»Versuch es noch einmal«, meinte der Vogelmann. »Und denke dabei an den Vogel, den du rufst.« Dabei tippte er Richard mit den Knöcheln an den Kopf. »Aber nicht hiermit, sondern«, er rammte ihm den Finger in den Bauch, »damit.«
Richard nickte. Während Kahlan übersetzte, führte er die Pfeife an die Lippen. Wie gewöhnlich war nichts zu hören. Der Vogelmann, Richard und Kahlan blickten über das ebene Land. Die Jäger, die sie hinaus in die Steppe begleitet hatten, lehnten auf ihren Speeren, die sie mit der Spitze nach oben auf den grasigen Boden gestellt hatten. Ihre Köpfe gingen nervös hin und her.
Scheinbar aus dem Nichts stießen Stare, Spatzen und kleine Feldvögel auf die die kleine Gruppe von Menschen herab. Lachend, wie schon den ganzen Tag, zogen die Jäger die Köpfe ein. Die Luft war voller kleiner Vögel, die wild umeinander kreisten. Der Himmel war schwarz von ihnen. Hysterisch lachend warfen sich die Jäger zu Boden und hielten die Hände über den Kopf. Richard verdrehte die Augen. Kahlan wandte sich lachend ab. Völlig außer sich hob der Vogelmann seine eigene Pfeife an die Lippen, blies immer wieder mit wehender Silbermähne hinein, und versuchte verzweifelt, die Vögel zu verscheuchen. Endlich befolgten sie sein Pfeifen und verschwanden wieder. Stille senkte sich über das Grasland. Natürlich bis auf die Jäger, die sich immer noch vor Lachen auf dem Boden wälzten.
Der Vogelmann atmete tief durch und stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich geb's auf. Den ganzen Tag haben wir es jetzt versucht, und es ist immer noch dasselbe wie am Anfang. Richard mit dem Zorn«, verkündete er, »du bist der schlimmste Vogelrufer, den ich je gesehen habe. Ein Kind lernt es mit drei Versuchen, doch du wirst bis zum Ende deines Lebens nicht genug Atem haben, um es zu kapieren. Es ist hoffnungslos. Deine Pfeife gibt nichts anderes von sich als ›Kommt, hier gibt es was zufressen‹.«
»Aber ich habe ›Habicht‹ gedacht, ganz bestimmt. Welchen Vogel du auch genannt hast, ich habe ihn mir so fest vorgestellt, wie ich konnte, ehrlich.«
Nach Kahlans Übersetzung lachten die Jäger nur noch heftiger. Richard warf ihnen einen finsteren Blick zu, doch das änderte nichts. Der Vogelmann verschränkte seufzend die Arme.
»Es hat keinen Zweck. Der Tag geht zu Ende, bald findet die Versammlung statt.« Er legte dem frustrierten Sucher den Arm um die Schultern. »Behalte die Pfeife trotzdem als Geschenk. Sie wird dir zwar nie etwas nützen, aber vielleicht erinnert sie dich daran, daß du zwar in vielen Dingen besser bist als die meisten Menschen, hierin jedoch unfähiger als ein kleines Kind.«
Die Jäger grölten. Richard gab sich geschlagen. Alle sammelten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zurück ins Dorf.
Richard beugte sich zu Kahlan hinüber. »Ich habe mein Bestes gegeben. Wirklich. Ich begreife es nicht.«
Schmunzelnd nahm sie seine Hand. »Davon bin ich überzeugt.«
Der wolkenverhangene Tag war strahlender als die vorhergehenden gewesen — selbst jetzt noch, als die Dämmerung anbrach, und das hatte ihre Laune erheblich aufgebessert. Größtenteils lag das daran, wie Richard sie behandelte. Er hatte keine Fragen gestellt und ihr Zeit gelassen, sich vom vorigen Abend zu erholen. Er hatte sie einfach in den Arm genommen und in Ruhe gelassen. Obwohl nichts geschehen war, fühlte sie sich ihm näher als je zuvor, gleichzeitig wußte sie, daß dies nichts Gutes verhieß. Es verschlimmerte nur ihr Dilemma. Fast hätte sie gestern abend einen großen Fehler begangen. Den größten Fehler ihres Lebens. Sie war erleichtert, weil er sie noch rechtzeitig daran gehindert hatte. Ein Teil von ihr wünschte jedoch, er hätte es nicht getan.
Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie nicht gewußt, wie er ihr gegenüber empfand, ob er verletzt war, wütend, oder ob er sie vielleicht haßte. Sie hatte sich zwar die ganze Nacht über mit nackter Brust an ihn geschmiegt, doch als sie sich das Hemd zuknöpfte, hatte sie ihm schamhaft den Rücken zugekehrt und ihm erklärt, daß kein Mensch je einen so geduldigen Freund gehabt hätte. Sie hoffte nur, ihm das eines Tages zurückzahlen zu können.
»Das hast du bereits. Du hast dein ganzes Vertrauen, dein Leben in meine Hände gelegt. Du hast geschworen, mich bei deinem Leben zu verteidigen. Welchen Beweis könnte ich sonst noch wollen?«
Daraufhin hatte sie sich umgedreht, mit Macht dem Wunsch widerstanden, ihn zu küssen, und hatte sich bedankt, daß er sich mit ihr abgab.
»Ich muß allerdings zugeben«, hatte er mit einem Schmunzeln gemeint, »Äpfel werde ich von jetzt an mit anderen Augen betrachten.«
Sie hatte gelacht, teils aus Verlegenheit. Anschließend hatten sie sich lange zusammen darüber amüsiert. Irgendwie war ihr danach besser, und was ein Stachel hätte werden können, war ihr gezogen worden.
Plötzlich hielt Richard an. Sie blieb ebenfalls stehen und betrachtete ihn, während die anderen weitergingen.
