Archimonde sah zu, wie seine Krieger an allen Fronten zurückgedrängt wurden. Er sah zu, wie sie von den Angreifern zu Dutzenden aufgespießt oder von deren Nachtsäblern zerrissen wurden. Er bemerkte auch, wie viele Verbündete der Armee getötet wurden.
Archimonde sah all das … und lächelte.
Der Armee fehlten der Zauberer, der Druide, der ältere Magier und der grünhäutige Krieger, dessen Wut der Dämon bewundernswert fand.
»Es ist so weit«, zischte er.
Jarod versuchte Rhonin aufzuwecken, aber der Zauberer reagierte nicht. Nur die Augen hatte der Mensch geöffnet, aber ihr Blick war leer, als wäre das Bewusstsein dahinter verschwunden.
Trotzdem versuchte er es weiter. »Meister Rhonin! Du musst aufwachen. Etwas stimmt hier nicht, das weiß ich sicher!« Der Captain spritzte dem Magier Wasser ins Gesicht. Es tropfte zu Boden, ohne eine Reaktion auszulösen. »Der Dämonenlord plant etwas!«
Ein merkwürdiges Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Es erinnerte Jarod an einen in den Bäumen landenden Vogelschwarm – der Klang unendlich vieler Flügelschläge.
Er sah auf.
Der Himmel war voller Verdammniswachen.
»Mutter Mond …«
Jeder der fliegenden Dämonen trug einen großen Krug bei sich, aus dem Rauch aufstieg. Die Gefäße waren so schwer, dass kein Nachtelf sie hätte tragen können und selbst die Verdammniswachen sich anstrengen mussten.
Jarod Shadowsong beobachtete, wie der Scharm sich den Linien der Verteidiger näherte und darüber hinweg flog. Der Kampf, der unter ihnen tobte, war so wild, dass kaum jemand die Dämonen beachtete. Selbst Lord Stareye sah nur die sterbenden Feinde vor sich.
Der Adlige musste gewarnt werden, das erkannte Jarod sofort. Nur er konnte noch etwas ausrichten, nun, da Krasus nicht hier war.
Der Captain schleifte Rhonins Körper zu einem großen Felsen. Er legte den Zauberer dahinter ab, sodass man ihn vom Schlachtfeld aus nicht sehen konnte.
»Bitte … bitte vergib mir«, sagte er zu dem schlaffen Körper.
Jarod sprang auf sein Reittier und ritt der Stelle entgegen, wo er zuletzt das Banner des Kommandanten gesehen hatte. Doch bevor er näher herankommen konnte, verharrte die erste Verdammniswache flügelschlagend über den Nachtelfen. Der Captain sah, wie sie den Krug umdrehte.
Eine kochende rote Flüssigkeit ergoss sich über die ahnungslosen Soldaten.
Ihre Schreie waren furchtbar. Wer von dem tödlichen Regen getroffen wurde, fiel verkrampft zu Boden. Ein einziges Gefäß verbrannte, verstümmelte und tötete Dutzende Nachtelfen.
Jetzt drehten auch die anderen Dämonen ihre Krüge um.
»Nein …«, flüsterte Jarod. »Nein …«
Der Tod regnete auf die Soldaten herab. Reihe um Reihe versank im Chaos. Soldaten versuchten verzweifelt, sich vor dem kochenden Regen zu schützen. Klauen und Klingen hatten sie widerstanden, denn diesen Gefahren konnte man mit einer Waffe begegnen. Gegenüber dem Grauen, das die Verdammniswache über sie brachten, waren sie hilflos.
Die Schreie hallten in Jarods Gehör wider. Er drängte seinen Nachtsäbler zur Eile. Er entdeckte das Banner des Adligen, dann, nach einigem nervösen Suchen, Stareye selbst.
Doch sein Anblick schenkte Jarod keine neue Hoffnung. Der schlanke Nachtelf saß mit entsetztem Gesichtsausdruck auf seinem Nachtsäbler. Er war so reglos, dass er wie tot wirkte. Er beobachtete das Ende seines wundervollen Plans und schien nichts dagegen unternehmen zu wollen oder zu können. Sein Stab und seine Wachen starrten ihn hilflos an. In ihren Gesichtern sah Jarod keine Spur von Hoffnung.
