Ein Orkan tobte über dem Brunnen. Er war so gewaltig, dass Malfurion ihn selbst aus der Entfernung spürte. Kein normaler Sturm, noch nicht einmal, wenn man ihn mit denen verglich, die gelegentlich über die mystischen Wasser zogen. Dieser Sturm hier rührte an Kräften, die nicht zur Welt der Sterblichen gehörten, Kräfte, die denen ähnelten, die auch die Brennende Legion hervorbrachte.
Die Brennende Legion … und etwas anderes.
Der Druide verstand nicht, wer oder was die Drei waren, obwohl er das uralte Böse gespürt hatte, das von ihnen ausging. Eigentlich wollte Malfurion auch nicht mehr über sie erfahren. Das, was seinen Geist in Deathwings Nest vergiftet hatte, war so böse gewesen, dass er eines sicher wusste: Diese Wesen durften Kalimdor niemals betreten – falls es überhaupt noch eine Möglichkeit gab, es zu verhindern.
Er sah sich um und betrachtete die letzte Hoffnung seiner Welt. Es handelte sich um ein Dutzend Drachen, an deren Spitze Alexstrasza und Ysera flogen. Ein weiblicher Leviathan, der den Bronzeclan repräsentierte, flog hinter ihnen. Es folgten drei Abgesandte eines jeden Clans. Sie alle waren Gefährten eines Aspekts, unter anderem auch von diesem Nozdormu, über den Krasus gesprochen hatte.
Der Magier ritt auf den Schultern der roten Königin. Er schien den Wind zu genießen, der ihm ins Gesicht wehte. Malfurion, der wusste, wer Krasus wirklich war, nahm an, dass der Magier sich vorstellte, wie es wohl wäre, gemeinsam mit den anderen Drachen durch die Lüfte zu eilen.
Brox saß auf der Anführerin des Bronzeclans und Rhonin auf einem Gefährten Alexstraszas. Der treueste Gefährte des roten Aspekts – Tyranastrasz – leitete den Kampf der Drachen gegen Archimonde. Abgesehen von dem verletzten Korialstrasz waren alle anderen Gefährten bei ihrer Königin. Malfurion hatte die Ehre, auf Ysera zu sitzen. Sie hatte sogar darauf bestanden, ihn zu tragen.
»Du bist Cenarius’ ganzer Stolz«, hatte sie dem Druiden gesagt. »Ich schulde dir diesen Flug für das, was du für ihn und Malorne tun wolltest.«
Malfurion, dem keine passende Antwort eingefallen war, hatte sich vor ihr verbeugt und war auf ihre Schultern geklettert.
Und dann waren sie losgeflogen, um sich der furchtbaren Macht des Dämonenlords und derer, die ihn manipulierten, zu stellen.
Doch für Malfurion war die Lage noch komplizierter. Er hatte keine Angst vor dem eigenen Tod – er würde bereitwillig jedes Opfer bringen, um diese Bedrohung aufzuhalten –, aber noch andere spielten in seinen Gedanken eine Rolle. Irgendwo in der Nähe ihres Ziels, irgendwo in der großen Stadt Zin-Azshari, hoffte er Tyrande und Illidan zu finden.
Er konnte sich immer noch nicht für Tyrandes Entführung vergeben, und er befürchtete, dass auch sie ihm nicht verziehen hatte. Schließlich hatte er zugelassen, dass sie der Brennenden Legion in die Hände fiel – ein entsetzliches Schicksal. Nein, Malfurion erwartete nur Hass und Ablehnung von Tyrande, so sie überhaupt noch lebte.
Was er bei einer Begegnung mit seinem Bruder von sich selbst erwartete, wusste der Druide nicht. Aber es war klar, dass jemand etwas gegen Illidan unternehmen musste.