»Richard, was ist?«
»Die Sonne.« Er wirkte blaß. »Einen Augenblick lang hatte ich einen Sonnenstrahl auf meinem Gesicht.«
Sie drehte sich nach Westen. »Ich sehe nur Wolken.«
»Aber es stimmt. Eine winzige Öffnung. Jetzt sehe ich sie allerdings auch nicht mehr.«
»Glaubst du, das hat was zu bedeuten?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber es ist der erste Riß in den Wolken, den ich gesehen habe, seit Zedd sie dorthingesetzt hat. Vielleicht bedeutet es nichts.«
Sie gingen weiter. Der gespenstische Klang der Boldas schlug ihnen über das windgepeitschte, flache Grasland entgegen. Das Festmahl war noch immer in Gang, wie auch schon die ganze vergangene Nacht. Es würde bis zum Abend dauern, bis die Versammlung vorüber war. Alle waren bester Dinge, bis auf die Kinder, von denen viele übermüdet herumliefen oder zufrieden hier und dort in einer Ecke schliefen.
Die sechs Dorfältesten saßen jetzt ohne ihre Frauen auf der Plattform. Sie aßen ein kleines Mahl, das ihnen von besonderen Frauen serviert wurde: Köchinnen, denen allein es vorbehalten war, das Festmahl der Versammlung vorzubereiten. Kahlan sah zu, wie sie den Ältesten einen Trank einschenkten. Er war rot, anders als alles andere, was man anläßlich des Festmahls trank. Die Augen der sechs waren glasig, abwesend, so als sähen sie Dinge, die andere nicht sahen. Kahlan fröstelte.
Die Seelen ihrer Vorfahren waren bei ihnen.
Der Vogelmann unterhielt sich mit ihnen. Als er mit ihrer Antwort zufrieden war, nickte er, und sie erhoben sich und gingen im Gänsemarsch zum Haus der Seelen. Der Klang der Trommeln und Boldas veränderte sich auf eine Weise, die ihr eine Gänsehaut machte. Der Vogelmann kehrte gemächlich zu ihnen zurück. Seine Augen waren so stechend und intensiv wie immer.
»Es ist soweit«, meinte er zu ihr. »Richard und ich müssen jetzt gehen.«
»Was soll das beißen, ›Richard und ich‹? Ich komme mit.«
»Ausgeschlossen.«
»Ich bin die Führerin des Suchers. Ich werde zum Übersetzen gebraucht.«
Der Vogelmann blickte sich verlegen um. »Aber eine Versammlung besteht nur aus Männern«, wiederholte er. Offenbar fiel ihm nichts Besseres ein.
Sie verschränkte die Arme. »Nun, bei dieser wird eine Frau dabeisein.«
Richards Blick ging zwischen ihr und dem Vogelmann hin und her. An ihrer Stimme merkte er, daß etwas in der Luft lag, beschloß aber, sich nicht einzumischen. Der Vogelmann beugte sich ein wenig näher zu ihr, senkte die Stimme.
»Wenn wir die Seelen treffen, müssen wir so sein wie sie.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Soll das heißen, wir dürfen keine Kleidertragen?«
Er atmete durch und nickte. »Und man muß mit Schlamm bedeckt sein.«
»Also schön«, sagte sie. »Ich habe nichts dagegen.«
Er lehnte sich ein Stück zurück. »Und was ist mit dem Sucher? Vielleicht möchtest du ihn fragen, was er davon hält?«
Sie wich seinem Blick eine ganze Weile nicht aus, dann wandte sie sich an Richard. »Ich muß dir etwas erklären. Wenn jemand eine Versammlung einberuft, werden ihm manchmal durch die Ältesten Fragen der Seelen gestellt, um sicherzustellen, daß er in nobler Absicht handelt. Sollten die Seelenvorfahren eine Antwort für unehrenhaft oder unehrlich halten, könnten sie dich töten. Nicht die Ältesten, die Seelen.«
»Ich habe das Schwert«, erinnerte er sie.
»Nein, hast du nicht. Wenn du eine Versammlung willst, mußt du es machen wie die Ältesten und darfst den Seelen nur mit dir selbst gegenübertreten. Du darfst weder Schwert noch Kleider tragen, und du mußt mit Schlamm bemalt sein.« Sie holte Luft und warf eine Haarsträhne über die Schulter. »Wenn ich nicht dabei bin, um zu übersetzen, könntest du getötet werden, weil du eine Frage nicht beantwortest, die du einfach nicht verstanden hast. Ich muß zum Übersetzen dabei sein. Auch ich darf keine Kleider tragen. Der Vogelmann ist verstimmt und möchte wissen, was du davon hältst. Er hofft darauf, du würdest es mir verbieten.«
Richard verschränkte die Arme und musterte sie. »Ich denke, du bist so oder so entschlossen, die Kleider im Haus der Seelen abzulegen.«
Er fing an zu lächeln, und seine Augen funkelten. Kahlan mußte sich auf die Lippe beißen, um nicht loszuprusten. Der Vogelmann blickte verwirrt von einem zum anderen.
»Richard!« Sie hob warnend die Stimme. »Die Sache ist ernst. Und mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Es wird dunkel sein.« Trotzdem konnte sie sich das Lachen kaum verkneifen.
Richard wandte sich mit wieder ernstem Gesicht an den Vogelmann. »Ich habe die Versammlung einberufen. Ich brauche Kahlan dabei.«
Sie sah förmlich, wie er beim Übersetzen zusammenzuckte. »Ihr zwei habt meine Geduld auf die Probe gestellt, seit ihr hier seid.« Er seufzte laut. »Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern? Gehen wir.«
Kahlan und Richard gingen nebeneinander und folgten dem Vogelmann, der sie durch die dunklen Gassen des Dorfes führte, mehrmals rechts, dann wieder links abbog. Kahlan war sehr viel nervöser, als sie es sich anmerken ließ. Auch wenn sie dafür nackt unter acht Männern sitzen mußte, sie wollte Richard auf keinen Fall allein in die Versammlung gehen lassen. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt, alles aus den Händen gleiten zu lassen, dafür hatten sie zu hart gearbeitet. Die Zeit war zu knapp.
Sie setzte ihre Konfessormiene auf.
Als sie das Haus der Seelen erreicht hatten, führte der Vogelmann sie durch einen schmalen Durchgang in ein kleines Gebäude gleich nebenan. Die anderen Ältesten waren bereits da, saßen im Schneidersitz auf dem Boden und starrten geistesabwesend ins Leere. Sie lächelte Savidlin an, doch der reagierte nicht. Der Vogelmann nahm eine kleine Bank und zwei Tontöpfe zur Hand.
