeigt, dass die wahnsinnige Bestie ihn manchmal doch wahrnehmen konnte. Durch den Pfad, den Cenarius dem Druiden gezeigt hatte, war Malfurion zwar an den Verteidigungszaubern Neltharions vorbei gekommen. Doch um das Artefakt zu finden, musste er unglücklicherweise in der Nähe der sterblichen Welt weilen.
Die Goblins arbeiteten nach kurzem Zögern weiter, redeten jetzt jedoch kaum noch miteinander. Neltharion sah sich um, suchte offenbar diesen »Meklo«, nach dem er gebrüllt hatte.
Der Drache sah hier noch furchtbarer aus als während des Kampfes. Sein Körper hatte sich verformt und aufgebläht, und in seinen Augen lag mehr Wahnsinn als je zuvor. Die Risse in seinem Fleisch waren noch größer geworden. Feuer und Lava drangen aus den riesigen Wunden. Neltharions Körper schien auseinander gerissen zu werden.
Doch die furchtbare Verwandlung des schwarzen Drachens geriet zur Nebensache, als Malfurion sah, was der Riese in einer seiner Klauen hielt.
Die Dämonenseele!
Malfurion wäre am liebsten zu dem Drachen geflogen und hätte ihm die goldene Scheibe entrissen – aber das wäre ebenso unmöglich wie selbstmörderisch gewesen. Momentan konnte er nur beobachten und abwarten.
»Meklo!«, brüllte Neltharion. Sein Schwanz schlug heftig auf den Felsboden. Einige Goblins sprangen erschrocken zur Seite.
Nur einen schien das nicht zu beeindrucken, einen älteren, spindeldürren Goblin mit grauem Haar und einem abwesenden Gesichtsausdruck. Er ging an Malfurions Versteck vorbei. Der Druide hörte ihn irgendwelche Maße und Berechnungen murmeln. Der Goblin wäre beinahe mit Neltharions gesenktem Haupt zusammen gestoßen, sah dann aber doch zu seinem Herrn auf.
»Was ist denn, Milord Neltharion?«
»Meklo! Mein Körper schreit! Er kann meinen Glanz nicht mehr länger allein zurückhalten. Wann wirst du fertig sein?«
»Ich muss jeden Aspekt Eurer Bedürfnisse berechnen, kalibrieren und konstruieren. Dabei muss man sehr vorsichtig sein, sonst werden wir noch mehr Unglück über Euch bringen.«
Die Schnauze des Drachen stieß Meklo so heftig an, dass der Gnom beinahe umgefallen wäre. »Ich will, dass du damit fertig bist! Und zwar jetzt!«
»Wenn es denn sein muss.« Meklo verließ Neltharions Beißreichweite. »Ich sehe mir die neueste Platte an und …« Der Goblin starrte die Klaue des Drachen an. »Aber Milord! Ich hatte Euch doch gewarnt, dass die Scheibe Euren Zustand verschlechtert, wenn Ihr sie festhaltet. Ihr müsst sie irgendwohin bringen, bis wir Euch geholfen haben.«
»Niemals! Ich werde sie niemals zurücklassen!«
Meklo ließ sich nicht einschüchtern. »Milord, wenn Ihr sie nicht beiseite legt, werdet Ihr verbrennen. Dann kann sich jeder die Scheibe aus eurer Asche graben.«
Seine Worte fanden endlich Gehör. Neltharion knurrte, dann nickte er zögerlich. »Also gut … aber ich hoffe für dich, dass die Platten fertig sind, sonst gönne ich mir einen kleinen Imbiss.«
Meklos Kopf wackelte hin und her. »Natürlich, Milord«, stieß er hastig hervor, dann riskierte er einen weiteren Wutanfall. »Vergesst nicht, dass die Scheibe in der sterblichen Welt bleiben muss. Ihr Einsatz hat unsere Zauber stärker beeinträchtigt, als wir es gedacht hätten. Die neuen Zauber werden noch einige Tage brauchen, bis sie sich mit der körperlichen Hülle verbunden haben und wir sicher sein können, dass so etwas nicht noch einmal passiert.«
»Ich verstehe … ich verstehe.« Der schwarze Drache zischte wütend, dann ging er zurück in den Gang.