Irgendetwas …
»Illidan, warte! Hör mir doch zu!«, stieß Tyrande hervor, während er sie hinter sich herzog. Es war nicht ihr erster Ausbruch, aber sie hatte gehofft, dass er dieses Mal vielleicht auf ihre Worte achten würde. »Dies ist nicht dein Weg. Denk doch mal nach! Wenn du die Macht der Legion nutzt, wirst du doch selbst böse.«
»Red keinen Unsinn. Ich werde Kalimdor retten. Ich werde ein Held sein!« Er drehte sich zu ihr um. »Verstehst du das denn nicht? Nichts anderes hat funktioniert. Wir haben mit aller Gewalt gekämpft, aber die Legion ist immer noch stärker. Ich habe schließlich erkannt, dass man die Dämonen nur bekämpfen kann, wenn man sie so sieht, wie sie sich selbst sehen. Deshalb bin ich hierher gekommen und habe so getan, als wolle ich überlaufen. Ich habe ihren Herrn sogar dazu gebracht, mir eines seiner größten Geschenke …«
»Geschenke? Du hältst das, was er mit deinen Augen gemacht hat, für ein Geschenk?«
Malfurions Bruder beugte sich über sie. Er wirkte nicht wie ein Nachtelf, sondern wie ein Dämon. »Wenn du sehen könntest, was ich sehe … dann würdest du verstehen, welche Fähigkeiten er mir verliehen hat.« Mit einem unheimlichen Lächeln hob Illidan den Schal, damit Tyrande die Höhlen sehen konnte, in denen sich einst seine Augen befunden hatten. Es schien ihn nicht zu stören, dass Tyrande jedes Mal, wenn er das tat, vor ihm zurückwich. Er zog den Schal wieder über die Augenhöhlen und fuhr fort: »Ja, dies ist ein großes Geschenk, und es wird sich als eine der mächtigsten Waffen im Kampf gegen die Brennende Legion erweisen.«
Der Zauberer zog sie mit sich. Tyrande hätte zwar versuchen können, sich gegen seinen Griff zu wehren, aber eigentlich wollte sie Illidan gar nicht verlassen. Sie machte sich Sorgen um ihn, Sorgen um sein Herz und um seinen Verstand. Sie musste wenigstens versuchen, den fehlgeleiteten Zauberer zu retten. Elunes Lehren waren nur teilweise die Ursache dafür, denn Tyrande Whisperwind hatte den jungen Illidan, der voller Träume, Hoffnungen und Güte gewesen war, noch nicht aufgegeben.
Sie hoffte nur, dass es einen Teil jenes jungen Illidan noch in dem ehrgeizigen, zynischen Magier gab, der sie durch das dämonenverseuchte Land zerrte.
Sie dachte an die Schreckensgestalten, gegen die sie an diesem Tag gekämpft hatte und sah sich nervös zwischen den Ruinen der Stadt um. Sie erwartete jeden Moment einen Angriff. Mannoroth musste doch längst erkannt haben, dass Illidan ein doppeltes Spiel trieb.
Der schwarz gekleidete Zauberer schien zu erraten, was sie dachte. Vielleicht las er aber auch ihre Gedanken. »Mannoroth kümmert sich nur um die Magie am Brunnen«, sagte er. »Von mir hält er ohnehin nicht viel. Ich habe einen Zauber gewoben, der ihm vorgaukelt, ich sei in mein Quartier zurückgegangen, um zu meditieren.« Er grinste breit. »Abgesehen davon hält die Flucht einer Priesterin der Elune zusammen mit zahlreichen Hochgeborenen den Rest in Atem.«
In einiger Entfernung bliesen die Hörner der Legion erneut zur Jagd. Tyrande hoffte, dass Elune Dath’Remar und die anderen schützen würde. Der Weg, der vor ihnen lag, war lang und voller Gefahren.