Der Captain trieb seinen Nachtsäbler an reglosen Wachen und einem Adligen mit zitternden Händen vorbei, bis er vor dem Kommandanten stand. »Milord! Ihr müsst etwas unternehmen! Wir müssen die Dämonen vom Himmel holen.«
»Es ist zu spät … zu spät«, stieß Stareye hervor. Er sah Jarod nicht an. »Wir werden untergehen. Das ist unser Ende.«
»Milord …« Ein Instinkt ließ Jarod zum Himmel blicken.
Zwei Dämonen schwebten über ihnen. Ihre Krüge waren voll.
Jarod ergriff den Arm des Adligen und rief: »Lord Stareye! Weg hier! Schnell!«
Der Gesichtsausdruck des Kommandanten verhärtete sich. Er zog seinen Arm angewidert aus Jarods Griff. »Lass mich los! Du vergisst deine Stellung, Captain!«
Jarod sah Stareye fassungslos an. »Milord …«
»Verschwinde, bevor ich dich in Eisen legen lasse.«
Jarod wusste, dass sich der Adlige nicht überzeugen lassen würde, also zog er an den Zügeln seines Reittiers, wendete es und preschte los.
Das rettete sein Leben.
Die Welle, die sich über Stareye und die anderen ergoss, verbrühte Fleisch und schmolz Metall. Im Todeskampf warf der Nachtsäbler des Adligen dessen dampfenden Körper ab. Stareye landete mit verdrehten Gliedmaßen und entsetzlich verzerrtem Gesicht im Staub. Seinen Begleitern und Wachen erging es nicht viel besser. Wer nicht sofort starb, lag zuckend und mit verkrüppeltem Leib am Boden. Ihre Schreie ließen die Seele frieren.
Jarod konnte nichts für sie tun.
Die Verdammniswachen wurden von den Verteidigern kaum angegriffen. Hin und wieder schickten einige Bogenschützen ihre Pfeile in den Himmel, und auch die Mondgarde tötete einige, aber ihre Anstrengungen waren unkoordiniert. Das Chaos überraschte Jarod im ersten Moment, doch dann fiel ihm ein, dass Stareye die meisten Offiziere durch seine eigenen Freunde ersetzt hatte.
Andere Einheiten der Nachtelfen-Armee hatten noch gar nicht in den Kampf eingegriffen. Sie warteten nervös auf einen Befehl, der niemals kommen würde. Jarod erkannte, dass sie nichts von Stareyes Tod wussten und jeden Moment seine Anweisungen erwarteten.
Er ritt zu einer der Einheiten. Der befehlshabende Offizier salutierte vor ihm.
»Wie viele Bögen habt ihr?«
»Sechzig, Captain!«
Das würde nicht ausreichen, war aber zumindest ein Anfang. »Macht alle Bögen bereit und richtet sie auf die Verdammniswachen! Alle anderen decken die Bogenschützen!«
Der Offizier gab seine Befehle weiter. Jarod sah sich verzweifelt nach anderen nützlichen Truppenteilen um. Doch im gleichen Moment stoppte ein Reiter vor ihm und salutierte mit einer Erleichterung, die verriet, dass er schon seit längerem keinen Offizier mehr gesehen hatte.
»Der Keil ist stumpf, die Linie kann kaum noch gehalten werden.« Er drehte sich um und zeigte auf einen Punkt nahe der Mitte. »Lord Del’theon ist tot, und wir haben nur noch einen Unteroffizier. Er hat mich ausgesandt, um Verstärkung zu holen.«
Die Truppen, die Jarod übernommen hatte, waren bereits in Formation gegangen. Während er noch darüber nachdachte, wie er dieses neue Problem lösen konnte, fielen zehn Verdammniswachen vom Himmel. Das gab ihm ein wenig Hoffnung.
