7

Schmerz und ein vom Fieber hervorgerufenes Schwindelgefühl ließen Richard nur undeutlich erkennen, daß sein Kopf auf den Tisch gesunken war. Er stöhnte, während seine Gedanken um die Bedeutung dessen kreisten, was Kahlan Zedd erzählt hatte: Die Prophezeiung aus dem Geheimen Buch der Gezählten Schatten war zum Leben erwacht. Dann war Zedd neben ihm, hob ihn auf die Beine und bat Kahlan, ihn ins Haus zu schaffen. Als er mit ihrer Hilfe zu gehen versuchte, schwankte der Boden unter seinen Füßen. Es war schwierig, aufrecht zu gehen. Sie legten ihn auf ein Bett und deckten ihn zu. Er hörte, wie sie sich unterhielten, ihre Worte jedoch, in seinem Kopf nur Gelalle, ergaben für ihn keinen Sinn.

Dunkelheit saugte seinen Verstand auf. Dann ein Licht. Er schien an die Oberfläche zu treiben und gleich wieder in die Tiefe zu trudeln. Er fragte sich, wer er war und was mit ihm geschah. Die Zeit verging, während sich der Raum drehte, wankte und kippte. Er hielt sich am Bett fest, um nicht abgeworfen zu werden. Manchmal wußte er, wo er war, und versuchte, sich verzweifelt an sein Wissen zu klammern … nur um wieder in Dunkelheit zu versinken.

Sein Bewußtsein regte sich. Er wußte, daß Zeit verstrichen war, hatte allerdings keine Ahnung, wieviel. War es dunkel? Vielleicht waren nur die Vorhänge vorgezogen. Er merkte, wie ihm jemand einen kühlen, feuchten Lappen auf die Stirn legte. Seine Mutter strich ihm die Haare glatt. Ihre Berührung hatte etwas Tröstliches, Wohltuendes. Beinahe konnte er ihr Gesicht erkennen. Sie war so gut, immer sorgte sie sich um ihn.

Bis zu ihrem Tod. Er wollte heulen. Sie war tot. Trotzdem strich sie ihm die Haare glatt. Das war nicht möglich, es mußte jemand anderes sein. Aber wer? Dann fiel es ihm ein. Es war Kahlan. Er rief ihren Namen.

Kahlan strich ihm übers Haar. »Ich bin hier.«

Dann fiel es ihm wieder ein, die Erinnerung überflutete ihn wie ein Sturzbach: die Ermordung seines Vaters, die Schlingpflanze, die ihn gestochen hatte, die vier Männer auf den Klippen, die Ansprache seines Bruders; wie ihm jemand in seinem Haus aufgelauert hatte, der Gar, das Irrlicht, das ihm gesagt hatte, entweder fände er die Antwort, oder er müsse sterben, was Kahlan erzählt hatte, daß die drei Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht worden waren, und sein Geheimnis, das Buch der Gezählten Schatten…

Er erinnerte sich; sein Vater hatte ihn zu einem geheimen Ort in den Wäldern mitgenommen und ihm erzählt, wie er das Buch der Gezählten Schatten aus den Klauen jenes Monsters gerettet hatte, daß es bewacht werden sollte, bis sein Meister kam. Wie er es nach Westland gebracht hatte, um es vor den gierigen Händen zu schützen, Hände, von denen der Hüter des Buches nicht wußte, wie bedrohlich sie waren. Nach Ansicht seines Vaters bestand die Gefahr, solange das Buch existierte. Das darin enthaltene Wissen könne er allerdings nicht vernichten. Dazu habe er kein Recht, es gehöre dem Hüter des Buches und müsse sicher verwahrt werden, bis es zurückgegeben werden könne. Die einzige Möglichkeit sei, das Buch auswendig zu lernen und dann zu verbrennen. Nur so könne das Wissen bewahrt bleiben, ohne gestohlen zu werden, was sonst nicht geschähe.

Sein Vater hatte Richard ausgewählt. Daß er Richard wählte und nicht Michael, dafür hatte er seine ganz eigenen Gründe. Niemand durfte von dem Buch wissen, nicht einmal Michael, nur sein Hüter, niemand sonst. Vielleicht meinte er, es käme nie dazu. In diesem Fall hatte Richard das Buch an sein Kind weiterzugeben, und dieses dann an seines und so weiter, solange es erforderlich war. Sein Vater konnte ihm nicht sagen, wer der Hüter des Buches war, denn er wußte es nicht. Richard fragte, wie er denn den Hüter erkennen solle. Doch sein Vater meinte, die Antwort darauf müsse er schon selbst finden. Und nie, niemals dürfe er außer dem Hüter jemandem davon erzählen. Auch Michael nicht. Nicht mal seinem besten Freund Zedd.

Richard hatte es bei seinem Leben geschworen. Tag auf Tag, Woche auf Woche, mit Unterbrechungen nur, wenn er auf Reisen war, hatte sein Vater ihn an jenen geheimen Ort tief in den Wäldern gebracht, wo er dasaß und zusah, wie Richard wieder und wieder das Buch las. Michael war gewöhnlich mit seinen Freunden unterwegs und zeigte kein Interesse, in die Wälder zu ziehen, selbst, wenn er zu Hause war. Und Richard besuchte Zedd auch dann häufig, wenn sein Vater zu Hause war, daher hatten beide keinen Anlaß, nach dem Grund seiner häufigen Ausflüge in die Wälder zu fragen.

Anschließend schrieb Richard auf, was er auswendig gelernt hatte und verglich es mit dem Buch. Sein Vater verbrannte dann jedesmal die Seiten und bat ihn, es zu wiederholen. Jeden Tag entschuldigte sich Richards Vater für die Bürde, die er ihm auferlegt hatte. Am Ende eines jeden Tages in den Wäldern bat er seinen Sohn um Vergebung.

