10

Krasus fluchte, als er die Katastrophe spürte, die sich im Nest des schwarzen Drachen zutrug. Er hatte versucht, all die geheimen Zauber zu finden, die Deathwing rund um das Versteck der Dämonenseele errichtet hatte und wusste, dass auch Malfurion sein Bestes getan hatte. Trotzdem hatte man sie überlistet.

Noch schlimmer war jedoch, dass die Verbindung zu dem Druiden und dem Orc abgerissen war – und zwar nicht durch die Magie des schwarzen Drachen. Eine Macht, die auf ihre Weise ebenso furchtbar wie Deathwings war, hatte sich zwischen den Magier und seine Begleiter gestellt. Krasus ahnte, worum es sich dabei handelte.

Die Alten Götter waren selbst für die meisten Drachen, die zu Beginn der Welt geboren worden waren, nur Legenden. Krasus, der stets wissbegierig – oder wie Rhonin gerne sagte, unglaublich neugierig – war, wusste, dass sie weit mehr als das waren.

Man sagte, einst hätten drei dunkle Existenzen über ein so gewalttätiges Chaos geherrscht, dass es selbst die Dämonen der Brennenden Legion erschüttert hätte. Sie regierten über diese primitive Ebene, bis die Erschaffer der Welt eintrafen. Es kam zu einem Krieg kosmischen Ausmaßes, und am Ende waren die Alten Götter gefallen. Die Drei waren mit ewiger Gefangenschaft bestraft worden, ihre Kräfte wurden ihnen genommen. Niemand wusste, wo sich ihr Gefängnis befand.

Das hätte das Ende der Geschichte sein sollen, aber Krasus befürchtete, dass es den Alten Göttern irgendwie gelungen war, Kontakt zur Welt der Sterblichen aufzunehmen. Offenbar suchten sie nach einer Möglichkeit, ihrer Gefangenschaft zu entfliehen.

So langsam ergibt alles einen Sinn, dachte der Magier, während er auf der Suche nach seinen Freunden durch die felsige Landschaft schritt. Nozdormu … der Riss in der Zeit, unsere Reise in die Epoche der Nachtelfen und der Brennenden Legion … der Brunnen der Ewigkeit … sogar das Schmieden der Dämonenseele …

Die Alten Götter waren dabei, einen Schlüssel zu erschaffen, der die Tür ihres Kerkers öffnen würde – und falls das geschah, würde selbst Sargeras um die Gnade eines schnellen Todes winseln.

Wenn sie das Gefüge der Zeit auseinander rissen, konnten sie ihre Gefangenschaft ungeschehen machen. Vielleicht planten sie sogar, ihre Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Es fiel ihm schwer, über die Pläne der Alten Götter nachzudenken, denn sie standen so weit über ihm wie er über einem Wurm. Zumindest ihr oberstes Ziel konnte er jedoch nachvollziehen.

Ich muss Alexstrasza warnen, dachte Krasus instinktiv. Die Aspekte waren die mächtigsten Wesen auf sterblicher Ebene. Nur sie hatten eine Chance gegen die Alten Götter. Er verfluchte den Wahnsinn, der Neltharion, den Erdwächter in Deathwing, den Zerstörer verwandelt hatte. Zusammen wären die fünf Aspekte gewiss mächtig genug gewesen, um den Kampf gegen die uralten Wesen zu wagen. Ohne Neltharion jedoch …

Krasus rutschte aus und wäre um ein Haar in die Schlucht gestürzt, an der er gerade vorbei kletterte. Wie komplex waren doch die Pläne der Alten Götter! Sie hatten den Erdwächter verwandelt. Sie hatten Neltharions Geist verwirrt – und zwar aus mehr als nur einem Grund. Die Alten Götter hatten ihn zu einem Sklaven gemacht, der ihnen bei der Flucht helfen würde. Aber sie hatten gleichzeitig ihre einzigen ernstzunehmenden Feinde auseinander gebracht und damit geschwächt. Die übrigen vier Aspekte waren ohne Neltharion weit weniger bedrohlich.

Darüber hinaus hatten sie Nozdormu abgelenkt, was wohl auch Teil ihres Plans war.

Krasus hielt inne und lehnte sich gegen einen Felsen. Die Erkenntnis war niederschmetternd. Die dunklen Götter hatten sehr viel Geduld und Willenskraft in ihr Vorgehen gesteckt. Zu viele Figuren standen bereits an der für sie vorgesehenen Position, zu viele Pläne waren bisher unentdeckt geblieben. Wie sollte man sie jetzt noch aufhalten?