»Wenn ich eure Namen nenne, kommt ihr heraus. Bis dahin wartet ihr.«
Sie erklärte Richard, was der Vogelmann gesagt hatte, während der sich mitsamt seiner Bank und den zwei Töpfen seitlich durch die Tür drückte. Nach einer Weile rief er Caldus' Namen, danach in gewissen Abständen nacheinander die der anderen, Savidlin zuletzt.
Savidlin sagte kein Wort, schien nicht einmal zu bemerken, daß sie überhaupt da waren. In seinen Augen sah man die Seelen. Kahlan und Richard hockten allein in dem leeren, dunklen Raum und warteten. Sie bohrte am Absatz ihres Stiefels herum und versuchte nicht daran zu denken, auf was sie sich eingelassen hatte, dennoch kam ihr nichts anderes in den Sinn. Richard würde unbewaffnet sein, ohne Schwert, ohne Schutz. Aber sie würde nicht ohne ihre Kräfte sein. Sie konnte ihn schützen. Sie hatte zwar nicht davon gesprochen, aber dies war der andere Grund, warum sie dort drinnen sein mußte. Wenn etwas schiefging, wäre sie es, die sterben würde, und nicht er, soviel stand für sie fest. Dafür würde sie schon sorgen. Sie stählte sich, ging in sich. Dann hörte sie den Vogelmann Richards Namen rufen. Er stand auf.
»Hoffentlich klappt alles. Wenn nicht, haben wir jede Menge Ärger. Ich bin froh, daß du dabei bist.« Es war eine Warnung, damit sie wachsam bliebe.
Sie nickte. »Vergiß nicht, Richard, das ist jetzt unser Volk, wir gehören zu ihnen. Sie wollen uns helfen und werden ihr Bestes tun.«
Kahlan hockte mit umschlungenen Knien da und wartete, bis ihr Name aufgerufen wurde, dann ging sie hinaus in die kühle, dunkle Nacht. Der Vogelmann saß an die Wand des Hauses der Seelen gelehnt auf der kleinen Bank. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, daß er nackt und mit zackigen Symbolen bemalt war. Sein ganzer Körper war mit Streifen und Kringeln bedeckt, seine silbrige Mähne fiel ihm über die nackten Schultern. Ganz in der Nähe hockten Hühner auf einer kleinen Mauer und sahen zu. Neben dem Vogelmann stand ein Jäger. Zu seinen Füßen lagen Kojotenfelle, Kleider und Richards Schwert.
»Zieh deine Kleider aus«, befahl der Vogelmann.
»Was soll das?« fragte sie und zeigte auf den Jäger.
»Er ist hier, um die Kleider entgegenzunehmen. Sie werden zur Plattform der Ältesten gebracht, damit die Menschen sehen können, daß wir uns bei einer Versammlung befinden. Er wird sie vor Tagesanbruch zurückbringen, damit die Menschen wissen, daß die Versammlung beendet ist.«
»Schön. Bitte ihn, sich umzudrehen.«
Der Vogelmann tat es. Der Jäger drehte sich um. Sie griff nach ihrem Gürtel und zerrte ihn aus der Schnalle. Dann hielt sie inne und sah den Vogelmann an.
»Kind«, sagte er leise, »heute abend bist du weder Mann noch Frau. Du bist ein Schlammensch. Und ich bin heute abend weder Mann noch Frau. Ich bin ein Führer der Seelen.«
Sie nickte, zog sich aus, stellte sich vor ihn und spürte die kühle Nachtluft auf der Haut. Er schöpfte eine Handvoll weißen Schlamms aus einem der Töpfe. Seine Hand zögerte. Sie wartete. Trotz seiner Worte war es ihm etwas unangenehm. Sie zu sehen war eins, sie zu berühren etwas anderes.
Kahlan ergriff seine Hand, drückte sie fest gegen ihren Bauch und spürte, wie der kalte Schlamm an ihren Körper klatschte.
»Fang an«, befahl sie.
Als er fertig war, stießen sie die Tür auf und gingen nach drinnen. Er setzte sich in den Kreis der bemalten Ältesten, sie gegenüber, gleich neben Richard. Ein dramatisches Geflecht aus schwarzen und weißen Linien zog sich schwungvoll schräg über sein Gesicht, eine Maske, die sie alle für die Seelen angelegt hatten. Die Schädel aus dem Regal waren in der Mitte zu einem Kreis angeordnet, in der Feuerstelle hinter ihr schwelte eine kleine Flamme, die einen seltsam beißenden Rauch von sich gab. Die Ältesten starrten wie gebannt geradeaus und intonierten einen rhythmischen Gesang, dessen Worte sie nicht verstand. Der Vogelmann hob seinen abwesenden Blick. Wie von selbst schloß sich die Tür.
»Von jetzt an darf, bis wir fertig sind, niemand herein und niemand hinaus. Die Tür ist durch die Seelen verriegelt.«
Kahlan ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah nichts. Ein Frösteln kroch ihr den Rücken hinauf. Der Vogelmann griff in einen geflochtenen Korb neben sich. Er zog einen winzigen Frosch heraus, es war zu dunkel, um zu erkennen, welche Farbe er hatte, dann reichte er den Korb an den nächsten Ältesten weiter. Jeder nahm sich einen Frosch und rieb sich dessen Rücken gegen die Brust. Der Korb kam zu ihr. Sie hielt ihn mit beiden Händen und sah den Vogelmann an.