Richard grollte nie, weil er das Buch auswendig lernen mußte. Er betrachtete es als eine Ehre, von seinem Vater ins Vertrauen gezogen zu werden. Hundertmal schrieb er das Buch von Anfang bis Ende fehlerlos auf, bevor er sicher war, kein einziges Wort je zu vergessen. Jedes ausgelassene Wort bedeutete Unheil.

Als sein Vater sicher sein konnte, daß er das Buch auswendig gelernt hatte, legten sie das Buch zurück in sein Versteck zwischen den Felsen und ließen es dort drei Jahre liegen. Nach dieser Zeit, Richard hatte die Fünfzehn überschritten, kehrten sie eines Herbstes zurück. Sein Vater meinte, wenn er das ganze Buch ohne einen einzigen Fehler niederschreiben könne, hätte er perfekt gelernt, und sie dürften es verbrennen. Richard schrieb ohne zu zögern von Anfang bis Ende. Es war perfekt. Zusammen machten sie ein Feuer, warfen mehr als genügend Holz hinein, bis die Hitze sie zurücktrieb. Sein Vater reichte ihm das Buch und meinte, wenn er sicher sei, könne er es ins Feuer werfen. Richard hielt das Buch der Gezählten Schatten in der Armbeuge und strich mit den Fingern über den ledernen Einband. Er hielt das Vertrauen seines Vaters in den Händen, das Vertrauen aller, und er spürte die Last der Verantwortung. Dann übergab er das Buch dem Feuer. Seit diesem Augenblick war er kein Kind mehr.

Die Flammen umzüngelten das Buch, liebkosten es zärtlich, verschlangen es. Farben und Formen stiegen spiralförmig auf, und ein dröhnender Schrei wurde ausgestoßen. Seltsame Lichtstrahlen schossen gen Himmel. Ein Wind ließ ihre Umhänge flattern, während das Feuer Blatter und Aste in sich hineinsog, hinein in die Flammen und die Hitze. Phantome erschienen, breiteten die Arme aus, als nährte sie die Glut; ihre Stimmen rasten mit dem Wind davon. Die beiden standen wie versteinert, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich von diesem Anblick abzuwenden. Glühende Hitze verwandelte sich in einen Wind, so kalt wie die tiefste Winternacht, ließ ihnen das Mark gefrieren, raubte ihnen den Atem. Dann war die Kalte verschwunden, und das Feuer verwandelte sich in weißes Licht, das alles mit seiner Helligkeit verschlang, so als stunden sie mitten in der Sonne. Und plötzlich war es vorbei. Stille trat ein. Das Feuer war aus. Rauchkringel stiegen langsam von dem geschwärzten Holz in die Herbstluft. Das Buch war verschwunden.

Richard wußte, was er gesehen hatte: Magie.


Richard spürte eine Hand auf seiner Schulter und öffnete die Augen. Es war Kahlan. Im Licht des Feuers, das durch die Tür hereinschien, sah er sie auf einem Stuhl sitzen, den sie dicht an sein Bett gezogen hatte. Zedds dicker, alter Kater lag schlafend zusammengerollt auf ihrem Schoß.

»Wo ist Zedd?« fragte er mit schläfrigen Augen. »Er ist unterwegs und sucht die Wurzel, die du brauchst.« Ihre Stimme klang zart und beruhigend. »Es ist schon seit Stunden dunkel, er meinte aber, wir sollten uns keine Sorgen machen. Du würdest immer wieder mal aufwachen, wärst aber bis zu seiner Rückkehr sicher.«

Zum ersten Mal bemerkte Richard, daß sie die schönste Frau war, der er je begegnet war. Ihr Haar fiel wirr um Gesicht und Schultern, und sehr gern hätte er es berührt. Aber er tat es nicht. Es genügte, ihre Hand auf seiner Schulter zu spüren, zu wissen, sie war da und er nicht allein.

»Wie fühlst du dich?« Ihre Stimme war so sanft, so zart. Er konnte sich nicht vorstellen, wieso Zedd Angst vor ihr gehabt hatte.

»Ich würde lieber gegen das nächste Quadron kämpfen, als mich noch mal mit dieser Schlingpflanze einzulassen.«

Sie schenkte ihm dieses Lächeln, das eine intime Verbundenheit mit ihm auszudrücken schien, und tupfte ihm die Stirn mit dem Lappen ab. Er hob die Hand und ergriff ihr Handgelenk. Sie hielt inne und sah ihm in die Augen.

»Kahlan, Zedd ist seit vielen Jahren mein Freund. Er ist für mich wie ein zweiter Vater. Versprich mir, daß du nichts tust, was ihn verletzen könnte. Das könnte ich nicht ertragen.«

Sie blickte ihm beruhigend in die Augen. »Ich mag ihn auch. Sehr sogar. Er ist ein guter Mensch, genau wie du gesagt hast. Ich habe nicht die Absicht, ihm weh zu tun. Ich brauche nur seine Hilfe bei der Suche nach dem Zauberer.«

Er packte ihr Handgelenk fester. »Versprich es mir.«

»Alles wird gut werden, Richard. Er wird uns helfen.«

Er mußte daran denken, wie sie seine Kehle gepackt und ihn angesehen hatte, als sie dachte, er wolle sie mit einem Apfel vergiften. »Versprich es mir.«

»Ich habe bereits mein Wort gegeben, anderen, von denen einige ihr Leben gelassen haben. Ich bin dem Leben anderer verpflichtet. Vieler anderer.«

»Versprich es mir.«

Mit der anderen Hand berührte sie seine Wange. »Tut mir leid, Richard, aber ich kann nicht.«

Er ließ ihr Handgelenk los, wandte sich ab und schloß die Augen. Sie nahm die Hand von seinem Gesicht. Er dachte an das Buch, an seine ganze Bedeutung, und merkte, wie egoistisch sein Wunsch war. Sollte er sie hereinlegen, um Zedd zu retten, nur damit er zusammen mit ihnen starb? Sollte er alle anderen zu Tod oder Sklaverei verdammen, nur damit sein Freund ein paar Monate länger lebte? Konnte er sogar sie, für nichts, dem Tod überlassen? Er schämte sich wegen seiner Dummheit. Er hatte kein Recht, ein solches Versprechen von ihr zu verlangen. Es wäre falsch, wenn sie sich darauf einließe. Glücklicherweise hatte sie ihm nichts vorgemacht. Zedd hatte sich zwar nach ihren Schwierigkeiten erkundigt, aber deshalb würde er ihr noch lange nicht gegen eine Gefahr von jenseits der Grenze helfen.