Dem Reiter sagte er schließlich: »Reite zu den Tauren. Sage ihnen, dass Captain Shadowsong das Volk von Huln um einige Krieger bittet, die den Keil stärken sollen.« Nachträglich fügte er hinzu: »Bitte sie auch um ihre besten Bogenschützen.«
Der andere Nachtelf, der jetzt nicht mehr ganz so verzweifelt wirkte, nickte und ritt davon. Jarod hatte kaum Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, dann kamen auch schon die nächsten beiden auf ihn zu. Der Captain nahm an, dass man seine Versuche, die Reihen zu ordnen, bemerkt hatte. Wahrscheinlich glaubten die Soldaten jetzt, er spräche im Namen des toten Stareye.
Und obwohl er sich seiner Unzulänglichkeit bewusst war, konnte er sich den Problemen nicht verschließen. Er hörte sich an, was die Soldaten zu sagen hatten und versuchte eine Lösung zu finden.
Zu seiner Überraschung tauchte kurze Zeit später ein Mitglied der Mondgarde auf. Er war einer der höchsten Zauberer, wirkte aber erleichtert, als er Shadowsong sah.
»Die Bogenschützen behindern die geflügelten Dämonen. Wir ordnen gerade unsere Reihen, allerdings sind drei tot und zwei schwer verletzt. Wir versuchen uns um die Verdammniswache und die Hexenmeister zu kümmern, aber wir brauchen mehr Schutz.«
Jarod versuchte nicht zu schlucken. Er wollte seine Unsicherheit vor dem Zauberer verbergen. Er blickte die linke Flanke entlang und entdeckte einige Einheiten, die sich den Dämonen entgegen werfen wollten, doch durch die Soldaten vor ihnen daran gehindert wurden. Sie halfen niemandem, stellten sogar eine Gefahr dar, da sie die vorderen in die Klingen der Dämonen schoben.
Er winkte einen Soldaten zu sich heran. »Du reitest mit ihm zu den Reihen da hinten und lässt dir eine Schwadron mitgeben. Der Rest soll sich zurückhalten und die Reihen auffüllen, wo es nötig wird.«
Immer mehr Probleme tauchten auf. Jarod kam kaum dazu, Luft zu holen. Sogar die Irdenen und die anderen Verbündeten kamen zu ihm, wenn sie Hilfe benötigten. Jarod, der niemanden fand, der größere Autorität als er selbst besaß, beantwortete ihre Fragen und hoffte, dass er niemanden in den Tod schickte.
Der Captain rechnete ständig damit, dass die Dämonenhorde seine Leute überrennen würde, aber irgendwie hielten die Nachtelfen ihnen stand. Die Beharrlichkeit der Mondgarde und der Bogenschützen zeigte schließlich Erfolg, denn die Verdammniswachen flohen, obwohl viele Krüge noch nicht geleert worden waren. Die Verluste der Armee waren hoch, aber als sich der Kampf etwas beruhigte, begann Jarod zu ahnen, dass seine Entscheidungen noch mehr Tote verhindert hatten.
Schließlich fand der Captain endlich die Zeit, zu Rhonin zurückzukehren. Ein halbes Dutzend Soldaten schloss sich ihm an. Er hatte sie nicht darum gebeten, aber mehrere Offiziere hatten die Soldaten abgestellt, damit Jarod sie über seine aktuellen Befehle auf dem Laufenden halten konnte. Der ehemalige Wachoffizier fühlte sich in ihrer Gegenwart unwohl, denn sie behandelten ihn, als wäre er ebenso wichtig wie Stareye oder Ravencrest. Jarod Shadowsong war kein Adliger und auch kein Kommandant. Die Armee hatte sich zwar von ihrem Rückschlag erholt, doch das lag an den Soldaten, nicht an ihm.
Er war erleichtert, als er den Zauberer unverletzt vorfand. Allerdings reagierte er immer noch nicht, schien weder etwas zu sehen, noch zu hören.
