13

Jarod Shadowsong fühlte sich nicht wie eine Legende, aber alle sahen zu ihm auf, als wäre er eine. Sein guter Ruf, der nach seinen geringen Erfolgen auf dem Schlachtfeld schon weit besser gewesen war, als er es verdiente, war nach dem Eintreffen der mystischen Halbgötter praktisch explodiert. Dass Cenarius ihn öffentlich als den Kommandanten all dieser Wesen anerkannt hatte, hatte sich wie ein Lauffeuer in den Reihen verbreitet. Verschiedene Versionen dieser Geschichte kursierten. In einer war Jarod in eine goldene Rüstung gehüllt und hatte den knienden Herrn des Waldes mit einem leuchtenden magischen Schwert zum Ritter geschlagen. Obwohl die Geschichte lächerlich war, wurde sie von niemandem angezweifelt. Sogar die Adligen betrachteten den Offizier aus der niedrigen Kaste voller Bewunderung.

Doch Jarod konnte mit niemandem über seine eigenen Sorgen reden. Rhonin war zwar sein Vertrauter, aber der Mensch riet ihm immer nur, sich mit den Veränderungen in seinem Leben abzufinden.

Er wagte es nicht, zu den Priesterinnen zu gehen und ihnen von seinen Ängsten und Sorgen zu erzählen. Maiev stand kurz davor, zur Hohepriesterin ernannt zu werden. Er war sich sicher, dass seine Schwester von seiner Beichte erfahren hätte – und das war das Letzte, was er wollte.

Zum ersten Mal, seit man ihm das Kommando aufgedrängt hatte, ritt Jarod allein durch das Lager. Er hatte seinen Adjutanten gesagt, er würde nicht lange unterwegs sein, deshalb mussten sie ihm nicht folgen. Außerdem wusste ohnehin jeder, wer er war. Sie brauchten nur nach ihm zu fragen, wenn etwas Dringendes anstand.

Fast alle Soldaten salutierten vor ihm oder sahen ihn dankbar an. Einige Schwestern der Elune schauten von ihrer Versorgung der Verwundeten auf und nickten ihm respektvoll zu. Maiev war zum Glück nicht darunter.

Eine Priesterin, die für eine Nachtelfe recht klein war, rückte ihren Helm zurecht und lief auf ihn zu. Jarod hielt sein Reittier an. Er befürchtete, dass sie ihn um ein Treffen mit seiner Schwester bitten würde, aber er konnte sich schlecht von ihr abwenden.

»Commander Shadowsong, ich hatte gehofft, dich noch einmal zu sehen.«

Jarod betrachtete ihr Gesicht. Sie war hübsch, wenn auch etwas jünger als er aus der Ferne angenommen hatte. Sie kam ihm bekannt vor, aber woher … »Shandris … dein Name ist Shandris, richtig?« Sie war die Waise, um die sich Tyrande vor ihrer Entführung gekümmert hatte.

Ihre Augen weiteten sich. Es freute sie, dass er sich an ihren Namen erinnerte. Jarod fühlte sich unter ihrem forschenden Blick unwohl. Shandris trennten noch ein oder zwei Jahre von einem Bräutigam, und obwohl zwischen ihnen nicht allzu viele Jahre lagen, stellte dies eine Kluft von der Größe des Brunnens der Ewigkeit dar.

»Ja. Kommandant, hast du etwas von ihr gehört?«

Jetzt fiel ihm auch wieder die letzte Unterhaltung ein, die sie geführt hatten … und alle anderen davor ebenfalls. In jeder war es um ihre vermisste Retterin gegangen. Jarod war stets höflich zu ihr gewesen, hatte ihr aber nie die Antwort gegeben, die sie hören wollte. Nein, niemand hatte versucht, die Hohepriesterin zu retten. Wie denn auch? Man hatte sie bestimmt zum Palast gebracht und wahrscheinlich kurze Zeit später ermordet.

