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Zin-Azshari. Einst hatte die Stadt am Rand des Brunnens als Höhepunkt nachtelfischer Baukunst gegolten. Sie war die Heimat von Azshara, ihrer geliebten Königin. Ihr zu Ehren hatten die Nachtelfen ihre Hauptstadt sogar umbenannt.

Doch heute bestand Zin-Azshari nur noch aus Ruinen. Hier hatte die Brennende Legion ihre Invasion begonnen.

Wölfische Teufelsbestien trotteten durch die Trümmerberge und suchten nach den unverwechselbaren Spuren von Leben und Magie. Die beiden Tentakel, die sich oberhalb ihrer Schultern befanden, zuckten umher, als seien sie von einem eigenen Willen beseelt. Die zahnbewehrten Saugnäpfe an ihren Enden öffneten und schlossen sich hungrig. Teufelsbestien liebten es, einem Magier die Lebensenergie und Magie auszusaugen, doch die spitzen Zahnreihen in den Mäulern verrieten, dass sie auch Fleisch nicht verachteten.

Zwei der Dämonenhunde, die in den Ruinen eines fünfstöckigen Baumhauses umherschnüffelten, hoben den Kopf, als sie das Geräusch marschierender Soldaten und das Klappern von Metall hörten. Reihe um Reihe zogen die Krieger an ihnen vorbei. Ihr Ziel war die Nachtelfen-Armee, einige Tagesmärsche entfernt. Die Teufelswachen bildeten das Rückgrat der Invasoren. Von ihrer Art gab es mehr als von allen anderen zusammen genommen. Sie waren mehr als drei Meter groß, hatten breite Schultern, aber seltsam schlanke, fast schon dürre Hüften. Geschwungene Hörner ragten aus ihren fleischlosen Schädeln. Aus blutroten Augen beobachteten sie misstrauisch die zerstörte Landschaft. Sie marschierten zwar diszipliniert, aber ihre Ungeduld war deutlich spürbar, denn die Teufelswachen lebten für den Kampf. Ab und zu pöbelte ein Krieger einen anderen an, doch Schlägereien blieben aus. Dafür sorgten die Peitschen der geflügelten Verdammniswachen, die über den Regimentern schwebten. Sie waren etwas größer als ihre Brüder am Boden, unterschieden sich sonst von ihnen aber nur durch ihre höhere Intelligenz und geringere Zahl.

Obwohl Zin-Azshari von dichtem Nebel durchzogen war, konnten sich die monströsen Armeen mühelos orientieren. Der Nebel gehörte zu ihnen wie die Schwerter, Äxte und Lanzen, die sie schwangen. Die grünlichen Schwaden harmonierten mit den Flammen, die jeden Dämon umgaben.

Die Schädel gemeuchelter Nachtelfen verfolgten den Marsch der Brennenden Legion aus leeren Augenhöhlen. Sie waren zu Beginn der Invasion von der Königin, die sie so verehrt hatten, getötet worden. Nur die Hochgeborenen, die Diener der Königin, waren dem Massaker entgangen. Ihre Quartiere lagen hinter hohen Mauern, die verhinderten, dass ihre feinen Sinne von dem Blutvergießen gestört wurden. In ihren farbenfrohen Roben warteten sie auf Azsharas Befehle.

Die Krieger des Palastes hielten immer noch Wache auf den Türmen. In ihren Blicken loderte der gleiche Fanatismus wie er den Dämonen zu eigen war. Kommandiert wurden sie von Captain Varo’then, der trotz seines Ranges die Macht eines Generals hatte. Er vertrat den Willen der Königin, wenn Azshara nicht der Sinn nach Staatsgeschäften stand. Die Soldaten waren ihm treu ergeben. Sie waren bereit, sich zusammen mit den Dämonen gegen ihr eigenes Volk zu stellen. Das Massaker an der Stadtbevölkerung hatten sie ohne eine Reaktion hingenommen. Wie fast alle Bewohner des Palastes waren sie Azshara hörig und dienten dem Herrn der Brennenden Legion.

Sargeras.


Eine Person, die weder der Königin noch dem Dämon diente, hing in einer Zelle tief unter dem Palast und versuchte sich durch Gebete zu ihrer Göttin von ihrer Furcht abzulenken.