»Warum tun wir das?«
»Das sind rote Seelenfrösche, sehr schwer zu finden. Auf ihrem Rücken haben sie eine Substanz, die uns diese Welt vergessen läßt und es uns erlaubt, die Seelen zu sehen.«
»Geehrter Ältester, ich bin vielleicht ein Schlammensch, aber ich bin auch Konfessor. Ich darf meine Kraft nicht offen zeigen. Wenn ich diese Welt vergesse, kann ich das vielleicht nicht.«
»Zum Umkehren ist es jetzt zu spät. Die Seelen sind bereits unter uns. Sie haben dich gesehen und die Symbole, die ihnen die Augen öffnen. Du darfst nicht fort. Wenn jemand hier ist, der sie nicht erkennen kann, werden sie ihn töten und ihm seine Seele rauben. Ich verstehe dein Problem, aber ich kann dir nicht helfen. Du wirst einfach dein Bestes tun müssen, um deine Kraft zurückzuhalten. Gelingt es dir nicht, ist einer von uns verloren. Das müssen wir in Kauf nehmen. Wenn du sterben willst, laß den Frosch im Korb. Willst du Darken Rahl aufhalten, nimm ihn heraus.«
Sie starrte mit großen Augen in sein hartes Gesicht. Und griff in den Korb. Der Frosch zappelte und trat um sich, als sie den Korb an Richard weiterreichte und ihm sagte, was er zu tun hatte. Es kostete sie einige Überwindung, den kalten, glitschigen Froschrücken zwischen ihre Brüste zu drücken, der einzigen Stelle an ihrem Körper, die nicht mit Symbolen bemalt war. Sie verrieb ihn wie die anderen mit einer kreisförmigen Bewegung. Wo der Schleim ihre Haut berührte, fing sie an zu kribbeln und spannte sich. Das Gefühl verbreitete sich über den ganzen Körper. Der Klang der Boldas und der Trommeln schwoll an, bis er das einzige auf der ganzen Welt zu sein schien. Ihr ganzer Körper vibrierte in diesem Rhythmus. In Gedanken versuchte sie, ihre Kraft zurückzuhalten, und hoffte noch, es würde reichen, als sie spürte, wie sie abzudriften begann.
Man ergriff sich bei den Händen. Die Wände des Raumes verschwammen. Ihr Bewußtsein begann in Wellen zu fließen wie das Kräuseln an der Oberfläche eines Teiches, treibend, tanzend, sprunghaft. Sie spürte, wie sie mit den anderen zu kreisen begann, rings um die Schädel in ihrer Mitte. Die Schädel begannen zu leuchten und erhellten den Kreis aus Gesichtern. Sie wurden von einer weißen Leere aus Nichts verschluckt. Lichtstrahlen aus der Mitte wirbelten mit ihnen herum.
Von allen Seiten näherten sich Gestalten. Entsetzt erkannte sie, was sie waren.
Schattenwesen.
Sie wollte schreien, doch der Laut blieb ihr in der Kehle stecken. Sie quetschte Richards Hand. Sie mußte ihn beschützen. Sie versuchte, auf die Beine zu kommen, sich über ihn zu werfen, damit sie ihn nicht berühren konnten. Doch ihr Körper wollte nicht. Mit Erschrecken stellte sie fest, daß es an den Händen lag, und den Händen der Schattenwesen auf ihr. Sie kämpfte, wollte unbedingt auf die Beine, um Richard zu beschützen. Ihr Verstand raste vor Panik. Hatten sie bereits versucht, sie zu töten? War sie längst nicht mehr als eine Seele? Unfähig, sich zu bewegen?
Die Schattenwesen starrten auf sie herab. Schattenwesen hatten keine Gesichter. Diese schon. Die Gesichter der Schlammenschen.
Das waren keine Schattenwesen, stellte sie erleichtert fest, es waren die Seelen der Vorfahren. Sie hielt den Atem an. Bremste ihre Panik. Entspannte sich.
»Wer beruft diese Versammlung ein?«
Die Seelen sprachen. Alle. Zusammen. Der Klang, hohl, flach und tot, raubte ihr fast den Atem. Doch nur der Mund des Vogelmannes bewegte sich.
»Wer beruft diese Versammlung ein?« wiederholten sie.
»Dieser Mann hier«, sagte sie. »Der Mann neben mir, Richard mit dem Zorn.«
Sie schwebten zwischen den Ältesten hindurch und sammelten sich in der Mitte des Kreises.
»Befreit seine Hände.«
Kahlan und Savidlin ließen Richards Hände los. Die Seelen kreisten in der Mitte, bildeten plötzlich eine Reihe und durchquerten Richards Körper.
Er sog scharf die Luft ein, warf den Kopf nach hinten und schrie vor Schmerz.
Kahlan fuhr auf. Die Seelen schwebten alle hinter ihm. Die Ältesten schlossen die Augen.
»Richard!«
Er senkte den Kopf. »Schon gut. Alles in Ordnung«, brachte er heiser krächzend hervor. Er hatte deutlich sichtbar Schmerzen.
Die Seelen bewegten sich hinter dem Kreis, hinter den Ältesten und ließen sich in ihren Körpern nieder, Seele und Mann am selben Ort, zur selben Zeit. Die Umrisse der Ältesten verschwammen.
»Warum hast du uns herbeigerufen?« wollte der Vogelmann mit den hohlen, harmonischen Stimmen der Seelen wissen.
Sie beugte sich ein wenig zu Richard, ohne den Vogelmann aus den Augen zu lassen. »Sie möchten, daß du sagst, warum du diese Versammlung einberufen hast.«
Richard atmete ein paarmal tief durch, um sich zu erholen.
»Ich habe diese Versammlung einberufen, weil ich einen magischen Gegenstand finden muß, bevor Darken Rahl ihn findet. Bevor er ihn sich zunutze machen kann.«
Kahlan übersetzte, sobald die Seelen durch die Ältesten mit Richard sprachen.
»Wie viele hast du getötet?« fragte Savidlin mit der Stimme der Seelen.
Richard antwortete ohne Zögern. »Zwei.«
»Warum?« fragte Hajanlet in ihrem gespenstischen Tonfall.
»Damit sie nicht mich töten.«
»Beide?«
Er dachte einen Augenblick lang nach. »Den ersten habe ich aus Notwehr getötet. Den zweiten, um eine Freundin zu verteidigen.«
»Glaubst du, die Verteidigung einer Freundin gibt dir das Recht zu töten?« Diesmal bewegten sich Arbrins Lippen.
