Blut lief über Jarod Shadowsongs Gesicht. Er war sich sicher, dass sein linker Arm gebrochen war. Nicht so sicher war er sich, ob durch die hämmernden Schläge, die seine Rüstung eingedrückt hatten, wichtige Organe verletzt worden waren. Das Atmen fiel ihm schwer, aber wenigstens konnte er noch stehen … gerade so.
Jarod hob mühsam sein Schwert und sah seinen Gegner an.
Archimonde war unverwundet. Jarod hatte den dunklen Dämon kein einziges Mal verletzt, hatte ihn noch nicht einmal berührt, außer als Opfer der brutalen Schläge, die ihn immer wieder trafen.
Jarod wusste sehr wohl, dass der riesige Dämon nur mit ihm spielte. Archimonde hätte seinen winzigen Gegner schon ein Dutzend Mal töten können. Statt dessen zögerte er den Kampf mit sadistischer Freude hinaus. Jarod ahnte jedoch, dass der tödliche Schlag nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Der Dämon würde gewiss bald die Lust an diesem Spiel verlieren.
Trotzdem stand Jarod nach jedem Schlag wieder auf.
Außer ihnen befand sich niemand in diesem Bereich des Schlachtfelds. Aus sicherer Entfernung wohnten Dämonen und Soldaten der blutigen Darbietung bei. Die Dämonen genossen den Kampf mit sichtlicher Schadenfreude und feuerten ihren Kommandanten immer wieder an. Jarods Anhänger erkannten hingegen wohl endlich, wie lächerlich der ehemalige Wachsoldat wirklich war. Wahrscheinlich fragten sie sich, wieso sie ihn jemals als ihre Hoffnung angesehen hatten.
Ein heftiger Wind kam auf und wirbelte Staub empor. Jarod blinzelte und versuchte, nicht von den Staubkörnern geblendet zu werden. Der ausdruckslos wirkende Archimonde bewegte sich langsam auf seinen Gegner zu. Jarod vermutete, dass er nach einer geeigneten Stelle für den nächsten seiner mörderischen Hiebe suchte.
Aber wenn der Nachtelf schon sterben musste, wollte er wenigstens den Hauch einer Gegenwehr leisten. Er nahm sein Schwert in die gesunde Hand, stieß einen Schrei aus und stürmte Archimonde entgegen.
Durch den Staub sah er, wie Archimonde seinen an Wahnwitz grenzenden Angriff belächelte. Doch als Jarod näher kam, schwand dieses Lächeln. Ungläubig staunend sah der verzweifelte Offizier, wie Archimonde sich versteifte.
Der heftige Wind stieß Jarod förmlich nach vorne. Mit zusammengebissenen Zähnen schlug der Nachtelf nach dem Bauch seines Gegners. Das war die einzig erreichbare Stelle, an der seine winzige Klinge vielleicht ein geringfügigen Schaden anrichten würde. Nur eine einzige Verletzung wollte er dem Dämon zufügen, bevor der ihn zerschmetterte.
Staub und Tränen ließen Jarods Umgebung verschwimmen und verliehen Archimonde ein geisterhaftes Aussehen. Archimonde streckte seine Hand aus, und Jarod biss sich in Erwartung eines furchtbaren, tödlichen Zaubers auf die Lippen.
Doch der Zauber blieb aus. Stattdessen wich Archimonde einen Schritt zurück. Sein Oberkörper war völlig ungeschützt.
Jarod stieß zu. Er zweifelte nicht daran, dass seine Klinge abbrechen oder sein Stoß daneben gehen würde.
Aber er ging nicht fehl, und zu seiner Überraschung schob sich sein Schwert tief in die Eingeweide des Dämons. Doch es traf auf keinerlei Widerstand, so als wäre der Dämon tatsächlich nur ein Geist. Jarod stieß weiter zu und erwartete den Tod.
Stattdessen wurde Archimonde wie von einem heftigen Schlag nach hinten geworfen. Er fiel jedoch nicht zu Boden, sondern flog immer weiter. Mit rudernden Armen und Beinen wurde der Dämonenkommandant in die Luft gerissen, und erst jetzt erkannte Jarod, dass der Wind Archimonde erfasst hatte.