Tyrande Whisperwind war in einem Alptraum erwacht. Sie erinnerte sich vage an eine furchtbare Schlacht, in der die Priesterinnen der Elune – Mutter Mond – gekämpft hatten. Tyrande hatte sich am Kopf verletzt, als sie von ihrem tödlich getroffenen Reittier stürzte. Malfurion hatte sie in Sicherheit gebracht. Danach verschwammen die Erinnerungen in ihrem Geist. Sie nahm furchtbare Bilder und Geräusche wahr, sah ziegenähnliche Kreaturen, die mit langen Klauen nach ihr griffen, hörte Malfurions verzweifelte Rufe und dann …

Und dann war die Priesterin hier erwacht.

Aus silbernen Augen sah sie sich zum vielleicht tausendsten Mal in ihrem Kerker um. Sie presste die Lippen zusammen und suchte nach innerer Ruhe. Dann schüttelte sie den Kopf. Ihrer langes bläuliches, von silbrigen Strähnen durchsetztes Haar wurde nicht mehr von einem Helm gehalten und fiel locker über ihre Schultern. Nichts hatte sich seit Tyrandes letzter Untersuchung der Zelle verändert. Wieso hatte sie überhaupt darauf gehofft?

Ihre Handgelenke und Knöchel waren nicht gefesselt, doch das spielte keine Rolle. Eine leuchtende grüne Aura, die ein Stück über dem Steinboden schwebte, hüllte sie von Kopf bis zu den Füßen ein. Darin stand Tyrande, die Arme über den Kopf gestreckt, die Beine fest aneinander gepresst. Die Hohepriesterin hatte alles versucht, aber sie konnte ihre Gliedmaßen nicht bewegen. Die Magie des großen Dämons Archimonde war der ihren in diesem Punkt weit überlegen.

Und doch hatte Archimonde sein höchstes Ziel nicht erreicht. Es war von Anfang an klar gewesen, dass er sie foltern und ihren Willen brechen wollte, damit sie sich ihm und seinem Herrn unterwarf. Dazu standen ihm Mittel wie seine eigene furchtbare Fantasie zur Verfügung sowie die dunklen Künste der Hochgeborenen und der teuflischen Satyrn.

Aber als der Dämon zu seiner Folter ansetzte, bildete sich eine feine Aura aus Mondlicht um den Körper der Priesterin. Weder Archimonde noch seinen Sklaven gelang es, sie zu durchstoßen. Tyrandes Rüstung hätte sie vor seinen Angriffen ebenso wenig schützen können wie der dünne silbrige Umhang, den man ihr vom Leib gerissen hatte – doch die Aura wirkte wie eine meterdicke Mauer. Immer wieder warf sich Archimonde dagegen, immer wieder scheiterte er. Wütend griff der tätowierte Riese schließlich nach einer ahnungslosen Teufelswache und zerfetzte ihr mit einer nachlässigen Bewegung die Kehle.

Von diesem Tag an ließ man Tyrande in Ruhe. Die Dämonen hielten den Sieg über die Armee der Nachtelfen wohl für wichtiger als den über eine einsame Priesterin. Natürlich würde sich das irgendwann ändern, denn die Satyrn, von denen sie durch das magische Portal getragen worden war, hatten ihrem Herrn berichtet, dass sie jenem nahe stand, den Archimonde jagte – Malfurion. Die Dämonen würden Tyrande gegen ihn einsetzen, das war die größte Furcht der Priesterin. Sie wollte nicht die Schuld an Malfurions Untergang tragen.

Sie hörte Schritte in den Gängen des Kerkers. Besorgt hob sie den Kopf, als jemand die Zellentür aufschloss. Ein Nachtelf, den sie fast so sehr fürchtete wie Archimonde, trat ein. Der vernarbte Offizier trug eine grün schimmernde Rüstung, auf deren Brust goldene Sonnenstrahlen leuchteten. Seine eng zusammen stehenden Augen schienen nie zu blinzeln, und wenn er Tyrande ansah, bohrte sich ihr Blick so tief in ihre Seele, dass sie zur Seite schauen musste.

»Sie ist bei Bewusstsein«, sagte Captain Varo’then zu einer Person, die hinter ihm stand.

