18

Brox war nur ein einfacher Krieger, aber er erkannte, wenn es um eine Schlacht schlecht stand. Zwar konnten er und die anderen die Nachtelfen und deren Ungeheuer besiegen, aber das war Zeitverschwendung, denn währenddessen näherte sich das Portal seiner Vollendung. Der Mahlstrom war bereits von einer düsteren grünen Aura umgeben. Der Orc wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis das Böse durch das Portal trat – unklar war nur noch, ob es sich dabei um Sargeras handelte oder jene Drei, von denen Krasus gesprochen hatte.

Eine Lanze verfehlte seinen Kopf nur knapp, ritzte sogar ein wenig seine Haut auf. Der Soldat, der sie gestoßen hatte, lenkte seine Fledermaus näher an den Bronzedrachen heran und holte zu einem erneuten Stoß aus.

Der Drache packte die Schattenkreatur. Die beiden Wesen kämpften. Dabei rutschte der Soldat zur Seite, sodass seine Lanze nicht die Brust des Orcs, sondern dessen Schulter traf. Brox stöhnte auf, als die Widerhaken an der Spitze Fleisch aus seinem Körper rissen. Trotz der Schmerzen beugte er sich vor und hieb die Lanze entzwei.

Fluchend zog der Soldat sein Schwert. Brox schlug alle Vorsicht in den Wind und sprang auf seinen Gegner zu.

Der Orc landete geduckt. Er hielt sich an einem Ohr der Fledermaus fest. Der Nachtelf war von dieser unerwarteten Reaktion so überrascht, dass er seinen Gegner mit offenem Mund anstarrte. Brox wuchtete ihm die Axt in die Brust. Der Soldat brach zusammen und rutschte vom Rücken der Fledermaus.

Brox mutige Aktion kostete ihn dennoch beinahe das Leben. Er hatte geglaubt, er könne einfach wieder auf den Drachen zurückspringen, aber der Rücken der Fledermaus war seltsam glitschig, sodass der Orc jeden Halt verlor, als er ihr Ohr losließ. Trotzdem, und obwohl er auf dem Schwanz des Ungeheuers hin und her rutschte, hielt er seine Axt fest.

Das Rauschen des Mahlstroms dröhnte in seinen Ohren. Er spürte, wie das Böse dort größer wurde, immer mehr anschwoll.

Im gleichen Moment pflückte ihn eine Klauenhand vom Rücken des Ungeheuers. Rhonin rief: »Wir haben dich, Brox!«

Der rote Drache, auf dem der Zauberer ritt, drehte sich, damit der Orc auf seinen Rücken klettern konnte. Rhonin half Brox hoch. Der ergraute Krieger setzte sich hinter ihn.

»Das war selbst für einen Orc ein wenig riskant, oder?«

»Vielleicht«, gab Brox zurück, während er an das Portal dachte. Er hielt sich für mutig, war aber trotzdem froh, nicht hinein gefallen zu sein. Je weiter sie sich vom Portal entfernten, desto besser fühlte er sich.

Der Zauberer spannte sich plötzlich an. »Pass auf, hier sind noch zwei!«

Die Schattenkreaturen flogen dem Drachen entgegen. Rhonins Hand leuchtete rot auf, als er begann einen Zauber zu weben. Brox hob seine Axt, um ihn zu unterstützen. Er freute sich auf die neuen Gegner. Sie lenkten seine Gedanken vom Portal ab.

Und von dem Bösen darin, das sogar einem Orc Angst einflößte.


Malfurions Hoffnungen sanken, als er sah, dass selbst Deathwing nicht gegen den Zauber ankam, der der Scheibe innewohnte. Wenn es nicht einmal dem schwarzen Drachen gelang, ihre Macht zu brechen, was konnten dann ein Druide und seine Begleiter tun? Aber Malfurion blieb keine Zeit, sich länger um die Zukunft zu sorgen. Denn im gleichen Moment stürzte sich eines der Ungeheuer auf Ysera. Die Fänge der Fledermaus gruben sich in die Schulter des Drachen. Malfurion wandte sich zur Seite, um nicht unter ihr begraben zu werden.