Wie?

Krasus war so tief in seine Gedanken versunken, dass er den gewaltigen schwarzen Schatten erst bemerkte, als er direkt über ihn fiel.

Deathwing füllte den Himmel aus.

»Du!« Der monströse Drache stieß seinen Atem aus.

Hätte ein anderer dort gestanden, wäre dies das Ende der Jagd gewesen und von seinem Körper wäre nichts geblieben außer ein wenig Asche inmitten kochender Lava. Aber hier hieß das Ziel Krasus, der Deathwing seit langer Zeit kannte und deshalb richtig reagierte – wenn auch im letzten Moment.

Als ihm Deathwings Feuerstrahl entgegen schoss, konterte er mit einer Mauer aus goldenem Licht. Der Strahl schmetterte gnadenlos gegen diesen zerbrechlich wirkenden Schutzschild, verpuffte jedoch. Krasus legte alle Kraft in seine Abwehr. Er taumelte und schwitzte. Sein Körper wünschte sich nichts sehnlicher als aufzugeben, doch das ließ er nicht zu.

Schließlich brach das geflügelte Monstrum über ihm den Angriff ab – jedoch nur, um Kraft für einen zweiten Stoß seines Feueratems zu sammeln.

Auf diese Pause hatte Krasus gewartet. Er hob seine Arme – und verschwand.

Allein hatte er gegen den schwarzen Giganten keine Chance. Der Ausgang eines solchen Kampfes hätte von vornherein festgestanden. Krasus war selbst zu seinen besten Zeiten nur der Gefährte eines Aspekts gewesen. Er hatte nie zum Kreis der fünf mächtigsten Drachen gezählt. Mut war zwar eine Tugend, aber nicht, wenn es keine Aussicht auf Erfolg gab.

Der Magier tauchte in der Nähe eines Berges auf, der südlich von jenem lag, den er gerade verlassen hatte. Er lehnte sich an einen Felsen und rang nach Atem. Die Verteidigung gegen den schweren Angriff seines Gegners und die magische Flucht hatten ihn stark mitgenommen. Er hatte eigentlich sogar gehofft, sich weiter entfernt von seinem Feind zu materialisieren.

»Ich kriege dich!«, brüllte der schwarze Drache. Seine Stimme hallte über die Berge. »Du entkommst mir nicht!«

Krasus hatte einen großen Vorteil, denn in seiner Wut dachte Deathwing nicht daran, seine magischen Kräfte optimal einzusetzen. Er durchkämmte zwar seine Umgebung, aber seine Sinne glitten so rasch über die Landschaft hinweg, dass der Magier sich problemlos abschirmen konnte.

Krasus stand mühsam auf und machte sich auf den Weg nach unten. Im Tal war es sicherer als in den Bergen.

Der Magier wusste nicht, was mit seinen Begleitern geschehen war. Er war sich allerdings sicher, dass sie Deathwing hatten entkommen können, sonst hätte der schwarze Drache sich nicht so wütend auf ihn gestürzt. Offenbar suchte er immer noch nach der Scheibe und glaubte nun, dass Krasus sie gestohlen hatte.

Das war gut. Er war bereit, sein Leben zu opfern, wenn er damit den Erfolg der Mission sichern konnte. Rhonin würde schon wissen, was zu tun war.

Er kletterte den Berg hinab. Trotz seiner Erschöpfung bewegte er sich schneller und geschickter als jeder Nachtelf oder Mensch. Die ganze Zeit über suchte Krasus nach Deathwing. Sein exzellentes Gehör achtete auf den Schwingenschlag des wütenden Titanen.

Einmal flog Deathwing direkt über ihn hinweg, aber der Magier verbarg sich unter einer Felsnase und wartete, bis die Gefahr vorbei war. Deathwing blies immer wieder Feuer über die Landschaft und ahnte wohl nicht, dass seine Wut gegen ihn arbeitete.

Dann tat der Drache das, was Krasus die ganze Zeit über befürchtet hatte. Deathwing kam wohl zu dem Schluss, dass er diesen Teil seiner Umgebung umfassend genug abgesucht hatte, denn er wandte sich ab und flog seinem Nest entgegen. Krasus wusste, dass der Schwarze noch nicht aufgegeben hatte. Er wollte seine Jagd nach der Dämonenseele nur an einem anderen Ort fortsetzen.

