Krieg der Ahnen 3 Richard A. Knaak Das Erwachen

Prolog

Wütende Raserei umgab ihn, zerrte von allen Seiten an ihm. Feuer, Wasser, Erde und Luft waren mit wilder, unkontrollierter Magie angereichert und umkreisten ihn wie wahnsinnige Furien. Der Versuch, an einer Stelle auszuharren, riss ihn beinahe auseinander, aber er trotzte den Gewalten. Nichts anderes konnte er tun.

Am Rand seines Blickfelds stiegen unzählige Momente und unzählige Objekte auf. Ein endloses chaotisches Panorama der Zeit drosch auf seine Sinne ein. Er sah Landschaften, Schlachten und Kreaturen, die selbst er nicht kannte. Er hörte die Stimmen eines jeden Wesens, das einst gelebt hatte, gerade lebte oder irgendwann leben würde. Jedes Geräusch, das es jemals gegeben hatte, brandete wie Donnerhall an sein Gehör. Unglaubliche Farben blendeten seine Augen.

Doch noch verstörender war, dass er sich selbst zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz sehen konnte, von der Geburt bis zu einer Zeit nach seinem Tod. Das hätte ihm Mut machen können, wäre nicht jedes einzelne Bild ebenso verzerrt gewesen, wie er es gerade war. Alle seine Existenzen versuchten nicht nur, seine Welt zu erhalten, sondern die gesamte Realität vor dem Sturz ins Chaos zu bewahren.

Nozdormu schüttelte den Kopf, brüllte seinen Schmerz und seine Wut hinaus.

Er hatte die Gestalt eines Drachen angenommen, eines gewaltigen, goldfarbenen Riesen, der nicht nur aus schuppigem Fleisch zu bestehen schien, sondern auch aus dem fließenden Sand der Zeit. Seine Augen waren leuchtende Diamanten von der Farbe der Sonne. Seine Klauen waren glitzernde Diamanten.

Er war der Aspekt der Zeit, einer der fünf Wesenheiten, die über Azeroth wachten, die Welt im Gleichgewicht hielten und vor den inneren und äußeren Gefahren schützten. Jene, die einst die Welt erschaffen hatten, waren auch die Schöpfer von Nozdormu und seinesgleichen, doch ihm hatten sie besondere Kräfte gewährt. Er konnte die unendlich vielfältigen Wege der Zukunft ebenso erkennen wie die verwobenen Pfade der Vergangenheit. Er schwamm durch den Fluss der Zeit wie andere durch klares Wasser.

Doch obwohl dem mächtigen Nozdormu seine anderen Existenzen zur Verfügung standen, vermochte er es kaum, die Katastrophe aufzuhalten.

Woher kommt sie?, fragte er sich zum wiederholten Mal. Wo liegt ihre Ursache? Er hatte eine ungefähre Vorstellung, doch ihm fehlten die Einzelheiten. Nozdormu hatte gespürt, dass die Realität sich aufzulösen begann und war zu diesem Ort gereist, um Informationen zu sammeln. Doch dann hatte er entdeckt, dass er gerade noch rechtzeitig gekommen war, um die Zerstörung der Wirklichkeit aufzuhalten. Er begann seine Aufgabe, stellte dann jedoch fest, dass er allein sie nicht würde bewältigen können.

Aus diesem Grund hatte sich Nozdormu an einen Drachen gewandt, dessen Kraft im Vergleich zu seiner eigenen zwar verschwindend gering war, der den großen Fünf jedoch schon oft mit seinem Listenreichtum und seiner Hingabe geholfen hatte. Also kontaktierte Nozdormu durch eine Vision Korialstrasz, den roten Drachen und Gefährten Alexstraszas, dem Aspekt des Lebens. Er bat den anderen Leviathan, der sich in der Gestalt des Zauberers Krasus in der Welt bewegte, eines der Symptome der drohenden Katastrophe zu untersuchen und einen Weg zu finden, um sie vielleicht doch noch abzuwenden.