»Ja.«
»Angenommen, dieser jemand wollte deine Freundin nur töten, um selbst einem Freund zu helfen?«
Richard mußte tief Luft holen. »Was soll die Frage?«
»Die Sache ist die: Deiner Meinung nach hat man das Recht zu töten, wenn man einen Freund verteidigt. Doch das gilt auch für den anderen, vorausgesetzt, er wollte töten, um einen Freund zu verteidigen. Er wäre im Recht. Wenn er im Recht war, dann wurde das dem Recht aufheben, richtig?«
»Es gibt nicht auf jede Frage eine Antwort.«
»Vielleicht nur eine, die dir nicht gefällt.«
»Vielleicht.«
Kahlan spurte an seinem Ton, daß Richard langsam ungeduldig wurde. Die Augen sämtlicher Ältester und Seelen ruhten auf ihm.
»Hat es dir Spaß gemacht, diesen Mann zu töten?«
»Welchen?«
»Den ersten.«
»Nein.«
»Den zweiten?«
Richards Kiefermuskeln spannten sich. »Was haben diese Fragen für einen Sinn?«
»Jede Frage hat einen anderen Sinn.«
»Und manchmal hat der Sinn nichts mit der Frage zu tun?«
»Beantworte die Frage.«
»Nur, wenn ihr mir erst den Grund dafür mitteilt.«
»Du bist gekommen, um uns Fragen zu stellen. Mochtest du, daß wir nach deinen Gründen fragen?«
»Das tut ihr doch bereits.«
»Beantworte unsere Fragen, sonst beantworten wir deine nicht.«
»Wenn ich eure beantworte, werdet ihr mir dann versprechen, meine zu beantworten?«
»Wir sind nicht zum Feilschen gekommen, sondern weil man um gerufen hat. Beantworte die Fragen, oder die Versammlung ist vorbei.«
Richard holte tief Luft, atmete langsam aus und starrte nach oben in die Leere. »Ja. Es hat mir Spaß gemacht, ihn zu töten. Der Grund ist die Magie des Schwertes der Wahrheit. Die funktioniert eben so. Hätte ich ihn auf andere Weise getötet, ohne das Schwert, hätte es mir keinen Spaß gemacht.«
»Das ist nicht von Bedeutung.«
»Was?«
»Das ›hätte‹ ist nicht von Bedeutung. Das ›hat‹ dagegen schon. So, jetzt hast du uns also zwei Grunde für die Tötung des zweiten Mannes gegeben. Um einen Freund zu verteidigen. Weil es dir Spaß gemacht hat. Welches ist der wahre Grund?«
»Sie sind beide wahr. Ich habe ihn getötet, um das Leben einer Freundin zu schützen, und Spaß hat es mir gemacht wegen des Schwertes.«
»Und wenn du nicht hattest töten müssen, um deine Freundin zu schützen? Wenn du dich in deiner Einschätzung geirrt hättest? Das Leben deiner Freundin gar nicht in Gefahr gewesen wäre?«
Kahlan reagierte nervös auf die Frage. Sie zögerte einen Augenblick mit der Übersetzung.
»Nach meinem Verständnis ist die Tat nicht so entscheidend wie die Absicht. Ich war der ehrlichen Überzeugung, das Leben meiner Freundin sei in Gefahr, daher fühlte ich mich berechtigt zu töten, um sie zu beschützen. Ich hatte nur einen Augenblick, um mich zu entscheiden. Unentschlossenheit hätte meiner Ansicht nach ihren Tod bedeutet. Wenn die Seelen glauben, ich hatte kein Recht gehabt zu töten, oder daß der, den ich umgebracht habe, dieses Recht besaß und meines dadurch aufgehoben worden wäre, dann sind wir eben nicht einer Meinung. Manche Probleme haben keine eindeutigen Lösungen. Manchmal hat man auch nicht die Zeit, sie genau zu überdenken. Ich mußte aus dem Herzen heraus handeln. Ein weiser Mann hat mir einmal gesagt, jeder Mörder sei überzeugt, sein Töten wäre gerechtfertigt. Ich werde töten, um mich, einen Freund oder einen Unschuldigen davor zu bewahren, getötet zu werden. Wenn ihr der Meinung seid, das ist falsch, dann sagt es mir, damit wir mit der quälenden Fragerei aufhören können und ich mich endlich auf die Suche nach den wirklich drängenden Antworten machen kann.«
»Wie gesagt, wir sind nicht zum Feilschen hergekommen. Du hast gesagt, deiner Ansicht nach ist die Tat nicht so wichtig wie die Absicht. Gibt es jemanden, den du hast töten wollen, ohne es jedoch zu tun?«
Der Klang ihrer Stimmen war schmerzhaft. Sie brannten Kahlan auf der Haut.
»Ihr deutet die Zusammenhänge falsch. Ich habe gesagt, ich hätte getötet, weil ich annehmen mußte, er wollte sie umbringen. Ich mußte etwas unternehmen, sonst wäre sie gestorben. Nicht, daß meine Absicht meine Tat rechtfertigt. Es gibt vermutlich eine lange Liste mit Menschen, die ich zu irgendeiner Zeit mal hatte töten wollen.«
»Wenn du es wolltest, warum hast du es nicht getan?«
»Aus vielen Gründen. Bei einigen hatte ich keinen echten Grund, es war nur ein Gedankenspiel, ein Traum, um den Stachel einer Ungerechtigkeit zu entfernen. Bei anderen fühlte ich mich im Recht, doch ich bin davongekommen, ohne töten zu müssen. Bei wieder anderen habe ich es einfach nicht getan, das ist alles.«
»Du meinst die fünf Ältesten?«
Richard seufzte. »Ja.«
»Aber du hattest es vor.«
Richard antwortete nicht.