»Kahlan, das Fieber macht mich zum Narren. Verzeih mir bitte. Ich kenne niemanden, der so mutig wäre wie du. Ich weiß, du versuchst, uns alle zu retten. Zedd wird uns helfen, dafür werde ich sorgen. Versprich mir zu warten, bis es mir besser geht. Gib mir Gelegenheit, ihn zu überzeugen.«

Sie drückte seine Schulter. »Das Versprechen kann ich dir geben. Ich weiß, wieviel dir an deinem Freund liegt. Ich würde verzweifeln, wenn es anders wäre. Das macht dich nicht zum Narren. Ruh dich jetzt aus.«

Er versuchte, die Augen offen zu halten, denn sobald er sie schloß, begann sich alles zu drehen. Doch das Reden hatte an seiner Kraft gezehrt, und kurz darauf umschloß ihn wieder Dunkelheit. Wieder einmal wurden seine Gedanken ins Nichts gesogen. Gelegentlich näherte er sich der Schwelle des Wachseins, und durchlebte beunruhigende Träume; manchmal war die Dunkelheit so dicht, daß nicht einmal mehr Platz für Trugbilder war.


Der Kater erwachte und stellte die Ohren auf. Richard schlief weiter. Geräusche, die nur eine Katze hören konnte, ließen sie von Kahlans Schoß springen, zur Tür traben, wo sie sich abwartend auf die Hinterbeine setzte. Kahlan wartete ebenfalls, und da sich das Fell des Katers nicht sträubte, blieb sie bei Richard. Von draußen war eine dünne Stimme zu hören.

»Kater? Kater! Wo steckst du? Na, von mir aus bleib einfach draußen.« Knarrend öffnete sich die Tür. »Da steckst du.« Der Kater lief zur Tür hinaus. »Ganz wie du willst!« rief Zedd ihm nach. »Wie geht es Richard?« fragte er.

Kahlan blieb sitzen, als er den Raum betrat. »Er ist ein paarmal aufgewacht, aber jetzt schläft er. Hast du die Wurzel gefunden, die du brauchst?«

»Sonst wäre ich nicht hier. Hat er etwas gesagt, als er aufgewacht ist?«

Kahlan lächelte den alten Mann von unten herauf an. »Nur, daß er sich um dich sorgt.«

Er kehrte um und verschwand brummend im Vorderzimmer. »Und zwar nicht ohne guten Grund.«

Er setzte sich an den Tisch, schälte die Wurzeln und schnitt sie in hauchdünne Scheiben, die er mit etwas Wasser in einen Topf gab. Dann hängte er den Topf übers Feuer. Bevor er zum Regal ging, um einige verschieden große Gläser herunterzunehmen, warf er die Schalen und zwei Scheite ins Feuer. Ohne Zögern wählte er erst ein Glas, dann ein zweites aus und schüttete die verschiedenfarbigen Pulver in einen schwarzen Mörser aus Stein. Mit einem weißen Stößel zerrieb er das Rot, Blau, Gelb, Braun und Grün, bis alles zusammen die Farbe trockenen Schlamms hatte. Er befeuchtete eine Fingerspitze und stippte sie zum Probieren in den Mörser. Er schmeckte ab, machte ein überraschtes Gesicht, schnalzte mit den Lippen und überlegte. Schließlich lächelte er und nickte zufrieden. Er schüttete das Pulver in den Topf und nahm eine Kelle von einem Haken neben dem Kamin. Langsam rührend beobachtete er, wie das Gebräu köchelte. Fast zwei Stunden saß er so da. Endlich entschied er, das Werk sei vollbracht, und setzte den schweren Topf zum Abkühlen auf den Tisch.

Zedd suchte eine Schale und ein Tuch und bat Kahlan nach einer Weile, ihm zu helfen. Sie eilte an seine Seite, und er erklärte ihr, wie sie das Tuch über der Schale halten mußte, während er die Mixtur durchseihte.

Er machte eine wirbelnde Bewegung mit dem Finger. »Und jetzt wringe das Tuch aus, um die Flüssigkeit herauszupressen. Wenn alles herausgepreßt ist, wirf das Tuch und was darin hängengeblieben ist, ins Feuer.« Sie sah ihn verwirrt an. »Was im Tuch bleibt, ist Gift. Richard müßte jetzt jeden Augenblick aufwachen, dann geben wir ihm die Flüssigkeit in der Schale. Drück du weiter das Tuch aus, ich sehe inzwischen nach ihm.«

Zedd ging ins Schlafzimmer, beugte sich über Richard und stellte fest, daß er in tiefer Bewußtlosigkeit lag. Er drehte sich um und sah Kahlan, die ihm den Rücken zuwandte und ihre Arbeit erledigte. Er beugte sich vor und legte Richard den Mittelfinger auf die Stirn. Richard riß die Augen auf.

»Wir haben Glück, meine Liebe!« rief er hinüber in den anderen Raum, »er ist gerade aufgewacht. Jetzt bring die Schale.«

Richard zwinkerte mit den Augen. »Zedd? Alles in Ordnung? Auch mit dir?«

»Ja, ja, alles bestens.«

Kahlan kam herein und hielt die Schale vorsichtig, um nichts zu verschütten. Zedd half Richard auf, damit er trinken konnte. Als er fertig war, half er ihm wieder beim Hinlegen.

»Das wird dich schläfrig machen und das Fieber senken. Wenn du das nächste Mal aufwachst, bist du wieder gesund, mein Wort darauf. Mach dir also keine Sorgen mehr und ruh dich aus.«

»Danke, Zedd…« Richard war eingeschlafen, bevor er noch mehr sagen konnte.

