12

Als Malfurion aus der Bewusstlosigkeit erwachte, tobten starke Schmerzen durch seinen Körper. Beinahe wäre sein Geist zurück in die Dunkelheit gerutscht, doch ein Gefühl von Dringlichkeit hielt ihn davon ab. Langsam begann der Druide, Geräusche wahrzunehmen, beziehungsweise das Fehlen von solchen.

Er öffnete die Augen und blickte in die weichen Schatten der Nacht. Malfurion war froh, dass ihn das Tageslicht nicht blendete. Vorsichtig setzte er sich auf und sah sich um.

Erschrocken stieß er die Luft aus.

Einige Schritte entfernt lag Korialstrasz reglos in einem Krater, den er wahrscheinlich durch den Aufprall selbst geschaffen hatte.

»Er … lebt«, sagte eine verschmutzte Gestalt, die sich aus den Schatten erhob. »Das … das kann ich dir versichern.«

»Krasus?«

Der Magier taumelte ihm entgegen. Er wirkte blasser und hagerer als jemals zuvor. »Nicht gerade die Um … Umstände, die ich mir für unser Wiedersehen … gewünscht hätte.«

Malfurion ergriff den Arm des Drachenmagiers und führte ihn zu einem abgeflachten Stein, auf den er sich setzen konnte.

»Was ist passiert? Wieso bist du hier?«

Krasus holte tief Luft, dann berichtete er von der Verfolgungsjagd des schwarzen Drachens und wie er versucht hatte, Zeit für den Nachtelf und den Orc zu gewinnen. Während er redete, schien ein Großteil seiner Stärke zurückzukehren. Der Nachtelf nahm an, dass dies mit den Gaben seines Volkes zusammenhing.

Doch dann erinnerte sich Malfurion an einen weiteren Gefährten. »Brox«, stieß er hervor und sah sich um. »Ist er …«

»Der Orc lebt. Ich glaube, seine Haut und sein Schädel sind härter als die eines Drachen. Er kam zu mir, als ich das Bewusstsein wiedererlangte. Ich glaube, er sucht gerade nach Nahrung und Wasser. Unsere Vorräte wurden bei dem Absturz ja vernichtet.« Krasus schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr: »Wir können uns auch bei Korialstrasz für unsere relativ gute Gesundheit bedanken. Er hat getan, was er konnte, um uns zu schützen, inklusive eines hastig gewobenen Zaubers. An sich selbst hat er nicht gedacht.« Der Magier sagte dies voller Stolz.

»Soll ich versuchen, ihn zu heilen, so wie damals?«

»Nein … damals konntest du deine Stärke aus einem gesunden Land ziehen. Hier würdest du zu viel von deiner eigenen Kraft verlieren. Er würde das nicht wollen. Außerdem gibt es einen anderen Weg.«

Krasus ging jedoch nicht näher darauf ein, sondern sagte statt dessen: »Korialstrasz und ich fanden einander – beziehungsweise, er fand mich, als ich mich nach einer sehr knappen Flucht vor dem Schwarzen ausruhte. Er hatte einen von Deathwings Wächtern getötet und zu Recht befürchtet, dass unser Plan, die Scheibe zu stehlen, schiefgegangen ist.«

Krasus war auf Korialstrasz’ Rücken gestiegen. Gemeinsam hatten sie einen Umweg gewählt, um Deathwing und seinen anderen Wächtern zu entgehen. Dann waren sie den magischen Spuren gefolgt, die die Dämonenseele hinterließ. Leider hatten sie ihre Gefährten erst gefunden, nachdem sie gefangen genommen worden waren und die Scheibe verloren hatten.

»Das war dein Bruder, nicht wahr, Malfurion?«

Der Druide ließ den Kopf hängen. »Ja. Er … ich weiß nicht, was ich sagen soll, Krasus.«

»Illidan wurde von ihnen korrumpiert«, sagte der Magier deutlich. »Das solltest du niemals vergessen.« Etwas in seinem Tonfall deutete daraufhin, dass er mehr über Malfurions Zwilling wusste. Doch er ließ sich nicht mehr entlocken.