Krasus machte sich Sorgen um Malfurion und Brox. Er blickte auf den Drachen und konzentrierte sich.

Von allen Seiten schossen Deathwing plötzlich Felsen entgegen. Riesige Steinbrocken trafen seinen Kopf. Deathwing brüllte erschrocken auf, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe gegen einen Berg geprallt, wenn er sich nicht im letzten Moment gefangen hätte.

Krasus drehte sich um und lief los.

Der Schrei, der hinter ihm durch die Berge hallte, bewies ihm, dass Deathwing den Köder geschluckt hatte. Krasus blickte nicht hinter sich, seine Sinne verrieten ihm bereits, dass der Drache die Verfolgung aufgenommen hatte.

Krasus hatte einen Plan, doch dieser konnte nur funktionieren, wenn er den Drachen so nahe an sich heran ließ, dass er dessen fauligen Atem fast schon im Nacken spürte.

»Ich werde dich zu Asche verbrennen!«, brüllte sein monströser Gegner. »Zu Asche!«

Deathwing musste sich keine Gedanken um die Dämonenseele machen, denn sie würde allen Angriffen trotzen. Ironischerweise würde sich eine Schuppe des schwarzen Drachen als die einzige Schwachstelle der Scheibe erweisen … denn nur ein Teil seines eigenen Körpers konnte sie zerstören.

Krasus hatte lange über die Möglichkeit nachgedacht, die Dämonenseele bereits hier in der Vergangenheit zu zerstören. Aber er befürchtete, dass diese gewaltige Veränderung die Zeitlinie endgültig zerrissen hätte. Es war besser, wenn die Drachen sie auf jene Weise bekamen, wie er es vorhatte. Vielleicht würde dann die Geschichte ihren geplanten Lauf nehmen – sollte das überhaupt noch möglich sein.

Deathwing kam näher und näher. Der Schwarze wollte wohl sichergehen, dass sein vernichtender Stoß auch traf.

Gleich, dachte der Magier. Er spannte sich an.

Hinter sich hörte er, wie sein Verfolger einatmete, sich auf den Feuerstrahl vorbereitete.

Krasus biss die Zähne zusammen.

Es zischte – und der Boden, auf dem der Magier gerade noch gestanden hatte, wurde von dampfender, flüssiger Lava verschlungen.

Der Erdwächter erhob sich mit einem irren Lachen in die Lüfte. Er kreiste über einer Landschaft voller rot glühender Felsen. Die magischen Kräfte, die jedem Feuerstoß innewohnten, überlagerten die Aura der Scheibe, aber Neltharion hatte es nicht eilig, sie zu finden.

Er genoss den Tod des mysteriösen Drachenmagiers, dieses Schoßhundes von Alexstrasza, der seine Pläne beinahe vereitelt hätte. Es war schade, dass nichts von ihm übrig geblieben war. Der schwarze Drache hätte Alexstrasza gern ein Andenken an ihn überreicht, bevor er sie zu seiner Geliebten machte. Neltharion hatte gespürt, wie nahe sie einander standen, beinahe so, als wäre Krasus auf einer Stufe zu sehen mit dem unverschämten und aufmüpfigen Korialstrasz.

Doch wirklich wichtig war, dass er endlich tot war und die Scheibe bald wieder in seine Hände fallen würde. Er brauchte nur noch ein wenig Geduld zu zeigen. Die Seele musste ganz in der Nähe sein, war vermutlich irgendwo unter der Lava begraben und wartete darauf, wieder mit ihm vereint zu werden.

Ein kleiner, nagender Zweifel störte seine Freude. Neltharion dachte an die List, die sein Opfer bewiesen hatte und an die Tücke, mit der sie die Scheibe an sich gebracht hatten.

Langsam glitt er über die zerstörte Landschaft und suchte im Chaos der tobenden Energien nach seiner Schöpfung. Er spürte die Scheibe immer noch nicht, aber sie musste hier irgendwo sein.

Sie musste doch hier irgendwo sein …


Krasus materialisierte sich in einiger Entfernung. Die Hitze von Deathwings Angriff konnte er selbst bis hierher spüren. Er ließ sich zu Boden sinken. Ihm war klar, dass er auch dieses Mal nicht so weit geflohen war, wie er es beabsichtigt hatte.