Zedd ging und kehrte mit einem Blechteller zurück. Er bestand darauf, daß Kahlan sich auf den Stuhl setzte. »Der Dorn verträgt die Wurzel nicht«, erklärte er. »Er wird seinen Körper verlassen müssen.« Er schob den Teller unter Richards Hand, setzte sich auf die Bettkante und wartete. Sie lauschten auf Richards tiefen Atem und das Knacken des Feuers aus dem Nebenzimmer. Ansonsten war es still im Haus. Zedd war es, der als erster das Schweigen brach.

»Für einen Konfessor ist es gefährlich, allein zu reisen, meine Liebe. Wo ist dein Zauberer?«

Sie sah ihn mit müden Augen an. »Mein Zauberer hat sich bei einer Königin verdingt.«

Zedd runzelte ungläubig die Stirn. »Er hat seine Pflichten gegenüber den Konfessoren aufgegeben? Wie lautet sein Name?«

»Giller.«

»Giller«, wiederholte er den Namen mit säuerlicher Miene. Er beugte sich zu ihr vor. »Und warum hat dich kein anderer begleitet?«

Sie sah ihm fest ins Gesicht. »Weil sie alle tot sind, gestorben durch ihre eigene Hand. Sie sind vor ihrem Tod alle zusammengekommen und haben ein Netz gesponnen, um mich unter der Führung eines Irrlichts sicher durch die Grenze zu bringen.« Zedd erhob sich, als er das hörte. Trauer und Sorge gruben sich in sein Gesicht. Er strich sich übers Kinn.

»Du hast die Zauberer gekannt?« wollte sie wissen.

»Aber ja. Ich habe lange in den Midlands gelebt.«

»Und den großen Zauberer? Kennst du den auch?«

Zedd lächelte, ordnete sein Gewand und setzte sich wieder. »Du bist hartnäckig, meine Liebe. Ja, ich habe den alten Zauberer einmal getroffen. Aber selbst wenn du ihn fändest, glaube ich nicht, daß er etwas mit dieser Geschichte zu tun haben möchte. Ich glaube, er würde den Midlands nicht helfen.«

Kahlan beugte sich vor und ergriff seine Hand. Ihre Stimme war sanft, aber nachdrücklich.

»Zedd, es gibt viele in den Midlands, die mit dem Hohen Rat und seiner Gier alles andere als einverstanden sind. Sie hätten es gern anders, aber es sind nur einfache Menschen, die nichts zu sagen haben. Sie wollen nur in Frieden leben. Darken Rahl hat die Lebensmittel beschlagnahmt, die für den kommenden Winter eingelagert worden waren, und sie an die Armee verteilt. Sie schmeißen sie weg oder lassen sie verfaulen. Oder sie verkaufen sie den Leuten, denen sie sie gestohlen haben. Schon jetzt hungern viele, und diesen Winter wird es Tote geben. Das Feuer wurde geächtet. Die Menschen frieren. Rahl behauptet, dies alles sei der Fehler des großen Zauberers, weil er sich nicht als Volksfeind vor Gericht hat stellen lassen. Er behauptet, sie hätten all dies dem Zauberer zu verdanken, er sei an allem schuld. Wieso, erklärt er nicht. Viele glauben es trotzdem. Viele glauben alles, was Rahl sagt, obwohl sie nur die Augen zu öffnen brauchten, um zu sehen, daß es nicht stimmt.

Die Zauberer waren ständig in Gefahr. Man hatte ihnen per Erlaß die Anwendung von Magie verboten. Sie wußten, früher oder später würde sie gegen die Menschen ausgespielt werden. Vielleicht haben sie in der Vergangenheit Fehler begangen und ihren Lehrer enttäuscht, aber das Wichtigste, was sie gelernt hatten, war, die Menschen zu schützen und ihnen keinen Schaden zuzufügen. In einem Akt reiner Liebe für die Menschen haben sie ihr Leben geopfert, um Darken Rahl aufzuhalten. Ich glaube, ihr Lehrer wäre stolz auf sie gewesen.

Aber es geht nicht um die Midlands. Die Grenze zwischen D'Hara und den Midlands ist gefallen, die Grenze zwischen den Midlands und Westland wird schwächer, und bald wird auch sie fallen. Die Menschen werden von dem beherrscht werden, was sie am meisten fürchten: Magie. Entsetzliche, grauenerregende Magie, wie niemand von ihnen sie sich vorstellen kann.«

Zedd zeigte keine Rührung, erhob weder Einwand noch Einwurf. Er hörte nur zu. Er überließ ihr auch weiterhin seine Hand.

»Gegen all das könnte der große Zauberer Einwände vorbringen, doch daß Darken Rahl die Drei Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht hat, ist etwas völlig anderes. Wenn ihm das gelingt, wird es am ersten Tag des Winters für alle zu spät sein. Auch für den Zauberer. Rahl ist bereits auf der Suche nach ihm, er will sich persönlich an ihm rächen. Viele sind bereits gestorben, weil sie seinen Namen nicht preisgeben konnten. Öffnet Rahl jedoch das richtige Kästchen, wird er uneingeschränkte Macht über alles Leben besitzen, und dann ist auch der Zauberer in seiner Hand. Er kann sich in Westland verstecken, solange er will, am ersten Tag des Winters ist es vorbei. Dann hat Darken Rahl ihn in der Hand.«

Sie wirkte verbittert. »Zedd, Darken Rahl hat mit Hilfe der Quadrone alle anderen Konfessoren getötet. Ich habe meine Schwester gefunden, nachdem sie mit ihr fertig waren. Sie starb in meinen Armen. Jetzt, wo all die anderen tot sind, bin nur noch ich übrig. Die Zauberer hatten gewußt, daß ihr Lehrer ihnen nicht helfen wollte, also haben sie mich geschickt, als letzte Hoffnung. Er hilft sich selbst, wenn er mich unterstützt, und sollte er zu töricht sein, um das einzusehen, dann muß ich meine Macht gegen ihn richten und ihn dazu zwingen.«

Zedd zog eine Braue hoch. »Und was soll ein alter, vertrockneter Zauberer gegen die Macht eines Darken Rahl ausrichten?« Jetzt war er es, der ihre Hand hielt.