»Was machen wir jetzt? Holen wir uns die Dämonenseele?«

»Ich sehe keine andere Möglichkeit. Aber zuerst musst du mir erzählen, was vor meiner Ankunft geschehen ist.«

Malfurion nickte und berichtete alles über ihre Gefangennahme, über die Entwendung der Scheibe und die anstrengende Reise. Jedes Mal, wenn er Illidans Namen erwähnen musste, erstickte er beinahe daran.

Krasus hörte mit steinerner Miene zu, als der Nachtelf darlegte, zu welchem Zweck der Palast die Dämonenseele einsetzen wollte. Erst als er seine Geschichte beendet hatte, antwortete der Magier.

»Ihre Pläne sind noch finsterer, als ich befürchtet hatte«, murmelte er halb an sich selbst gewandt. »Und doch liegt darin auch ein wenig Hoffnung …«

»Hoffnung?« Malfurion sah nichts Hoffnungsvolles in den Dingen, die er seinem Gegenüber erzählt hatte.

»Ja.« Krasus erhob sich und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. »Wenn wir sie nur dazu bringen könnten, zuzuhören

»Wen?«

»Die Aspekte.«

Der Nachtelf schüttelte energisch den Kopf. »Aber das können wir nicht. Sie haben sich ja sogar von dir zurückgezogen. Wenn Korialstrasz bei Bewusstsein wäre, könnten wir …«

»Ja«, unterbrach ihn der Drachenmagier. »Und Korialstrasz wird uns vielleicht eine Hilfe bei diesem Unterfangen sein … vorausgesetzt ich kenne die Herrin des Lebens wirklich so gut, wie ich glaube.«

Seine Worte ergaben keinen Sinn, aber daran hatte sich Malfurion bereits gewöhnt. Wenn Krasus etwas plante, würde ihn der Nachtelf mit all seiner Kraft dabei unterstützen.

Das Knirschen loser Steine kündigte Brox’ Rückkehr an. Leider brachte der Orc nichts mit.

»Kein Bach, keine Pfütze, keine Nahrung, noch nicht mal Insekten«, meldete der Krieger. »Ich habe versagt, Weiser.«

»Du hast getan, was du konntest, Brox. Auch weit entfernt von Deathwings Nest ist dies noch ein ödes Land.«

Malfurion spannte sich an, als er den Namen des schwarzen Drachen hörte. »Glaubst du, dass er uns weiter verfolgen wird?«

»Es würde mich überraschen, wenn er es nicht täte. Wir müssen etwas versuchen, bevor das geschieht.« Krasus blickte über seine Schulter auf den reglosen Korialstrasz. »Zum Glück hat dieser Captain Varo’then die Scheibe allzu hastig eingesetzt, sonst wäre von uns nur Asche geblieben. Korialstrasz kann sich erholen, das weiß ich, aber wir müssen den ersten Kontakt aufnehmen. Und wenn ich wir sage, meine ich dich, Nachtelf.«

»Mich?«

Krasus’ Augen verengten sich. Malfurion war noch nie aufgefallen, wie reptilienhaft sie waren. »Ja, du musst den Smaragdgrünen Traum betreten und Ysera, seine Herrscherin, finden.«

»Aber das haben wir doch schon versucht, als die Drachen von der Dämonenseele vertrieben wurden. Sie hat eine Antwort verweigert.«

»Dann wirst du ihr dieses Mal sagen, dass Alexstrasza erfahren muss, dass Korialstrasz im Sterben liegt.«

Entsetzt betrachtete Malfurion den gewaltigen Körper, aber Krasus schüttelte nur den Kopf. »Nein. Vertraue mir. Ich hätte größere Angst davor als alle anderen. Bring diese Nachricht Ysera. Sie wird die Herrin des Lebens in jedem Fall davon unterrichten.«

»Du verlangst, dass ich die Herrscherin der Traumwelt belüge

»Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Der Druide dachte darüber nach und begriff, dass sein Begleiter Recht hatte. Eine solche Schreckensmeldung würde die Aufmerksamkeit der Aspekte erregen. Sie würden Malfurion glauben, denn niemand wäre ein solcher Narr, ihren Zorn wegen eines Lügenmärchens auf sich zu ziehen.