Er hoffte, dass der schwarze Drache ihn für tot hielt und die Dämonenseele unter der Lava vermutete. Krasus war selbst ein Drache und kannte die Energien, die bei jedem Angriff ausgespien wurden. Der Aspekt würde eine Weile brauchen, bis er erkannte, dass seine Suche vergeblich war. Das war gut so, denn mit jeder Minute stiegen die Chancen von Malfurion und Brox.

Aber auch Krasus zog einen Vorteil aus der Pause, denn nun konnte er genügend Kräfte sammeln, um sich magisch zu seinen Gefährten zu versetzen. Es war Glück gewesen, dass sein Plan funktioniert hatte, denn er hätte zu wenig Stärke besessen, um sich auf anderem Wege gegen Deathwing zu wehren. Momentan wäre er schon froh gewesen, wenn seine Magie zum Entzünden einer Kerze ausgereicht hätte. Dem wahnsinnigen Aspekt wäre er hilflos ausgeliefert gewesen.

Ausgelaugt lag der Drachenmagier auf dem felsigen Boden. Das erste Sonnenlicht erhellte den kleinen Ausschnitt des Horizonts, den er sehen konnte. In dieser öden Landschaft, in der die Schatten der Berge die Täler verdunkelten, wurde es selbst bei Tag kaum richtig hell. Trotzdem freute sich Krasus über das Licht, denn er war ein Drache des roten Clans und damit ein Geschöpf des Lebens. Und das Leben gedieh am besten im Licht.

Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Helligkeit. Krasus entspannte sich für einen Moment.

Doch eine tiefe Stimme über ihm zerstörte seine Ruhe triumphierend.

»Ah! Habe ich dich also doch gefunden!«


Hunger begann an Tyrandes Magen zu nagen. Das war ein schlechtes Zeichen. Mutter Mond hatte ihre Hilfe lange aufrecht erhalten, aber es gab so viel für sie in ganz Kalimdor zu tun, dass sie sich nicht ewig um eine einzelne Priesterin kümmern konnte. Priesterinnen waren stets bereit, sich als Erste zu opfern, sollte die Notwendigkeit dafür entstehen.

Tyrande fühlte sich nicht verraten. Sie dankte Elune für ihre Hilfe. Jetzt stand nur noch die genossene Ausbildung der Schwesternschaft zwischen den Peinigern und ihrem viel zu zerbrechlichen, sterblichen Körper.

Jeden Abend brachte ein Hochgeborener bei Sonnenuntergang einen Napf mit Nahrung in ihre Zelle. Der Napf und sein Inhalt – irgendein Eintopf, der vermutlich aus den Resten eines Abendessens bestand – wurden auf dem Zellenboden neben ihrer Sphäre abgesetzt. Tyrande musste nichts weiter tun, als ihren Wächtern sagen, dass sie hungrig sei, dann würde sich die Sphäre auf magische Weise senken. Der Elfenbeinlöffel, der stets im Brei steckte, war schmal genug, um durch die Lücke zu passen.

Tyrande hatte bisher jede Nahrung verweigert, schließlich wusste sie, dass Lady Vashj ihren Tod wollte. Doch langsam wirkte sogar die kalte, undefinierbare Masse, die in dem Napf lag, appetitlich. Ein einziger Bissen hätte der Priesterin gereicht, um ihre Stärke für einen weiteren Tag aufrecht zu erhalten, ein ganzer Napf hätte ihr eine Woche, vielleicht sogar länger genügt.

Aber sie konnte nicht ohne fremde Hilfe essen, und fragen wollte sie nicht. Das wäre ein Anzeichen von Schwäche gewesen, das die Dämonen sicherlich ausgenutzt hätten.

Jemand schloss die Tür auf. Tyrande wandte den Blick rasch vom Napf ab, um sich nichts von ihrem zunehmenden Hunger anmerken zu lassen.

Ein grimmig aussehender Wächter zog die Tür auf. Hindurch trat ein Hochgeborener, den die Gefangene noch nie gesehen hatte. Seine bunte Robe wirkte kostbar, und es war ihm offensichtlich klar, dass er gut aussah. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kaste war er athletisch gebaut. Noch auffälliger war jedoch seine blass-violette Haut und sein Haar – braun mit goldenen Strähnen. So etwas hatte Tyrande noch nie gesehen. Doch wie alle Hochgeborenen blickte auch er die Wache herablassend an.