Ein Schwert schlug nach seinem Kopf und glitt haarscharf an seinem Ohr vorbei.

»Tückischer kleiner Narr!«, zischte Varo’then und hob seine Waffe erneut. Azsharas Offizier stieß zu und streifte leicht Malfurions Wange. Noch einmal holte er aus. »Der Nächste trifft deinen Kopf.«

Der Druide schob seine Hand in eine Gürteltasche. Er wusste, wonach er suchte und betete, dass er es auch finden würde. Er spürte eine vertraute Form unter seinen Fingerspitzen und zog die Samenkörner heraus.

Captain Varo’then veränderte seine Haltung. Er begann breit zu grinsen. Der sadistische Soldat war wahrlich ein perfekter Diener des Dämonenlords.

Die Klinge raste Malfurion entgegen. Im gleichen Moment schleuderte er die Samenkörner ins Maul der Fledermaus.

Das Ungeheuer krümmte sich zusammen. Die Schwertspitze, die eigentlich auf Malfurions Kehle gezielt hatte, schrammte statt dessen über sein Schlüsselbein, wo sie eine schmerzhafte, aber harmlose Wunde hinterließ. Malfurion stöhnte auf, ließ aber nicht los.

Varo’thens Reittier begann von innen zu leuchten. Der Captain versuchte, die Kontrolle über die Fledermaus zu behalten, scheiterte jedoch. Das Ungeheuer schlug kreischend um sich.

Eine Sekunde später ging es in Flammen auf.

Malfurion hatte die Hitze, die in den Samen steckte, schon in anderen Schlachten zu nutzen gewusst. Er besaß jedoch nur noch wenige, deshalb hatte er sie hier oben, wo sie nur wenig Erfolg versprachen, nicht einsetzen wollen. Doch die Schattenkreatur war direkt über ihm gewesen, deshalb nur war es ihm gelungen, allen Samen in ihr Maul zu befördern.

Das grausige Schauspiel strahlte so hell, dass Malfurion zur Seite blicken musste. Er hörte, wie Varo’then etwas rief, verstand seine Worte aber nicht.

Mit einem letzten schrillen Schrei stürzte die Bestie brennend in die Tiefe.

Malfurion hielt sich an Ysera fest und rang nach Atem. Die Herrin der Träume konnte nichts für ihn tun, denn ihre Aufmerksamkeit war auf eine der Fledermäuse gerichtet. Der Druide hielt sich so gut es ging fest, rang dabei um seine Fassung. Seine Wunden schmerzten, und das Wissen, dass die Scheibe nicht angetastet werden konnte, zehrte zusätzlich an seinen Kräften.

Ein scharfer Schmerz schoss durch seine Wade.

Malfurion schrie auf und hätte beinahe den Halt verloren. Blut tropfte in seinen Stiefel, während er wie wild nach der Ursache der Pein trat. Er blinzelte Tränen aus seinen Augen und blickte hinunter auf sein Bein.

Captain Varo’then hing an Yseras Bauch. Der vernarbte Soldat kämpfte sich Schuppe um Schuppe und vor Anstrengung keuchend nach oben.

Den Grund für Malfurions schmerzendes Bein – den gebogenen Dolch – hielt er zwischen den Zähnen. Malfurions Blut rann über das spitze Kinn des Nachtelfen, ohne dass dieser es zu merken schien.

Malfurion wusste nicht, wie es Varo’then gelungen war, sich von seinem brennenden Reittier zu lösen und an Ysera festzuhalten. Aber ihm war klar, dass er den Offizier schon wieder unterschätzt hatte. So hart er nur konnte trat er nach ihm, doch der Captain wich seinem Stiefel lässig aus. Malfurion konzentrierte sich darauf, nicht den Halt zu verlieren, während der kampfgestählte Varo’then sich seinem Gegner mit routiniertem Geschick näherte. Seine schmalen Augen taxierten Malfurion, als wäre er ein Tier, das geschlachtet werden sollte.