Es blieb nur die Frage, was die Drachen mit ihm tun würden, wenn sie herausfanden, dass er eben doch so närrisch war.

Doch darüber durfte Malfurion nicht nachdenken. Er vertraute Krasus. »Ich werde es tun.«

»Ich werde versuchen, auf dich aufzupassen. Brox, du wirst uns beide beschützen, sollte es nötig sein.«

Der Orc verneigte sich. »Ich fühle mich geehrt.«

Malfurion setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf den Boden und vertrieb alle störenden Gedanken aus seinem Geist. Dann verdrängte er die Schmerzen seines Körpers. Als sie nachließen, begann er sich auf das mystische Reich zu konzentrieren.

Trotz seiner Erschöpfung fiel es dem Nachtelf so leicht wie nie zuvor, den Smaragdgrünen Traum zu betreten. Ein wenig verstörend war nur die Wärme, die er in den beiden kleinen Beulen auf seiner Stirn spürte. Malfurion hätte sie am liebsten berührt, weil er wissen wollte, ob sie größer geworden waren, aber er hielt sich zurück. Die Suche nach Ysera war wichtiger.

Im ersten Moment wollte er die Landschaft nach ihr durchsuchen, doch dann dachte er daran, wer sie war. Theoretisch musste er sie einfach nur rufen. Ob sie darauf reagierte, war eine ganz andere Frage.

Herrscherin des Smaragdtraums, rief Malfurion in seinem Geist. Herrin der Träume … Ysera …

Der Druide spürte keine andere Präsenz, wusste jedoch, dass er es weiter versuchen musste. Sie war irgendwo in diesem Traum … oder überall. Ysera würde ihn hören.

Ysera, ich habe schlimme Neuigkeiten für die Herrin des Lebens … ihr Gefährte Korialstrasz liegt im Sterben … Malfurion stellte sich die Szene in seinem Geist vor, wollte vermitteln, wo genau sich der Drache befand. Korialstrasz wird sterben …

Er wartete. Die Herrin der Träume musste einfach darauf reagieren. Sie würde eine solche Tragödie doch wohl nicht ignorieren.

Die Zeit verging auf seltsame Weise im Smaragdgrünen Traum, doch auch hier verging sie. Malfurion wartete lange, aber er spürte die grüne Drachenherrscherin nicht.

Schließlich begann er zu ahnen, dass es hoffnungslos war. Frustriert über diesen Fehlschlag kehrte er in seinen Körper zurück.

Krasus sah ihn nervös an. »Hat sie reagiert?«

»Nein … nichts.«

Der Magier blickte mit gerunzelter Stirn zur Seite. »Aber sie hätte reagieren müssen«, murmelte er. »Sie weiß, was das für Alexstrasza bedeuten würde.«

»Ich habe getan, was du verlangtest«, erklärte der Druide. Er wollte nicht, dass Krasus glaubte, es sei sein Fehler. »Ich habe alles so gesagt, wie du es vorgeschlagen hast.«

Der Magier legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich, Malfurion. Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Es ist …«

»Drache!«

Brox’ Warnschrei kam nur Sekundenbruchteile, bevor der riesige Körper durch die Wolkendecke brach. Malfurion konzentrierte sich auf diese Wolken, hoffte, dass er auf ihre Hilfe im Kampf gegen den Angreifer bauen konnte.