»Ist dies ein Fall, bei dem die Absicht der Tat gleichkommt?«
Richard mußte schlucken. »In meinem Herzen, ja. Die Absicht, sie zu töten, hat mich fast so getroffen, als hätte ich es tatsächlich getan.«
»Dann haben wir deine Worte offenbar doch nicht völlig aus dem Zusammenhang gerissen?«
Kahlan sah, wie Richard die Tränen in die Augen traten. »Warum stellt ihr mir diese Fragen?«
»Warum suchst du diesen magischen Gegenstand?«
»Um Darken Rahl aufzuhalten!«
»Und wie willst du ihn mit diesem Gegenstand aufhalten, wenn du ihn gefunden hast?«
Richard lehnte sich zurück. Er riß die Augen weit auf. Er begriff. Eine Träne lief seine Wange hinab. »Wenn ich diesen Gegenstand in meinen Besitz bringe und verhindere, daß er ihn bekommt«, flüsterte er, »dann wird er sterben, deswegen. Auf diese Weise werde ich ihn töten.«
»In Wirklichkeit sollen wir euch also helfen, euch gegenseitig umzubringen.« Ihre Stimmen hallten durch die Dunkelheit.
Richard nickte bloß.
»Aus diesem Grund haben wir dir diese Fragen gestellt. Du bittest um Hilfe zum Töten. Findest du es nicht gerecht, daß wir den Menschen kennen sollten, den wir bei seinem Versuch zu töten unterstützen?«
Richards Gesicht war schweißüberströmt. »Ich denke schon.« Er schloß die Augen.
»Warum willst du diesen Mann töten?«
»Aus vielen Gründen.«
»Warum willst du diesen Mann töten?«
»Weil er meinen Vater gefoltert und getötet hat. Weil er viele andere gefoltert und getötet hat. Weil er mich töten wird, wenn ich nicht ihn töte. Weil er noch viele andere foltern und töten wird, wenn ich ihn nicht töte. Es ist der einzige Weg, ihn aufzuhalten. Mit Worten ist er nicht zur Vernunft zu bringen. Ich habe keine Wahl, ich muß ihn töten.«
»Bedenke die nächste Frage sorgfältig. Antworte mit der Wahrheit, oder diese Versammlung ist zu Ende.«
Richard nickte.
»Was ist der wichtigste Grund von allen, weswegen du diesen Mann töten willst?«
Richard senkte den Blick und schloß die Augen. »Weil er«, flüsterte er endlich mit tränenverschmiertem Gesicht, »wenn ich ihn nicht töte, Kahlan umbringen wird.«
Kahlan fühlte sich, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen. Sie brachte es kaum über sich, die Worte zu übersetzen. Richard war entblößt, und das auf mehr als eine Weise. Sie war erbost über die Seelen, die ihm das antaten. Und sie war tief beunruhigt über das, was sie ihm antat. Shar hatte recht gehabt.
»Angenommen, Kahlan spielte keine Rolle, wurdest du diesen Mann trotzdem töten?«
»Auf jeden Fall. Ihr habt mich nach dem vornehmlichen Grund gefragt. Ich habe ihn euch verraten.«
»Welchen magischen Gegenstand suchst du?« wollten sie auf einmal wissen.
»Heißt das, ihr seid mit den Gründen einverstanden, weswegen ich ihn töten will?«
»Nein. Das heißt, wir haben unsere eigenen Grunde, weshalb wir beschlossen haben, deine Frage zu beantworten. Vorausgesetzt, wir können es. Welchen magischen Gegenstand suchst du?«
»Eines der Kästchen der Ordnung.«
Als Kahlan übersetzte, heulten die Seelen gequält auf. »Diese Frage dürfen wir nicht beantworten. Die Kästchen der Ordnung sind bereits im Spiel. Die Versammlung ist vorüber.«
Die Ältesten schlossen die Augen. Richard sprang auf. »Ihr laßt zu, daß Darken Rahl all diese Menschen umbringt, obwohl es in eurer Macht steht, zu helfen?«
»Ja.«
»Ihr laßt zu, daß er eure Nachkommen tötet? Euer Fleisch und Blut? Ihr seid nicht die Seelen der Vorfahren, ihr seid Seelen von Verrätern.«
»Das ist nicht wahr.«
»Dann sagt mir, warum!«
»Das ist nicht erlaubt.«
»Bitte! Laßt uns nicht im Stich. Darf ich euch noch eine Frage stellen?«
»Es ist uns nicht erlaubt, zu enthüllen, wo sich die Kästchen der Ordnung befinden. Das ist verboten. Denke nach und stelle uns eine andere Frage.«
Richard setzte sich und zog die Knie an. Rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen. Mit all den auf seinen Körper gemalten Symbolen sah er aus wie ein Wilder. Er legte das Gesicht in die Hände und dachte nach. Sein Kopf fuhr hoch.
»Ihr könnte mir nicht sagen, wo die Kästchen sind. Gibt es noch andere Einschränkungen?«
»Ja.«
»Wie viele Kästchen hat Rahl bereits?«
»Zwei.«
Er betrachtete die Ältesten ruhig. »Ihr habt damit gerade enthüllt, wo zwei der Kästchen sich befinden. Das ist verboten«, erinnerte er sie. »Oder handelt es sich vielleicht um eine Art Grauzone des Vorsatzes?«
Schweigen.
»Dieses Wissen unterliegt keinen Einschränkungen. Deine Frage?«
Richard beugte sich vor wie ein Spürhund, der eine Fährte wittert. »Könnt ihr mir verraten, wer weiß, wo sich das letzte Kästchen befindet?«
Kahlan vermutete, daß Richard die Antwort auf die Frage bereits wußte. Sie kannte seine Art, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
»Wir kennen den Namen dessen, der das Kästchen besitzt, sowie auch die Namen verschiedener anderer ganz in seiner Nähe, können sie dir aber nicht nennen, weil es das gleiche wäre, wie dir zu sagen, wo es ist. Das ist verboten.«
»Könnt ihr mir dann den Namen einer Person außer Rahl nennen, der das letzte Kästchen nicht in seinem Besitz hat, aber weiß, wo es ist?«
»Es gibt jemanden, den wir dir nennen können. Sie weiß, wo sich das Kästchen befindet. Das ist erlaubt. Es läge an dir und nicht an uns, dir das entsprechende Wissen zu verschaffen.«
»Das wäre dann meine Frage. Wer ist es? Nennt sie mir.«
Als sie den Namen aussprachen, fuhr Kahlan erschrocken zusammen. Sie übersetzte nicht. Die Ältesten erzitterten bereits bei der bloßen Nennung des Namens.