Illidan bemerkte nicht, dass sie sich um die Hochgeborenen sorgte. »Ja, die Zeit sollte für meinen Plan reichen.«
»Was ist das für ein Plan?« Tyrande hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da sah sie in einiger Entfernung dunkles Wasser. »Warum gehen wir zum Brunnen?«
»Weil ich vorhabe, Sargeras’ Portal in einen Mahlstrom zu verwandeln, der die Dämonen aus Kalimdor hinaus und zurück in die Unterwelt saugen wird. Ich kehre den Effekt der Dämonenseele einfach um. Denk mal darüber nach. Mit einem solchen Zauber kann ich nicht nur unser Volk, sondern die ganze Welt retten.«
Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Er schien auf ihre Zustimmung zu hoffen. Doch als Tyrande dies nicht sofort zeigte, verhärtete sich seine Miene wieder.
»Du glaubst nicht, dass ich es schaffen werde. Wenn ich dein toller Malfurion wäre, würdest du auf und ab hüpfen, applaudieren und meine Klugheit preisen.«
»Darum geht es nicht, Illidan. Ich …«
»Ist ja auch egal.« Suchend blickte er auf die stürmische Landschaft, dann entdeckte er ein herab gefallenes Baumhaus. Die tote Eiche war in einem Winkel zu Boden gestürzt, der ihnen aus dem Inneren des Hauses heraus den Blick auf den Brunnen der Ewigkeit gewähren würde. »Das ist perfekt. Geh da hinein.«
Die Priesterin wurde förmlich in das Haus gestoßen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Trümmer. Der Zauberer folgte ihr und trieb sie ungeduldig an.
Tyrande kletterte durch das Gebäude. Ihr Fuß stieß etwas zur Seite.
Einen Schädel.
Sie stand plötzlich inmitten von Gerippen, die einmal fünf oder sechs Nachtelfen gehört hatten. Keines der Skelette war vollständig, und die meisten Knochen wiesen tiefe Krater und Risse auf. Tyrande erschauerte. Sie hoffte, dass die Teufelsbestien nur Tote angenagt hatten, keine hilflosen lebenden Opfer. Doch das konnte ihr niemand mehr sagen.
»Du kannst für sie beten, wenn ich die Welt gerettet habe«, meinte Illidan zynisch. »Das da vorne sieht wie ein guter …«
Eine monströse Gestalt sprang aus den Schatten. Sie warf Malfurions Bruder zu Boden, noch bevor er reagieren konnte. Tyrande schrie und konzentrierte sich auf die Macht der Elune.
Doch sie musste nicht mehr handeln, denn die Teufelsbestie, die auf Illidans Brust kauerte, heulte schmerzerfüllt auf. Der Dämonenhund wand sich, während der Zauberer ruhig aufstand. Mit der rechten Hand hielt er beide Tentakel fest.
»Ich könnte die Magie gebrauchen, die du aufgesogen hast«, sagte er beinahe lässig zu der Kreatur.
Der Nachtelf presste seine linke Handfläche gegen die Saugnäpfe. Die Höllenbestie versuchte jedoch nicht, von diesem Opfer zu trinken. Statt dessen tat sie alles, um sich aus der Umklammerung zu lösen.
Illidans linke Hand begann grün zu leuchten. Tyrande bemerkte, dass es sich um das gleiche Grün handelte, das auch die Dämonen umgab. Malfurions Zwilling atmete ein, und der Dämon zerfiel von hinten nach vorne zu Staub. Er winselte bis zum Letzten, derweil seine Essenz in die Handfläche des Zauberers gesogen wurde.
Während dieses schrecklichen Schauspiels begann sich Illidan zu verändern. Er hatte den Schal zwar wieder über die Augenhöhlen gelegt, aber Tyrande sah trotzdem die wilden Feuer, die darin brannten. Der Zauberer grinste wie betrunken. Grüne Flammen wallten um seinen Körper herum auf, so als wäre er ein Dämon. Sein Körper schwoll an …
Die Flammen fielen so schnell in sich zusammen, wie sie entstanden waren. Der Zauberer nahm wieder sein normales Aussehen an. Er wischte seine Hand ab und trat nach der Asche, die von der Teufelsbestie übrig geblieben war. Dann glättete er sein Haar, lächelte selbstsicher und wandte sich an Tyrande: »Wollen wir weitergehen?«
Die Priesterin verbarg ihr Entsetzen so gut es ihr möglich war. Dies war nicht mehr der Illidan, mit dem sie aufgewachsen war. Er genoss das Blutvergießen ebenso sehr wie die Dämonen. Und dass er das Gift der Legion so begierig in seinen Körper pumpte, widerte Tyrande in einem Maße an, das sie noch nie erlebt hatte.
