2

Zuerst blieb Richard wie erstarrt stehen und wußte nicht, was er tun sollte. Er konnte nicht sicher sein, ob die vier Männer tatsächlich hinter der Frau her waren. Oder doch erst, wenn es zu spät war. Was ging es ihn überhaupt an? Außerdem hatte er sein Messer nicht bei sich. Welche Chance hatte ein Unbewaffneter gegen vier andere? Er beobachtete, wie die Frau den Pfad entlangging und die Männer ihr folgten.

Welche Chance hatte die Frau?

Er ging in die Hocke. Sein Herz klopfte, während er überlegte, was er tun konnte. Die Morgensonne brannte auf sein Gesicht, sein Atem raste vor Angst. Irgendwo vor der Frau zweigte eine kleine Abkürzung vom Händlerpfad ab. Gehetzt dachte er nach, wo genau. Der Hauptweg führte um den See herum und den Hügel zu seiner Linken hinauf, von wo aus er sie beobachtete. Blieb sie auf dem Hauptweg, konnte er auf sie warten und sie vor den Männern warnen. Und dann? Außerdem war der Weg zu weit. Die Männer hätten sie vorher eingeholt. In seinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an. Er sprang auf und rannte den Hügel hinab.

Wenn er sie vor der Abkürzung abfing, konnte er mit ihr an der Gabelung rechts hinaufgehen. Dieser Pfad führte aus dem Wald hinaus auf offene Felsgesimse, fort von der Grenze und hin zum Ort Kernland, wo es Hilfe gab. Wenn sie sich beeilten, konnte er ihre Spuren verwischen. Die Männer würden nicht wissen, daß die beiden den Nebenweg genommen hatten. Sie würden glauben, die Frau befände sich noch immer auf dem Hauptweg, zumindest eine Zeitlang, lange genug, um sie in die Irre zu führen und die Frau in Sicherheit zu bringen.

Immer noch außer Atem von seinem vorherigen Gehetze, rannte Richard keuchend, nach Luft ringend, den Pfad hinab, so schnell er konnte. Der Pfad war sofort wieder zwischen den Bäumen verschwunden, er brauchte sich also nicht zu sorgen, daß die Männer ihn sahen. Sonnenstrahlen blitzten durch das grüne Dach über ihm. Alte Fichten säumten den Pfad, deren Nadeln einen weichen, die Schritte dämpfenden Bodenbelag bildeten. Er hörte das Blut in seinen Ohren pochen.

Nachdem er eine Weile Hals über Kopf den Pfad hinuntergestürzt war, begann er nach der Gabelung zu suchen. Er war nicht sicher, wie weit er gelaufen war. Der Wald bot keine Anhaltspunkte, und er wußte nicht mehr, wo sich die Abzweigung genau befand. Sie war schmal und leicht zu verfehlen. Hinter jeder Biegung keimte neue Hoffnung auf, hier mußte es sein. Er zwang sich, weiterzulaufen. Er überlegte, was er der Frau erzählen sollte, wenn er sie erreicht hatte. Seine Gedanken rasten ebenso schnell wie seine Beine. Vielleicht dachte sie, er gehörte zu den Männern, vielleicht hatte sie Angst vor ihm oder glaubte ihm nicht. Viel Zeit würde er nicht haben.

Er erreichte den Kamm einer kleinen Erhebung, suchte von neuem nach der Abzweigung, fand sie nicht und rannte weiter. Er keuchte unregelmäßig. Wenn er die Gabelung nicht vor ihr erreichte, säßen sie in der Falle, und ihre einzige Alternative bestünde darin, den Männern davonzulaufen oder zu kämpfen. Für beides war er zu sehr außer Atem. Der Gedanke daran trieb ihn noch schneller voran. Schweiß rann ihm über den Rücken, das Hemd klebte an seiner Haut. Die Kühle des Morgens schien sich in stickige Hitze verwandelt zu haben, doch das lag nur an seiner Anstrengung. Der Wald rechts und links verschwamm undeutlich.

Kurz vor einem scharfen Knick nach rechts erreichte er endlich die Gabelung. Fast hätte er sie verfehlt. Rasch suchte er nach Spuren, um zu sehen, ob sie bereits dagewesen und den Seitenweg gegangen war. Es gab keine. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Er ließ sich auf die Knie fallen, setzte sich erschöpft auf die Hacken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das hatte schon mal geklappt. Er war vor ihr hier. Jetzt mußte er sie noch dazu bringen, ihm zu glauben, bevor es zu spät war.

Er rang immer noch nach Atem und stemmte seine Rechte in die schmerzhaften Seitenstiche, als ihn plötzlich die Sorge überkam, er könnte sich lächerlich machen. Was, wenn sie nur ein Spiel mit ihren Brüdern spielte? Er wäre blamiert. Alle außer ihm hätten was zu lachen.