Aber Shandris glaubte nicht, dass Tyrande fortbleiben würde. Als Malfurion, von dem Shandris eine Rettungsmission am ehesten erwartete, zu seiner Reise aufgebrochen war, hatte sie halb damit gerechnet, dass der Druide mit der Priesterin zurückkehren würde. Jarod hatte versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber das junge Mädchen war so stur wie ein Taure. Wenn Shandris sich etwas in den Kopf setzte, gab sie nicht auf. Aus diesem Grund machte sich Jarod auch Sorgen, seit er bemerkt hatte, dass sie sich für ihn interessierte.

»Nichts, es tut mir Leid.«

»Und Malfurion? Ist er zurück?«

Er schüttelte den Kopf. »Auch von ihm gibt es kein Lebenszeichen, aber vergiss nicht, dass seine Reise ihn an einen entfernten Ort geführt hat. Was er und die anderen vorhaben, ist für unser Volk und sogar für dich wichtiger als die Rettung der Hohepriesterin. Das weißt du doch.«

»Sie ist nicht tot!«

»Das habe ich auch nicht gesagt«, gab er schlecht gelaunt zurück. »Shandris, es würde mich über alle Maßen freuen, wenn wir sie retten könnten. Aber selbst Mistress Tyrande würde verstehen, warum das nicht geht.«

Ihr Gesichtsausdruck fror einen Moment lang ein, dann entspannte sie sich. »Es tut mir Leid. Ich weiß, dass du sehr viel zu tun hast und dass ich dich nicht damit belästigen sollte, Jarod.«

Dem ehemaligen Wachoffizier fiel nicht auf, dass sie seinen Vornamen benutzte. Er versuchte sie zu beruhigen. »Ich bin stets für dich da, Shandris.«

Ihre Augen leuchteten auf, und er erkannte, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Die Novizin musterte ihn mit einem Blick, den Jarod Shadowsong von Frauen nicht gewöhnt war.

»Ich muss gehen, Shan …«, begann er, aber der Rest seines Satzes ging im Geräusch eines Schlachthorns unter. Jarod wusste, dass es sich dieses Mal um keine Verwechslung handelte. Nein, diese Hörner wurden an der Front geblasen, und das Gebrüll, das auf ihren klagenden Ton folgte, machte deutlich, dass der Kampf ein weiteres Mal begonnen hatte.

Er wandte sein Reittier ab. Eine schmale Hand legte sich auf sein Knie. Shandris Feathermoon sah zu ihm auf. »Commander Jarod! Möge der Segen Elunes mit dir sein.«

Jarod lächelte dankbar, dann trieb er sein Reittier an. Obwohl er nicht zurücksah, wusste er, dass ihre Blicke ihn verfolgten.


Er hatte sein Zelt noch nicht betreten, da erhielt er auch schon von allen Seiten Berichte. Dämonen waren am Südhang aufgetaucht, andere stießen durch den Fluss im Norden vor. Die Hauptstreitkraft hatte einen gewaltigen Keil gebildet, mit dem sie sich gnadenlos durch die Reihen der Verteidiger schlug. Sie schien unaufhaltsam zu sein.

»Die Aufklärer haben eine zweite Welle hinter der ersten ausgemacht«, rief ein Reiter, der gerade erst eintraf. »Sie schwören, das sie größer als die Hauptstreitmacht ist.«

»Wie viele von diesen verdammten Ungeheuern gibt es eigentlich?«, knurrte ein Adliger. »Haben wir ihre Reihen denn noch nicht ausgedünnt?«

Nicht Jarod gab die Antwort, die niemand hören wollte, sondern Rhonin. »Das haben wir … ein ganz klein wenig.«

»Aber bei Mutter Mond, wie sollen wir denn siegen, Fremder?«

Der Zauberer hob die Schultern und sagte das Einzige, was zu sagen war: »Wir müssen es einfach.«

Alle Blicke richteten sich auf Jarod. Er versuchte nicht nervös zu schlucken, als er zurückblickte und mit möglichst strenger Stimme erklärte: »Ihr alle wisst, was ihr auf euren Positionen zu tun habt. Wir müssen diesen Keil durchbrechen. Also los!«

Seine Entschlossenheit überraschte ihn selbst. Als die Offiziere zu ihren Einheiten eilten, wandte er sich an Rhonin. »Ich glaube, dass die zweite Welle ins Spiel kommen soll, wenn der Keil durchgebrochen ist.«

»Schick die Tauren los«, schlug der Zauberer vor.