Mutter Mond, hilf mir bitte. Sag mir, was ich tun soll. Kann ich ihn überhaupt noch retten?
»Hier oben«, befahl Illidan. »Vom Dach aus kann ich mich auf die Mitte des Brunnens konzentrieren.«
Sie ließen die Knochen hinter sich und kletterten auf eine ehemals elegante Dachterrasse. Ein zerbrochenes Geländer, das einmal aus lebendem Holz bestanden hatte, lag am Boden. Eine Statue von Azshara, die erstaunlicherweise heil geblieben war, lag in den toten braunen Blättern des Baums, der früher einmal das ganze Haus gestützt hatte.
Illidan lehnte sich gegen den Mosaikboden. Einige Motive darauf waren noch immer zu erkennen. Tyrande sah Teile von edlen Tieren, eine Flusslandschaft und dichten Wald.
Im Zentrum des Mosaiks befand sich Königin Azsharas wunderschönes Gesicht. Malfurions Bruder legte sein Gesicht gegen ihre vollen, wenn auch in Mitleidenschaft gezogenen Lippen.
»Es ist fast so weit«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Tyrande. Aus einer Gürteltasche zog Illidan eine lange, schmale Phiole. Durch das gefärbte Glas konnte man zwar nicht sehen, was sich darin befand, aber Tyrandes Sinne schlugen Alarm.
»Illidan, was ist in der Flasche?«
Sein verschleierter Blick ruhte weiter auf der Phiole. »Nur ein winziger Teil des Brunnens.«
»Was?« Die Worte, die er so leichtfertig dahin gesagt hatte, erschütterten sie zutiefst. Illidan hatte es gewagt, aus der Machtquelle der Nachtelfen zu stehlen? »Aber … niemand darf … es ist verboten … sogar die Hochgeborenen würden niemals …«
Der Zauberer nickte. »Nein, das würden sie wohl nicht. Ist das nicht eine interessante Tatsache? Ich meine, diese Idee muss doch schon jemandem vor mir gekommen sein … vielleicht stammen daher die Legenden über unsere größten Zauberer. Vielleicht haben sie sich für besonders schwere Sprüche heimlich ein wenig Kraft aus dem Brunnen geborgt. Wahrscheinlich taten sie das sogar.« Illidan hob die Schultern. Seine Mimik verhärtete sich erneut. »Aber selbst wenn ich der Erste bin, sehe ich keinen Grund, weshalb ich mich zurückhalten sollte. Die Idee kam mir einfach so. Wenn ich etwas Kraft aus dem Brunnen entlehne, kann ich doch alles erreichen!«
»Aber der Brunnen … selbst ein einziger Tropfen …« Tyrande musste es ihm ausreden. Ein solcher Missbrauch des Brunnens musste in einer Katastrophe enden, genauso wie Illidans Akzeptanz der Dämonenmagie.
»Ja, kannst du dir vorstellen, welche Macht diese Phiole enthält?« Wären Illidans Augen noch in seinen Höhlen gewesen, hätten sie jetzt gierig aufgeleuchtet. »Das sollte reichen, um die Welt zu retten.«
Doch die Priesterin war davon nicht überzeugt. Durch die Lehren der Elune wusste Tyrande weit mehr als Illidan über die Legenden und die Geschichte des Brunnens. »Illidan, wenn du den Brunnen auf diese Weise missbrauchst, könntest du völliges Chaos auslösen. Denk an die Geschichte von Aru-Talis.«
»Aru-Talis ist nur eine Legende.«
»Und ist der gewaltige Krater, der in Generationen wieder zugewachsen ist, auch nur eine Legende?«
Er wischte ihre Warnung beiseite. »Niemand weiß, was mit dieser Stadt geschehen ist, falls sie überhaupt jemals existierte. Erspare mir deine Geschichten über Weisheit und Furcht.«
»Illidan …«
Der Zauberer wurde ärgerlich. »Sei still und zwar sofort.«
Tyrande versuchte etwas zu sagen, aber kein Laut verließ ihren Mund. Sie hustete, aber selbst das geschah lautlos.