»Wer ist es? Wie heißt sie?« wollte Richard von ihr wissen.
Kahlan sah ihn an.
»Wir sind so gut wie tot«, flüsterte sie.
»Wieso? Wer ist es denn?«
Kahlan ließ sich mutlos zurücksinken. »Es ist die Hexe Shota.«
»Und du weißt, wo sie sich aufhält?«
Kahlan nickte mit vor Entsetzen gerunzelter Stirn. »In der Weite Agaden.« Sie hauchte den Namen, als sei seine Erwähnung bereits reines Gift. »Nach Agaden würde sich nicht einmal ein Zauberer trauen.«
Richard betrachtete ihr entsetztes Gesicht, betrachtete die Ältesten, die sich schüttelten.
»Dann müssen wir eben nach Agaden gehen, zu dieser Hexe Shota«, sagte er sachlich, »und herausfinden, wo sich das Kästchen befindet.«
»Möge das Schicksal dir wohlgesonnen sein«, sagten die Seelen durch den Vogelmann. »Das Leben unserer Nachfahren liegt in deiner Hand.«
»Vielen Dank für eure Hilfe, geehrte Vorfahren«, sagte Richard.
»Ich werde mein Bestes tun, um Darken Rahl aufzuhalten. Und eurem Volk zu helfen.«
»Gebrauche deinen Kopf. Das tut Darken Rahl auch. Wenn du dich auf seine Art einläßt, wirst du verlieren. Leicht wird es nicht werden. Du wirst leiden müssen, wie auch unser Volk und andere Völker, bevor du auch nur die Gelegenheit bekommst, zu siegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du trotzdem scheitern. Hör auf unsere Warnung, Richard mit dem Zorn.«
»Ich werde nichts von dem vergessen, was ihr gesagt habt, und gelobe, mein Bestes zu geben.«
»Dann werden wir dein Gelöbnis auf seine Echtheit hin überprüfen. Es gibt noch etwas, was wir dir sagen möchten.« Sie schwiegen einen Augenblick lang. »Darken Rahl ist hier. Er sucht nach dir.«
Kahlan übersetzte hastig und sprang auf. Richard stand sofort neben ihr.
»Was? Er ist hier, in diesem Augenblick? Wo steckt er, was tut er gerade?«
»Er befindet sich mitten im Dorf und bringt Menschen um.«
Eine Woge von Angst tobte durch Kahlan. Richard trat einen Schritt vor. »Ich muß hier raus. Ich muß mein Schwert holen. Ich versuche, ihn aufzuhalten!«
»Wie du willst. Aber hör uns zuerst an. Setz dich«, befahlen sie.
Richard und Kahlan ließen sich zurücksinken, sahen sich mit großen Augen an, faßten sich an den Händen. »Macht schon«, drängte Richard.
»Darken Rahl will dich. Dein Schwert kann ihn nicht töten. Heute abend ist das Übergewicht der Macht auf seiner Seite. Du hast keine Chance. Keine. Um zu gewinnen, mußt du das Gleichgewicht der Macht verschieben, und das kannst du heute abend nicht. Die Menschen, die er heute abend tötet, werden sterben, ob du gegen ihn kämpfst oder nicht. Gehst du trotzdem hinaus, werden am Ende noch mehr sterben. Viel mehr. Wenn du Erfolg haben willst, mußt du den Mut aufbringen, diese Menschen heute abend sterben zu lassen. Du mußt dich selber retten, damit du bei anderer Gelegenheit kämpfen kannst. Diese Qual mußt du ertragen. Dem Kopf muß über dem Schwert stehen, wenn du eine Chance haben willst, zu gewinnen.«
»Aber früher oder später muß ich hier raus!«
»Darken Rahl hat viele finstere Alptraume freigesetzt. Er muß viele Dinge abwägen, darunter auch seine Zeit. Er hat nicht die Zeit, die ganze Nacht zu warten. Er ist aus gutem Grund sehr zuversichtlich, dich jederzeit, wann immer er will, auslöschen zu können. Er hat keinen Grund zu warten. Er wird bald verschwunden sein, um sich anderen finsteren Machenschaften zu widmen, und wird sich an einem anderen Tag um dich kümmern. Die Symbole auf dir öffnen uns die Augen für dich, daher können wir dich erkennen. Ihm schließen sie die Augen für dich, er kann dich nicht sehen. Es sei denn, du ziehst dein Schwert. Das kann er sehen, und dann hat er dich. Solange die Symbole auf dir bleiben und der Zauber des Schwertes in der Scheide steckt, kann er dich auf dem Gebiet der Schlammenschen unmöglich finden.«
»Aber ich kann doch nicht hierbleiben!«
»Du mußt, wenn du ihn aufhalten willst. Sobald du unser Gebiet verlaßt, verlieren die Symbole ihre Kraft, und er kann dich wieder sehen.«
Richards Atem ging schwer, er stand kurz vor der Panik. Seine Hände zitterten. Kahlan sah ihm am Gesicht an, wie sehr er drauf und dran war, die Warnung in den Wind zu schlagen, hinauszugehen und loszuschlagen.
»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagten die Seelen. »Entweder du wartest hier, während er einige unserer Leute umbringt, und begibst dich, sobald er wieder verschwunden ist, auf die Suche nach dem Kästchen und tötest ihn. Oder du gehst jetzt hinaus und erreichst nichts.«
Richard preßte die Augen zusammen und mußte schlucken. Er rang nach Atem.
»Ich warte«, meinte er so schwach, daß sie ihn kaum verstand.
Kahlan schlang ihm die Arme um den Hals und schmiegte ihren Kopf an ihn. Sie mußten beide weinen. Der Ring der Dorfältesten begann wieder zu kreisen.
Das war das Letzte, an was sie sich erinnerte, bis der Vogelmann sie wachrüttelte. Sie fühlte sich, als erwachte sie aus einem Alptraum: die Worte der Seelen, die Ermordung der Schlammenschen, daß sie in die Weite Agaden zu Shota ziehen mußten, um das Kastchen zu finden. Der Gedanke an die Hexe ließ sie innerlich zusammenzucken. Die anderen Ältesten standen über sie gebeugt und halfen ihnen auf die Beine. Alle machten grimmige Gesichter. Die Tranen standen ihr wieder in den Augen. Sie unterdruckte sie.