»Lass uns allein.«

Der Soldat befolgte den Befehl ohne Zögern. Er schloss die Tür ab und verließ den Trakt.

»Heilige Priesterin«, sagte der Hochgeborene. Von seiner herablassenden Art war plötzlich kaum noch etwas zu spüren. »Du könntest diese Situation für dich erleichtern.«

»Mutter Mond gibt mir all die Erleichterung, die ich benötige. Ich wünsche und brauche nicht mehr.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich, doch Tyrande glaubte Bedauern darin zu erkennen. Sie ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Sie hatte geglaubt, die Hochgeborenen seien Sklaven des Dämonenlords und ihrer Königin, doch dieser Nachtelf widersprach diesem Verdacht.

»Priesterin …«, begann er.

»Du kannst mich Tyrande nennen«, unterbrach sie ihn, in der Hoffnung, er würde sich vielleicht öffnen. »Tyrande Whisperwind.«

»Mistress Tyrande, ich bin Dath’Remar Sunstrider«, entgegnete der Hochgeborene mit gewissem Stolz. »Wir dienen dem Thron seit zwanzig Generationen.«

»Eine noble Ahnenreihe. Das ist ein Grund, stolz zu sein.«

»Und das bin ich.« Doch als Dath’Remar diese Worte aussprach, zog ein Schatten über sein Gesicht. »So wie ich es sein sollte«, fügte er dann hinzu.

Tyrande spürte, dass Dath’Remar etwas von ihr wollte. »Die Hochgeborenen haben dem Reich stets gedient und über das Volk und den Brunnen gewacht. Ich bin sicher, dass deine Ahnen keinen Fehler in deinem Handeln sehen würden.«

Der Schatten strich erneut über sein Gesicht. Dath’Remar sah sich um. »Ich bin hier, um dich zu bitten, etwas zu essen.« Er hob den Napf vom Boden auf. »Ich würde dir gern mehr anbieten, aber das erlauben sie nicht.«

»Danke, Dath’Remar, aber ich bin nicht hungrig.«

»Die Nahrung enthält keine Drogen und auch kein Gift, Mistress Tyrande, auch wenn einige dies gerne sähen. Das kann ich dir versichern.« Der gut aussehende Hochgeborene nahm den Löffel und aß ein wenig von der braunen Masse. Dann verzog er das Gesicht. »Was ich dir nicht versichern kann, ist, dass es schmecken wird … und dafür entschuldige ich mich. Du verdienst etwas Besseres.«

Sie dachte einen Moment lang darüber nach, dann ließ sie sich auf das Risiko ein. »Nun gut, ich werde etwas essen.«

Die Sphäre reagierte auf ihre Worte und senkte sich. Dath’Remar nahm seinen Blick nicht von der Priesterin. Hätte ihr Herz nicht schon einem anderen gehört, hätte Tyrande den Hochgeborenen für höchst attraktiv gehalten. Er wirkte nicht so selbstgefällig wie die meisten seiner Kaste.

Dath’Remar führte den vollen Löffel zu Tyrande. Das Elfenbein und die Nahrung, die sich darauf befand, leuchteten leicht auf, als sie den grünen Schleier passierten, der die Priesterin umgab.

»Du musst dich ein wenig vorbeugen«, sagte er. »Die Sphäre lässt meine Hand nicht durch.«

Die Priesterin folgte der Anweisung. Dath’Remar hatte nicht untertrieben, als er sich über den Geschmack des Eintopfes beschwerte, aber Tyrande freute sich innerlich trotzdem über die Nahrung. Ihr Hunger schien auf einmal um das Zehnfache zuzunehmen, doch das verbarg sie vor dem Hochgeborenen. Er hatte vielleicht Mitleid mit ihr, doch er diente dem Dämonenlord und Azshara.