Aber es war nicht der schwarze Drache, der sich ihnen näherte, sondern ein Drache, der Krasus in herzhaftes Lachen ausbrechen ließ. Der Nachtelf und der Orc sahen ihren älteren Begleiter besorgt an.

»Sie ist es! Ich hätte wissen müssen, dass sie solch schrecklichen Gerüchten selbst nachgehen würde.«

Ein roter Drache, so groß wie Deathwing, schwebte über der Landschaft. Malfurion betrachtete ihn und bemerkte einige Besonderheiten, die ihm bekannt vorkamen. Er hatte diesen Drachen schon einmal gesehen.

Alexstrasza, der Aspekt des Lebens, landete elegant neben Korialstrasz’ Körper. Trotz ihrer reptilienhaften Mimik erkannte Malfurion, wie besorgt und ängstlich sie war.

»Er darf nicht tot sein«, stieß sie hervor. »Das lasse ich nicht zu!«

Krasus ging auf den reglosen Drachen zu und zeigte sich seiner Herrin. »Das braucht Ihr auch nicht, meine Königin, denn wie Ihr seht, lebt er.«

Ihre Trauer verwandelte sich in Verwirrung, dann in Wut. Alexstrasza neigte ihren Kopf dem winzigen Magier entgegen, bis ihre Schnauze keine Armlänge von ihm entfernt war.

»Gerade du solltest wissen, wie furchtbar diese List war. Ich dachte, du … er …«

»Die Dämonenseele hat sich große Mühe gegeben, das zu erreichen«, antwortete der Magier. »Wäre ihr augenblicklicher Besitzer in ihrer Handhabung geübt, lägen jetzt vier Tote vor Euch.«

»Du kannst das später erklären«, zischte die Drachenkönigin. »Zuerst muss ich mich um ihn kümmern.«

Sie beugte sich über Korialstrasz und breitete ihre Flügel aus, als wolle sie ihn umarmen. Ein goldenes Leuchten umgab sie und dehnte sich wenig später auf Korialstrasz aus. Malfurion spürte eine angenehme Wärme, die seine Gedanken beruhigte. Ihm fiel auf, dass Alexstrasza ein wichtigerer Teil des Ganzen war als Ysera. Druiden arbeiteten mit den Kräften der Natur, und niemand repräsentierte diese besser als die Herrin des Lebens.

»Er hat so sehr gelitten«, sagte sie sanft. »Die Dämonenseele hat ihm großes Leid zugefügt, aber er wird sich vollständig davon erholen … wenn er dazu die Gelegenheit bekommt.«

Die goldene Aura wurde schwächer. Alexstrasza hob ihren riesigen Kopf dem Himmel entgegen und stieß einen lauten Schrei aus.

Wie aus dem Nichts brachen zwei weitere rote Drachen durch die Wolken. Sie kreisten einmal um Korialstrasz, dann landeten sie neben ihm. Sie waren so groß wie er, aber deutlich kleiner als ihre Königin.

»Was befehlt Ihr, meine Königin?«

»Bringt ihn zurück ins Nest und legt ihn in die Grotte der Schattenrose. Dort werden sein Geist und sein Körper schneller genesen. Seid sanft zu ihm, Tyran.«

Der Größere der beiden Drachen neigte respektvoll den Kopf. »Natürlich, meine Königin.«

»Er wird unter einigen Erinnerungslücken leiden«, unterbrach Krasus das Gespräch. Er schien sich in der Gesellschaft der Drachen wohlzufühlen. Malfurion musste sich ins Gedächtnis rufen, dass das nicht verwunderlich war, da er ja selbst zu den Drachen gehörte. »Diese Erinnerungen wird er nie zurück bekommen«, fügte der Magier hinzu.

»Das ist vielleicht gut so«, antwortete Alexstrasza und sah die winzige Gestalt voller Zuneigung an.