Er betrachtete den Einstich auf seinem Handrücken. Er leuchtete rot und pochte schmerzhaft. Das Ding am Himmel fiel ihm wieder ein: Er mußte an ihre Art zu gehen denken: zielstrebig, nicht wie ein Kind, das spielt. Er erinnerte sich an die nackte Angst, die er beim Anblick der Männer verspürt hatte. Vier Männer, die verstohlen eine Frau verfolgten: das dritte seltsame Geschehen dieses Morgens. Das dritte Kind des Ärgers. Nein. Er schüttelte den Kopf. Ein Spiel war das nicht. Er wußte, was er gesehen hatte. Ein Spiel war das nicht. Sie verfolgten die Frau.

Richard richtete sich halb auf. Sein Körper verströmte Hitzewellen. Die Hände auf die Knie gestützt, atmete er ein paarmal tief durch, bevor er sich wieder zur vollen Größe aufrichtete.

Sein Blick fiel auf die junge Frau, die vor ihm um die Biegung kam. Einen Augenblick lang stockte ihm der Atem. Ihr volles, braunes Haar, üppig und lang, betonte die Umrisse ihres Körpers. Sie war groß, fast so groß wie er, und ungefähr im gleichen Alter. Ihr Kleid glich nichts, was er je zuvor gesehen hatte. Es war fast weiß, am Hals viereckig ausgeschnitten. Der kleine, braune Lederbeutel, den sie trug, wirkte fast wie ein Fleck. Der Stoff des Kleides war fein und glatt gewebt, schimmerte beinahe. Es hatte keine Spitzen oder Rüschen, wie man es gewohnt war, keine Muster oder Farben, die davon ablenkten, wie es ihren Körper umschmeichelte. Es wirkte elegant in seiner Schlichtheit. Die langen, anmutigen Falten, die ihr wie einer Königin hinterher wehten, sammelten sich um ihre Beine, als sie stehenblieb.

Richard trat auf sie zu und blieb drei Schritte vor ihr stehen, um nicht bedrohlich zu wirken. Aufrecht und regungslos stand sie da, die Arme an den Seiten. Ihre Brauen schwangen sich anmutig wie ein Raubvogel im Flug. Sie sah ihn furchtlos aus ihren grünen Augen an. Das Zusammentreffen schien ihm jedes Selbstgefühl zu rauben. Es kam ihm vor, als hätte er sie schon immer gekannt, als sei sie immer ein Teil von ihm gewesen, als seien ihre Bedürfnisse die seinen. Sie hielt ihn mit ihrem Blick so fest wie mit eisenhartem Griff, schien in seinen Augen nach seiner Seele oder einer Antwort auf etwas zu suchen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich einsamer als je zuvor. Ich bin hier, um dir zu helfen, sagte er in Gedanken. Er meinte es mehr als jeden anderen Gedanken, den er je gehabt hatte.

Die Spannung ihres Blickes löste sich und lockerte den Griff, mit dem sie ihn hielt. In ihren Augen entdeckte er etwas, das ihn mehr anzog als alles andere. Intelligenz. Er sah sie dort aufleuchten, in ihr glühen, und durch alles hindurch spürte er ein alles beherrschendes Gefühl der Wahrheit. Richard fühlte sich geborgen.

In seinen Gedanken blitzte eine Warnung auf, die ihn daran erinnerte, weshalb er hier war: Zeit war kostbar.

»Ich war dort oben«, damit zeigte er auf den Hügel, von dem aus er sie das erste Mal erblickt hatte, »und hab' dich gesehen.« Sie blickte in die angegebene Richtung. Er tat es ebenfalls und bemerkte, wie er auf ein Dickicht aus Ästen zeigte. Der Hügel war von hier aus nicht zu erkennen. Die Bäume versperrten die Sicht. Stumm senkte er den Arm und versuchte, den Fehler zu überspielen. Sie sah ihm in die Augen und wartete.

Richard setzte erneut an und hielt seine Stimme gesenkt. »Ich war dort oben auf dem Hügel oberhalb des Sees. Ich habe gesehen, wie du den Pfad am Seeufer entlanggegangen bist. Ein paar Männer verfolgen dich.«

Sie verriet keine Regung, sah ihm nur weiter in die Augen. »Wie viele?«

Er fand ihre Frage seltsam, beantwortete sie aber. »Vier.«

Sie wurde blaß.

Sie drehte den Kopf, suchte den Wald hinter sich ab und ließ den Blick kurz über die Schatten gleiten, bevor sie ihn wieder ansah und seine Augen suchte. »Möchtest du mir helfen?« Abgesehen von der Blässe, verrieten ihre feinen Gesichtszüge keine Regung.

Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er sich sagen: »Ja.«

Die Anspannung auf ihrem Gesicht löste sich. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

»Es gibt einen kleinen Pfad, der hier abzweigt. Wenn wir ihn nehmen und die Männer auf dem anderen bleiben, können wir entkommen.«

»Und wenn nicht? Wenn sie unserem Pfad folgen?«

»Ich werde unsere Spuren verwischen.« Er schüttelte den Kopf, um sie zu beruhigen. »Sie werden uns nicht folgen. Hör zu, wir haben keine Zeit…«

»Und wenn doch?« schnitt sie ihm das Wort ab. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

Einen Augenblick lang betrachtete er ihr Gesicht. »Sind sie gefährlich?«

Sie erstarrte. »Sehr.«

So, wie sie das Wort aussprach, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Für einen kurzen Augenblick sah er einen Ausdruck blanken Entsetzens in ihren Augen.