Illidan stand auf und betrachtete die Mitte des Brunnens. Der Sturm war stärker geworden und riss an dem toten Baum. Auf den Wassern blitzten unheimliche geisterhafte Lichter.
Die Priesterin schüttelte den Kopf. Illidan hatte zwar großes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, trotzdem verstand sie nicht, warum die Dämonen sie noch nicht entdeckt hatten. Mannoroth war doch nicht wirklich so blind, wie Malfurions Zwilling glaubte. Aber außer dem Dämonenhund waren sie nur zwei Teufelswachen begegnet, die Illidan mit einer einzigen Handbewegung abgelenkt hatte.
Illidan berührte den Verschluss der Phiole mit einem Finger. Tyrande bemerkte erst jetzt, dass der Pfropfen aus einer Kristallstatue der Königin bestand. Azshara drehte sich dreimal, so als würde sie für den Zauberer tanzen, dann löste sich der Verschluss. Illidan legte ihn zur Seite.
»Pass auf, Tyrande, pass auf, während ich etwas tue, das dein ach so geliebter Malfurion niemals vollbringen könnte.«
Er schüttete den Inhalt der Phiole über sich.
Aber die Wasser des Brunnens verhielten sich nicht wie normales Wasser, zumindest nicht in diesem Fall. Sie durchnässten ihn nicht, und da, wo sie ihn berührten, leuchtete Malfurions Zwilling für einen Moment tiefschwarz auf. Dann sickerte die dunkle Aura in seinen Körper hinein, erfüllte ihn, wie zuvor schon die gestohlene Energie der Teufelsbestie.
»Bei den Göttern …«, flüsterte er. »Ich hatte geahnt, dass ich irgendetwas fühlen würde, aber das … das ist wundervoll.«
Die Priesterin schüttelte den Kopf, aber Illidan ignorierte ihren stummen Protest. Sie wollte auf ihn zugehen, doch sein Zauber sorgte auch dafür, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
Mutter Mond, dachte sie. Kannst du mir denn nicht helfen?
Aber Elune schien nicht antworten zu wollen, und Tyrande war dazu verdammt, Illidan hilflos zuzusehen.
Er streckte seine Arme dem Brunnen entgegen und begann leise Worte zu murmeln. Die schwarze Aura kehrte zurück und legte sich um seine Hände. Mit jeder Sekunde wurde sie intensiver.
Seine Augenhöhlen glühten wie Feuer unter dem Schal. Der Stoff wirkte angesengt.
Als Illidan seinen Zauber begann, spürte Tyrande mit ihren hoch entwickelten Sinnen, wie sich etwas anderes regte. Die Priesterin wollte Illidan warnen, aber er hatte sich von ihr weggedreht.
Die unsichtbare Präsenz hüllte den nichts ahnenden Zauberer ein. Tyrande erkannte, dass es sich nicht um ein einzelnes Wesen handelte, sondern um gleich drei verschiedene.
Mit diesem Wissen kam auch das Gefühl, dass die drei so dunkel waren – nein, sogar noch dunkler – wie Sargeras. Dessen faulige Gedanken hatte die Priesterin einmal gespürt.
Es überraschte sie, dass Illidan diese Präsenz nicht wahrnahm. Tyrande glaubte, dass es sich dabei um ein bisher unbekanntes Element der Brennenden Legion handelte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf den furchtbaren Angriff, der sich jeden Moment ereignen musste.
Doch statt dessen begannen die drei mysteriösen Wesen Illidans Zauber zu unterstützen und in etwas noch Mächtigeres zu verwandeln. Der Magier lachte, als sich seine Arbeit der Vollendung näherte. Er ahnte nichts von der fremden Unterstützung.