Der Druide griff nach seiner Gürteltasche, doch im gleichen Moment hob Varo’then seine linke Hand.

»Aaahh!«

Ein roter Blitz blendete Malfurion. Erst jetzt fiel ihm ein, dass Varo’then ein halbwegs talentierter Zauberer war, zwar nicht gut genug, um wirklich gefährlich zu sein, aber sein Können reichte aus, um Feinde abzulenken.

Malfurion hob seine freie Hand über den Kopf, was ihn vermutlich vor dem Tod bewahrte. Varo’thens gepanzerter Körper hing plötzlich über ihm. Der Nachtelf spürte heißen Atem im Gesicht.

»Das Licht der Lichter wird mich reich dafür belohnen!«, stieß der Captain aufgeregt hervor. »Mannoroth hast du überlistet! Archimonde hast du überlistet! Diese großen Dämonen konnten dir nichts anhaben. Lord Sargeras’ respektierte Kommandanten … ha! Das wird mich nicht nur bei ihr wieder ganz nach vorne bringen, sondern auch bei ihm. Mich! Lord Varo’then!«

»Sargeras will Kalimdor zerstören, nicht neu erschaffen«, erwiderte Malfurion seinem verblendeten Feind.

»Natürlich! Das weiß ich schon lange. Aber dieser armselige Flecken interessiert mich ohnehin nicht. Ich will nur der Königin dienen und ihre Armeen befehligen. Wo ich das tue, ist mir egal. Wer weiß, vielleicht macht mich Sargeras nach dieser Tat zu seinem höchsten Kommandanten. Dafür und für Azsharas Bewunderung sehe ich Kalimdor gerne brennen.«

Varo’then war wahnsinnig, trotzdem spürte Malfurion Wut in sich aufsteigen, als der Offizier so abwertend über das Ende aller Dinge und über die Welt sprach, die sein Volk hervorgebracht hatte. Das widersprach allem, woran Malfurion glaubte und allem, was Cenarius ihn gelehrt hatte.

»Kalimdor ist unser Blut, unser Atem und unser Leben!«, schrie der Druide wütend. »Wir gehören hierher wie die Bäume, die Flüsse und die Felsen. Wir sind Kalimdors Kinder. Willst du die Mutter erschlagen, die uns das Leben geschenkt hat?« Seine Stirn wurde heiß.

»Mach dich nicht lächerlich. Wir leben auf einem winzigen Stein, der nur einer unter vielen ist. Kalimdor ist ein Nichts! Dank der Legion und meiner Königin werde ich Tausende Welten sehen. Sie alle werden uns zu Füßen liegen. Macht, Druide! Macht ist mein Blut und mein Atem, verstehst du das?«

Captain Varo’then zog die Hand, in der er den Dolch hielt, aus Malfurions Griff. »Aber wenn dir das Ende Kalimdors solche Sorgen bereitet, sollte ich dich wohl ins Jenseits schicken, damit dich die Welt dort willkommen heißen kann.«

Doch Malfurions Wut hatte ihren Höhepunkt erreicht. Aus brennenden Augen starrte er Varo’then an. »Du willst Macht? Dann fühle die Macht der Welt, die du verraten willst, Captain!«

Diese Kraft floss wie Blut durch seine Adern. Er spürte, aus welcher Quelle sie stammte: Kalimdor. Die Welt war kein intelligentes Wesen, aber sie lebte – und durch Malfurion konnte sie sich endlich rächen.

Ein hellblaues Licht löste sich aus dem Druiden und traf Varo’then in die Brust.

Malfurions Angreifer schrie auf, als er vom Drachen geworfen wurde. Der Dolch entglitt seiner Hand. Hilflos hing der Captain über dem Brunnen der Ewigkeit. Das Licht beleuchtete Varo’then nicht nur, es brannte sich in ihn hinein. Sein Fleisch, seine Sehnen, seine Organe und seine Knochen schimmerten durch die Rüstung hindurch. Der schreiende Kopf des Offiziers sah aus wie ein Totenkopf unter gläserner Haut.