Die Ausdruckslosigkeit verschwand von dem Gesicht des Dämons, während er höher und höher in den Himmel gerissen wurde. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, die seine wahre Boshaftigkeit widerspiegelte. Er stieß einen zornigen Schrei aus … und verschwand am Horizont.
Der erschöpfte Offizier, der immer noch nicht fassen konnte, dass er den Kampf überlebt hatte, erkannte jetzt, dass der Wind die gesamte Legion ergriffen hatte. Die Dämonen kämpften dagegen an, aber sie wurden wie Staub davon gewirbelt. Die monströsen Hunde rollten zunächst ein Stück weit über die Landschaft und wurden erst dann nach oben gerissen. Ganze Einheiten von Teufelswachen verloren den Boden unter den Füßen, aber Nachtelfen, Tauren und die anderen Wesen Kalimdors, die ihnen entgegen getreten waren, teilten dieses Schicksal nicht.
Höllenkreaturen, die aus dem Himmel fallen wollten, wurden plötzlich zur Seite gerissen und folgten ihren Kameraden. Eine gelangte bis auf wenige Zentimeter an den Boden heran, bevor auch sie empor gehoben und davon geweht wurde.
Selbst die Drachen spürten den Wind kaum. Sie kämpften einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, bevor sie vorsichtshalber landeten.
Der Himmel war erfüllt von heulenden, knurrenden Dämonen, die alle vergeblich versuchten, zur Erde zurückzukehren. Und unter ihnen sahen die Kämpfer mit offenem Mund zu, wie die Gefahr, die sie und ihre Welt bedroht hatte, einfach hinfort gefegt wurde. Sogar die Leichen der gefallenen Dämonen trug der Wind empor.
»Ein Wunder!«, rief jemand hinter Jarod. Er blickte über seine Schulter und sah, dass einige von denen, die Archimonde zur Seite geschleudert hatte, zurückgekehrt waren. Aus großen Augen betrachteten sie den Himmel. Einige andere richteten den Blick jedoch auf Jarod, als habe er etwas mit dieser wundersamen Fügung zu tun.
Nach und nach verschwanden die Dämonen vom Boden Kalimdors, bis nichts außer verlassenem Ödland vor der Armee lag. Kein Dämon war zurück geblieben … nicht einmal der Körperteil eines solchen.
Einige Nachtelfen sanken erleichtert zu Boden. Doch Jarod hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Er glaubte nicht, dass dieser Kampf bereits zu Ende war. So leicht konnte es doch nicht sein …
»Auf die Beine!«, rief er. Mit seiner gesunden Hand packte er den verwirrten Herold und befahl: »Lass die Hörner erschallen! Ich will Ordnung in den Reihen sehen. Wir müssen aufbrechen!«
Eine Priesterin der Elune trat neben ihn und begann seinen Arm zu untersuchen. Währenddessen ordnete Jarod seine Gedanken.
»Werden wir sie verfolgen?«, fragte ein Adliger, der auf Jarod viel zu euphorisch wirkte.
»Nein!«, entgegnete der Kommandant scharf, ohne auf den Standesunterschied zu achten. »Wir warten auf Nachricht von Krasus oder einem der anderen Magier. Erst dann entscheiden wir, ob wir gegen Zin-Azshari marschieren oder um unser Leben laufen. In jedem Fall müssen wir so schnell bereit sein wie dieser Wind.«
Die Soldaten gehorchten. Jarod gönnte sich einen Moment, damit die Priesterin ihn versorgen konnte. Dann blickte er in die Richtung, in die die Dämonen verschwunden waren – wo Hauptstadt und Brunnen lagen.
Er glaubte immer weniger, dass der Kampf so enden sollte …
Doch in ganz Kalimdor wurde die Brennende Legion in die Lüfte gehoben und zum Brunnen der Ewigkeit getragen. Gegen den Wind konnten sich auch die Dämonen nicht zur Wehr setzen. Krasus und die anderen sahen zu, wie sie sich als gewaltige Horde über dem Brunnen sammelten und hinein gesogen wurden.
»War es das? Ist es vorbei?«, rief Rhonin.