»Dann lasst mich eintreten«, antwortete eine verführerisch klingende, weibliche Stimme. »Ich will wissen, was Lord Archimonde an dieser Beute findet.«

Varo’then trat mit einer eleganten Verbeugung zur Seite. Tyrande hielt die Luft an, obwohl sie bereits geahnt hatte, wer hinter ihm stand.

Königin Azshara war genau so schön und perfekt, wie es die Geschichtenerzähler behaupteten. Glänzendes silbernes Haar fiel über ihren Rücken. Ihre Augen waren golden, ihre Lider halb geschlossen, ihre Lippen voll und verführerisch. Sie trug eine Seidenrobe, die zu ihrem Haar passte und so durchscheinend war, dass man ihren schlanken Körper darunter mehr als nur erahnen konnte. Juwelenarmbänder umschmiegten ihre Handgelenke, dazu passende Ohrringe hingen von den Ohrläppchen fast bis zu den Schultern herab. In die Tiara, die ihr Haar zurückhielt, hatte man einen Rubin eingearbeitet, der das flackernde Fackellicht blendend hell reflektierte.

Eine zweite Frau befand sich hinter der Königin. Unter normalen Umständen hätte sie als schön gegolten, doch neben Azshara verblasste sie. Die Zofe trug fast die gleiche Kleidung wie ihre Herrin, nur die Qualität war deutlich schlechter. Sie trug die gleiche Frisur, aber ihre silbernen Haare waren gefärbt und wirkten stumpf. Nur ihre Augen hoben sich ab. Sie waren zwar ebenso silbrig wie die der meisten Nachtelfen, aber katzenhaft geschwungen.

»Das ist sie?«, fragte die Königin sichtlich enttäuscht, nachdem sie den ersten Blick auf ihre Gefangene geworfen hatte.

In Azsharas Gegenwart fühlte sich Tyrande noch unbedeutender als die Zofe. Sie hätte sich am liebsten das Blut und den Schmutz vom Gesicht gewischt, doch das ging nicht. Die Priesterin wusste zwar, dass die Königin ihr Volk verraten hatte, spürte aber trotzdem den Wunsch, vor ihr niederzuknien – so gewaltig war das Charisma der Monarchin.

»Du solltet sie nicht unterschätzen, Licht der Lichter«, antwortete der Captain. Der Blick, mit dem er Azshara betrachtete, war voll brennender Sehnsucht. »Sie scheint unter dem Schutz der Elune zu stehen.«

Das schien die Königin nicht zu beeindrucken. Sie kräuselte ihre perfekte Nase, dann fragte sie: »Wer ist schon Elune, verglichen mit dem großen Sargeras?«

»Weise gesprochen, Euer Majestät.«

Azshara trat näher heran. Jede auch noch so kleine Bewegung wirkte berechnet, so als wäre sie eine Schauspielerin vor ihrem Publikum. Tyrande hätte am liebsten vor ihr gekniet.

»Auf eine derbe Art ganz hübsch«, sagte die silberhaarige Königin beiläufig. »Sie wäre vielleicht eine brauchbare Zofe. Was hältst du davon … wie heißt sie noch, Captain?«

»Tyrande«, erklärte Varo’then mit einer knappen Verbeugung.

»Tyrande … wärest du gern meine Zofe? Du könntest im Palast leben und vielleicht einmal eine Vertraute von mir und meinem Herrn werden. Was meinst du?«

Die andere Nachtelfe starrte ihre Königin entsetzt an. Sie versuchte noch nicht einmal, ihre Eifersucht zu verbergen.

Tyrande biss die Zähne zusammen. Dann sagte sie: »Ich habe mein Leben Mutter Mond gewidmet, mein Herz gehört ihr.«

Eine Boshaftigkeit, die fast schon der Captain Varo’thens gleichkam, verzerrte die Gesichtszüge der Königin. »Undankbare kleine Schlampe! Und auch noch eine Lügnerin! Du verschenkst dein Herz doch sehr leichtfertig, zuerst an den einen Bruder, dann an den anderen. Habe ich noch welche vergessen?« Als Tyrande nicht antwortete, fuhr Azshara fort: »Kann man mit Männern nicht wundervoll spielen? Macht es nicht Spaß, wenn sich deine Geliebten wegen dir streiten? Der Anblick des Blutes, das nur wegen dir fließt … Ich muss dich loben! Brüder, Zwillinge auch noch, das zeugt von Stil. Du siehst zu, wie sie ihre Familienbande abstreifen, bis sie sich gegenseitig die Kehle zerfetzen wollen … nur um dir zu gefallen.«

Varo’then kicherte. Die Zofe lächelte boshaft. Tyrande spürte, wie eine Träne über ihre Wange rollte und verfluchte ihre Gefühle.