Die Priesterin begriff, dass die fehlenden Angriffe auf dem Weg zum Brunnen nicht allein Illidans Können zu verdanken gewesen waren.
Verzweifelt bat sie Elune um Hilfe. Jemand musste Illidan sagen, dass er getäuscht wurde. Sie ahnte, dass sein großer Zauber in einer Katastrophe enden würde.
Mutter Mond, bitte hilf mir!
Eine wohlige Wärme erfüllte Tyrande. Sie spürte, wie der Bann, den Illidan über sie gelegt hatte, schwand. Sie spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen.
»Illidan!«, schrie die Priesterin. »Illidan, pass auf …«
Er drehte sich in ihre Richtung, presste aber im gleichen Moment die Handflächen zusammen. Ein Strahl aus tiefschwarzem Licht schoss daraus hervor und raste dem stürmischen Himmel über dem Brunnen der Ewigkeit entgegen.
Tyrande spürte, wie die drei Wesen verschwanden. Schlimmer noch, sie spürte, wie zufrieden sie waren.
Ihre Warnung kam zu spät.
Sargeras spürte, wie der letzte Widerstand schwand. Das Portal, das er sich ersehnt hatte, bildete sich endlich. Schon bald würde er diese vom Leben verseuchte Welt betreten …
Krasus zuckte zusammen.
»Was ist los?«, fragte Alexstrasza.
Der Magier warf einen Blick auf die weit entfernten Ruinen von Zin-Azshari … und auf den gewaltigen Sturm, der über dem Brunnen der Ewigkeit tobte. Er erschauderte. »Ich befürchte, dass wir weniger Zeit haben als angenommen …«
»Dann müssen wir uns noch mehr beeilen!« Die große rote Drachenkönigin beschleunigte ihren Flügelschlag. Ihre Muskeln verhärteten sich vor Anstrengung.
Krasus blickte über seine Schulter und sah, dass die anderen Drachen ihrem Beispiel folgten. Sie alle spürten, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Das hätte nie passieren dürfen. Sein eigenes Volk hatte viel zu lange über etwas diskutiert, das eigentlich offensichtlich hätte sein sollen. Wenn die Drachen doch nur zugehört hätten …
Aber Krasus gab sich auch selbst einen Teil der Schuld, sollte sein Plan fehlschlagen und die Welt – und mit ihr die kommenden Generationen – untergehen. Er war zu lange untätig gewesen, hatte zu lange eine Veränderung der Zeitlinie befürchtet. Und dann hatte er Illidan auch noch mit der Scheibe ziehen lassen. Krasus begriff die furchtbare Macht der Dämonenseele besser als jeder andere. Er hätte diejenigen verfolgen müssen, die sie Malfurion abgenommen hatten. Vielleicht hätten sie die Scheibe sogar zurück erobert.
Doch es war müßig, darüber nachzudenken. Wichtig war nur, dass die Zeitlinie hier nicht endete.
»Wir müssen aufpassen«, sagte er zu Alexstrasza. »Wir werden den Palast zwar umfliegen, aber die Hochgeborenen und Mannoroth dürfen wir trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie werden uns aus Azsharas Festung angreifen. Und wir müssen auf jene achten, die ebenfalls von dem Portal und der Scheibe profitieren wollen. Die Drei werden alles versuchen, um die Dämonenseele von uns fernzuhalten.«
»Wenn wir uns opfern müssen, damit Kalimdor gerettet werden kann, werden wir auch diese heilige Pflicht erfüllen«, antwortete sie.
Krasus biss die Zähne zusammen. Die Zukunft, die er kannte, war immer noch möglich, aber ebenso wahrscheinlich war es, dass sie alle hier sterben würden. Seinen eigenen Tod konnte er akzeptieren, aber seine Königin sterben zu sehen …
Nein, das wird sie nicht! Der Magier machte sich bereit. Er würde alles geben, um Alexstrasza vor dem Tod zu bewahren … sogar das eigene Leben.