»Vielleicht … aber vielleicht auch nicht.« Krasus wandte sich an Alexstrasza. »Zu Malfurion!«
Sie nickte und drehte sich in Richtung des Druiden. Rhonin und der rote Drache folgten ihr.
Malfurion und Ysera schwebten über dem Brunnen. Den Nachtelf umgab die goldene Aura der Dämonenseele. Seine sonst dunkle Haut wirkte beinahe so blass wie die von Krasus. Nervös sah er den Magier an. »Er versucht immer noch, hierher zu kommen.« Die Züge des Druiden wirkten gealtert, reifer. Falten hatten sich gebildet, und die Augen lagen tiefer in den Höhlen als zuvor. »Ich weiß nicht, ob mein Zauber ihn aufhalten kann.«
Krasus blickte mit seinen geschärften Sinnen tief in den Brunnen hinein.
Tief in das Portal …
… und entdeckte Sargeras, den Herrn der Legion.
Der Titan trug eine schwarze Lavarüstung, deren dunkle Gewalt so unerhört war, dass ein Blick fast schon ausreichte, um die Augen des Magiers zu verbrennen. Krasus kämpfte gegen den Schmerz an und starrte in das Gesicht des Bösen, eine monströse Verzerrung perfekter Schönheit.
Einst war Sargeras ein wunderschönes Wesen, das – wie Krasus wusste – zu den Schöpfern seiner Welt zählte. Doch diese Schönheit war schon vor langer Zeit verfault. Nun war sein Fleisch das des Todes und seine Augen ein wütendes Nichts, in dem nur Chaos tobte. Sargeras’ Zähne waren raubtierartig. Sein langer, breiter Schwanz, der hinter ihm auf und wippte, war gespickt mit gefährlichen, abstehenden Schuppen. Seine Hände endeten in messerscharfen Klauen, und in einer dieser Klauen trug er ein riesiges Schwert. Die Klinge war zwar abgebrochen, aber immer noch scharf genug für tödliche Stöße.
Krasus zuckte entsetzt zusammen, als er den vergleichsweise winzigen grünen Körper sah, den die Klinge aufgespießt hatte.
Brox.
In der ganzen Aufregung hatte der Magier den Orc vergessen gehabt. Nun erst begriff er, warum er und die anderen wertvolle Sekunden geschenkt bekommen hatten.
Der Orc hatte sich geopfert, um die Legion aufzuhalten.
Sargeras bewegte sich auf das Portal zu. Obwohl gewaltige Kräfte die Legion wieder in ihr Reich zurücktrieben, drängte er immer noch vorwärts. Langsam, aber stetig näherte er sich dem Tor nach Kalimdor.
Doch im gleichen Moment erkannte Krasus etwas Überraschendes: Der Dämonenlord war verletzt, wenn auch kaum sichtbar. Ein winziger Schnitt zierte sein rechtes Bein. Krasus wusste sofort, dass eine Axt diese Wunde geschlagen hatte.
Brox’ Axt. Die verzauberte Waffe hatte Sargeras wahrhaftig verletzt. Natürlich handelte es sich nur um eine winzige Wunde, doch durch sie eröffnete sich eine einzigartige Gelegenheit …
»Rhonin! Alexstrasza! Wir müssen gemeinsam handeln. Malfurion, halte dich bereit. Du wirst die Chance bekommen, die du brauchst, um das Portal zu zerstören – auch wenn es sehr knapp werden wird.«
Die anderen unterwarfen sich seiner Führung. Krasus spürte, wie seine Königin und sein ehemaliger Schüler ihm ihre Kraft zur Verfügung stellten. Ysera und der rote Drache überließen ihm ebenfalls ihre Magie. Den Angriff musste Malfurion übernehmen. Aber wenn er fehlschlug, würden es keiner von ihnen überleben.
Die magischen Energien leuchteten in Krasus’ Augen. Er bündelte die vereinte Kraft der Gruppe und richtete sie auf das Tor. Der Magier verließ sich darauf, dass der Zauber die Konzentration des Dämonenlords unterbrechen würde.