Varo’then hatte Kalimdor abgelehnt … und nun lehnte Kalimdor – durch Malfurion – ihn ab. Das Licht hüllte den Captain immer noch ein, begann jetzt aber einen Bogen über der Mitte des Brunnens zu spannen. Dann verschwand es plötzlich.

Captain Varo’then stürzte wie eine Kreatur der Hölle in das Portal.

Die Macht, die Malfurion erfüllt hatte, verging. Er fühlte sich ein wenig verloren, tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass die Welt noch nicht völlig wehrlos geworden war. Von Yseras Rücken herab warf er einen Blick auf Varo’thens letztes Ziel.

»Mal sehen, ob dich der Herr der Legion jetzt auch noch belohnt, Captain …«

Ein Ruck kostete ihn fast den Halt. Zwei Schattenkreaturen kämpften gegen Ysera. Die Herrin der Träume hatte eine bereits getötet, aber die zweite hatte ihren Flügel zerfetzt.

Malfurion klammerte sich mit einer Hand fest, dann griff er in eine seiner Gürteltaschen und holte eine Salbe heraus, die er gemischt hatte. Sie bestand aus verschiedenen Kräutern. Auf dem Schlachtfeld hatte sie ihm gute Dienste erwiesen, aber er wusste nicht, ob sie stark genug für ein so gewaltiges Wesen war.

Doch als er sie an der Unterseite des Flügels aufzutragen begann, spürte er bereits, dass sie ihren Zweck erfüllen würde. Die Salbe dehnte sich blitzschnell über den gesamten Flügel aus. Die Rippen darin wuchsen zusammen und heilten. Es blieben noch nicht einmal Narben zurück.

»Ich fühle mich gut!«, entfuhr es der Herrin der Träume – bevor sie die zweite Kreatur zerfetzte. Ysera wandte sich Malfurion zu. Er spürte die Intensität ihres Blickes durch die geschlossenen Augen. »Cenarius hat dir viel beigebracht …« Sie verstummte. Für einen Sekundenbruchteil öffnete sie die Augen. Dann fuhr sie fort: »Aber in erster Linie gründet dein Können auf deine natürliche Verbindung zu den Kräften, die du einsetzt. Ja, so ist es …«

Der Druide erkannte, dass sich ihr Blick auf seine Stirn gerichtet hatte. Er tastete danach und bemerkte, dass seine Hörner fast zehn Zentimeter länger geworden waren.

Ihm wuchs ein Geweih wie seinem Shan’do!

Doch bevor er über die Bedeutung dieser Tatsache nachdenken konnte, erhob sich ein Furcht einflößendes Brüllen über den Sturm hinweg.

Deathwing fiel aus den Wolken herab.

Der schwarze Drache warf sich ein weiteres Mal den undurchdringlichen Zaubern entgegen. Dort, wo keine Eisenplatten die Schuppen wappneten, strömte Lava aus seinem Körper. Seine Augen waren voller Wut. Er flog mit solcher Geschwindigkeit auf die Dämonenseele zu, dass Malfurion den Atem anhielt.

In der Nähe der Scheibe begann die Luft zu knistern. Gelbe und rote Lichtblitze zuckten über den Himmel und verrieten die Macht der Schutzzauber. Malfurion spürte neue Kräfte, die ihnen hinzugefügt worden waren, um sie zu stärken.

Deathwing prallte gegen den magischen Schild. Der Himmel um ihn herum explodierte in einem Energiegewitter. Es hätte den Aspekt verbrennen müssen, aber obwohl sein Fleisch und seine Schuppen brannten, kämpfte sich Deathwing weiter voran. Er brüllte den gewaltigen Kräften seinen Zorn entgegen. Sein Maul verzerrte sich zu einem wahnsinnigen, reptilienhaften Grinsen, das mit jedem Flügelschlag breiter wurde.

»Seine Besessenheit kennt keine Grenzen«, sagte Ysera beinahe bewundernd.