Die Drachen erreichten die Vororte von Zin-Azshari. Selbst Krasus, der die Massaker der Brennenden Legion bei ihrem ersten Überfall auf die Welt der Sterblichen erlebt hatte, war entsetzt über den Anblick, der sich ihm bot. Die Erinnerungen an den zweiten Krieg, in dem Dalaran und andere Nationen gefallen waren, lebten immer noch in seinem Geist.
Unter den Drachen hoben endlos anmutende Dämonenhorden die Köpfe und brüllten angriffslustig. Die Drachen ignorierten die meisten, denn es handelte sich um Teufelswachen, die nicht fliegen konnten. Die Verdammniswachen erregten jedoch ihre Aufmerksamkeit, denn sie flogen den Drachen in großer Zahl und mit feurigen Lanzen und Schwertern bewaffnet entgegen.
Alexstrasza wartete, bis sich eine große Dämonengruppe zusammengefunden hatte, dann legte sie den Kopf in den Nacken und jagte den Gegnern einen Feuerstoß entgegen.
Die brennenden Verdammniswachen stürzten schreiend in die Tiefe. Mit einem einzigen Atemstoß hatte die rote Drachenkönigin fast hundert Dämonen getötet.
»Mücken …«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Etwas anderes sind sie nicht …«
Hinter ihr brüllte ein grüner Drache erschrocken, als er plötzlich von mehreren runden Geschossen getroffen wurde. Krasus wusste, dass es sich nur um Höllenkreaturen handeln konnte. Auch die Schuppen der Drachen waren nicht undurchdringlich. Die Wunden des Grünen waren zwar nur oberflächlich, aber wenn sich die Angriffe wiederholten, würde sich das ändern.
»Wir werden diese widerwärtigen Kreaturen für unsere Zwecke verwenden«, zischte Ysera. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf die nächste Angriffswelle.
Die Höllenkreaturen wurden plötzlich langsamer. Sie fielen zwar immer noch aus dem Himmel, kamen jedoch weit von ihrem Kurs ab. Krasus berechnete ihre Flugbahn und lächelte grimmig. Im Palast würde man die Zerstörungen, die man über Kalimdor gebracht hatte, nun am eigenen Leib erleben.
Doch die Warnungen, die Krasus wegen den Hochgeborenen und Mannoroth ausgesprochen hatte, sollten sich in den nächsten Momenten als prophetisch erweisen. Denn plötzlich schossen gewaltige schwarze Blitze aus dem stürmischen Himmel. Die Drachen und ihre Reiter stoben auseinander, versuchten der Gefahr zu entgehen.
Nicht allen gelang es. Der Grüne, der die Höllenkreaturen aufgehalten hatte, zögerte einen Moment zu lange. Etliche Blitze trafen ihn. Einer durchschlug seinen linken Flügel, ein anderer verbrannte seinen Schwanz und seine Brust.
Doch die Blitze waren nicht das Schlimmste, denn kaum hatten sie aufgehört, begannen die Wunden des Leviathans zu brennen. Die Feuer breiteten sich über seinen ganzen Körper aus. Der geschwächte grüne Drache war ein leichtes Opfer für die Blitze der Hochgeborenen. Sechs weitere trafen ihn, während er darum kämpfte, in der Luft zu bleiben. Der Drache schrie vor Todesangst.
Dann fiel er vom Himmel.
Sein Körper schlug hart in den Brunnen ein, aber trotz seiner Größe wirkte er in dem gewaltigen Mahlstrom wie ein winziger Kieselstein. Das Wasser kräuselte sich nur ein ganz klein wenig, als er darin versank.
Unheil verheißendes Grollen rollte über das Land.
»Festhalten!«, befahl Alexstrasza und wandte sich ab.
Ein neuer Angriff erreichte die Drachen. Schwarze Blitze schossen aus allen Richtungen auf sie zu, und dieses Mal blieb kein Leviathan verschont. Sogar Alexstrasza zuckte zusammen, als ein Blitz sie an der rechten Hüfte traf.