»Er muß einen Sucher ernennen.«

»Was?« Zedd sprang auf. »Meine Liebe, du weiß nicht, was du da sagst.«

Kahlan lehnte sich ein wenig verwirrt zurück. »Was meinst du?«

»Sucher ernennen sich selbst. Der Zauberer bestätigt in gewisser Weise nur das Geschehene und macht es amtlich.«

»Ich verstehe nicht. Ich dachte, der Zauberer sucht den Richtigen aus.«

Zedd lehnte sich zurück und strich sich übers Kinn. »In gewisser Weise stimmt das auch, aber andersherum. Ein wahrer Sucher, jemand, der den Ausschlag geben kann, muß sich selbst als Sucher zu erkennen geben. Der Zauberer zeigt nicht mit dem Finger auf irgend jemanden und sagt: ›Hier ist das Schwert der Wahrheit, jetzt bist du der Sucher.‹ Eigentlich hat er in dieser Angelegenheit gar keine Wahl. Man kann nicht Sucher werden. Man muß einfach Sucher sein und dies durch seine Taten unter Beweis stellen. Um sicherzugehen, muß ein Zauberer jemanden über Jahre beobachten. Ein Sucher muß nicht der Gerissenste sein, nur eben der Richtige. Es muß einfach in ihm stecken. Ein wahrer Sucher ist selten.

Der Sucher stellt einen Scheitelpunkt der Macht dar. Seine Ernennung ist durch den Rat eine politische Sache geworden, ein Knochen, den sie einem der seibernden Köter zu ihren Füßen vorwerfen können. Es ist ein gefragter Posten, wegen der Macht, über die ein Sucher verfügt. Aber der Rat hat nichts begriffen. Nicht das Amt verleiht dieser Person Macht, sondern umgekehrt.«

Er rückte näher. »Kahlan, du wurdest geboren, nachdem der Rat sich diese Macht angeeignet hatte, also hast du vielleicht in jungen Jahren einen Sucher gesehen. Doch zu jener Zeit haben die Sucher sich nur den Anschein gegeben; einen echten hast du nie zu Gesicht bekommen.« Er riß die Augen auf, als er das erzählte. Seine Stimme war leise und voller Leidenschaft. »Ich habe gesehen, wie ein wahrer Sucher durch eine schlichte Frage einen König in seinen Stiefeln erzittern ließ. Wenn ein wahrer Sucher das Schwert der Wahrheit zieht…« Er reckte die Arme empor und rollte verzückt die Augen. »Der Anblick gerechten Zorns kann etwas sehr Erhabenes sein.« Kahlan mußte angesichts seiner Erregung lächeln. »Die Guten kann er vor Freude erbeben lassen, die Schlechten vor Furcht.« Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Aber die meisten glauben die Wahrheit selbst dann nicht, wenn sie sie sehen, und schon gar nicht, wenn sie nicht wollen. Dadurch bekommt die Stellung eines Suchers etwas Gefährliches. Er ist allen im Weg, die die Macht untergraben. Er zieht Blitze von vielen Seiten an. Meist ist er auf sich allein gestellt und oft nicht mal für lange.«

»Das Gefühl kenne ich gut«, sagte sie mit einem Anflug von Lächeln.

Zedd beugte sich weiter vor. »Ich glaube, sogar ein Sucher wird gegen Darken Rahl nicht lange durchhalten. Außerdem, was kommt danach?«

Sie ergriff wieder seine Hand. »Wir müssen es versuchen, Zedd. Es ist unsere einzige Chance. Wenn wir sie nicht nutzen, ist es aus.«

Er setzte sich auf, rückte von ihr ab. »Wen immer der Zauberer aussucht, er wird sich in den Midlands nicht auskennen. Er hätte dort keine Chance. Es wäre ein Todesurteil für denjenigen.«

»Das ist ein weiterer Grund, weshalb man mich geschickt hat. Ich soll ihm als Führer dienen, ihm zur Seite stehen, und wenn es sein muß, mein Leben opfern und helfen, ihn zu beschützen. Konfessoren verbringen ihr Leben damit, in den Ländern herumzureisen. Ich war fast überall in den Midlands. Ein Konfessor wird von Geburt an in Sprachen unterrichtet. Das muß auch so sein, weil er nie weiß, wohin er geschickt wird. Ich spreche alle großen und die meisten kleinen Sprachen. Und was das Auf-sichZiehen von Blitzen anbelangt, bekommt ein Konfessor durchaus seinen Teil ab. Wären wir leicht zu töten, würde Darken Rahl keine Quadrone losschicken, die das erledigen sollen. Viele sind dabei schon draufgegangen. Ich kann dabei helfen, den Sucher zu beschützen. Mit meinem Leben, wenn es sein muß.«

»Dein Vorschlag würde einen Sucher nur in fürchterliche Lebensgefahr bringen, meine Liebe. Und dich auch.«

Sie zog eine Braue hoch. »Ich werde bereits verfolgt. Wenn du einen besseren Vorschlag hast, sag es.«

Zedd atmete erschöpft durch. Richard stöhnte. Der alte Mann stand auf. »Es ist soweit.«

Kahlan stand neben ihm, als er Richards Arm am Handgelenk hochhob und die verwundete Hand über den Blechteller hielt. Blut tropfte auf den Teller. Der Dorn fiel mit einem leisen, feuchten Platschen heraus. Kahlan wollte danach greifen.