Verglichen mit Sargeras waren Archimonde und Mannoroth Gewürm. Die Macht von hundert Drachen kam der seinen nicht gleich. Hätte Krasus versucht, den Dämonenlord mit einem Hieb gegen die Brust oder den Kopf anzugreifen, wäre das Resultat nicht mehr als lachhaft gewesen. Dass es Brox gelungen war, ihn zu verletzen, sagte viel über die Kraft aus, mit der Cenarius und Malfurion seine Waffe ausgestattet hatten.
Aber Krasus wählte einen anderen Weg. Er lenkte all die Macht, die ihm die anderen zur Verfügung gestellt hatten, auf den winzigen Schnitt, den Brox’ Axt – versehen mit Kalimdors Magie – Sargeras zugefügt hatte.
Und dann geschah es. Krasus spürte, wie Sargeras’ Konzentration nachließ. Nicht etwa wegen eines Schmerzes – darauf wagte er nicht zu hoffen –, sondern wegen der Überraschung, die ihn ereilte.
Darauf hatte Krasus gehofft. »Jetzt, Malfurion!«
Malfurion schloss seine Finger um die Dämonenseele und griff das Portal an.
Krasus hatte ihr aller Leben darauf verpfändet, dass die magisch zugefügte Wunde anfällig genug sein würde, um dem Dämonenlord bei einem zweiten Hieb bewusst zu werden – und Probleme zu bereiten. Die gebündelte Macht von Zauberern und Drachen hatte ausgereicht, eine leichte Irritation in ihm aufkommen zu lassen, auf die sich Sargeras instinktiv konzentriert hatte, sodass er das Tor kurz aus den Augen verlor.
Das Zentrum des Mahlstroms erbebte. Eine Energieentladung donnerte durch die Tiefen des Brunnens.
Das Portal begann in sich zusammen zu brechen. Der brennende Rand, der es umgab, brach weg. Sargeras versuchte noch, das Tor zu stabilisieren, doch es war bereits zu spät.
Nur ein einziger Moment der Unkonzentriertheit hatte den Dämonenlord den Sieg gekostet!
Und dann geschah etwas, was Krasus nicht für möglich gehalten hätte. Sargeras, der seine Niederlage nicht einsehen wollte, trat in das Portal. Er wollte es offenbar stabilisieren und gleichzeitig durchqueren. Das erwies sich als fatal.
Das Portal implodierte. Der Dämonenlord war gefangen. Er konnte weder nach vorne durchbrechen, noch sich wieder zurückziehen. Der Titan ließ sein Schwert fallen und schlug mit bloßen Fäusten gegen das Tor – doch es half nichts. Der winzige Spalt zwischen den Realitäten schrumpfte rapide und begann den Dämonenlord zu zermalmen.
Sargeras brüllte wütend. Seine Stimme hallte durch die Köpfe aller, die über dem Brunnen schwebten.
Ich werde siegen! Ich werde siegreich sein!
Doch das Tor schrumpfte weiter … und Sargeras mit ihm. Er kämpfte dagegen an. Das Portal begann unter seiner titanischen Macht zu brennen.
Und dann, während der Dämonenlord immer noch mit den Fäusten dagegen drosch und seine Wut hinausschrie, verschwand es.
Und nahm ihn mit.
»Wir haben es geschafft!«, keuchte Malfurion, halb fassungslos. »Wir …«
Er brach ab, denn der Mahlstrom in der Mitte des Brunnens rotierte weiterhin wild, obwohl das Tor bereits nicht mehr existierte. Der Wirbel nahm sogar an Größe und Gewalt zu. Seine Ausläufer erreichten bereits den Strand von Zin-Azshari.
Der Nachtelf sah Krasus an. »Was geht hier vor?«
Krasus verweigerte jede Erklärung, drängte nur: »Wir müssen uns zurückziehen. Alle müssen sich aus der Nähe des Brunnens zurückziehen!«
Alexstrasza und die anderen drehten rasch ab und flogen dem Ufer entgegen. Unkontrollierte Energie knisterte in den dunklen Wassern. Ganz Zin-Azshari erbebte, und als die Drachen über die Stadt zogen, entdeckte der Magier gewaltige Risse im Fels.