»Ich brauche Hulns Leute da, wo sie momentan stehen.« Jarod dachte nach, aber die einzige Idee, die ihm kam, war eigentlich undurchführbar. Außer … »Ich muss Cenarius finden!«

Mit diesen Worten rannte er aus dem Zelt.


Die Zeit war gekommen, um diese Farce zu beenden.

Das dachte Archimonde, als er das Schlachtfeld mit all seinen Sinnen betrachtete. Er hatte erfahren, dass sein Herr einen sehr mächtigen Gegenstand erhalten hatte – die Scheibe, die der wahnsinnige Drache bei seinem beeindruckenden Massaker eingesetzt hatte. Sargeras schien davon überzeugt zu sein, dass die Scheibe ihm den Weg in diese Welt öffnete. Nach allem, was Archimonde gesehen hatte, glaubte er das sogar.

Nun, da Sargeras’ Ankunft in Kalimdor unmittelbar bevorstand, musste sein dämonischer Kommandant dafür sorgen, dass die Welt bereit für ihn war … er musste Sargeras einen Sieg bescheren. Sein Herr sollte sehen, dass Archimonde in der Lage war, ihm wie stets eine eroberte Welt zu präsentieren.

Und so ersann Archimonde mit der gleichen Tücke und Geschwindigkeit, die seit Urzeiten dafür sorgte, dass er an der rechten Seite Sargeras’ saß, einen Schlachtplan, mit dem er die lächerlichen Kreaturen auf dieser hinterwäldlerischen Welt endgültig auslöschen würde. Es würde keine Flucht geben, keinen Ausweg in letzter Minute. Er wusste, dass er einem neuen Gegner gegenüberstand, der immerhin ein wenig mehr Verstand besaß, als der aufgeblasene Narr, der die Armee vorher befehligt hatte. Dieser neue Kommandant hatte Archimonde eine Weile lang durch seine Glücksgriffe unterhalten. Aber Glück würde ihm auf lange Sicht nicht reichen.

Ich werde dir eine neue Trophäe bringen, dachte er. In seinen Gedanken sah er bereits, wie Hunderte von heulenden und klagenden Überlebenden in Ketten vor den Herrn der Legion gezerrt wurden. Ich werde dir viel Vergnügen bereiten, fügte Archimonde hinzu. Er freute sich auf die furchtbaren Foltermethoden, die Sargeras an den Gefangenen ausprobieren würde.

Ich werde dir diese Welt zu Füßen legen.


Der Keil der Dämonen stieß weiter vor, obwohl die Nachtelfen mit aller Macht dagegen hielten. Trotz der Unterstützung, die sie durch die Irdenen und die anderen Völker erhielten, konnten sie den Keil noch nicht einmal bremsen.

Eine Reihe von Höllenkreaturen befand sich an der Spitze des Keils. Mit monströser Effizienz warfen sie sich in den Kampf. Sie wurden von Eredar geschützt, die einen Schild um sie gelegt hatte, den keine normale Waffe durchdringen konnte. Selbst die Hämmer der Irdenen zeigten keine Wirkung. Ihre Träger wurden von den Höllenkreaturen einfach zerquetscht.

Die Soldaten in der Mitte der Front taten ihr Möglichstes, um den Keil aufzuhalten, doch die Dämonenhorden verdoppelten gleichzeitig ihre Anstrengungen an den Flanken, die nicht in der Schneise der Höllenkreaturen lagen. Die Soldaten dort waren bereits verängstigt und hatten ihnen nichts entgegenzusetzen.