Zedd packte ihr Handgelenk. »Tu das nicht, meine Liebe. Jetzt, wo er aus seinem Wirt vertrieben ist, wird der Dorn versuchen, einen neuen zu finden. Paß auf.«

Sie zog ihre Hand zurück, als er seinen knochigen Finger ein paar Zentimeter von dem Dorn entfernt auf den Teller legte. Zappelnd krabbelte der Dorn, eine dünne Blutspur hinter sich herziehend, auf den Finger zu. Er zog seinen Finger zurück und reichte ihr den Teller. »Halte ihn von unten und bring ihn zum Kamin. Leg ihn mit der Oberseite nach unten auf das Feuer und laß ihn dort.«

Während sie tat, worum Zedd sie gebeten hatte, säuberte er die Wunde und behandelte sie mit einer Salbe. Als Kahlan zurückkehrte, hielt er Richards Hand und sie verband sie. Zedd beobachtete ihre Hände.

»Warum hast du ihm nicht gesagt, daß du ein Konfessor bist?« Seine Stimme klang hart.

Ihre Antwort klang ebenso hart. »Wegen deines Benehmens, als du erkannt hast, daß ich ein Konfessor bin.« Sie wartete und fuhr freundlicher fort: »Irgendwie sind wir Freunde geworden. Das war mir neu. Mein ganzes Leben habe ich solche Reaktionen wie deine erlebt. Sobald ich mit dem Sucher aufbreche, werde ich es ihm erzählen. Bis dahin würde ich gerne seine Freundschaft gewinnen. Ist das zuviel verlangt, das ganz menschliche Bedürfnis nach Freundschaft? Sie wird früh genug enden, wenn ich es ihm erzähle.«

Als sie fertig war, legte Zedd ihr einen Finger unters Kinn, hob ihren Kopf und lächelte sie gütig an. »Ich habe mich dumm benommen, als ich dich zum ersten Mal sah. Hauptsächlich deswegen, weil ich überrascht war, einen Konfessor zu sehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, jemals wieder einem zu begegnen. Ich habe die Midlands verlassen, weil ich mich von der Magie lösen wollte. Du bist in meine Einsamkeit eingedrungen. Ich möchte mich für mein Benehmen und den unfreundlichen Empfang entschuldigen. Ich hoffe, ich habe es wieder gutgemacht. Ich habe Respekt vor Konfessoren, vielleicht mehr als du ahnst. Du bist eine gute Frau. Sei willkommen in meinem Haus.«

Kahlan blickte ihm lange in die Augen. »Danke, Zeddicus Zu'l Zorander.«

Zedd machte ein Gesicht, noch bedrohlicher als ihres bei ihrer ersten Begegnung. Wie erstarrt stand sie da, und er hielt seinen Finger immer noch unter ihr Kinn. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, die Augen weit aufgerissen.

»Du sollst allerdings wissen, Mutter Konfessor«, seine Stimme war wenig mehr als ein Flüstern und tödlich, »dieser Junge ist seit sehr langer Zeit schon mein Freund. Wenn du ihn mit deiner Macht berührst oder ihn erwählst, wirst du mir Rede und Antwort stehen müssen. Und das wird dir nicht gefallen. Hast du verstanden?«

Sie schluckte heftig und brachte ein schwaches Nicken zustande. »Ja.«

»Gut.« Das Bedrohliche wich aus seinem Gesicht, Gelassenheit trat wieder an seine Stelle. Er nahm den Finger von ihrem Kinn und wandte sich Richard zu.

Kahlan atmete durch. Sie war nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen. Sie packte ihn am Arm und riß ihn herum. »Zedd, das würde ich ihm niemals antun. Nicht, weil du mir gedroht hast, sondern weil ich ihn mag. Ich möchte, daß du das begreifst.«

Sie sahen sich lange in die Augen. Dann kehrte, entwaffnend wie immer, Zedds schelmisches Grinsen zurück.

»Ich habe dir die Wahl gelassen, meine Liebe. So wäre es mir am liebsten.«

Sie entspannte sich. Sie war zufrieden, weil sie ihren Standpunkt klargestellt hatte, und nahm ihn kurz in den Arm. Er erwiderte die Geste aufrichtig.

»Ems hast du bislang noch nicht erwähnt. Du hast mich nicht um Hilfe bei der Suche nach dem Zauberer gebeten.«

»Nein, und das möchte ich auch jetzt noch nicht. Richard hat Angst davor, was ich tue, wenn du ablehnst. Ich habe versprochen, dich erst zu fragen, wenn er selbst Gelegenheit dazu gehabt hat. Ich habe ihm mein Wort gegeben.«

Zedd legte einen knochigen Finger an sein Kinn. »Wie interessant.« Er legte ihr die Hand verschwörerisch auf die Schulter und wechselte das Thema. »Weißt du, meine Liebe, du würdest dich auch gut als Sucher machen.«

»Ich? Kann eine Frau Sucher sein?«

Er zeigte ein überraschtes Gesicht. »Natürlich. Einige der besten Sucher waren Frauen.«

»Ich habe bereits eine unlösbare Aufgabe«, sagte sie stirnrunzelnd. »Eine zweite kann ich nicht brauchen.«

Zedd lachte, seine Augen funkelten. »Vielleicht hast du recht. Es ist spät, meine Liebe. Leg dich nebenan in mein Bett und hol dir den Schlaf, den du brauchst. Ich bleibe bei Richard.«

»Nein!« Sie schüttelte den Kopf und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Ich möchte ihn noch nicht allein lassen.«

Zedd zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.« Er trat hinter sie und klopfte ihr beruhigend auf die Schultern. »Wie du willst.« Sachte legte er ihr die Mittelfinger rechts und links an die Schläfen und begann, sie in kleinen Kreisen zu massieren. Mit einem leisen Stöhnen schloß sie die Augen. »Schlafe, meine Liebe«, flüsterte er. »Schlafe.« Sie legte die Arme auf die Bettkante und ließ den Kopf darauf sinken. Sie war fest eingeschlafen. Nachdem er ihr eine Decke übergelegt hatte, ging Zedd ins Vorderzimmer, zog die Tür auf und blickte hinaus in die Nacht.