»Oh, verzeih mir. Habe ich ein unangenehmes Thema angesprochen? Ich entschuldige mich. Der arme Malfurion, der arme Illidan … das sind doch ihre Namen, oder? Vor allem um Illidan tut es mir Leid. Es ist eine Tragödie, was mit ihm geschehen ist. Kein Wunder, dass er das getan hat.«

»Was getan hat?«, stieß Tyrande hervor. »Was ist mit Illidan?«

Aber Azshara hatte sich bereits zu Varo’then und ihrer Zofe umgedreht. »Sie braucht Ruhe, findest du nicht, Captain? Komm, Lady Vashj. Ich möchte wissen, welche Fortschritte es bei dem Portal gibt. Ich muss schließlich bereit sein, wenn Sargeras kommt.«

Die Königin sprach den Dämonennamen voller Leidenschaft aus. »Ich will gut für ihn aussehen …«

Die Wachen traten zur Seite, als Captain Varo’then Azshara und Lady Vashj zur Tür brachte. Die Herrscherin der Nachtelfen drehte sich im Gang noch einmal kurz zu der gefangenen Priesterin um. »Du solltest wirklich darüber nachdenken, meine Zofe zu werden. Dann könntest du beide gegeneinander ausspielen … natürlich erst, wenn ich mit ihnen fertig bin.«

Die eiserne Tür fiel ins Schloss, und Tyrandes Hoffnungen erstarben. In ihren Gedanken sah sie Malfurion und Illidan. Malfurion war dabei gewesen, als sie entführt wurde, und Tyrande wusste, dass er sich schuldig fühlte. Sie befürchtete, dass er durch diese Gefühle draufgängerisch und ein leichtes Ziel für die Dämonen werden würde.

Und dann gab es da auch noch Illidan. Kurz vor der letzten Schlacht hatte er herausgefunden, in welche Richtung Tyrandes Gefühle gingen. Er hatte es nicht gut aufgenommen. Mit ihren Bemerkungen hatte Azshara die Priesterin zwar gewiss gezielt verletzen wollen, doch ein gewisser Wahrheitsgehalt war nicht auszuschließen. Sie kannte Illidan gut genug, um zu wissen, wie sehr er außer Kontrolle geraten konnte. War das vielleicht geschehen? Hatte er sich wegen ihrer Ablehnung zu etwas Schrecklichem hinreißen lassen?

»Elune, Mutter Mond, beschütze sie beide«, flüsterte sie. Tyrande machte sich zwar die größten Sorgen um Malfurion, aber auch seinen Zwilling mochte sie immer noch. Zudem wusste die Priesterin, wie schlecht es Malfurion ergehen würde, sollte seinem Bruder etwas zustoßen.

Daran dachte Tyrande, als sie hinzufügte: »Mutter Mond, was auch immer mir widerfahren sollte, bitte rette Illidan für Malfurion. Trenne sie nicht. Lass Illidan nicht …«

Im gleichen Moment spürte sie eine Präsenz in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie musste innerhalb der Palastmauern sein, so nahe erschien sie Tyrande. Die Begegnung dauerte nur einen Augenblick, doch die Priesterin wusste genau, wen sie gespürt hatte.

Illidan! Illidan war in Zin-Azshari – im Palast!

Die Entdeckung erschütterte sie. Er war gewiss ein Gefangener und wurde furchtbar gefoltert, da Elune ihn nicht im selben Maße schützen würde wie Tyrande. Die Priesterin glaubte ihn schreien zu hören, während Dämonen ihn auspeitschten und mit ihrer Magie dafür sorgten, dass er jeden schrecklichen Hieb bei vollem Bewusstsein miterlebte. Sie würden ihn nicht nur wegen seiner eigenen Taten foltern, sondern auch wegen denen, die Malfurion begangen hatte.