»Glaubt Ihr, dass er es schaffen wird?«

»Die wahre Frage ist … wollen wir, dass er es schafft?«

Schuppen lösten sich von dem verunstalteten Körper des Schwarzen. Die Blitze, die sich auf ihn richteten, brannten sich in ihn. Deathwing zuckte zwar gelegentlich zusammen, wurde jedoch nicht langsamer.

Ein roter Drache flog an Malfurion vorbei. Rhonin und Brox saßen darauf. »Krasus sagt, wir sollen uns bereit halten«, rief der Magier. Ein Zauberspruch verstärkte seine Stimme. »Er glaubt, dass es Deathwing gelingen könnte, die Scheibe zu erreichen. Dann müssen wir zuschlagen.«

»Deathwing«, murmelte Ysera. »Wie gut dieser Name nun auf ihn passt.« Sie richtete ihre Antwort an Rhonin: »Wir werden bereit sein.«

Wenn es so weit war, mussten sie sofort und koordiniert angreifen. Dieser Moment würde ihre einzige Chance sein … wenn sie auch nur wenig erfolgversprechender war als der Versuch, den Zauber zu überwinden. Dem Nachtelf gefiel das nicht, aber er würde alle Macht einsetzen, die Kalimdor ihm gewährte.

Er wusste, dass hier vielleicht alles enden würde. Unwillkürlich dachte er an Tyrande. Nicht an Illidan, sondern an Tyrande. Wie gerne hätte er ein letztes Mal mit ihr gesprochen und wie sehr hoffte er, dass sie überlebte, selbst wenn er an diesem Tag sterben sollte.

Malfurion?

Der Druide rutschte beinahe von Yseras Rücken. Einen Moment lang hielt er die Stimme in seinem Kopf für eine Illusion oder einen Trick der dunklen Mächte, gegen die sie kämpften. Doch dann erkannte er, dass es tatsächlich Tyrande war, die Kontakt zu ihm aufgenommen hatte.

Ihm fiel ein, dass sie das schon einmal getan hatte, damals, als es ihm nicht gelungen war, in seinen Körper zurückzukehren. Ihre Verbindung zu ihm musste stärker sein, als er für möglich gehalten hatte.

Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, da spürte er, dass sie ihn gefunden hatte.

Malfurion!, wiederholte sie hoffnungsvoll. O Malfurion, du bist es wirklich.

Tyrande! Du lebst! Bist du … haben sie …

Die Priesterin beruhigte ihn. Mutter Mond hat mich beschützt, und die Hochgeborenen, die zu unserem Volk zurückkehren wollen, haben mir geholfen. Ich weiß, dass du getan hast, was du tun musstest, aber hör mir zu. Dein Bruder …

Mein Bruder … Im dem Moment, da sie Illidan erwähnte, spürte der Druide eine Präsenz neben Tyrande, die fast seiner eigenen glich. Sie waren sich so nah, dass sie einander berühren mussten.

Bruder …, begann Illidan.

Du! Etwas wallte in Malfurion auf. Er wusste, dass er es unterdrücken musste, trotzdem gelang es ihm nicht völlig.

Malfurion!, rief Tyrande warnend. Hör auf! Du bringst ihn ja um.

Er wusste nicht genau, was er Illidan gerade antat, aber er versuchte das, was er herausgelassen hatte, wieder einzusperren. Zu seiner Erleichterung erholte sich Illidan rasch wieder.

Hätte nicht … nicht gedacht, dass so etwas … in dir steckt, Bruder. Illidan klang so herablassend wie immer, aber in seinen Worten schwang Überraschung mit. Der Bruder, den er für schwach gehalten hatte, war in Wirklichkeit stark.

Du hast dich für einiges zu verantworten, Illidan!

Wenn wir überleben, werde ich mich meinen Anklägern stellen.

Er hatte Recht. Weshalb sollte man Illidan verdammen, wenn der Tod so nah war? Außerdem erkannte Malfurion, dass er dringend benötigte Kräfte an seinen Bruder verschwendete.