»Das denke ich auch.«

Krasus trat zurück, als die beiden Drachen – wahrscheinlich Alexstraszas andere Gefährten – Korialstrasz vorsichtig hochhoben. Der Aspekt wandte sich währenddessen dem Magier zu. Außer Zuneigung las Malfurion jetzt auch Ärger im Gesicht der Königin.

»Das war keine sonderlich nette Lüge, die du mir aufgetischt hast! Ysera hat mir sofort Bescheid gesagt, und obwohl ich es eigentlich nicht wollte, musste ich der Sache natürlich nachgehen … genau wie du es vorausgesehen hast.«

»Wenn ich Euch verärgert haben sollte«, antwortete Krasus mit einer tiefen Verbeugung, »akzeptiere ich Eure Verärgerung und Eure Strafe.«

Der große Drache zischte. »Du hast mich hierher gebracht, um mir davon zu berichten, in welche Hände die Dämonenseele gefallen ist. Also sag mir, was sich hier abgespielt hat.«

Der Magier erzählte seine Geschichte. Alexstraszas Gesichtsausdruck wechselte mehrmals, und ein Teil ihres Ärgers schwand. Als Krasus seinen Bericht beendete, wirkte sie vor allem ungläubig.

»Ihr wart in Neltharions innerster Kammer? Es ist ein Wunder, dass ihr noch lebt.« Sie legte den Kopf schräg und betrachtete Krasus. »Doch langsam gewöhne ich mich an deine Überraschungen. Schade nur, dass nach all diesen Anstrengungen die Scheibe in den Fängen von Kreaturen gelandet ist, die auf ihre Weise ebenso monströs sind wie der Erdwächter.«

»Ja, aber diese scheinbare Katastrophe verschafft uns die Möglichkeit, zumindest einen Teil Kalimdors zu retten, meine Königin. Ihr Ziel ist es, ihren Herrscher Sargeras in unsere Welt zu holen.«

»Und damit das gelingt, benötigen sie die Dämonenseele.«

»Genau … das bedeutet, dass sie die Scheibe für nichts anderes verwenden können, nur für diesen Versuch.« Krasus hielt ihren Blick fest. »Die Drachen müssen sie nicht mehr fürchten. Dies ist die Stunde, in der die Legion am schwächsten ist.«

»Aber die Scheibe …«

»Dies ist auch unsere einzige Chance, die Dämonenseele zurückzuholen«, erklärte er. »Selbst wenn du sie nicht zerstören kannst, lassen sich ihre Kräfte in einer Weise binden, die es Deathwing unmöglich machen wird, sie je wieder einzusetzen.«

»Deathwing«, knurrte sie. »Wie passend ist dieser Name. Es gibt Neltharion nicht mehr, der Erdwächter ist von uns gegangen. Nun ist er wahrlich Deathwing … und du hast Recht. Wir müssen die Gelegenheit nutzen, uns für immer von seiner schrecklichen Schöpfung zu befreien.«

Alexstrasza bemerkte nicht, dass sich Krasus’ Gesichtsausdruck einen Augenblick lang verdunkelte, aber Malfurion fiel es sofort auf. Offenbar verschwieg der Magier seiner Königin etwas. Der Nachtelf sagte nichts. Er war sich sicher, dass Krasus sein Geheimnis aus gutem Grund wahrte.

»Malygos nützt uns im Moment leider nichts«, sagte die rote Königin nachdenklich. »Und der Zeitlose ist weiterhin verschwunden, auch wenn sein Clan sich uns angeschlossen hat. Yseras Drachen und meine eigenen stehen ebenfalls bereit …« Sie nickte. »Ja, es ist machbar. Du hast Recht. Ich werde mit ihr und den Gefährtinnen von Nozdormu sprechen. Wahrscheinlich werde ich sie überzeugen können.«

»Hoffentlich schnell.«

»Ich kann nur versprechen, dass ich es versuchen werde.« Sie breitete ihre Flügel aus, aber Krasus hielt sie zurück.