»Kater! Komm her, ich brauche dich.« Der Kater lief herein und rieb sich mit aufgestelltem Schwanz an seinen Beinen. Er bückte sich und kraulte ihn hinter den Ohren. »Geh und schlafe im Schoß der jungen Frau. Halte sie warm.« Der Kater trottete ins Schlafzimmer, während der alte Mann in die nachtkalte Luft hinaustrat.


Der Wind fuhr Zedd in die Kleider, als er den schmalen Pfad durch das hohe Gras entlangging. Die Wolken waren dünn und ließen genug Licht durch, um sehen zu können, obwohl er das nicht nötig hatte. Er war diesen Weg Tausende Male gegangen.

»Nichts ist jemals einfach«, murmelte er im Gehen.

In der Nähe einer Baumgruppe blieb er stehen und lauschte. Langsam drehte er sich im Kreis, linste in die Schatten, beobachtete, wie sich die Zweige im Wind wiegten, und sog die Luft prüfend durch die Nase. Er hielt Ausschau nach einer unvertrauten Bewegung.

Eine Mücke stach ihn in den Nacken. Ärgerlich schlug er danach, pickte den Quälgeist vom Hals und sah ihn wütend an. »Blutmücke. Verdammt. Das habe ich mir gedacht«, murmelte er.

Aus einem Gebüsch ganz in der Nähe ging etwas in furchterregendem Tempo auf ihn los. Flügel, Pelz und Zähne griffen an. Zedd wartete, die Hände in die Hüften gestemmt. Kurz bevor es ihn erreicht hatte, hielt er eine Hand in die Höhe und brachte den kurz-schwänzigen Gar schlingernd zum Stehen. Er war anderthalbmal so groß wie er, voll ausgewachsen und doppelt so bösartig wie ein lang-schwänziger Gar. Das Monster kniff knurrend die Augen zusammen und spannte die Muskeln an, als wollte es gegen jene Kraft ankämpfen, die es daran hinderte, sich den Alten zu greifen — wütend, daß es ihn nicht schon längst getötet hatte.

Zedd hob die Hand und forderte es mit einem lockend gekrümmten Finger auf, sich vorzubeugen. Keuchend vor Wut tat der Gar wie ihm geheißen. Zedd rammte ihm den Finger hart unters Kinn.

»Wie lautet dein Name?« zischte er. Das Monster grunzte zweimal und machte tief in einer Kehle ein Geräusch. Zedd nickte. »Ich werde ihn nicht vergessen. Sag mir, willst du leben oder sterben?« Der Gar wollte zurückweichen, konnte es aber nicht. »Gut. Dann wirst du genau tun, was ich sage. Irgendwo zwischen hier und D'Hara ist ein Quadron auf dem Weg hierher. Spür es auf und töte sie alle. Wenn das erledigt ist, gehe zurück nach D'Hara, woher du gekommen bist. Tu es, und ich werde dich leben lassen. Ich werde mich jedoch immer an deinen Namen erinnern. Doch wenn es dir nicht gelingt, das Quadron zu töten, oder du nach Erledigung deiner Aufgabe zurückkommen solltest, werde ich dich töten und deinen Fliegen zum Fraß vorwerfen. Bist du mit meinen Bedingungen einverstanden?« Der Gar fügte sich mit einem Grunzen. »Gut. Dann mache dich auf den Weg.« Zedd nahm seinen Finger von seinem Kinn. Das Monster hatte es eilig zu verschwinden, schlug wild mit den Schwingen und zertrampelte stolpernd das Gras. Endlich war der Gar in der Luft. Zedd verfolgte, wie er auf der Suche nach dem Quadron kreiste. Die Suche führte ihn immer weiter nach Osten, die Kreise schienen kleiner zu werden, bis der alte Mann das Monster nicht mehr sehen konnte. Erst dann setzte er den Weg zum höchsten Punkt des Hügels fort.

Zedd stellte sich neben seinen Wolkenstein und machte mit seinem knochigen Finger eine kreisende Bewegung, als rührte er in einem Topf. Knirschend versuchte der massige Stein, Zedds Fingerbewegung zu folgen. Der Stein vibrierte, versuchte seine Masse zu drehen. Er zerbrach knallend und krachend, feine Haarrisse zuckten über seine Oberfläche. Zitternd wehrte sich der massige Stein gegen die auf ihn einwirkende Kraft. Er konnte seinen Zustand nicht länger aufrecht erhalten und verflüssigte sich, bis seine Masse synchron mit dem darübergehaltenen Finger kreisen konnte. Langsam beschleunigte Zedd seine Rührbewegung, bis aus dem kreisenden, flüssigen Gestein Licht hervorbrach. Das Licht gewann mit dem Tempo von Zedds Hand an Intensität. Farben und Lichtfunken wirbelten im Kreis, Schatten und Gestalten erschienen inmitten des Lichts und verschwanden, während die diffuse Helligkeit zunahm. Sie drohte die Luft ringsum in Brand zu setzen. Es entstand ein dumpfes Rauschen, wie das Geräusch des Windes, der durch einen feinen Riß strömt. Die herbstlichen Düfte wichen der Klarheit des Winters, dann dem Aroma frisch gepflügten Frühjahrsbodens, von Sommerblumen. Dann roch es wieder nach Herbst. Eine reine, klare Helligkeit verscheuchte Farben und Funken.

Plötzlich wurde der Fels fest, und Zedd stellte sich auf ihn, ins Licht. Die Helligkeit schwand zu einem schwachen Glühen, das sich kräuselte wie Rauch. Vor ihm standen zwei Erscheinungen, bloße Schatten einer Gestalt.

Die Stimme seiner Mutter ertönte hohl und wie aus der Ferne.

»Was bedrückt dich, Sohn? Warum hast du uns gerufen, nach so vielen Jahren?« Sie streckte die Arme nach ihm aus.