Langsam aber stetig spaltete die Brennende Legion die Streitmacht in zwei Teile. Alle wussten, dass die Schlacht und mit ihr die Welt verloren waren, wenn ihnen das vollends gelang.

Rhonin und die Mondgarde taten, was sie konnten, doch sie waren nur Sterbliche und schneller erschöpft als die Eredar und anderen Zauberer der Legion. Außerdem mussten sie auf ihr eigenes Leben achten, denn Archimonde hatte sie zum Hauptziel erklärt.

Ein Nachtelfenzauberer, der neben Rhonin stand, schrie plötzlich auf und mumifizierte, als sauge etwas jegliche Flüssigkeit aus seinem Körper. Ein zweiter starb auf die gleiche entsetzliche Weise. Erst dann begriffen die anderen, was geschah.

Rhonin fühlte eine furchtbare Trockenheit in seinem Körper. Er taumelte, als Flüssigkeitsmangel ihn übermannte, konnte aber gerade noch rechtzeitig einen Schutzzauber sprechen.

Ein Zauberer der Mondgarde fing ihn auf, als er zusammenbrach. Rasch zerrte er ihn in die hinteren Reihen.

»Wasser«, krächzte Rhonin. »Ich brauche Wasser.«

Sie brachten ihm einen ganzen Schlauch voll, den er bis auf den letzten Tropfen leerte. Aber auch danach fühlte sich Rhonin noch, als habe er einen ganzen Tag lang nichts getrunken.

»Kir’altius ist tot«, sagte der Zauberer, der ihm geholfen hatte. »Es geschah so schnell, dass niemand einschreiten konnte.«

»Also drei … wie viele wohl an anderer Stelle?« Der menschliche Magier verzog das Gesicht. »Wir haben keine Chance. Wir können den Soldaten nicht helfen, wenn wir wie die Fliegen sterben … und wenn wir uns nur gegenseitig helfen, wird die Legion auch die letzten Linien durchbrechen.«

Der Nachtelf hob ratlos die Schultern. Beide wussten, dass sie diese Situation nicht ändern konnten.

»Hilf mir auf. Wir müssen ein gemeinsames Raster bilden. Dann können wir uns gegenseitig besser schützen, und vielleicht können …«

Hinter ihm riefen Hörner die Soldaten zur Schlacht. Rhonin und der Nachtelf sahen verwirrt in diese Richtung, da sie wussten, dass jeder Soldat bereits an der Front kämpfte.

Und dann sahen sie einen Angriff, wie ihn noch niemand in der Geschichte Kalimdors gesehen hatte. Es gab keine Kavallerie, keine Regimenter kampfgestählter Soldaten. Und es gab nur einen Nachtelf unter ihnen, und das war Jarod Shadowsong, der den Angriff auf seinem Nachtsäbler anführte.

Rhonin schüttelte den Kopf, konnte nicht glauben, was er sah. »Er greift den Keil mit den Wächtern Kalimdors an!«

Cenarius folgte dem Nachtelf, dann kamen die beiden Bären, Ursoc und Ursol, wenn Rhonins Erinnerung ihn nicht täuschte. Über ihnen flog Aviana, die Herrin der Vögel. Dahinter sah der Zauberer einen geflügelten Panther mit menschlichen Händen und einen Reptilienkrieger, der einen Schildkrötenpanzer trug. Und das war nur die erste Welle. Ihr folgten viele Wesen, die Rhonin noch nie erblickt hatte. Er kannte weder ihre Namen, noch ihre Titel, aber er spürte klarer als jeder andere die Macht, die sie ausstrahlten.

Der Zauberer lächelte voller Hoffnung.