»Es hat begonnen«, flüsterte er zu sich selbst. »Mögen die Schöpfer uns beschützen … es hat begonnen, und wir können nichts dagegen tun.«
Ein neuer Sturm fegte über die Gruppe hinweg und machte den Drachen zu schaffen. Die geflügelten Riesen sammelten sich, um dem Wind gemeinsam zu trotzen … außer Ysera.
Die Herrin der Träume – und mit ihr Malfurion und die Scheibe – war verschwunden.
Krasus warf einen Blick in den Himmel, konnte den Aspekt jedoch nirgends sehen. Erst als sein Blick zum Boden zurückkehrte, fand er sie.
Sie flog zurück zum Brunnen der Ewigkeit.
»Nein!« Selbst Ysera ahnte offenbar nicht, welches Schicksal diesem Ort blühte. Außerdem wusste niemand, was mit der Zeitlinie geschehen würde, wenn die Dämonenseele nicht gerettet, sondern im Brunnen versenkt wurde. »Wir müssen zurück! Wir müssen sie holen!«
Alexstrasza drehte sofort um. Rhonins roter Drache und der reiterlose Bronzefarbene wollten ihr folgen, aber Krasus winkte ab. Trotz der entfesselten magischen Energien, die allenthalben tobten, gelang es Krasus, Rhonins Geist zu berühren.
Du musst zur Armee fliegen. Sag Jarod, dass er und seine Soldaten sich so weit wie möglich vom Brunnen entfernen müssen. Sie sollen zu Mount Hyjal fliehen.
Mehr musste er nicht sagen, denn der Mensch wusste ebenso gut wie Krasus, was passieren würde. Schließlich war auch er ein Kind der Zukunft.
Der Zauberer beugte sich vor und sprach kurz mit seinem Drachen, dann drehte der Rote auch schon ab. Der Bronzefarbene zögerte zwar, schloss sich ihm dann jedoch an.
Krasus betrachtete die Landschaft, während Alexstrasza der Spur Yseras folgte. Dort, wo sich einst die Stadttore befunden hatten, gähnte nun eine Schlucht, so breit wie ein Palastflügel. Erdbeben erschütterten die Stadt und brachten die Gebäude zum Einsturz, die den Dämonenangriffen bislang widerstanden hatten.
Es steht unmittelbar bevor … Der Drachenmagier blickte nach vorne, suchte nach Ysera und dem Druiden. Die Teilung Kalimdors steht kurz bevor …
Ein Kronleuchter zerschellte klirrend auf dem Marmorfußboden. Tausende Kristallsplitter stoben durch den Raum. Eine Zofe Azsharas sackte lautlos zusammen. In ihrer Stirn steckte ein langer funkelnder Splitter.
Die Königin hielt sich an einer Säule fest und betrachtete die blutige Leiche missmutig. Sie dachte über wichtige Probleme nach und konnte einen solch unappetitlichen Anblick nicht gebrauchen. Aber ihre anderen Dienerin dachten nicht daran, die Leiche aus dem Weg zu räumen. Sie rannten nur panisch durch den Palast, während Wände, Böden und Decken erbebten.
Vashj schien vergessen zu haben, dass man die Königin niemals unerlaubt berühren durfte, denn sie griff nach Azsharas Arm. »Licht der Lichter, wir müssen den Palast verlassen. Etwas Furchtbares ist geschehen! Die Krieger des Herrn sind verschwunden und die Zauberer aus dem Turm geflohen. Einer von ihnen sagte, ein gewaltiger Wind habe Mannoroth in den Brunnen gerissen!«
Azshara war nicht entgangen, dass die Krieger der Brennenden Legion verschwunden waren. Ihre eigene Leibwache war durch die Wand eines Palastzimmers gerissen worden. Trotz dieses aufregenden Spektakels ging die Königin immer noch davon aus, dass Sargeras zu ihr kommen würde. Und auf diesen ruhmreichen Moment musste sie sich vorbereiten.
Vashj zog immer noch an ihrem Arm. Azsharas langer Geduldsfaden erreichte sein Ende. Sie ohrfeigte ihre Zofe.
Die anderen Dienerinnen blieben erschrocken stehen. Für einen Moment vergaßen sie die Gefahren, die in dem durchgeschüttelten Gebäude drohten. Sie alle glaubten, Vashj würde ihre Zurechtweisung nicht überleben.