Zedd wollte sie berühren, doch seine Arme reichten nicht bis zu ihr. »Mich bedrückt, was Mutter Konfessor mir erzählt.«

»Sie spricht die Wahrheit.«

Er schloß die Augen und nickte. Die beiden senkten die Arme. »Dann stimmt es also. Alle meine Lehrlinge sind tot, bis auf Giller.«

»Du bist der einzige, der noch übrig ist, um Mutter Konfessor zu beschützen.« Sie glitt näher. »Du mußt einen Sucher ernennen.«

»Der Oberste Rat hat diese Saat gesät«, warf er stirnrunzelnd ein. »Und jetzt willst du, daß ich sie ernte? Sie haben meinen Rat abgelehnt. Sollen sie ihrer Gier frönen und sterben.«

Zedds Vater schwebte dichter heran. »Mein Sohn, warum hast du dich über deine Lehrlinge geärgert?«

Zedd machte ein finsteres Gesicht. »Weil sie sich über die Pflicht gestellt haben, ihrem Volk zu helfen.«

»Verstehe. Und wie unterscheidet sich das von dem, was du jetzt tust?« Seine Stimme hallte durch die Luft.

Zedd ballte die Fäuste. »Ich habe meine Hilfe angeboten, aber sie wurde abgelehnt.«

»Wann hat es keine Blinden, Törichten oder Gierige gegeben? Läßt du dich so leicht von ihnen unterkriegen? Läßt du dich so einfach daran hindern, denen zu helfen, die sich helfen lassen wollen? Dein Volk zu verlassen, mag dir, im Gegensatz zu dem, was deine Lehrlinge taten, aus irgendwelchen Gründen gerecht erscheinen. Das Ergebnis ist jedoch das gleiche. Sie haben am Ende ihren Fehler erkannt und das Richtige getan, wie du es ihnen beigebracht hast. Lerne von deinen Lehrlingen, Sohn.«

»Zeddicus«, sagte seine Mutter. »Willst du Richard sterben lassen wie all die anderen Unschuldigen? Ernenne den Sucher.«

»Er ist zu jung.«

Sie schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. »Er wird keine Gelegenheit haben, älter zu werden.«

»Noch hat er meinen abschließenden Test nicht bestanden.«

»Darken Rahl macht Jagd auf Richard. Die Wolke, deren Schatten auf ihn fällt, wurde von Darken Rahl auf ihn angesetzt. Darken Rahl hat die Schlangenpflanze für ihn in die Vase gestellt, damit Richard nach ihr suchen und sie ihn stechen würde. Sie hat ihn nicht töten sollen; Rahl wollte ihn durch das Fieber einschläfern, bis er Gelegenheit hatte, ihn zu holen.« Ihre Gestalt schwebte näher, ihre Stimme wurde liebevoller. »In deinem Herzen hast du die Hoffnung gehegt, er würde sich als der Erwählte zeigen.«

»Wem sollte das nutzen?« Zedd schloß die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Darken Rahl verfügt über die drei Kästchen der Ordnung.«

»Nein«, sagte sein Vater. »Er hat nur zwei. Das dritte sucht er noch.«

Zedd riß die Augen auf, sein Kopf schnellte hoch. »Was! Er hat sie nicht alle?«

»Nein«, meinte seine Mutter. »Aber lange wird es nicht mehr dauern.«

»Und das Buch? Gewiß hat er doch das Buch der Gezählten Schatten?«

»Nein. Er sucht noch danach.«

Zedd legte seinen Finger ans Kinn und dachte nach. »Dann besteht eine Chance«, flüsterte er. »Welcher Narr würde die Kästchen der Ordnung ins Spiel bringen, bevor er nicht alle drei und auch das Buch besitzt?«

Seine Mutter blickte ihn eiskalt an. »Jemand, der sehr gefährlich ist. Er hat Zutritt zur Unterwelt.« Zedd erstarrte, der Atem stockte ihm in der Kehle. Seine Mutter schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren. »So konnte er die Grenze überwinden und das erste Kästchen zurückbekommen: durch seinen Zutritt zur Unterwelt. So konnte er auch die Auflösung der Grenze in Gang setzen: aus der Unterwelt. Er hat dort Macht über einige, und jedesmal wenn er kommt, werden es mehr. Sei gewarnt, solltest du dich entschließen zu helfen. Gehe nicht durch die Grenze, und schicke auch den Sucher nicht hindurch. Rahl erwartet genau das. Betrittst du sie, bist du in seiner Gewalt. Mutter Konfessor ist nur deswegen durchgekommen, weil er das nicht erwartet hatte. Denselben Fehler wird er nicht noch einmal machen.«

»Aber wie soll ich dann in die Midlands gelangen? Wenn ich nicht in die Midlands komme, kann ich nicht helfen.« Zedds Stimme war vor Enttäuschung gespannt.

»Es tut uns leid, doch das wissen wir nicht. Es wird wohl einen Weg geben, aber wir kennen ihn nicht. Deswegen mußt du einen Sucher ernennen. Wenn es der richtige ist, wird er einen Weg finden!« Ihre Gestalten begannen zu flimmern, zu verblassen.

»Wartet! Erst muß ich die Antwort auf meine Frage haben! Bitte verlaßt mich nicht!«

»Es tut uns leid, aber diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Wir werden hinter den Schleier zurückgerufen.«

»Warum ist Rahl hinter Richard her? So helft mir doch.«

Die Stimme seines Vaters war schwach und kam aus weiter Ferne. »Wir wissen es nicht. Du mußt selbst nach den Antworten suchen. Wir haben dich gut vorbereitet. Du bist begabter, als wir es je waren. Gebrauche, was du gelernt hast und was du fühlst. Wir lieben dich, Sohn. Bis dies erledigt ist, so oder so, werden wir nicht mehr zu dir kommen können. Nachdem die Ordnung ins Spiel gebracht wurde, könnte dies den Schleier zerreißen.«

Seine Mutter warf ihm einen Handkuß zu. Er tat es ihr nach, dann waren die beiden verschwunden.

Zeddicus Zu'l Zorander, der große ehrenvolle Zauberer, stand allein auf dem Zaubererfelsen, den sein Vater ihm vermacht hatte, starrte hinaus in die Nacht und hing den Gedanken eines Zauberers nach.

»Nichts ist jemals einfach«, flüsterte er.

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