»Mach die Mondgarde bereit«, befahl er. »Vergiss den Keil. Konzentriere dich nur auf die Zauber der Legion.« Rhonins Grinsen wurde breiter. »Dieser verdammte Jarod. Niemand außer ihm wäre naiv genug, als Anführer von Halbgöttern in die Schlacht reiten zu wollen und auch noch damit durchzukommen.«

Seine Stimmung wurde düsterer, als er an die Angriffe der Legion dachte. »Ich hoffe nur, ihre Hilfe reicht aus …«


»Vorwärts!«, rief Jarod, obwohl es überflüssig war. Sein Blickfeld war voller Höllenkreaturen und anderer Dämonen. Stumm übergab er seine Seele an Elune und bereitete sich auf den Tod vor. Er hoffte nur, dass dieser Akt des Wahnsinns den Feind so lange aufhalten konnte, bis irgendein Wunder geschah.

Die Höllenkreaturen verkörperten die Urgewalten. Sie existierten nur, um alles, was ihnen im Weg stand – ob Ding oder lebendiges Wesen – niederzutrampeln, zu zerstören, auszulöschen. Die Zauber der Hexenmeister und der anderen dunklen Magier der Legion machten sie zu einem unaufhaltsamen Gegner.

Bis sie auf Jarods Angreifer prallten.

Der Schildzauber der Eredar hatte keine Bedeutung für Cenarius und die anderen seiner Art. Sie kannten die natürliche Magie dieser Welt seit ihrer Entstehung. Sie durchbrachen den Schild, als wäre er Luft und walzten mit der gleichen Leichtigkeit die Höllenkreaturen nieder.

Agamaggan lief an allen anderen vorbei. Er schleuderte Erde mitsamt den Dämonen hoch, spießte Teufelswachen mit seinen Stoßzähnen auf und warf sie achtlos zur Seite. Verdammniswachen, die über ihm flatterten, versuchten ihn mit ihren Lanzen zu treffen, aber die, die sich zu nahe an den Dornenwald auf seinem Rücken wagten, wurden selbst aufgespießt.

Tote Dämonen hingen in seiner Mähne. Der Halbgott fuhr herum und trampelte einige Höllenkreaturen nieder. Die anderen wichen vor ihm zurück, wussten nicht, was sie tun sollten. Ihre Verwirrung übertrug sich auf die Teufelswachen, die noch nie in einer Situation gewesen waren, in der sich das Kriegsglück so schnell gewandelt hatte.

Verdammniswachen trieben sie mit Peitschen nach vorne, doch die Teufelswachen wurden nur unter den Hufen des Halbgottes zermalmt oder von seinen Stoßzähnen zerfetzt. Agamaggan hieß jeden Gegner, der so dumm war, schnaubend willkommen. Seine Augen leuchteten, während er den Weg frei räumte und die Beweise seiner Macht zerschmettert am Boden liegen ließ. Hoch stapelten sich die toten Krieger der Brennenden Legion. Agamaggan unterbrach seinen Kampf erst, als so viele Leichen in seiner Mähne hingen, dass er sie erst einmal entfernen musste. Der Eber schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dämonenüberreste flogen durch die Luft, dann stürzte er sich wieder in den Kampf.

Trotz solcher Rückschläge ließ der Angriff der Dämonen nicht nach. Jarods Schwert schlug einem Dämon, der Agamaggans Ansturm überlebt hatte, den Kopf ab. Cenarius griff nach einer Höllenkreatur, hob das Ungeheuer hoch über seinen Kopf und warf es seinen Brüdern entgegen. Zum ersten Mal fanden die Höllenkreaturen heraus, wie es sich anfühlte, von einem der ihren gerammt zu werden. Das Geschoss schlug mit solcher Wucht ein, dass Dämonen wie Dominosteine umfielen.

Die Zwillingsbären gingen direkter vor. Mit ihren gewaltigen Pranken fegten sie die Reihen der Dämonen zur Seite. Höllenkreaturen und Teufelswachen wurden wie Staub weggewischt. Mehrere Teufelsbestien sprangen aus dem einbrechenden Keil heraus und hefteten sich an den vorderen der beiden Bären. Er lachte und riss sie einfach aus seinem Fleisch. Er brach ihnen das Rückgrat und warf sie den anderen Dämonenkriegern entgegen.