Doch Azshara tötete sie nicht, sondern sagte königlich: »Vergesst nie, wo euer Platz ist. Ich erwarte, dass ihr meine Befehle befolgt. Wir werden uns wie geplant auf Lord Sargeras’ Ankunft vorbereiten.«
Elegant schritt sie auf einen Stuhl zu, der während des ersten Bebens umgeworfen worden war. Vashj stellte ihn rasch für sie auf und wischte den Staub, der auf dem Polster lag, mit dem Saum ihres Kleides ab.
Azshara nickte lobend und setzte sich. Ihre Zofen nahmen sofort ihre angestammten Positionen ein. Vashj schüttete für die Königin Wein in einen Kelch. Trotz des zitternden Bodens gelang es ihr, nichts davon zu verschütten.
»Danke, Lady Vashj«, sagte die Königin der Nachtelfen großmütig. Sie nahm einen kleinen Schluck, dann setzte sie sich zurecht. Sie war bereit für das Eintreffen des Dämonenlords, ganz gleich, wie lange es noch dauern mochte. Irgendwann würde er vor sie treten und ihrer Schönheit erliegen, genau wie alle anderen vor ihm.
Schließlich war sie Azshara.
Als Ysera das Ufer erreichte, blickte Malfurion, der die Dämonenscheibe an die Brust gepresst hatte, entsetzt zurück zur Hauptstadt der Nachtelfen. Er stand mit den Naturgewalten Kalimdors in so enger Verbindung, dass er das Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe ahnte … und wusste, dass er nicht zögern durfte.
»Mein Bruder und Tyrande sind noch in Zin-Azshari. Bitte, ich kann sie nicht zurück lassen!«
»Weißt du, wo sie sind?«
»Das weiß ich.«
Die Herrin der Träume nickte. »Führe mich dorthin, aber beeile dich.«
Sie drehten ab, ohne den anderen Bescheid zu sagen. Malfurion blickte zum Ufer. Ysera bewegte sich so schnell, dass sie einen Bogen fliegen mussten, aber der Druide spürte, dass sie sich den anderen Nachtelfen näherten.
Da! Tyrande winkte ihm zu. Ihr Anblick erfreute Malfurion über die Maßen, und für einen Augenblick vergaß er sogar, dass er auch wegen seines Bruders hier war. Erst dann bemerkte er, dass Illidan nicht zu sehen war.
Ysera landete. Ihre Augen waren wie stets geschlossen, aber Malfurion wusste seit langem, dass sie weitaus besser zu sehen vermochte als die meisten anderen Geschöpfe.
Er sprang von ihrem Rücken. Tyrande umarmte ihn mit einer solchen Intensität, dass er sie einfach nur festhalten wollte. Erst als Ysera sich räusperte, gab er sie zögernd frei.
»Malfurion …«, begann die Priesterin.
Er legte einen Finger auf ihre Lippen. »Später, Tyrande. Wo ist Illidan?«
Ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Sie sah über ihre Schulter. »Direkt am Rand.«
Fluchend lief der Druide an ihr vorbei. Illidan wusste doch sicherlich, dass das Land unter ihm zusammenbrach. Wieso verhielt er sich so aberwitzig?
Malfurion lief an der Ruine eines Turms vorbei und wäre beinahe mit seinem Zwilling zusammen geprallt. Illidan gelang es irgendwie, ihn aus seinen bedeckten Augenhöhlen anzustarren.
»Bruder … du kehrst zur rechten Zeit zurück …«
»Illidan, der Brunnen ist außer Kontrolle …«
Der Zauberer nickte. »Ja. Zu viel Magie hat an ihm gezerrt. Die Macht, die wir – hauptsächlich du – mit der Dämonenseele ausgeübt haben, war einfach zu viel. Der Zauber, der die Brennende Legion zurück in ihr Reich gebannt hat, greift jetzt auch nach dem Brunnen. Er verschlingt sich selbst und reißt alles mit, was sich in seiner Nähe befindet.« Er wandte sich dem aufgewühlten schwarzen Wasser zu. »Ist das nicht faszinierend?«
»Nicht, wenn wir hinein geraten. Wieso fliehst du nicht?«
Illidan wischte sich die Hand ab. Erst jetzt erkannte Malfurion die Machtaura, die sie umgab. Und er bemerkte die Feuchtigkeit.