Jarod versuchte vergeblich, ihm etwas Wasser einzuflößen. Frustriert wandte er sich an einen der Soldaten. »Bring einen Zauberer der Mondgarde zu mir. Beeil dich!«
Doch der Soldat kam nicht mit einem Magier zurück, sondern mit zwei Personen, die die Rüstung der Schwesternschaft trugen. Schlimmer noch, die ältere der beiden Priesterinnen war Maiev.
»Als man mir sagte, der befehlshabende Offizier suche nach einem Zauberer, hätte ich nicht gedacht, dass du gemeint sein könntest, kleiner Bruder.«
Captain Shadowsong hatte keine Zeit für die Sticheleien seiner Schwester. »Erspar’ mir deine Ironie, Maiev. Dieser Zauberer steht unter einem Fluch, den einer der obersten Dämonen ausgesprochen hat. Kann Elune ihn davon befreien?«
Sie sah ihn merkwürdig an, dann ging sie neben Rhonin in die Knie. »Ich habe nie jemanden von seiner Art getroffen, aber ich nehme an, dass er uns ähnlich genug ist, um vor Mutter Mond Beachtung zu finden. Jia, hilf mir. Mal sehen, was wir tun können.«
Die zweite Priesterin trat an Rhonins andere Seite. Die beiden hoben ihre Hände und drehten die Handflächen nach oben. Dann legten sie ihre Fingerspitzen aneinander. Ein silbernes Licht floss aus ihren Fingern die Arme hinauf und legte sich um ihre Körper.
Maiev und ihre Begleiterin begannen zu singen. Ihre Worte ergaben für Jarod keinen Sinn, aber er wusste, dass die Schwesternschaft in ihrer eigenen Sprache zu Elune betete.
Die Aura, von der die Schwestern umgeben waren, dehnte sich auf Rhonin aus. Sein Körper verkrampfte kurz, dann entspannte er sich.
Ein Reiter blieb neben der Gruppe stehen. »Wo ist der Kommandant?«
Einige der berittenen Boten nannten Jarod so, obwohl er sie immer wieder zurechtwies, es zu unterlassen. Die Störung ärgerte ihn so sehr, dass er auf dem Absatz herumfuhr und knurrte: »Halt den Mund, bis ich dir zu sprechen erlaube …«
Die Augen des Reiters weiteten sich. Der Captain bemerkte erst jetzt die goldenen Klappen auf dessen Schultern und das Emblem auf der Brustplatte.
Er hatte einen Adligen beleidigt.
Doch der Reiter schien es ihm nicht übel zu nehmen, denn er nickte nur entschuldigend und schloss den Mund. Jarod versuchte seine Überraschung zu verbergen, indem er sich wieder den Schwestern zuwandte.
Maiev schwitzte. Die zweite Priesterin zitterte. Rhonins Körper hatte sich noch mehr verkrampft, und seine ohnehin helle Haut war so weiß wie der Mond.
Der Zauberer richtete sich plötzlich auf. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, dann blinzelte Rhonin zum ersten Mal seit seiner Bewusstlosigkeit.
Der Mensch stöhnte. Er wäre gegen den Felsen gerutscht und hätte sich vielleicht verletzt, wenn der Captain ihn nicht gestützt hätte.
Seufzend schloss der Magier die Augen. Sein Atem ging gleichmäßig.
»Ist er …«
»Der Dämon hat seine Macht über ihn verloren, Bruder«, antwortete Maiev mit zitternder Stimme. »Er wird sich jetzt ausruhen, so lange es sein muss.« Sie stand auf. »Es war ein harter Kampf, aber Elune hat Großmut bewiesen.«
»Danke.«
Seine Schwester sah ihn erneut seltsam an. »Gerade du schuldest mir keinen Dank. Komm, Jia. Wir müssen noch vielen anderen helfen.«
Jarod sah Maiev einen Moment lang nach, dann wandte er sich an den Adligen. »Vergebt mir, Milord, aber …«
Der Reiter wischte seine Worte mit einer Geste beiseite. »Meine Sorgen können warten. Ich habe nicht bemerkt, dass es um den fremden Magier ging. Ich bin Lord Blackforest. Ich kenne dich, oder?«
»Jarod Shadowsong, Milord.«
»Nun, Commander Shadowsong, ich bin sehr froh, dass du nicht mit Lord Stareye und den anderen gefallen bist. Man sagt, du hättest bis zum Schluss versucht, ihn zu retten.«
»Milord …«
Blackforest ignorierte den Einwurf. »Ich sammle die Offiziere. Stareyes Strategien waren unzureichend, möge Mutter Mond mir meine Respektlosigkeit gegenüber einem Verstorbenen vergeben. Uns muss etwas Besseres einfallen – wenn wir überleben wollen. Du wirst natürlich da sein, um uns anzuleiten, nehme ich an.«
Jarod fehlten die Worte. Er nickte instinktiv und ohne nachzudenken. Der Adlige las aus der Geste offenbar Zustimmung, denn er nickte dankbar zurück.