Malfurion spannte sich an. Der Leviathan wollte die Dämonenseele irgendwo verstecken. Das war die Gelegenheit, auf die der Druide gewartet hatte.
Malfurion beachtete die Goblins nicht, während er dem Erdwächter langsam folgte. Dessen gewaltiger Körper füllte den Stollen so vollständig aus, dass der Druide nicht erkennen konnte, was vor ihm lag. Um mehr zu sehen, hätte er durch den Drachen hindurch fliegen müssen, doch dieses Risiko war viel zu groß. Er musste sich in Geduld üben.
Im langen Labyrinth der Gänge wurde diese Geduld jedoch auf eine harte Probe gestellt. Der Geruch nach etwas uraltem Bösen wurde stärker, je länger sie in den Berg hinein gingen. Neltharion bewegte sich in Regionen, vor denen andere zurückgeschreckt würden. Nur einmal begegnete der Erdwächter einem Drachen aus seinem Clan, der allerdings wesentlich kleiner war und sich ängstlich vor seinem Herrn verneigte. Abgesehen von dieser Begegnung sah Malfurion keine Lebensform, nicht einmal einen Wurm. Der Erdwächter ging kein Risiko ein. Er war von der Dämonenseele so besessen, dass er selbst seinem eigenen Clan nicht mehr vertraute. Wenn man die Macht bedachte, die sie ihrem Träger verlieh, war das nicht überraschend.
Malfurion schwebte näher heran, bis er über dem Schwanz des Drachen hing. Er wünschte, der Leviathan hätte sich beeilt.
Der Riese stoppte plötzlich und sah über seine Schulter. Malfurion flog instinktiv in die nächstbeste Wand und verbarg sich im Fels. Er wartete einige Sekunden, dann streckte er vorsichtig den Kopf heraus.
Neltharion setzte seinen Weg bereits wieder fort. Der Druide verfluchte seine Überreaktion und folgte ihm.
Er hatte den Erdwächter gerade erreicht, als der in eine schmale Höhle abbog. Neltharion passte nur knapp hinein. Seine Schultern kratzten über die Wände.
»Hier …«, murmelte er. Offenbar sprach er mit seiner Schöpfung. »Hier wirst du sicher sein.«
Das Gefühl einer Bedrohung nahm stetig zu, aber Malfurion widersetzte sich seinem Fluchtinstinkt. Er musste herausfinden, wo und wie der Drache die Dämonenseele versteckte.
Vorsichtig griff Neltharion nach einem kleinen vorstehenden Sims und zog daran. Im nächsten Moment blitzte es auf- und hinter dem Stein, den er herausgenommen hatte, gähnte ein gewaltiges Loch. Ein Wesen, das so groß wie der Drache sein musste, hatte sich hier einst in den Fels gegraben.
Neltharion betrachtete die Dämonenseele, dann legte er sie zögernd, fast zärtlich in das Loch. Danach schob er den Fels wieder davor.
Es blitzte ein zweites Mal, und das Loch war verschwunden. Malfurion hätte es nicht einmal bemerkt, wenn er unmittelbar vor dem magischen Fels geschwebt hätte, so perfekt war die Tarnung.
Noch bemerkenswerter war jedoch, dass Malfurion die Scheibe und ihre dunklen Energien auch nicht mehr spürte.
Der Drache konnte die Scheibe zwar nicht außerhalb der sterblichen Welt verbergen, aber sein Versteck war fast ebenso perfekt.
Neltharion zögerte. Sein Blick richtete sich auf den Fels, hinter dem die Dämonenseele ruhte. Er hob eine Klaue und schien die Tarnung berühren zu wollen.
Frustriert zischend wandte er sich dann aber um, ließ den Arm sinken und stampfte aus der Höhle.