Der Keil brach vollends in sich zusammen. Verdammniswachen glitten über die Reihen und versuchten das Chaos zu verhindern. Aber im gleichen Moment fielen gewaltige Vogelschwärme aus dem Himmel. Die Dämonen fuhren panisch herum, als winzige Finken und gewaltige Raubvögel in ihr Fleisch zu picken begannen. Zwischen ihnen schwebte Aviana, die Herrin der Vögel. Ihr anmutiges Gesicht hatte sich in das eines Adlers verwandelt. Die Halbgöttin schlug ihre Krallen in die Flügel der Dämonen und schickte sie in den Tod. Andere hielt sie fest, während Aviana ihnen mit ihrem spitzen Schnabel die Kehle herausriss.

Ein bärtiger, in Leder gehüllter Krieger, der gerade mal halb so groß wie ein Nachtelf war, ritt auf zwei weißen Wölfen in den Kampf. Er lenkte sie mit Zügeln, die er locker in einer Hand hielt. Mit der anderen schwang er lachend etwas, das wie eine Sichel aussah. Die warf er den Dämonen mit tödlicher Präzision entgegen. Sie drehte sich, köpfte einen Dämon, riss die Brust eines anderen auf und kehrte dann in die Hand des Kriegers zurück. Jedes Mal, wenn er seinen Wurf wiederholte, fuhr er eine blutige Ernte ein.

Der Angriff der Dämonen brach in sich zusammen, so wie beim Einsatz der Drachenseele. Solchen Feinden hatten sie noch nie gegenüber gestanden, und die Angst vor ihnen war größer als die vor Archimonde. Teufelswachen begannen das Undenkbare zu tun: Sie kehrten der Schlacht den Rücken.

Aber die, die diesen Fehler begingen, bezahlten ihn mit dem Leben. Archimonde ließ einen Rückzug nur zu, wenn er zu seiner Strategie passte. Die Dämonen, die seinem Zorn zum Opfer fielen, schmolzen. Das Fleisch und ihre Rüstungen glitten wie Wachs von ihren Knochen. Aus ihren Schreien wurden gurgelnde Laute, bis nichts von ihnen blieb außer einigen blubbernden Pfützen.

Die Aussage dessen wurde von den anderen Dämonen klar verstanden. Der Tod konnte einen auf vielfältige Weise einholen, aber einige Todesarten waren schlimmer als andere. Die fliehenden Krieger drehten sich um und stellten sich den Halbgöttern. Archimondes Drohgebärde schürte in ihnen die Kraft der Verzweiflung. Die Dämonen wussten, dass der Tod sie in jedem Fall erwartete, also kämpften sie ohne Rücksicht auf das eigene Leben.

Dir wilder Kampf zeigte erste Wirkung bei Jarods zusammen gewürfelter Truppe. Der Vielfraß- Wächter, den Rhonin anfangs gesehen hatte, fiel unter den Klingen von gleich zwanzig Teufelswachen. Doch selbst am Boden liegend riss er seine Angreifer noch mit Klauen und Zähnen in den Tod. Als er starb, bestand sein Grabhügel aus den Leichen der Legion. Sie stapelten sich höher als sein Kopf.

Andere teilten sein Schicksal, darunter auch die Herrin der Vögel. Archimonde brachte Verdammniswachen durch die Kraft seines Willens dazu, sich mit ihren Lanzen durch die Vogelschwärme zu kämpfen, bis sie jene fanden, nach der sie gesucht hatten. Zwei Dutzend Dämonen starben bei diesem Vorstoß, doch zu viele kamen durch. Sie umzingelten die Herrscherin aller geflügelten Wesen und durchbohrten sie mit ihren Lanzen.

Doch selbst das Blut der Halbgöttin kämpfte. Es rann die Schäfte der Waffen entlang und tropfte auf die Hände der Dämonen. Noch während sie starb, begannen ihre Mörder sich selbst zu zerfetzen, um dem Fluch ihres heiligen Blutes auf ihren dunklen Körpern zu entkommen. Sie alle starben, in Stücke gerissen bei dem Versuch, vor etwas zu fliehen, dem sie nicht entgehen konnten.