»Wieso hast du deine Hand in den Brunnen getaucht?«
Im gleichen Moment warf ein heftiger Erdstoß beide Nachtelfen um. »Wenn du weißt, wie wir entkommen können, dann sollten wir das tun. Ich wollte Tyrande und mich magisch an einen anderen Ort versetzen, aber der Brunnen ist unkontrollierbar geworden.«
»Hier entlang!« Malfurion ergriff den Arm seines Bruders und führte ihn zurück zu den anderen. Tyrande saß bereits wartend auf Ysera. Sie half zuerst Illidan, dann Malfurion aufzusteigen.
Im gleichen Moment zog ein gewaltiger Schatten über sie hinweg. Malfurion rechnete mit einem schrecklichen Dämon. Als er aufsah, entdeckte zu seiner Erleichterung jedoch Krasus und Alexstrasza.
»Die Dämonenseele!«, rief Krasus. »Hast du sie noch?«
Der Nachtelf zeigte auf eine seiner Gürteltaschen. Schon zu Beginn des Flugs hatte er sie dort verstaut.
Krasus nickte erleichtert. »Dann beeilt euch. Wir müssen schnell fort von hier. Sogar in der Luft wird es nicht sicher sein.«
Malfurion ahnte, dass der Magier weitaus mehr wusste, als er preisgab. Er hielt sich fest, als Ysera sich in den Himmel erhob und am Boden unter ihren Krallen ein weiterer Riss entstand.
»Zin-Azshari ist verloren«, rief der Magier. »Und das ist nur der Anfang.«
Die beiden Drachen schlugen mit ihren Schwingen so schnell sie konnten, aber sie schienen langsamer als sonst zu fliegen. Malfurion blickte zurück. Der Himmel über dem Brunnen existierte nicht mehr. Es gab nur noch eine riesige Wolke, die wie ein Trichter geformt war und alles verschlang. Illidan hatte offenbar die Wahrheit gesprochen. Die Zauber der Dämonen, der Alten Götter und der Verteidiger hatten den Brunnen der Ewigkeit zerrissen.
Hatten er und seine Freunde die Welt gerettet … nur um sie zugleich auch in den Untergang zu fuhren?
Ohrenbetäubender Donner erreichte den Druiden. Er presste die Hände auf die Ohren und wartete, dass der Lärm aufhörte.
»Seht doch!«, schrie Tyrande. Ihre Lippen waren so dicht bei ihm, dass er ihre Stimme hören konnte. »Die Stadt!«
Der Fels unter der Stadt brach auseinander. Eine gewaltige, meilentiefe Schlucht öffnete sich. Die gesamte Hauptstadt rutschte dem Brunnen entgegen.
»Etwas zieht uns zurück!«, stieß Ysera hervor.
Der Brunnen riss die umliegenden Regionen in den Mahlstrom, verschlang Kalimdor buchstäblich. Zin-Azshari schwamm auf den schwarzen Wassern wie eine Insel aus Seetang. Der Palast schien größtenteils unzerstört zu sein, nur der Turm, in dem die Hochgeborenen gearbeitet hatten, neigte sich gefährlich.
Unheimliche Energieblitze schossen durch die Stadt, während sie sich dem Zentrum des Mahlstroms näherte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Trümmern, die im Brunnen trieben, wurde die Hauptstadt direkt auf die Mitte zugezogen. Malfurion spürte, wie Tyrande seinen Arm beinahe schmerzhaft fest umklammerte.
»Sie verschwindet …«, flüsterte sie. »Sie – verschwindet wahrhaftig …«
Azsharas Zofen schrien. Vashj hing am Bein der Königin, die dennoch ihren leeren Weinkelch festhielt. Sie weigerte sich, die Zerstörung ihres Palastes hinzunehmen. Sie war Azshara, Licht der Lichter, Herrscherin ihres Volkes. Sie hatte das nicht erlaubt!