Doch die Anomalie, nach der Korialstrasz und sein menschlicher Schützling Rhonin in den östlichen Bergen gesucht hatten, verschlang beide. Nozdormu spürte ihre plötzliche Nähe und entsandte sie in die Zeitperiode, in der er die Ursache der Katastrophe vermutete. Er wusste, dass sie die Reise überlebt hatten, aber ihre Erfolge waren noch nicht messbar.

Der Aspekt hoffte also weiter auf ihren Erfolg, forschte jedoch auch selbst weiter. Der riesige Drache schöpfte all seine Macht aus und folgte den Manifestationen des Chaos. Er kämpfte sich durch Visionen plündernder Orcs, durch aufsteigende und zerfallende Königreiche und durch gewaltige Vulkanausbrüche … fand aber keinen Hinweis.

Oder doch? Er entdeckte etwas, das sich anders anfühlte … etwas, das den Irrsinn zu beeinflussen schien. Es war eine Macht, die von einem Punkt ausging, der weit von ihm entfernt lag. Nozdormu folgte der kaum wahrnehmbaren Spur wie ein Hai der ahnungslosen Beute. Seine Sinne tauchten ein in den monströsen Mahlstrom der Zeit. Mehr als einmal befürchtete er, die Spur verloren zu haben, doch irgendwie fand er sie stets wieder.

Nach einer Weile tauchte vor ihm eine undefinierbare Machtquelle auf. Er näherte sich langsam und vorsichtig. Etwas daran kam ihm bekannt vor, so vertraut, dass Nozdormu die Wahrheit beinahe leugnete, als er sie schließlich erkannte. Er zögerte, war überzeugt, sich geirrt zu haben. Dies konnte nicht der Ursprung des Irrsinns sein, unmöglich!

Vor Nozdormu schwebte eine Vision des Brunnens der Ewigkeit.

Der schwarze See war vom gleichen Aufruhr ergriffen, der auch die Umgebung des Aspekts erschütterte. Gewaltige Blitze aus reiner Magie schossen über seine dunklen Wasser.

Und dann hörte Nozdormu das Flüstern.

Zuerst hielt er es für dämonische Stimmen, für die Stimmen der Brennenden Legion. Doch dann erkannte er, dass er falsch lag. Nein, das Böse, das jedes geraunte Wort durchsetzte, war älter, schrecklicher …

Die Energien zerrten weiter an ihm, aber Nozdormu ignorierte den Schmerz, konzentrierte sich statt dessen auf seine Entdeckung. Er nahm an, dass er die Ursache der Katastrophe gefunden hatte. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob er noch die Kraft hatte, die Dinge zu beeinflussen, hatte er doch zumindest die Wahrheit herausgefunden. Vielleicht konnte Korialstrasz etwas damit anfangen.

Nozdormu untersuchte den See genauer. Im Gegensatz zu den meisten anderen verstand er, dass sich in dem, was wie Wasser erschien, sehr viel mehr verbarg. Sterbliche Wesen konnten nicht begreifen, was sich dort befand. Nicht einmal die anderen Aspekte verstanden es so gut wie er, und selbst ihm blieben manche Geheimnisse verborgen.

Für seine Augen wirkte es, als gleite er über dunkle Wasser hinweg. In Wirklichkeit hatte Nozdormus Geist jedoch eine andere Realität betreten. Mit aller Macht kämpfte er gegen die Kräfte, die den Kern des Brunnens vor neugierigen Blicken schützte. Es erschien ihm, als wäre das Wasser selbst lebendig, oder als habe sich etwas so stark daran gebunden, dass es nun Teil davon geworden war.

Erneut dachte Nozdormu an die Dämonen – die Brennende Legion – und deren Versuche, mit Hilfe des Brunnens ein Portal zu öffnen, um das Leben auf Azeroth auszulöschen. Doch die Macht, die er spürte, war zu subtil für Dämonen, sogar zu subtil für Sargeras, ihren Herrn.