»Mit deiner Erlaubnis werde ich das Treffen in meinem Zelt ausrichten und meine Suche fortsetzen.« Blackforest nickte ein weiteres Mal, dann wendete er sein Tier und ritt davon.
»Du hast es wohl inzwischen zu was gebracht«, sagte eine raue Stimme.
Er drehte sich um. Rhonin hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Der Zauberer wirkte immer noch blass, aber deutlich gesünder. Jarod nahm eine Wasserflasche aus einem Sack und reichte sie ihm. Rhonin trank gierig.
»Ich hatte Angst, der Zauber könne deinen Geist in Mitleidenschaft gezogen haben. Wie geht es dir, Meister Rhonin?«
»Als würde sich ein Regiment von Höllenkreaturen von innen gegen meinen Schädel werfen … und das heißt, dass es mir besser geht.« Der Mensch richtete sich auf. »Ich nehme an, es gab ein paar Probleme während meiner Abwesenheit.«
Der Captain berichtete alles, fasste sich aber kurz und spielte seine eigene Rolle herunter. Trotzdem sah der Zauberer ihn bewundernd an.
»Krasus hat dich also richtig eingeschätzt. Du hast nicht nur uns gerettet, sondern wahrscheinlich die ganze Welt … zumindest für den Augenblick.«
Die Wangen des Nachtelfen färbten sich dunkel. Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich bin kein Anführer, Meister Rhonin. Ich wollte nur überleben.«
»Na ja, nett, dass du allen anderen auch beim Überleben geholfen hast. Stareye ist also tot. Das tut mir Leid für ihn, aber nicht für die Armee. Freut mich, dass einige Adlige ihren Verstand wiedergefunden haben. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich mit ihnen treffen werde?« Jarod stellte sich vor, wie Blackforest und die anderen ihn umringten und anstarrten. »Ich bin nur ein Wachoffizier aus Suramar.«
»Jetzt nicht mehr …« Der Zauberer wollte aufstehen, benötigte aber Jarods Hilfe. Er streckte sich und sah dem Nachtelf in die Augen. »Nein, jetzt nicht mehr.«
Korialstrasz war noch nicht so geduldig wie sein älteres Ich, und so begann er nach einer Weile nervös zu werden. Der rote Drache wusste, dass einige Zeit bis zur Rückkehr der Gruppe vergehen würde – wenn sie überhaupt zurückkehrte –, und obwohl er versuchte, währenddessen seinen Frieden zu finden, gelang ihm das nicht. So viele Gedanken spukten durch seinen Kopf. Alexstrasza, die Brennende Legion, Krasus’ Anwesenheit … und so weiter. Er erinnerte sich auch nur zu gut an seine Niederlage gegen Neltharion. Jetzt näherte sich sein anderes Ich dem Nest des wahnsinnigen Drachen. Er befürchtete, dass auch Krasus der Dämonenseele zum Opfer fallen würde.
Frustriert begann der rote Riese, mit einer Klaue am Berg zu kratzen. Felsen, die für den Drachen so groß wie Kieselsteine waren, donnerten ins Tal. Doch nach einer Stunde lenkte auch das Korialstrasz nicht mehr ab. Nervös betrachtete er den dunklen Himmel. Er begann sich zu fragen, ob er es nicht doch wagen sollte, sich nur für ein paar Minuten in die Lüfte zu erheben.