»Hast du noch mehr zu sagen?«, fragte Alexstrasza.

»Nur eines. Die Drei sind ebenfalls hinter der Scheibe her und versuchen die Legion zu manipulieren.«

Ihre Augen weiteten sich so stark, dass Malfurion erschrocken zurückwich. Alexstrasza rang um ihre Fassung, dann fragte sie: »Dessen bist du dir sicher?«

»Es gibt noch Unklarheiten, aber ja, das bin ich.«

»Dann ist es umso wichtiger, dass es mir gelingt, die anderen zu überzeugen. Ist das alles – oder gibt es noch mehr Überraschungen?«

Krasus schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt dringend zur Streitmacht zurückkehren. Ihr Kommandant muss sich unbedingt mit den Drachenclans abstimmen. Alles hängt davon ab, das dies gelingt. Könntest du uns bei dieser Reise helfen? Ich befürchte, dass meine Kräfte im Moment unzureichend sind.«

Die Königin dachte darüber nach. »Ja, es gibt eine Möglichkeit, euch schnell zu helfen. Tretet alle zurück.«

Krasus und die anderen gehorchten. Alexstrasza breitete ein zweites Mal ihre Flügel aus. Die goldene Aura, die sie schon eben umgeben hatte, begann zu strahlen, viel heller als beim ersten Mal. Doch jetzt konzentrierte sich die Aura hauptsächlich auf einen Punkt hinter dem Drachen. Sie war so hell, dass sich Alexstraszas Schatten scharf von der grauen Landschaft abhob.

Die Drachenkönigin murmelte Worte, die Malfurion nicht verstand. Er spürte jedoch die Macht, die in jeder einzelnen Silbe lag. Alexstraszas Zauber war ungeheuer mächtig … aber welchem Zweck diente er?

Vor dem Nachtelf begann der Boden zu beben. Brox grunzte und starrte ihn an, als wäre er ein Feind. Die harte Oberfläche hob sich …

Laut krachend löste sich ein großer Teil daraus. Die Form kam dem Druiden bekannt vor, aber erst, als sich ein zweiter, ebenso riesiger Teil löste, erkannte er, dass es sich um Flügel handelte.

Der Boden, der sich aus der Landschaft hob, passte genau in Alexstraszas Schatten. Die Flügel flatterten, ein Körper schob sich zwischen sie. Ein Hals dehnte sich aus, ein Maul öffnete sich und stieß den gleichen Ruf aus, den Malfurion auch schon von Alexstrasza gehört hatte.

Vor den Augen des Druiden entstand ein steinernes Abbild der Drachenkönigin.

Abgesehen von der Farbe war die Ähnlichkeit überwältigend. Die Augen zeigten sogar ebenso viel Weisheit und Mitgefühl wie die der echten Drachenkönigin.

Die beiden Giganten standen nebeneinander. Das Abbild betrachtete das Original. Die Aura fiel in sich zusammen, dann sah Alexstrasza Krasus an.

»Sie wird alles für dich tun, was auch ich tun würde.«

Der Magier neigte überwältigt den Kopf. »Ich bin deiner nicht würdig, meine Königin.«

Alexstrasza schnaubte. »Wenn das stimmen würde, wäre ich jetzt nicht hier.«

Das steinerne Abbild hob zustimmend den Kopf, dann blickte es ebenfalls auf Krasus herab.

»Ich werde nun aufbrechen, um mit den anderen zu sprechen«, fügte die rote Königin hinzu.

»Ich bin mir sicher, dass die Gespräche zu unserer Zufriedenheit verlaufen werden.«

»Sei vorsichtig. Deathwing gibt so schnell nicht auf.«

Sie sah ihn wissend an. »Ich kenne ihn seit langer Zeit. Wir werden nicht zulassen, dass er sich einmischt.«

Mit diesen Worten erhob sich Alexstrasza in die Luft. Sie kreiste einmal über der Gruppe, den Blick auf Krasus gerichtet. Dann verschwand sie zwischen den Wolken.