Sie versuchte ihn mit ihren Gedanken zu berühren, scheiterte jedoch. Doch noch während sie diesen Versuch wagte, kamen ihr Zweifel an ihrer Einschätzung. Tyrande dachte an den kurzen Kontakt und prüfte ihn aus allen Blickwinkeln. Sie hatte Illidans Gefühle wahrgenommen und etwas darin gespürt, das ihr nicht gefiel, etwas Falsches …

Als Tyrande erkannte, was es war, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Das konnte nicht sein! Nicht Illidan, nicht ausgerechnet er!

»Er würde niemals so …«, versuchte sie sich zu beruhigen. »Niemals, aus keinem Grund …«

Jetzt verstand sie die Worte der Königin. Illidan – auch wenn dies unmöglich erschien – war freiwillig nach Zin-Azshari gekommen.

Er wollte dem Lord der Brennenden Legion dienen.


Die südlichste Turm von Azsharas Palast war erfüllt von magischer Energie. Tag und Nacht arbeiteten hier ohne Unterlass die Hochgeborenen. Wachen, die in der Nähe des Turms postiert waren, wagten es nicht, dorthin zu sehen, fürchteten, die mächtigen magischen Ströme könnten sie mit sich fortreißen.

Im Inneren standen die Hochgeborenen, deren reich verzierte Gewänder an ausgemergelten Körpern hingen, neben bösartigen gehörnten Wesen, deren untere Körperregionen an Ziegen erinnerten. Einst waren auch sie Nachtelfen gewesen, doch darauf wiesen nur noch ihre oberen Körperhälften hin. Durch List und Zauberei waren die Elfen in etwas anderes verwandelt worden. Etwas, das jetzt in die Brennende Legion gehörte, nicht mehr nach Azeroth.

Satyrn.

Doch selbst die Satyrn wirkten erschöpft, während sie gemeinsam mit ihren ehemaligen Brüdern mit dem Zauber rangen, der sich in dem mehreckigen Muster vor ihnen manifestierte. Die brennende Masse schwebte auf Augenhöhe. In ihrer Mitte herrschte eine Dunkelheit, die sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien und Zeugnis davon ablegte, wie weit sich die Zaubernden schon von der sterblichen Welt entfernt hatten. Sie hielten sich jenseits der Vernunft auf, jenseits der Ordnung … im Chaos, aus dem die Dämonen gekommen waren.

Im Herrschaftsbereich von Sargeras, dem Herrn der Brennenden Legion.

Ein gewaltiger Schatten schwebte über den schwitzenden Zauberern. Diese geflügelte Monstrosität bewegte sich auf vier baumstammdicken Beinen. Aus ihrem froschartigen Gesicht ragten lange Stoßzähne. Ihre tief in den Höhlen liegenden, feurigen Augen starrten die kleineren Gestalten finster an. Der geschuppte Schädel berührte fast die Decke.

Mannoroths breiter Schwanz peitschte über den Boden.

»Achtet darauf, dass es stabil bleibt. Ich reiße euch den Kopf ab und trinke das Blut aus eurem Hals, wenn ihr scheitert!«

Trotz seiner Worte schwitzte er ebenso stark wie die anderen. Sie hatten einen neuen Zauber gewoben, um das Portal zu erweitern und zu stärken – so groß zu machen, dass Sargeras es endlich passieren konnte –, aber hatten statt dessen beinahe die Kontrolle verloren. Ein solcher Fehlschlag würde die sofortige Hinrichtung einiger Zauberer nach sich ziehen, führte möglicherweise aber auch zu Mannoroths jähem Ende. Archimonde mochte keine Fehler.

»Wenn ich es jetzt versuchen dürfte?«, fragte eine Stimme in der Nähe der Tür.

Knurrend fuhr Mannoroth herum und starrte den kleinen Nachtelfen an. Abgesehen von seinen verstörend bernsteinfarbenen Augen sah er nichts Bemerkenswertes in dem Neuankömmling, der sich Illidan Stormrage nannte. Archimonde ließ ihn am Leben, weil er irgendein Potenzial in ihm spürte. Aber Mannoroth hätte diesem arroganten Insekt am liebsten die Augen ausgestochen und die Gliedmaßen ausgerissen. Damit hätte er sich an Illidans Bruder, dem Druiden, der ihm so viel Ärger bereitete, rächen können.