Ein dumpfes Brüllen hallte durch das Gebirge.
Korialstrasz kletterte von dem Stein, auf dem er gehockt hatte und presste seinen gewaltigen Körper gegen eine Felswand. Er blickte nach oben und suchte nach dem Ursprung des Lautes.
Eine dunkle Gestalt flog über ihn hinweg. Es war ein kleiner schwarzer Drache. Er flog so langsam, dass es sich um einen Wächter handeln musste.
Korialstrasz zischte leise. Wäre der andere nur auf seinem Weg zu einem bestimmten Ziel gewesen, hätte es keinen Anlass zur Sorge gegeben. Doch der Schwarze patrouillierte ausgerechnet über diesem Gebiet. Das hieß, er stellte eine Gefahr dar.
Trotzdem wusste er nicht, ob er am Boden bleiben oder sich dem Wächter stellen sollte. Wenn die anderen noch nicht entdeckt worden waren, brachte ein Angriff sie nur unnötig in Gefahr. Vielleicht entkam der Wächter und warnte seinen Herrn. Andererseits fand er Krasus und seine Begleiter vielleicht, wenn Korialstrasz nichts unternahm.
Der rote Drache presste sich so fest er konnte gegen den Berg, während er über seiner Entscheidung grübelte. Er musste sich beeilen. Der Schwarze würde bald verschwunden sein.
Der Fels unter seinen Klauen gab nach, dann stürzte die gesamte Felswand ein. Korialstrasz verlor das Gleichgewicht und rutschte dem Tal entgegen. Instinktiv breitete er die Flügel aus und richtete sich auf. So entging er der gewaltigen Lawine, die er ausgelöst hatte. Er schüttelte den Kopf und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Ein ohrenbetäubendes Brüllen war die einzige Warnung, die er erhielt. Dann griff ihn der schwarze Drache auch schon von hinten an.
Korialstrasz’ Gegner war zwar etwas kleiner, doch die Wut seines Angriffs machte den Größenunterschied wett. Der Rote wurde ins Tal geschleudert. Sein linker Flügel strich schmerzhaft über den Fels.
Korialstrasz streckte seinen Vorderlauf aus und krallte sich in einen der Gipfel. Sein Schwung riss tonnenschwere Felsen aus dem Berg, bremste seinen Sturz jedoch leicht ab. Er ließ sich zur Seite fallen. Der schwarze Drache wurde von der Bewegung überrascht.
Der Drache taumelte an Korialstrasz vorbei, der sich im gleichen Moment aufrichtete. Er versuchte sich in die Luft zu erheben, aber sein Angreifer grub eine Klaue in seinen Rücken. Das zusätzliche Gewicht riss ihn dem Tal entgegen, aber Korialstrasz gab nicht auf.
Er flatterte so schnell er konnte und drehte sich in der Luft. Mit dem Schwanz schmetterte er den Schwarzen gegen einen Gipfel.
Der Drache schlug ein wie ein Geschoss. Felsen donnerten nach unten. Seine Klauen ließen den roten Drachen los, rissen ihm aber ein paar Schuppen aus dem Fleisch. Korialstrasz brüllte vor Schmerz. Blut lief über sein Bein.
Einen Moment lang vergaßen beide Drachen den Kampf, in den sie verwickelt waren und konzentrierten sich auf ihre Verletzungen. Plötzlich schlug der Schwarze nach Korialstrasz’ Hals. Der aber hob einen Flügel und wehrte den Angriff ab. Dann drosch er selbst los.
Der Flügelschlag trieb Neltharions Diener die Luft aus den Lungen. Mit einem letzten lauten Brüllen erhob er sich in die Luft und versuchte zu fliehen.
»Nein!« Korialstrasz konnte dem anderen Drachen die Flucht nicht gestatten. Der Wächter würde seinen Herrn alarmieren, der wohl kaum glauben würde, dass ein einzelner roter Drache in sein Territorium eingedrungen war.