Nach dem zweiten Löffel sprach er erneut. »Du musst nur aufhören, dich zu widersetzen, dann wird alles einfacher für dich. Wenn nicht, werden sie irgendwann genug von dir haben. Sollte dies geschehen, müsstest du um dein Leben bangen.«

»Ich muss dem Weg folgen, den Mutter Mond für mich vorgesehen hat, aber ich danke dir für deine ehrliche Sorge, Dath’Remar. Das ist ein Quell der Wärme in diesem Palast.«

Er legte den Kopf schräg. »Es gibt andere, die so denken, aber wir halten uns ruhig und schweigen.«

Tyrande betrachtete ihn nachdenklich und beschloss nachzuhaken. »Aber deine Loyalität zur Königin steht außer Frage.«

Der hoch gewachsene Nachtelf wirkte beleidigt. »Selbstverständlich!« Leiser fügte er hinzu: »Wir fürchten jedoch, dass sie nicht mehr sie selbst ist. Sie hört nicht mehr auf uns, die den Brunnen so gut wie niemand sonst kennen, sondern nur noch auf Fremde. Wir mussten all unser Wirken einstellen, damit der Herr der Legion in diese Welt geholt werden kann. Und wir wollten doch so viel erreichen! Ich …«

Er unterbrach sich, als er seinen eigenen Tonfall bemerkte. Grimmig und schweigsam fütterte Dath’Remar Tyrande. Sie sagte nichts über seinen Ausbruch, aber sie hatte genug gesehen. Der Hochgeborene war nicht nur wegen ihr hierher gekommen. Dath’Remar hatte eine Beichte ablegen wollen, um seine Seele zu erleichtern.

Der Napf war schnell geleert. Dath’Remar wollte ihn zur Seite stellen, aber die Priesterin, die ihn noch nicht gehen lassen wollte, fragte: »Könnte ich auch etwas Wasser bekommen?«

Der Wasserschlauch lag unangetastet direkt neben dem Napf. Tyrande hatte ihn nie benutzt. Dath’Remar griff sofort nach ihm, wollte die Begegnung offenbar ebenso wenig beenden wie sie. Er öffnete das eine Ende und hielt es Tyrande entgegen. Doch die Barriere ließ nicht zu, dass ihre Lippen den Schlauch berührten.

»Vergib mir«, murmelte er. »Ich vergaß.«

Der Hochgeborene schüttete Wasser in den Napf und fütterte die Priesterin mit dem Löffel, so wie er es bei dem Eintopf getan hatte. Tyrande wartete einen Moment, dann wagte sie einen erneuten Vorstoß.

»Es muss seltsam sein, neben den Satyrn zu arbeiten, die einst waren wie wir. Ich muss gestehen, dass ihr Anblick mich ein wenig verstört.«

»Sie sind die Glücklichen, die von Sargeras erwählt wurden, um ihm noch besser dienen zu können.« Die Antwort kam schnell und emotionslos. Die Priesterin hatte den Eindruck, dass er sie schon oft wiederholt hatte … vielleicht sogar vor sich selbst.

»Und du wurdest nicht erwählt?«

Sein Blick wurde hart. »Ich lehnte ab, obwohl das Angebot … verlockend war. Ich diene in erster Linie dem Thron und meiner Königin. Ich wünsche nicht zu einem dieser … zu einem von ihnen zu werden.«

Er legte Napf und Löffel zur Seite. Tyrande biss sich auf die Lippe. Sie befürchtete, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Aber eine andere Hoffnung blieb ihr nicht. Dath’Remar war ihre einzige Chance.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte der Hochgeborene. »Ich bin schon zu lang geblieben.«

»Ich freue mich auf deinen nächsten Besuch.«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Es wird keinen weiteren geben. Ich werde nicht zurückkehren.«

Dath’Remar drehte sich auf dem Absatz um, doch bevor er zur Tür gehen konnte, flüsterte die Priesterin: »Ich bin das Ohr von Elune, Dath’Remar. Wenn du jemals etwas sagen möchtest, werde ich dir zuhören. Alles bleibt bei mir. Kein anderer wird davon erfahren.«

Der Zauberer blickte zu ihr zurück. Er schwieg, aber Tyrande merkte ihm an, dass ihn ihre Worte berührt hatten. Schließlich antwortete Dath’Remar nach langem Zögern: »Ich werde versuchen, dir beim nächsten Mal etwas Wohlschmeckenderes mitzubringen, Mistress Tyrande.«

»Möge dich Mutter Mond segnen, Dath’Remar Sunstrider.«

Der Nachtelf neigte den Kopf, dann verließ er die Zelle. Tyrande wartete, bis seine Schritte verklungen waren. Sie nahm an, dass die Wachen sie in Augenschein nehmen würden, aber die Männer nahmen nur wieder ihre Positionen vor der Tür ein.

Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme erlaubte sich Tyrande Whisperwind ein Lächeln.

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