Mit wachsendem Unwohlsein drang er tiefer in den Brunnen ein. Einige Male entging er nur knapp den Fallen, falschen Wegen und verführerischen Pfaden, die nur einem Zweck dienten: Sie wollten ihn für immer an den Brunnen binden und seine Essenz verschlingen.

Nozdormu bewegte sich mit größter Vorsicht. Wenn er versagte, beendete er nicht nur seine eigene Existenz, sondern vielleicht die Existenz aller Dinge.

Immer tiefer tauchte er ein. Die Macht der Kräfte, aus denen der Brunnen bestand, überraschte ihn. Was der Drache spürte, erinnerte ihn an die Schöpfer, gegen die er nicht mehr war als eine Schnecke, die durch den Schlamm kriecht. Gab es etwa eine Verbindung zwischen ihnen und den Geheimnissen des Brunnens?

Für das bloße Auge wirkte es immer noch so, als hinge er über der dunklen Oberfläche. Nur er und der Brunnen verfügten an diesem Ort jenseits der sterblichen Welt über Stabilität. Das Wasser schwebte im Raum, ein endlos tiefer See, der Welten umspannte.

Er bewegte sich näher zur Oberfläche hinab. In der sterblichen Welt hätte er sein Spiegelbild sehen müssen, doch hier erblickte Nozdormu nur Schwärze. Sein Geist stieß weiter vor, grub sich dem Kern entgegen … und der Wahrheit.

Doch dann lösten sich Tentakel aus dem schwarzen Wasser des Sees und griffen nach seinen Schwingen, seinem Körper, seinem Hals.

Der Aspekt konnte gerade noch verhindern, dass er unter Wasser gezogen wurde. Er wehrte sich gegen die wässrigen Arme, doch die ließen ihn nicht los. Seine Gliedmaßen waren gefangen, und der Tentakel, der sich um seinen Hals geschlungen hatte, raubte ihm den Atem. Nozdormu wusste, dass es sich nur um Illusionen handelte. Aber sie waren so mächtig, dass sie real geworden waren. Sein Geist war in eine der Fallen geraten, die im Brunnen lauerten. Wenn er sich nicht rasch befreite, würde er darin umkommen.

Nozdormu atmete aus – und eine Sanddecke legte sich über den Brunnen. Die Tentakel zuckten und verloren ihre Kraft. Sie zerfielen, als die Magie, die sie erschaffen hatte, alt und schwach wurde.

Doch noch während sie in sich zusammensanken, erhoben sich neue aus dem Wasser. Nozdormu hatte damit gerechnet und brachte sich mit einem Schlag seiner Schwingen in Sicherheit. Die schwarzen Tentakel griffen ins Nichts und fielen zurück in den See.

Der Drache wurde nach hinten gerissen, als sich sein Schwanz in einem Tentakel verfing. Er drehte sich um und sah, dass ihm weitere entgegen schossen. Sie tauchten von allen Seiten auf. Es waren so viele, dass der Aspekt nicht allen ausweichen konnte.

Er schlug einige zur Seite, doch mehr als ein Dutzend legten sich um seinen Körper und zogen ihn mit unglaublicher Kraft auf den sprudelnden Brunnen zu.

Ein Strudel erschien unter ihm. Nozdormu spürte selbst in den Lüften, wie stark er an ihm zerrte. Die Entfernung zwischen dem Aspekt und dem Wasser wurde immer geringer.

Der Strudel veränderte sich. Die Wellen, die an seinen Rändern aufpeitschten, wurden hart und schroff. Die Mitte sackte nach unten, während sich etwas daraus hervor schob, das auf den ersten Blick wie ein Tentakel wirkte. Es war lang und sehnig. Seine breite Spitze öffnete sich wie eine Blüte.

Ein Maul.

Nozdormus goldene Augen weiteten sich. Er wehrte sich noch heftiger als zuvor.