Lanzen und Klingen steckten in den Körpern der Bären, zahlreiche Schnitte bedeckten Cenarius’ Körper. Alle Halbgötter trugen die Spuren der dämonischen Angriffe, aber sie kämpften weiter.

Ihnen folgten die Nachtelfen, die Tauren, die Furbolgs und die Irdenen … jedes sterbliche Volk hatte sich der Streitmacht angeschlossen. Alle wussten, dass die Entscheidungsschlacht um Kalimdor begonnen hatte.


Rhonin fürchtete, dass die Legion diese Schlacht für sich entscheiden würde. Trotz der Halbgötter hatte die Streitmacht keine wesentlichen Siege errungen. Und wenn die Verteidiger die Brennende Legion auch mit solchen Verbündeten nicht vernichten konnten, welche Hoffnung gab es dann überhaupt noch?

»Wir brauchen die Drachen«, murmelte er, während er den Angriff eines Hexenmeisters abschmetterte. Drei weitere Zauberer waren gefallen, bevor die Mondgarde sich erholt hatte, und selbst jetzt konzentrierten sich deren Angehörige hauptsächlich auf die Magier der Legion.

»Wir brauchen die Drachen«, wiederholte Rhonin gebetsmühlenartig. Doch es hatte kein weiteres Lebenszeichen von Krasus gegeben, und der Zauberer begann sich Sorgen zu machen. Vielleicht war sein ehemaliger Mentor trotz seines großen Könnens im Nest des schwarzen Drachen gestorben.

Plötzlich kreiste ein gewaltiger dunkler Schatten über der Schlacht, und Rhonin spürte, wie sein Alptraum Wirklichkeit wurde. Deathwing war hier! Also waren Krasus und die anderen tot, und der schwarze Drache war hierher zurückgekehrt, um sich an all seinen eingebildeten Feinden zu rächen.

Doch als sich die geflügelte Bestie umdrehte, stutzte der Zauberer. Der Drache war nicht schwarz, sondern grau wie Stein. Sein Gesicht sah anders aus als das des Schwarzen, erschien Rhonin aber trotzdem vertraut. Es erinnerte ihn an einen anderen Drachen, den er im Kampf gegen die Orcs gesehen hatte …

Alexstrasza?

Der große graue Drache landete zwischen den Dämonen und zerquetschte mehrere unter sich. Mit einem Flügelschlag schmetterte er ein Dutzend mehr zur Seite. Der Riese brüllte, nahm ein paar Dämonen ins Maul, zerbiss sie und spuckte sie wieder aus.

Erst dann bemerkte Rhonin, dass der Drache keine Kehle hatte, um sie zu verschlingen. Er bestand tatsächlich aus Stein.

Gnadenlos wühlte sich der Steinriese durch die Legion. Der Zauberer sah, wie viel schon dieser eine Drache auszurichten vermochte und wünschte sich erneut, alle Leviathane wären Teil der Streitmacht.

Dann erst fragte er sich, aus welchem Grund das Abbild Alexstraszas der Armee zu Hilfe gekommen war.

»Krasus?«, stieß er hervor und sah sich um. »Krasus?«

Im gleichen Moment löste sich der große, hagere Magier aus dem Schatten des Drachen. Ihm folgten Malfurion und Brox. Alle drei wirkten erschöpft, aber unverletzt.

Rhonin zog sich vorsichtig aus der Schlacht zurück und lief ihnen entgegen. Beinahe hätte er sie umarmt, so glücklich war er, sie wiederzusehen.

»Den Göttern sei Dank, ihr lebt.« Er grinste. »Dann habt ihr wohl die Dämonenseele.«

Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da wusste er bereits, dass seine Annahme falsch war. Er sah die Freunde an und versuchte die Ereignisse aus ihren Blicken abzulesen.