Er drängte die Gedanken an Illidan beiseite und berührte Tyrandes Geist. Geht es dir gut? Hat er dir etwas angetan?

Nichts, Malfurion. Das schwöre ich bei Elune. Aber wir halten uns in den Ruinen nahe des Brunnens versteckt und wagen es noch nicht einmal, einen Zauber zu sprechen. Die Krieger des Dämons Mannoroth sind überall. Ich glaube, sie ahnen, wo wir uns aufhalten … trotz Illidans Zaubern und meiner Gebete.

Er wollte zu ihr gehen, aber das war nicht möglich. Malfurion fluchte. Wenn es uns gelingt …

In diesem Moment stieß Deathwing einen furchtbaren Schrei aus. Die wilden Emotionen, die darin schwangen, unterbrachen die Verbindung zu Tyrande und Illidan und sorgten dafür, dass sich Malfurion wieder ganz auf den Drachen konzentrierte.

Er sah empor zu Deathwing, dessen Körper jenseits aller Vorstellungskraft entstellt war, der jedoch so besessen von seiner Mission war, dass keine Qual ihn aufhalten konnte. Einige der Platten, die an seinem Körper hingen, glühten, und viele seiner Schuppen fehlten. Darunter war rohes, aufgerissenes und brennendes Fleisch zum Vorschein gekommen. Die Schwingen des Drachen waren eingerissen, und es wunderte Malfurion, dass der Erdwächter überhaupt noch fliegen konnte. Deathwings Klauen waren abgebrochen, so als habe er an einer unzerstörbaren Mauer gekratzt.

Dann erst bemerkte Malfurion, wie nah der Schwarze seiner Scheibe gekommen war.

»Bei den Schöpfern!«, rief Ysera. »Nichts vermag ihn aufzuhalten!«

Der Druide nickte langsam und erkannte, welch schlechtes Omen diese Worte waren. Es sah so aus, als würde Deathwing jeden Moment das Unmögliche vollbringen … und deshalb mussten diejenigen, die ihm die Scheibe stehlen wollten, das Gleiche vollbringen.


Weg … weg …, drängten die Stimmen, die den Drachen einst in all seinem Tun bestärkt hatten. Jetzt hatten sie sich – wie alle anderen – als Verräter erwiesen. Es stimmte tatsächlich: Neltharion konnte nur noch sich selbst trauen.

»Ich werde sie bekommen. Die Seele gehört mir, niemandem sonst!«

Er spürte, wie wütend die Stimmen über seine Weigerung waren. Sie attackierten seinen Geist, während sie gleichzeitig und auf anderem Weg die Zauber der Brennenden Legion stärkten. Der schwarze Drache hatte noch nie so gelitten, aber das war ihm die Scheibe wert. Zentimeterweise kroch er ihr entgegen, gab nicht auf. Die Seele war so nah.

Weg …, wurden die Stimmen nicht müde zu wispern. Weg …

Abgesehen von ihrer Wut fiel Neltharion auch ihre wachsende Sorge … ja, sogar Angst auf. Die Stimmen sahen ebenfalls, wie nah er seiner Schöpfung war. Vielleicht wussten sie, dass sie zusammen mit allen anderen bestraft werden würden, wenn sie ihm in die Hände fiel.

Eine weitere Macht mischte sich in den Kampf ein. Der Dämonenlord verstärkte aus seinem Reich die Kräfte, die den Schutzzauber aufrecht erhielten. Neltharion schrie auf, als die Schmerzen, die bereits in seinem Körper wüteten, noch um ein Vielfaches anschwollen.

Doch letztlich bestärkte es ihn nur in seiner Entscheidung. Der Drache verzerrte das Maul zu einem Grinsen und begann, all die auszulachen, die ihm sein Recht streitig machen wollten. Er lachte und überwand die letzte Kluft, die ihn noch von der Scheibe getrennt hatte.

»Sie gehört mir!«, brüllte er. »Mir!«

Seine Klaue schloss sich um die Dämonenseele.


»Wir müssen handeln!«, warnte Krasus Alexstrasza. »Jetzt, oder wir …«

Die Welt explodierte.