Doch dieser Genuss musste warten. Mannoroth winkte Illidan heran und ließ ihn zwischen einem überraschten Hochgeborenen und einem Satyr in den Kreis treten. Er hoffte, dass Illidans Versuch dramatisch fehlschlagen würde.

Das Portal knisterte. Mannoroth bleckte seine gelben Reißzähne. Wenn der Nachtelf dafür sorgte, dass das Portal zusammenbrach, würde Archimonde seinem Stellvertreter bestimmt nachsehen, dass er den Schuldigen zur Strafe an der Wand zerquetschte.

Illidan deutete auf das dunkle Loch – und sofort wurde es stabil. Das Flackern, das der Dämon gespürt hatte, verschwand. Das Portal war sogar noch gewaltiger als zuvor.

Mannoroth zog die grünen Brauen zusammen. Könnte diese lächerliche Kreatur wirklich über genügend Macht verfügen, um …

Bevor er den Gedanken weiterspinnen konnte, schob sich eine fremde Präsenz in den Raum. Es war eine Präsenz, deren Ursprung tief im Inneren des Portals lag.

»Auf die Knie!«, brüllte der vierbeinige Dämon rasch.

Alle – Zauberer wie Wachen – fielen sofort auf die Knie.

Alle … außer Illidan.

Obwohl auch er die übermächtige Präsenz fühlen musste, blieb er ruhig vor dem Portal stehen. Beinahe neugierig blickte er in die Schwärze.

Du, bist es … sagte die Stimme Sargeras’.

Die Fackeln flackerten wild. Schatten begannen in ihrem Licht zu tanzen. Einer der brennenden Stäbe wurde aus seiner Halterung gezogen und flog auf die Dunkelheit zu, blieb direkt über ihr hängen.

Illidan betrachtete die schwebende Fackel mit scheinbarer Gleichgültigkeit. Mannoroth hielt ihn für den größten Narren, der ihm je begegnet war.

Dir ist gelungen, was andere nicht vermochten …

Endlich bewies der Nachtelf Vernunft und neigte den Kopf vor der Stimme. »Mein Handeln erschien mir notwendig.«

Du bist stark …, sagte Sargeras aus dem Nichts. Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: Aber nicht stark genug.

Was bedeutete, dass es auch Illidan, trotz seiner Macht, nicht gelingen würde, dem Herrn der Brennenden Legion den Weg in die sterbliche Welt zu ebnen. Widersprüchliche Gefühle wallten in Mannoroth auf. Es ärgerte ihn, dass das Portal immer noch nicht für Sargeras geöffnet war. Gleichzeitig war er froh, dass der Nachtelf versagt hatte.

»Ich kenne eine Methode«, sagte Illidan unerwartet.

Es wurde still. Mannoroth begann nervös zu werden. Er hatte Sargeras noch nie so ruhig erlebt.

Schließlich: Sprich.

Illidan hob seine Linke. Auf seiner ausgestreckten Handfläche entstand das Abbild eines Gegenstands. Mannoroth streckte sich, um einen besseren Blick darauf werfen zu können. Er spürte Enttäuschung. Er hatte einen leuchtenden Kristall oder ein verziertes Amulett erwartet, keine einfache goldene Scheibe, die knapp auf die Handfläche des Elfs passte. Wenn er die Scheibe im Staub hätte liegen sehen, wäre er einfach darüber hinweg gestampft.

Er wartete darauf, dass Sargeras Illidan für diese Zeitverschwendung bestrafte, doch der Herr der Legion ließ Interesse erkennen. Erkläre es …

Der rebellische Zauberer kam direkt zur Sache. »Dies ist der Schlüssel. Dies hat die Macht. Dies ist die Drachenseele

Jetzt zeigten auch Mannoroth und die anderen Interesse. Sie hatten die überwältigende Macht der Drachenseele selbst zu spüren bekommen. Mit ihrer Hilfe hatte der schwarze Drache Dämonen und Nachtelfen zu Hunderten abgeschlachtet. Er hatte die Erde meilenweit verbrannt und sogar die Drachen angegriffen, die sich ihm widersetzten.

Und all diese Macht ging von einer unscheinbaren Scheibe aus.