Der Druide verbarg sich im Stein, bis er sicher war, dass Neltharion weit genug weg war. Sekunden vergingen so langsam wie Stunden. Schließlich entschied der Nachtelf, dass es jetzt sicher war und schob den Kopf aus dem Stein. Die Höhle war leer. Malfurion schwebte auf das Versteck der Dämonenseele zu.
Sogar unmittelbar vor der Abdeckung spürte er nichts. Obwohl er diesen verfluchten Ort am liebsten sofort verlassen hätte, beschloss Malfurion, einen Blick auf die Scheibe zu werfen. Er wollte sichergehen, dass er alles über das Versteck wusste. Krasus würde ihm einige Fragen stellen.
Er beugte sich vor. Seine Traumgestalt glitt in Neltharions getarntes Versteck.
Ein furchtbarer Schrei hallte durch die Höhle.
Malfurion vergaß jeden Gedanken an die Dämonenseele. Er warf sich tief in die Wände hinein und flog einige Meter, bevor er es wagte, innezuhalten.
Er fühlte eine gewaltige, eine intensive Macht. Sie durchsuchte die Umgebung nach etwas, das nicht dorthin gehörte. Malfurion spürte, dass sie vom schwarzen Drachen ausging.
Neltharion musste gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Allerdings war seine Suche unkoordiniert und breit gefächert, so als wisse er nicht, wonach er Ausschau hielt. Der Druide blieb erstarrt stehen, unschlüssig, ob er fliehen oder besser im Fels bleiben sollte.
Die magische Suche kam näher, verfehlte den Nachtelf jedoch. Malfurion entspannte sich, doch da tastete der Drache auch schon nach ihm.
Der Druide zog sich augenblicklich weiter zurück. Neltharion griff ins Leere. Der Drache hatte ihn erneut verfehlt.
Doch der Nachtelf wollte kein weiteres Risiko eingehen. Er wusste nun, wo sich die Scheibe befand. Der Erdwächter war zwar misstrauisch, ahnte aber wahrscheinlich nicht, dass ihm jemand gefolgt war.
Malfurion zog sich aus der Höhle und den Bergen zurück. Er suchte nach der unvollendeten Welt im Smaragdtraum. Erst als er sie betreten hatte, fühlte er sich einigermaßen sicher.
Dieses Gefühl verschwand jedoch, als er die übermächtige Präsenz Neltharions spürte.
Der Drache kannte die Ebenen des Traumreichs.
Der Nachtelf konzentrierte sich verzweifelt und zwang sich, an seinen sterblichen Körper zu denken. Er stellte sich vor, wie er in ihn zurückkehrte, während der Erdwächter bereits nach ihm griff …
Er glaubte schon, in die Klauen des wahnsinnigen Drachen geraten zu sein, als er endlich erwachte.
»Er zittert«, stieß Rhonin zur Linken des Nachtelfs hervor. »Und er ist schweißnass.«
»Malfurion!« Krasus’ Gesicht tauchte vor dem Druiden auf. »Was fehlt dir? Rede.«
»Ich … mir geht es gut.« Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen. »Neltharion … er hätte mich beinahe bemerkt, aber ich konnte ihm entkommen.«
»Du hast bereits nach ihm gesucht? Das solltest du nicht!«
»Die Gelegenheit … ergab sich …«
»Jetzt ist er gewarnt«, murmelte Rhonin.
»Vielleicht auch nicht«, antwortete der ehemalige Lehrer des Zauberers. »Wahrscheinlich wird er die Störung den vielen Schatten zuschreiben, die er um sich herum sieht.« An Malfurion gewandt fragte der Magier: »Hast du die Dämonenseele gefunden?«
»Ja, ich weiß, wo … sie ist«, erklärte der Druide mühsam. Er sah Neltharion noch vor sich. Das verzerrte Drachengesicht jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Aber ich glaube nicht, dass wir sie ihm abnehmen können.«
»Aber das müssen wir«, sagte Krasus ruhig. »Das müssen wir … ganz gleich, welchen Preis wir dafür zahlen.«