»Wir hatten sie«, antwortete Krasus, »aber sie wurde uns von Helfern der Legion wieder genommen …«

»Dazu gehörte auch mein Bruder«, fügte Malfurion hinzu. Krasus hatte diesen Punkt nicht erwähnen wollen, aber der Druide widersprach ihm. »Es bringt nichts, das zu verschweigen. Illidan hat sich auf die Seite des Palasts geschlagen.« Der Druide zitterte vor Wut. »Des Palasts!«

»Aber der Drache? Was hat das zu bedeuten? Wo ist Korialstrasz? Du schriebst in deiner Nachricht, ihr hättet euch getroffen?«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen uns vorbereiten.«

»Worauf vorbereiten?«

Brox zeigte mit seiner Axt an den anderen vorbei. »Seht doch, der Steinerne.«

Sie folgten seinem Blick und sahen, dass Alexstraszas Abbild von Dämonen bedeckt war. Sie schlugen auf es ein, so wie die Irdenen eben noch auf die Höllenkreaturen eingeprügelt hatten. Einige attackierten die Beine, um den steinernen Drachen zu Fall zu bringen.

Der Zauberer begriff nicht, was geschah. »Warum fliegt sie nicht davon?«

»Weil die Zeit ihres Zaubers fast vorbei ist«, erklärte Krasus traurig.

»Ich verstehe nicht …«

»Sieh hin. Es geschieht bereits.«

Die Bewegungen des Steindrachen wurden fahrig, obwohl man seinem Körper kaum Schaden zugefügt hatte. Er schüttelte einige Dämonen von seinen Flügeln ab und schleuderte sie hoch in die Luft. Doch dies war das Letzte, was sie tat.

»Was passiert hier, Krasus?«

»Es war der Wunsch ihrer Schöpferin, dass sie uns hierher bringen sollte. Doch sie ist nur ein Schatten, und Schatten vergehen. Ihre Aufgabe ist erfüllt, Rhonin. Wir sollten dankbar dafür sein, dass sie überhaupt noch Schaden unter der Legion anrichten konnte.«

Seine Worte waren ruhig, aber die Blicke des Magiers verrieten sein Bedauern. Es fiel Krasus schwer, selbst ein Abbild seiner geliebten Königin leiden zu sehen.

»Es ist vorbei«, sagte Krasus.

Ohne Vorwarnung neigte sich die falsche Alexstrasza zur Seite. Sie faltete den Flügel auf dieser Seite und hob den anderen hoch in die Luft.

Mitten in dieser Bewegung erstarrte sie. Die Augen des Steindrachen wurden leblos.

Der untere Flügel brach unter dem Gewicht des Körpers ab. Die Dämonen, die auf der Statue gesessen hatten, versuchten sich festzuhalten und wurden von ihr zerquetscht.

Krasus lächelte voller Stolz. »Sie ist meiner Königin würdig, auch wenn sie nur ihr Schatten ist.«

Staub wallte rund um die riesige Statue auf. Die Beine und der noch erhobene Flügel brachen ab. Dämonenkrieger wichen zurück und versuchten den herab fallenden Felsbrocken zu entrinnen.

»Und was jetzt?«, fragte der Mensch. Seine Hoffnungen waren gestiegen, als er Krasus und die anderen gesehen hatte. Doch ohne die Scheibe und den Steindrachen hatte sich die Reise als sinnlos herausgestellt.

Krasus’ nächste Worte ermunterten ihn nicht gerade. »Was jetzt, junger Rhonin? Wir kämpfen weiter wie bisher und warten. Wir warten auf meine Königin und die anderen meiner Art. Die Dämonenseele ist an einem anderen Ort und wird sie für eine Weile nicht bedrohen. Jetzt müssen sie handeln.«

»Und wenn sie das nicht tun? Wenn sie wieder so lange zögern wie beim letzten Mal?«

Sein ehemaliger Mentor beugte sich vor, sodass nur Rhonin seine Antwort hören konnte. »Dann wird es Sargeras gelingen, Kalimdor zu betreten. Und wenn ihm das gelingt, wird er eine zehntausendjährige Zeitlinie ungeschehen machen.«

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