Der dämonische Schlund öffnete sich weiter, die Tentakel führten den Drachen darauf zu. Eine Zunge schoss heraus und berührte Nozdormus Gesicht. Die Berührung reichte aus, um sein Fleisch zu verbrennen.

Die flüsternden Stimmen aus dem Brunnen klangen nun zusehends aufgeregter, lauter. Sie jagten dem Aspekt einen Schauer über den Rücken. Nein, das waren nicht nur Dämonen …

Ein zweites Mal blies er den Tentakeln den Sand der Zeit entgegen, doch dieses Mal prasselte er nutzlos wie Staub gegen die schwarzen Formen. Nozdormu drehte sich, um wenigstens einen der Fangarme abzuschütteln, doch sie hielten ihn gnadenlos fest.

Das irritierte den Aspekt. Er war die Essenz der Zeit, und seine Schöpfer hatten ihm das Wissen um den eigenen Tod geschenkt. Das war eine Lektion gewesen, die verhindern sollte, dass er sich jemals übermächtig fühlte. Nozdormu wusste also genau, wie seine Existenz einmal enden würde und wann – und hier und jetzt war dieser Moment nicht gekommen.

Dennoch konnte er sich nicht befreien.

Die Zunge legte sich um seine Schnauze und drückte so kräftig zu, dass Nozdormu glaubte, sie würde ihm den Kiefer brechen. Er erinnerte sich daran, dass es sich nur um eine Illusion handelte, aber der Schmerz nahm nicht ab – und auch nicht die Furcht, die ihn in einer nie gekannten Stärke heimsuchte.

Er hatte die Zähne des Mauls fast erreicht. Sie schnappten zu, wollten ihn wohl verunsichern, was ihnen auch gelang. Die ganze Zeit über musste ein Teil von ihm die Realität zusammenhalten, und diese Anstrengung lastete zusätzlich auf seinen Gedanken. Wie einfach wäre es gewesen, zu kapitulieren und sich dem Brunnen zu ergeben …

Nein! Plötzlich kam Nozdormu eine verzweifelte Idee. Er wusste nicht, ob er noch über die Kraft verfügte, sie umzusetzen, aber er hatte keine andere Wahl als es zu versuchen.

Der Körper des Aspekts wirkte durchscheinend, als er sich in sich selbst zurückzuziehen versuchte.

Die Ereignisse liefen rückwärts, jede Bewegung wurde zurückgenommen. Die Zunge löste sich von seiner Schnauze. Er inhalierte den Sand, die Tentakel rollten sich auf, zogen sich in die schwarzen Wasser zurück …

Im gleichen Moment stoppte Nozdormu den Rückwärtslauf der Zeit und floh mit seinem Geist aus dem Brunnen.

Erneut schwebte er im Fluss der Zeit und versuchte die Realität zu bewahren. Nach der beinahe katastrophal geendeten Suche war er in einem schlechteren Zustand als zuvor und konnte kaum noch genügend Kraft aufbringen. Doch er schaffte es. Er hatte das Böse berührt, das den Brunnen vergiftete, und war sich klarer als zuvor bewusst, dass sein Scheitern Konsequenzen haben würde, die schlimmer als der Tod waren.

Nozdormu wusste nun, wer dahinter steckte. Selbst die schreckliche Wut der Brennenden Legion verblasste gegen diese Übeltäter.

Und es gab nichts, was der Aspekt gegen ihre Pläne unternehmen konnte. Seine Kraft reichte nur aus, um das Chaos einzugrenzen, das sie auslösten. Die anderen Aspekte konnte er nicht mehr kontaktieren, dazu war es zu spät.

Eine Hoffnung gab es jedoch noch. Es war die gleiche Hoffnung, die es von Anfang an gegeben hatte, aber sie war so schwach, dass Nozdormu kaum an einen Erfolg zu glauben wagte.

Jetzt hängt alles von ihnen ab, dachte er, während wilde Kräfte an ihm zerrten. Alles hängt von Korialstrasz und dem Menschen ab.

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