»Wenn ich ihr nur sagen könnte …«, flüsterte der Magier.

»Was sagen könnte?«

Krasus sah den Druiden nachdenklich an. »Nichts … nichts, was ich zu ändern wage.« Die Entschlossenheit kehrte in seinen Blick zurück. »Wir haben jetzt die Gelegenheit, rasch zur Streitmacht zurückzukehren. Wir sollten sie nutzen.«

Aber Malfurion war noch nicht fertig. »Krasus, wer sind die Drei, von denen du gesprochen hast?«

»Etwas uraltes Böses. Mehr werde ich dazu nicht sagen. Ihr müsst nur wissen, dass ein Sieg über die Legion auch ein Sieg über die Drei ist.«

Malfurion bezweifelte, dass die Zusammenhänge wirklich so einfach waren, aber er stellte keine weiteren Fragen, fürs erste jedenfalls.

Der steinerne Drache beugte sich tief nach unten, als die Gruppe auf ihn zuging. Malfurion betrachtete beeindruckt die Eleganz und die Geschmeidigkeit, mit der sich das Abbild bewegte. Diese Schöpfung bewies, über wie viel Macht ein Aspekt verfügte.

Krasus kletterte als Erster auf den Drachen, die anderen folgten ihm. Als sie auf dem Rücken saßen, erkannten sie erst den enormen Größenunterschied zwischen Korialstrasz und Alexstrasza.

»Die Schuppen lassen sich ebenso leicht bewegen wie bei einem richtigen Drachen«, erklärte Krasus. »Hakt eure Füße dahinter ein, damit ihr euch besser festhalten könnt. Sie wird deutlich schneller als Korialstrasz sein.«

Der Drache wartete, bis sich alle niedergelassen hatten, dann stieg er mit einem lauten Schrei in den Himmel auf. Krasus hatte nicht übertrieben. Das steinerne Abbild war ungeheuer schnell.

Die Landschaft raste unter ihnen dahin. Der Nachtelf blickte über die Schulter des Steindrachen. An eine solche Flughöhe war er nicht gewöhnt.

»Warum sind wir nicht Illidan und den anderen gefolgt und haben uns die Scheibe zurückgeholt?«, fragte er den Magier.

»Selbst wenn wir sie eingeholt hätten, wäre der Kampf kaum besser als beim ersten Mal ausgegangen, vielleicht sogar deutlich schlechter. Wahrscheinlich haben sie schon längst das Territorium der Legion erreicht. Es gefällt mir zwar auch nicht, dass wir nichts unternehmen können, aber unsere Chancen werden deutlich steigen, sobald die Scheibe im Palast ist.«

Malfurion antwortete nicht. Er wusste zwar, dass Krasus Recht hatte, aber es störte den Druiden, dass sie die Scheibe – wenn auch nur vorübergehend – den Dämonen überlassen mussten.

Doch selbst das störte ihn nicht so sehr wie die Tatsache, dass sein eigener Bruder die Schuld an dieser düsteren Wendung trug.


Ihr habt mir Freude bereitet …, sagte die Stimme jenseits des Portals. Große Freude.

Illidan und Captain Varo’then knieten vor dem brennenden Riss. Malfurions Bruder gab seine eigenen Gedanken nicht preis, während er das Lob des Dämonenlords entgegen nahm. Er und der Captain hatten ihre Wachen zurückgelassen, als sie das tote Land erreichten, über das die Legion regierte. Bis zu diesem Punkt hatte es Illidan nicht gewagt, einen Reisezauber einzusetzen, denn er hatte großen Respekt vor den Fähigkeiten des schwarzen Drachen. Der Erdwächter hätte den Zauber vielleicht umgelenkt und sie in sein Nest gebracht, wo ihr Leben wohl auf wenig beneidenswerte Weise geendet hätte.