Der Vogelmann stieß die Tür auf. Die Nachtluft draußen war kalt, der Sternenhimmel klar.
Die Wolken waren verschwunden. Sogar die Schlangenwolke.
Bis Tagesanbruch war es weniger als eine halbe Stunde, und bereits jetzt hatte der Himmel im Osten einen Hauch von Farbe. Ein Jäger mit ernstem Gesicht reichte ihnen die Kleider und Richard sein Schwert. Sie zogen sich wortlos an und gingen nach draußen.
Eine Phalanx aus Jägern und Bogenschützen hatte sich zum Schutz um das Haus der Seelen gestellt. Viele von ihnen waren blutverschmiert. Richard drängte sich vor den Vogelmann.
»Sagt mir, was geschehen ist«, sagte er mit ruhiger Stimme.
Ein Speerträger trat vor. Kahlan blieb an Richards Seite, um zu übersetzen. Dem Mann stand die Wut ins Gesicht geschrieben.
»Der rote Dämon ist aus dem Himmel herabgestiegen. Er trug einen Mann. Er wollte dich.« Mit einem Funkeln in den Augen druckte er Richard die Speerspitze vor die Brust. Mit versteinerter Miene legte der Vogelmann seine Hand auf den Speer und druckte die Spitze fort von Richard. »Als er nur deine Kleider fand, hat er begonnen, Menschen umzubringen. Kinder!« Seine Brust hob sich vor Zorn. »Unsere Pfeile konnten ihm nichts anhaben. Unsere Speere konnten ihm nichts anhaben. Und unsere Hände ebensowenig. Viele von denen, die es versucht haben, wurden von magischem Feuer vernichtet. Dann wurde er noch wütender, als er sah, daß wir Feuer benutzen. Er hat sie alle gelöscht. Anschließend bestieg er wieder den roten Dämon und drohte damit, alle Kinder im Dorf zu töten, sollten wir wieder ein Feuer entzünden. Mittels Zauberkraft ließ er Siddin durch die Lüfte schweben und klemmte ihn sich unter den Arm. Als Geschenk für einen Freund, wie er sagte. Und dann flog er fort. Und wo waren du und dein Schwert?«
Savidlin hatte Tränen in den Augen. Kahlan preßte gegen den reißenden Schmerz in ihrem Herzen die Hand an die Brust. Sie wußte, für wen das Geschenk bestimmt war.
Der Mann spuckte Richard an. Savidlin wollte auf ihn losgehen, doch Richard hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Ich habe die Stimmen der Seelen eurer Vorfahren gehört«, erklärte Savidlin. »Er kann nichts dafür!«
Kahlan legte den Arm um Savidlin und tröstete ihn. »Sei stark. Wir haben ihn einmal gerettet, als er verloren schien. Wir werden ihn wieder retten.«
Er nickte tapfer. Sie zog sich zurück. Richard erkundigte sich leise, was sie Savidlin erzählt hatte.
»Eine Lüge«, antwortete sie. »Um seinen Schmerz zu lindern.«
Richard nickte. Er hatte verstanden. Er wandte sich an den Mann mit dem Speer.
»Zeige mir die Toten«, sagte er emotionslos.
»Wozu?« wollte der Mann wissen.
»Damit ich nie vergesse, warum ich den töten werde, der dies getan hat.«
Der Mann sah kurz wütend zu den Ältesten hinüber, dann führte er sie alle in die Mitte des Dorfes. Kahlan setzte ihren leeren Gesichtsausdruck auf. Sie hatte solche Anblicke bereits viel zu oft gesehen, in anderen Dörfern, an anderen Orten. Wie erwartet war es das gleiche wie immer. Aufgereiht vor einer Wand lagen die zerfetzten und zerstückelten Leichen von Kindern, die verkohlten Leichen der Männer, die toten Frauen, einige ohne Arme, ohne Kiefer. Die Nichte des Vogelmannes war unter ihnen. Richard zeigte keine Regung, als er durch das Chaos aus kreischenden und klagenden Menschen schritt, vorbei an den Toten, die er betrachtete wie die Ruhe im Auge eines Wirbelsturmes. Oder ein Blitz kurz vor dem Einschlag, dachte Kahlan.
»Sieh an, was du uns beschert hast«, zischte der Mann. »Das ist deine Schuld!«
Richard sah, wie einige nickten, und blickte dem Mann mit dem Speer in die Augen. Seine Stimme war sanft.
»Gib mir ruhig die Schuld, wenn dieser Gedanke deinen Schmerz lindert. Ich ziehe es vor, die Schuld dem zu geben, an dessen Händen noch das Blut klebt.« Er sprach zum Vogelmann und den anderen Dorfältesten. »Benutzt kein Feuer, bis das hier vorbei ist. Das würde ihn nur zu weiterem Gemetzel reizen. Ich schwöre, ich werde diesen Mann aufhalten oder bei dem Versuch ums Leben kommen. Vielen Dank für eure Hilfe, meine Freunde.«
Er warf Kahlan einen stechenden Blick zu. In seinen Augen spiegelte sich die Wut über das gerade Gesehene. Er biß die Zähne zusammen. »Suchen wir diese Hexe.«
Sie hatten keine Wahl. Aber sie hatte schon von Shota gehört.
Sie würden sterben.
Ebensogut konnten sie Darken Rahl bitten, ihnen zu sagen, wo das Kästchen zu finden war.
Kahlan ging zum Vogelmann und schlang ihm plötzlich die Arme um den Hals.
»Vergiß mich nicht«, flüsterte sie.
Als sie sich trennten, ließ der Vogelmann den Blick über die Menge schweifen. Er wirkte abgespannt. »Die beiden brauchen jemanden, der sie sicher an den Rand unseres Gebietes bringt.«
Savidlin trat sofort vor. Ohne Zögern stellte sich eine Gruppe von zehn seiner besten Jäger hinter ihn.