»Er brennt nicht!«, rief sie. »Er ist furchtbar kalt. Man spürt ihn bis in die Knochen.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Nein!« Sie sah ihn an. »Wir müssen unsere Kräfte auf den Angriff konzentrieren.«
Der Aspekt des Lebens wich plötzlich zur Seite und entging haarscharf zwei Blitzen, die sonst nicht nur die Königin, sondern auch Krasus getroffen hätten. Überall in der Luft tanzten Drachen ein makaberes Ballett. Krasus sah sich um und bemerkte erleichtert, dass seine Begleiter sich immer noch festhielten. Er hatte befürchtet, dass die Drachen bei ihren Ausweichmanövern ihre Reiter vergessen würden, aber sie achteten sorgfältig auf jene, die ihnen anvertraut worden waren.
Aber dieser Kampf musste ein Ende finden. Krasus sah zur Mitte des Brunnens. Ja, dort spürte er die Dämonenseele … und er spürte auch, dass das Portal kurz vor seiner Vollendung stand.
»Zum Zentrum!«, rief der Magier. »Uns läuft die Zeit davon.«
Alexstrasza flog sofort in die angegebene Richtung. Krasus beugte sich vor. Der Brunnen der Ewigkeit war zwar sehr groß, aber der Drachenkönigin genügten wenige Flügelschläge, um ans Ziel zu gelangen.
Die Dämonenseele schwebte beinahe friedlich über dem aufgerissenen Maul des Mahlstroms. Eine schwarze Aura umgab sie, schützte sie vor dem entfesselten magischen Sturm.
»Sie wird gesichert sein«, warnte Krasus.
»Ysera und ich werden uns mit Nozdormus erster Gefährtin zusammenschließen.«
Er nickte. »Rhonin und ich werden auf Reaktionen von Sargeras und den Drei achten.«
Die reiterlosen Drachen zogen sich zurück, um sich auf die Angriffe aus Zin-Azshari zu konzentrieren. Die drei weiblichen Drachen umkreisten die Scheibe misstrauisch. Nach den Schrecken, die sie über ihre Clans gebracht hatte, waren sie vorsichtig. Alexstrasza sah ihre Begleiterinnen nacheinander an und nickte dann.
Aus jedem Drachenmaul stach ein goldenes Leuchten.
Die Zauber erfassten die Dämonenseele gleichzeitig und hüllten sie ein. Die dunkle Aura hellte sich durch ihre Macht auf. Die Scheibe begann zu erzittern …
Doch plötzlich wurde die Magie zurückgeworfen. Der Rückstoß war so heftig, dass die Drachen durch die Luft gewirbelt wurden. Verzweifelt hielten sich ihre Reiter fest.
Krasus krallte seine Hände in die Schuppen der Königin. »Was ist los? Was ist passiert?«
Alexstrasza gewann die Kontrolle über ihren Flug zurück. Ihre Augen richteten sich auf die Dämonenseele. »Die Drei! Ich habe sie gefühlt. Sie sind in der Scheibe. Die Dämonenseele enthält nicht nur unsere Essenz, sondern auch die ihre!«
Diese Nachricht überraschte Krasus kaum. Es wunderte ihn nur, dass die Alten Götter durch die Scheibe nicht ebenso eingeschränkt wurden wie die Drachen. Sie glaubten offensichtlich, sie benutzen zu können, etwas, was die anderen Drachen nicht vermochten. Deathwing musste ihre Essenz auf andere Weise eingebracht haben … falls er überhaupt etwas davon wusste.
»Kannst du ihre Zauber neutralisieren?«
»Ich weiß es nicht … ich weiß es wirklich nicht.«
Krasus fluchte. Er hatte die Drei ein weiteres Mal unterschätzt.
Rhonin winkte ihm zu und wies hektisch in Richtung der Stadt. Krasus blickte über seine Schulter auf Zin-Azshari … und sah entsetzt, dass sich ihnen von dort zwanzig Ungeheuer – ein jedes größer als ein Drache – näherten.