Sargeras würde nicht kommen, das wusste Azshara jetzt, obwohl sie es den Dienerinnen verschwieg. Die Zofen durften nicht erfahren, dass sie sich geirrt hatte. Den Missetätern war es irgendwie gelungen, Sargeras an seiner Reise nach Kalimdor – an seiner Reise zu ihr – zu hindern.
Das Donnern wurde lauter. Eine Dunkelheit, die selbst die Blicke einer Nachtelfe nicht durchdringen könnte, hüllte den Palast ein. Nur die wilden Kräfte des Brunnens sorgten jetzt noch für Licht. Schwarzes Wasser ergoss sich in den Palast und spülte zwei ihrer Dienerinnen hinaus. Ihre Schreie verstummten rasch.
Ich bin Azshara!, dachte sie unnachgiebig und mit stoischem Gesichtsausdruck. Ein Gedankenbefehl erschuf einen Schild, der sie und ihre Zofen umgab. Meinen Wünschen darf sich nichts entgegen stellen.
Ihre Macht schützte sie vor dem Wasser, aber die Aufrechterhaltung des Schildes erwies sich als kräftezehrend. Azshara fürchte die Stirn, als kleine Schweißperlen – der erste Schweiß ihres Lebens – auf ihrer Haut erschienen.
Dann flüsterten plötzlich Stimmen in der Dunkelheit, Stimmen, die ihr einen Fluchtweg versprachen.
Es gibt einen Weg … es gibt einen Weg … du wirst mehr sein als je zuvor … als je zuvor … wir können dir helfen … dir helfen …
Die Königin war keine Närrin. Sie wusste, dass der Schild nicht mehr lange halten würde. Dann würden sie und ihre Zofen Opfer des Brunnens werden, und die ruhmreiche Azshara würde für die Welt verloren sein.
Die silbern gekleidete Nachtelfe nickte.
»Aaahhh!« Der Kelch entfiel ihrer Hand. Schmerzen durchtobten ihren Körper. Sie spürte, wie sich ihre Gliedmaßen wanden und drehten. Ihr Rückgrat fühlte sich flüssig an, so als wäre ein Teil davon geschmolzen.
Du wirst mehr sein als jemals zuvor, versprachen die Stimmen – die drei Stimmen. Und wenn die Zeit kommt für das, was wir dir schenken … wirst du uns eine gute Dienerin sein.
Der Schildzauber brach endgültig zusammen. Azshara schrie auf, als die Wasser über sie hinweg brandeten. Hinter ihr schrien auch die anderen – ihre Dienerinnen, die Wachen und die Hochgeborenen, die geblieben waren.
Der Brunnen füllte ihre Lunge.
Aber sie ertrank nicht.
Krasus sah ebenfalls zu, wie die riesige Stadt – das Sinnbild für die hohe Kultur der Nachtelfen – in den Mahlstrom gesogen wurde. Er zitterte nicht nur wegen der Zerstörungen, die sich vor ihm abspielten, sondern auch ob des Wissens, das er über die Zukunft hatte. Der Drachenmagier hatte gehofft, Zin-Azshari würde zerrissen werden, bevor es versank, aber dieser Teil der Geschichte war unverändert geblieben. Die Stadt würde in der Tiefe verschwinden – aber in einigen Jahrhunderten zur Brutstätte neuer Schrecken werden.
Daran ließ sich nichts ändern. Krasus wandte den Blick vom Brunnen und den Zerstörungen ab, die immer weitere Kreise zogen. Gewaltige Teile Kalimdors stürzten in das dunkle Wasser, dessen Wut nicht nachzulassen schien. Bereits jetzt waren jenseits von Zin-Azshari ganze Landstriche verschwunden. Das einzig Gute war, dass es sich um Territorium der Brennenden Legion gehandelt hatte, in dem es ohnehin kein Leben mehr gegeben hatte. Dem Brunnen fielen nur verbrannte Erde und zermalmte Knochen zum Opfer … aber wenn sich das Wasser tiefer in das Land fraß, würde vielleicht gar nichts mehr übrig bleiben.
Nein, das stimmt nicht, dachte Krasus. Das hat die Geschichte gezeigt.
Aber er wusste, dass die Zeitlinie längst instabil geworden war … und dass er dafür einen Großteil der Verantwortung trug.
Jetzt konnte Krasus nur noch beten.