So wirkte es zumindest auf den Magier. Ein Wirbel aus wahnsinnigen Farben übermannte Krasus. Unter ihm schrie Alexstrasza erschrocken und schmerzerfüllt auf. Eine Titanenfaust traf den Drachen. Krasus versuchte sich an der Königin festzuhalten, doch seinem sterblichen Körper fehlte die Kraft dazu.

Er wurde abgeworfen.

Etwas flog an ihm vorbei – eine schreiende, brennende Schattenbestie.

Eine zweite, kleinere Gestalt stürzte neben ihr nach unten, vermutlich ihr Reiter. Einige Drachenschuppen folgten. Die Farbe war weg gebrannt und ließ sich nicht mehr erkennen.

Krasus versuchte, seinen Sturz zu bremsen, doch alle Zauber schlugen fehl.

Wir haben verloren, dachte er. Das ist das Ende.

Im gleichen Moment pflückte ihn eine riesige Klaue aus der Luft. Alexstrasza rief: »Er hat es geschafft! Er hat es geschafft!«

Der Magier blinzelte die Tränen aus seinen Augen und blickte zu Deathwing und der Dämonenseele.

Der schwarze Drache brüllte mit Urgewalt, als er die Scheibe den Zaubern entriss. Sein Körper flammte auf. Krasus hielt es für ein Wunder, dass der Aspekt noch lebte. Der Drache hielt die Scheibe empor und lachte triumphierend, trotz aller Pein, die er empfinden musste.

Im gleichen Moment schoss ein schwarzer Strahl aus den Tiefen des Brunnens herauf und traf Deathwing am Kopf.

Der schwarze Drache wurde mit solcher Kraft zurück geschleudert, dass er den Brunnen und das Ufer hinter sich ließ und zwischen den Wolken verschwand.

Die Dämonenseele, die seinen Fingern entglitten war, fiel dem Mahlstrom entgegen.

»Wir müssen sie bekommen, bevor Sargeras oder die Drei sie wieder mit dem Portal verbinden. Ich glaube, dass ich sie trotz Deathwings Zauber lange genug festhalten kann, damit unser Plan funktioniert. Aber wir müssen sie bekommen!«

»Ich werde es versuchen …«, keuchte Alexstrasza.

Erst jetzt bemerkte Krasus, wie schwer seine Königin durch die Kräfte, die Deathwing beschworen hatte, verheert worden war. Sie konnte sich kaum noch in der Luft halten.

Doch in diesem Moment flog ein grüner Drache an ihnen vorbei. Auf seinem Rücken saß ein einzigartig aussehender Nachtelf.

»Malfurion«, murmelte Krasus und betrachtete den Druiden, der nun ein Geweih auf dem Kopf trug, das an das seines Lehrers erinnerte. »Ja, er ist es, der es versucht …«

Doch das entband die anderen nicht von ihrer Pflicht. Trotz ihrer Wunden beeilte sich Alexstrasza. Auf Krasus’ rechter Seite näherten sich Rhonin und Brox auf einem zweiten roten Drachen. Der bronzefarbene Drache folgte ihnen ebenfalls, aber da er reiterlos war, konnte er den anderen nur zusehen.

Malfurions Drache näherte sich der herabfallenden Scheibe. Sie hinterließ eine goldene Spur in der Luft. Krasus hielt den Atem an, als der Druide die Hand danach ausstreckte … und sie auffing. Der Nachtelf presste sie gegen seine Brust.

Ein Schrei wie Donnergrollen kam aus dem Portal und erschütterte den Drachenmagier bis ins Mark. Er blickte hinab auf den schrecklichen grünen Sturm, der in der Mitte des Mahlstroms entstand.

Sargeras bahnte sich seinen Weg durch das fast vollendete Portal!


Brox war ein Krieger, der seine Grenzen kannte. Dies war die Stunde der Zauberer und Magier. Hier oben gab es keine Feinde mehr, die Schwerter oder Äxte schwangen.