Er und der Captain hatten sich genau in diesem Raum unmittelbar vor einem überraschten Mannoroth materialisiert. Der verärgerte Gesichtsausdruck des hochrangigen Dämons hatte nicht nur Illidan gefallen, sondern auch Varo’then. Mannoroth hatte bereits zu einem Wutanfall angesetzt, war jedoch unterbrochen worden, als Sargeras aus dem Portal heraus zu ihm sprach und wissen wollte, ob seine Diener ihre Aufgabe erfüllt hatten. Er hatte eine positive Antwort auf seine Frage erhalten. Seitdem überschüttete er seine Paladine mit Lob. Das steigerte zwar Mannoroths Ärger, aber seine Loyalität zu Sargeras – und seine Furcht vor ihm – sorgten dafür, dass er nichts davon durchblicken ließ. Dennoch versuchte er, sich in den Mittelpunkt zu spielen, denn er knurrte: »Gut gemacht, Sterbliche.«

Er streckte Varo’then seine Hand entgegen. »Ich nehme die Scheibe an mich, damit ich den Zauber für das Portal vorbereiten kann.«

Illidan zeigte keine Regung, aber sein Herz setzte einen Schlag aus. Gerade jetzt durfte die Scheibe nicht in die Hände eines Dämons geraten. Immer noch vor dem Portal kniend hob er den Kopf und sah den Dämon an. »Ich möchte Lord Mannoroth respektvoll darauf hinweisen, dass die komplizierten Kräfte der Scheibe besser von mir kontrolliert werden sollten, da ich sie dank des Geschenks unseres Herrn begreife.«

Illidan hob den Schal, um sein Argument zu unterstreichen. Sogar Mannoroth verzog bei dem Anblick das Gesicht.

»Das ist ein gutes Argument«, stimmte der Captain zu. »Aber da ich momentan der Träger der Scheibe bin, möchte ich respektvoll darum bitten, dass unser Herr selbst entscheidet, wer sie benutzen soll, um sein Portal zu stärken.«

Der Zauberer und der Dämon sahen den Soldaten verärgert an, der aber blickte starr in den feurigen Abgrund und beachtete sie nicht.

»Natürlich muss Sargeras es entscheiden«, stimmte Malfurions Zwilling hastig zu.

»Kein anderer«, fügte Mannoroth hinzu.

Nur einer kann die Scheibe benutzen, erklärte der Dämonenlord. Und das werde ich sein.

Seine Entscheidung traf alle unvorbereitet, aber am meisten Illidan. Das konnte – durfte! – doch nicht das Ende sein. Alles hing davon ab, dass er die Scheibe manipulieren konnte.

Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, da überprüfte er auch schon erschrocken die mentalen Schilde, mit denen er seinen Geist abschirmte. Erleichtert erkannte er, dass Sargeras seine Gedanken nicht wahrnahm. Dann konzentrierte er sich auf sein gegenwärtiges Problem. Es musste eine Möglichkeit geben …

»Bei allem Respekt, Herr«, warf der Zauberer mutig ein. »Das Portal ist eine Schöpfung der Nachtelfen, deshalb wäre es besser, wenn ein Nachtelf mit der Scheibe …«

Ich habe keine Verwendung mehr für das Portal … nun, da ich das Spielzeug des Drachen besitze.

Die Worte hallten in den Köpfen der Anwesenden wider. Illidan, Varo’then und Mannoroth starrten verständnislos auf den Flammenriss. Sogar die Hochgeborenen, die sich sonst nur auf ihre Arbeit konzentrierten, blickten überrascht auf.

Die Scheibe wird mir wie geplant den Weg öffnen, allerdings durch etwas Vertrauenswürdigeres als dieses kleine Loch. Der Riss pulsierte. Etwas Gewaltigeres, das auch unter den Kräften der Scheibe nicht zusammenbrechen wird. Ich spreche natürlich vom Brunnen der Ewigkeit …

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