»Ihr habt sie gesehen, von dort aus, wo Ihr wartet«, fuhr Illidan fort. »Ihr habt ihre immense Macht gespürt und wollt, dass sie Euch gehört.«

Ja …

»Tausende könntet Ihr allein durch Euren Willen vernichten. Ihr könntet ein Land von allem säubern, was sich Euch widersetzt … oder das gesamte Leben vernichten.«

Ja …

»Aber Euch ist nie der Gedanke gekommen, dass man die Scheibe einsetzen könnte, um Euch in diese Welt zu bringen?«

Sargeras’ Schweigen war Antwort genug. Mannoroth grunzte. Der Nachtelf war schlauer, als für ihn gut sein konnte. Die Brennende Legion begehrte die Scheibe, aber noch befand sie sich im Besitz des schwarzen Drachen. Irgendwann würden die Dämonen über die Kraft und die Ressourcen verfügen, um die Bestie zu jagen. Aber zuerst mussten sie Illidans Volk abschlachten.

Ihre Macht ist ausreichend, erklärte der Lord der Brennenden Legion schließlich. Sie könnte den Weg ebnen … wenn wir sie denn besäßen …

»Ich weiß, wie ich den Ort finde, wo der Drache sie versteckt hat.«

Es gab eine zweite Pause, dann antwortete Sargeras: Die schwarze Bestie hat sich gut abgeschirmt, sogar vor mir …

Illidan lächelte selbstgefällig. Mannoroth wusste, dass der Herr der Brennenden Legion jedem anderen ein solches Lächeln aus dem Gesicht gerissen hätte – mitsamt des Fleisches und der Sehnen.

»Aber vor mir verbirgt er sich nicht … Ich weiß, wie ich ihn finden kann … damit.«

Der Nachtelf gestikulierte knapp. In seiner Linken erschien eine fast dreieckige schwarze Platte, so groß wie sein Kopf. Mannoroth beugte sich vor. Im ersten Moment hielt er die Platte für ein Stück aus einer Rüstung, doch dann bemerkte er, dass sie nicht aus Metall bestand.

Es war eine Drachenschuppe.

Die Schuppe des schwarzen Drachens.

»Die Schuppe ist so klein, dass ein so großes Wesen sie leicht übersehen kann«, bemerkte Illidan, während er sie in den Händen drehte. »Er wurde beim Kampf gegen den roten einige Male getroffen. Ich wusste, dass es mindestens eine schwarze Schuppe geben musste, also ritt ich aus dem Lager und suchte nach ihr. Als ich sie gefunden hatte, setzte ich meinen Weg hierher fort.«

Mannoroth schnaubte. Kannte die Unverschämtheit des Zauberers denn gar keine Grenzen? Er brachte es nicht über sich, länger ruhig zu bleiben. »Warum?«, knurrte er. »Warum hast du sie nicht deinen Freunden und deinem Bruder gebracht?«

Der Nachtelf blickte über seine Schulter. »Weil mir Macht und eine Belohnung zustehen.«

Der Dämon erwartete eine weitergehende Antwort, aber Illidan wandte sich wieder dem Portal zu.

»Ich brauche einen uneingeschränkten Zugang zu den Energien des Brunnens. Der Drache ist dank dieses Artefakts sehr mächtig. Aber mit den Energien des Brunnens kann ich ihn finden, egal, wo er sich auch aufhalten mag.«

»Willst du ihm die Scheibe dann einfach wegnehmen, Sterblicher?«, fragte der vierbeinige Dämon sarkastisch. »Oder glaubst du, er wird sie dir so einfach geben?«

»Ich werde sie ihm auf die eine oder andere Weise abnehmen«, entgegnete Illidan ruhig. »Und dann werde ich sie hierher bringen.«

Mannoroth begann zu lachen, brach jedoch ab, als er einen Druck um seinen Hals spürte. Das Gefühl verschwand fast sofort wieder, aber die Botschaft war deutlich. Auch wenn der geflügelte Dämon nichts von den Worten dieses Angebers hielt, der Herr der Legion wollte sie hören.

Du wirst mir die Schöpfung des Drachens bringen, sagte Sargeras zu Illidan.

»Ja.«

Sollte dir das gelingen, werde ich dich reich für deine Mühen belohnen.