Malfurion starrte auf die verfluchte Scheibe. Seine Augen waren weit aufgerissen und blinzelten nicht. Brox erkannte die verführerische Macht der Dämonenseele und rief dem Nachtelf zu: »Druide, du darfst ihr nicht vertrauen! Sie ist das Böse!«

Der Nachtelf sah auf und nickte dann entschlossen. Brox atmete erleichtert aus, doch der Atem stockte in seiner Brust, als er den Schrei aus dem Mahlstrom hörte. Es war der eines wütenden Gottes.

Der Schrei von Sargeras, dem Herrn der Brennenden Legion.

»Der Dämonenlord versucht, Kalimdor zu betreten!«, rief der rote Drache. »Das Portal ist fast fertig. Es könnte ihm gelingen … und dann sind wir alle verloren!«

Brox blickte auf den grünen Sturm. Er wurde kleiner und begann ein achteckiges Tor zu formen.

»Was geht da vor? Das Portal schrumpft, anstatt zu wachsen.«

»Sargeras erhöht seine Chancen, wenn er den Zauber konzentriert. Sobald er hindurch ist, kann er ihn problemlos wieder erweitern.«

Entsetzt löste Brox seinen Blick von dem monströsen Toben … und bemerkte, dass sich ihre Lage immer mehr verschlechterte. Aus Zin-Azshari erhoben sich Hunderte, vielleicht sogar Tausende geflügelter Kreaturen. »Seht nur! Da!«

Captain Varo’then und seine Soldaten hatten die Drachen angreifen dürfen, weil Mannoroth geglaubt hatte, man müsse sie nur aufhalten. Aber nach den Taten des schwarzen Drachen hatte er diesen Plan verworfen. Mannoroth wusste jetzt, welche Gefahr der Legion drohte. Deshalb hatte er jede Verdammniswache und all die anderen geflügelten Dämonen zusammengezogen, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

Brox hätte seine Axt nur zu gern in den angreifenden Schwarm geschlagen, aber er wusste, dass sein Beitrag lächerlich gewesen wäre verglichen mit Rhonins und Krasus’ Magie. Natürlich konnte er auf dem roten Drachen sitzen bleiben, während der Magier kämpfte, aber was würde das schon bringen?

Alexstrasza und Krasus, die weiter zurückgeblieben waren, hatten sich bereits umgedreht und erwarteten den Schwarm. Der zweite rote Drache begann sich vom Zentrum des Brunnens zu entfernen. Einzig Malfurion hatte noch die Möglichkeit, das Portal mit der Dämonenseele zu verschließen … wenn man ihm die nötige Zeit dazu verschaffte. Sogar Brox spürte die dunklen Energien, die sich im Portal zusammenbrauten. Sargeras hatte es fast geschafft.

Dem Orc fiel nur eine Lösung ein. Ein Teil von ihm hielt das für Wahnsinn, ein anderer drängte ihn zur Tat.

»Leb wohl, Zauberer!«, rief er. »Es war eine Ehre, mit dir und den anderen zu kämpfen!«

Rhonin starrte ihn an. »Was hast du vor?«

Brox sprang.

Der rote Drache versuchte nach ihm zu greifen, aber der Orc hatte ihn so überrascht, dass er zu spät reagierte. Brox stürzte an seinen Klauen vorbei auf die Mitte des Brunnens zu … wo der grüne Feuersturm seinen Höhepunkt erreichte.

Der Wind zerrte an ihm. Der Orc stieß seinen Kriegsschrei aus. Er umklammerte seine Axt so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er grinste so, wie er es an dem Tag getan hatte, an dem er und seine Kameraden den Pass mit ihrem Leben verteidigen wollten.

Als sich Brox dem Portal näherte, änderte sich seine Perspektive. Er sah Bewegung im Inneren. Unzählige Dämonenreihen bereiteten sich auf den Übergang in die Welt der Sterblichen vor. Zwar entdeckte Brox Sargeras nicht, aber er wusste, dass der Dämonenlord sehr, sehr nahe war.

Und dann erreichte der Orc das Portal.

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