Der Schwarze war klein und wendig, aber Korialstrasz war schlank und listig. Während sein Gegner ein schmales Tal umflog, entschied er sich für einen anderen Weg. Er hatte die Landschaft so lange angestarrt, dass er wusste, welche Täler sich mit anderen vereinten.
Er flog zwischen den Bergen hindurch. Auf der linken Seite lockte eine breit aussehende Schlucht, aber Korialstrasz wusste, dass das rechte Tal ihn seiner Beute näher bringen würde.
In einiger Entfernung hörte er den Flügelschlag seines Gegners. Der rote Drache begann sich Sorgen zu machen. Er hätte den anderen schon längst überholt haben sollen, statt dessen schien die Distanz größer zu werden.
Korialstrasz verstärkte seine Anstrengungen. Vor sich sah er den Punkt, den er gesucht hatte. Nur noch ein kurzes Stück … Er hörte den Schwingenschlag nicht mehr, war sich aber sicher, dass er endlich an seinem Gegner vorbei gezogen war.
Er wechselte hinüber in das andere Tal …
Ihre Flügel berührten einander. Beide Drachen brüllten, jedoch mehr überrascht als wütend. Korialstrasz fuhr herum und stieß den schwarzen Drachen auf einen kleinen Berg zu.
Doch der Kleinere hatte den größeren Schwung. Er zog an dem Roten vorbei.
Korialstrasz verfluchte sein Pech und folgte ihm. Er musste den anderen Drachen erwischen, egal, um welchen Preis. Zu viel war in diesem Kampf bereits schiefgegangen …
Korialstrasz brüllte entschlossen und setzte seine Verfolgungsjagd fort.
Doch dem roten Riesen war etwas entgangen, das sich unter ihm befand. Augen beobachteten ihn – zumindest jene Beobachter, die über Augen verfügten – und den anderen Drachen, als sie in der Ferne verschwanden.
»Ein bemerkenswerter Luftkampf, nicht wahr, Captain Varo’then?«
Der vernarbte Nachtelf schnaufte. »Ein guter Kampf, aber zu kurz.«
»Und zu wenig Blut für deinen Geschmack, nehme ich an?«
»Es gibt nie zu viel Blut«, entgegnete Azsharas Diener. »Aber genug der Worte, Meister Illidan. Ist das ein Hinweis darauf, dass wir endlich nah am Ziel sind?«
Illidan rückte den Schal sorgfältig vor seinen zerstörten Augen zurecht. Der Kampf hatte ihm einen sehr interessanten Anblick beschert, denn die Drachen waren magische Wesen, und so war der Himmel erfüllt gewesen von leuchtenden Energien und wilden Farben. Malfurions Bruder schätzte seine neuen Sinne. Sie zeigten ihm eine Welt, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.
»Das ist ja wohl offensichtlich, Captain, aber ist es nicht interessant, dass wir sowohl einen schwarzen, wie auch einen roten Drachen entdeckt haben? Wieso war wohl der zweite in diesem Gebiet?«
»Das hast du selbst gesagt. Diese Bestien leben hier.«
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Ich sagte, hier würden wir das Nest des großen Schwarzen finden. Der Rote war aus einem ganz bestimmten Grund hier.«
Varo’thens Gesicht zeigte einen besonders hässlichen Zug, als er begriff, worauf sein Begleiter hinaus wollte. »Die anderen Drachen sind hinter der Scheibe her! Das ergibt Sinn.«
»Ja.« Illidan ließ seinen Nachtsäbler antraben, der Captain folgte ihm. Die Dämonenkrieger marschierten hinter ihnen her. »Aber man würde sie leicht entdecken. Du hast gesehen, wie sie geschlagen wurden.«
Er dachte eine Weile darüber nach. »Ich glaube, ich habe die Zeichnung des Roten erkannt.«
»Na und? Diese Bestien sind alle gleich.«
»Gesprochen wie ein Hochgeborener.« Illidan strich sich über das Kinn, während er nachdachte. »Nein, ich habe ihn schon einmal getroffen … und ich glaube, wir werden bald einige bekannte Gesichter wiedersehen.«