Der Nachtelf neigte den Kopf. »Ich freue mich darauf, mit der Drachenseele in der Hand vor Euch zu treten.«

Sargeras schien zu kichern. So viel Loyalität muss mit einem Zeichen meines Wohlwollens belohnt werden, einem Zeichen, das dir bei der Erfüllung deiner Aufgabe helfen wird …

Illidan sah auf. Zum ersten Mal glitt ein Hauch von Unsicherheit über sein hageres Gesicht. »Mein Lord Sargeras, Euch in Azeroth zu sehen, wird mir Belohnung genug sein. Ich brauche keinen Ansporn, um …«

Aber ich bestehe darauf.

Aus dem Portal schoben sich zwei Tentakel aus grünem Feuer.

Mannoroth wandte den Blick ab. Illidan, der im Zentrum von Sargeras’ Zauber stand, hatte diese Chance nicht. Genützt hätte es ihm ohnehin nichts.

Die Flammen bohrten sich in seine Augen.

Das weiche Gewebe verbrannte sofort. Illidans Schreie hallten durch die Raum und weit darüber hinaus. Die Arroganz war aus seinem Gesicht verschwunden. Jetzt gab es da nur noch Schmerz.

Die Flammen wurden stärker. Illidan wurde vom Boden empor gerissen. Er lehnte sich zurück, schien fast zu zerbrechen.

Übernatürliches Feuer floss in die leeren Augenhöhlen, obwohl die Augen selbst schon längst verbrannt waren.

Die Hochgeborenen und die Satyrn wagten es nicht, ihren Zauber zu unterbrechen. Aber sie entfernten sich so weit wie möglich von dem zitternden Nachtelf. Sogar die Wachen traten einen Schritt zurück.

Die Flammen verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren.

Illidan fiel auf den Steinboden und schaffte es irgendwie, auf Händen und Knien zu landen. Sein Atem ging stoßweise. Sein Kopf hing fast bis auf den Boden. Äußerlich gab es keinen Hinweis mehr auf seine gerade noch demonstrierte Arroganz.

Sargeras’ Stimme hallte durch den Geist von allen Anwesenden.

Blicke auf, mein loyaler Diener!

Illidan gehorchte.

Von seinen Augen war nichts mehr zu sehen. Nur die schwarzen, fleischlosen Höhlen waren ihm geblieben. An ihren Rändern schimmerte ein Teil des Schädels durch, so tief hatte sich Sargeras hinein gebrannt.

Doch die Augen, die der Herr der Brennenden Legion ihm genommen hatte, waren durch etwas anderes ersetzt worden. In den Höhlen flackerten zwei Flammen in der gleichen Farbe wie die, die den Zauberer angegriffen hatten. Die Flammen zuckten mehrere Sekunden lang, dann verloschen sie, bis nur noch Rauch übrig war. Der Rauch blieb jedoch in den Höhlen hängen, ohne sich aufzulösen oder zu verflüchtigen.

Deine Augen sind jetzt meine Augen, Nachtelf. Sie werden mir ebenso dienen wie dir …

Illidan erwiderte nichts. Der Schmerz hatte ihn zum Schweigen gebracht.

Sargeras wandte sich plötzlich nur noch an Mannoroth. Er soll sich ausruhen. Wenn er sich erholt hat, wird er mir seine Hingabe beweisen und das Artefakt an sich nehmen.

Mannoroth nickte kurz den Teufelswachen zu. Die beiden Dämonen ergriffen den zitternden Illidan und schleiften ihn aus dem Raum.

Kaum war der Nachtelf im Gang verschwunden, sagte Sargeras’ Diener: »Selbst in diesem Zustand solltet Ihr den Sterblichen nicht allein lassen.«

Er wird seine Reise nicht allein antreten … ein anderer wird mitkommen. Ich habe den Nachtelf Varo’then für diese Aufgabe ausgewählt.

Der Dämon spreizte seine Flügel und grinste. Es war ein unschöner Anblick. »Varo’then?«

Azsharas Schoßhund wird den Zauberer zuverlässig bewachen. Sollte Illidan Stormrage sein Versprechen erfüllen, wird er seinen Platz in unserer Mitte einnehmen.

Dieser Aufstieg missfiel Mannoroth. »Und wenn er sich als Verräter erweist?«

Dann wird Varo’then die Belohnung erhalten, die ich dem Zauberer versprochen habe … sobald der Captain mir die Schöpfung des Drachen überreicht … zusammen mit Illidan Stormrages schlagendem Herzen.

Mannoroths Grinsen wurde breiter.

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