Richard strich sich das Haar zurück. »Also schön, der kleine Pfad ist schmal und steil. Sie können uns nicht einkreisen.«

»Bist du bewaffnet?«

Er schüttelte nur den Kopf und ärgerte sich viel zu sehr über sich selbst, um es laut auszusprechen.

Sie nickte. »Dann sollten wir uns beeilen.«


Sie sprachen kein Wort mehr, nachdem der Entschluß gefallen war. Sie wollten ihren Standort nicht verraten. Richard verwischte hastig ihre Spuren und gab ihr ein Zeichen, sie solle vorgehen, damit er sich zwischen ihr und den Männern befand. Sie zögerte keinen Augenblick. Die Falten ihres Kleides wehten ihr nach, als sie auf seinen Wink in raschem Schritt losging. Das üppige, junge Immergrün des Ven Forest machte den Pfad zu einem schmalen, dunklen, aus Gestrüpp und Ästen gehauenen grünen Hohlweg. Ringsum war nichts zu erkennen.

Richard schaute sich im Gehen um, obwohl er nicht weit sehen konnte. Zumindest in dem Abschnitt, den er überblicken konnte, war die Luft rein. Sie ging zügig, auch ohne daß er sie dazu auffordern mußte.

Nach einer Weile wurde das Gelände steiler und felsiger, der Baumbestand lichter und bot freiere Sicht. Der Pfad wand sich durch tiefe, schattige Einschnitte im Gelände und durch laubübersäte Schluchten. Trockenes Laub wirbelte unter ihren Schritten auf. Pinien und Fichten wichen Laubhölzern, größtenteils Birken, deren Geäst über ihren Köpfen schwankte und das karge Sonnenlicht auf dem Boden zum Tanzen brachte. Die dunklen Flecken auf den weißen Birkenstämmen erweckten den Eindruck, als verfolgten Hunderte von Augen den Vorbeimarsch der beiden. Bis auf zwei Raben war es an diesem Ort sehr still und friedlich.

Am Fuß einer Granitwand, der der Pfad folgte, gab er ihr ein Zeichen. Er legte die Finger an die Lippen und gab ihr zu verstehen, daß sie vorsichtig auftreten mußten, um Geräusche zu vermeiden, deren Echo ihren Standort verraten könnte. Jeder Schrei der Raben war als Widerhall zwischen den Hügeln zu hören. Richard kannte diesen Ort. Die Form der Felswand trug jedes Geräusch meilenweit. Er zeigte auf die moosbedeckten, runden Steine, die über den flachen Waldboden verstreut lagen. Er wollte, daß sie über diese Steine gingen, um auf keine unter dem Laub verborgenen Äste zu treten. Er wischte ein paar Blätter zur Seite, um ihr die dort verborgenen Äste zu zeigen, tat, als zerbreche er einen, hielt dann die hohle Hand an sein Ohr. Sie verstand und nickte, hob ihren Rock mit einer Hand und begann, auf die Steine zu steigen. Durch eine Berührung am Arm brachte er sie dazu, sich noch einmal umzudrehen, und tat, als gleite er aus und stürze, damit sie wußte, sie müsse auf das schlüpfrige Moos achtgeben. Lächelnd nickte sie und eilte weiter. Das Lächeln überraschte ihn. Es wärmte ihn, nahm seiner Angst die Schärfe. Richard schöpfte neue Hoffnung, was ihr Entkommen betraf, während er von einem moosbewachsenen Stein zum nächsten sprang.

Mit dem steten Ansteigen des Pfades lichtete sich zunehmend der Baumbestand. Der Wechsel von Waldboden zu Fels bot den Bäumen immer seltener Gelegenheit, Wurzeln zu schlagen. Bald wuchsen die einzigen Bäume in Felsspalten, knorrige, verdrehte kleine Dinger, als wollten sie dem Wind, der sie aus ihrer spärlichen Verankerung reißen konnte, keinen Halt bieten.

Geräuschlos traten sie zwischen den Bäumen hervor und gelangten auf die Felsvorsprünge. Nicht immer war der Pfad eindeutig gekennzeichnet, und es gab zahlreiche Möglichkeiten, sich zu verlaufen. Oft mußte sie sich zu ihm umdrehen, damit er ihr durch einen Fingerzeig oder ein Nicken den Weg weisen konnte. Richard hätte gerne ihren Namen gewußt, doch aus Angst, die vier Männer könnten ihn hören, schwieg er. Obwohl der Pfad steil und schwierig war, brauchte er ihretwegen nicht langsamer zu gehen. Sie war eine kräftige Kletterin und schnell obendrein. Er bemerkte ihre guten Stiefel aus weichem Leder, wie sie von erfahrenen Reisenden getragen wurden.

Vor gut einer Stunde hatten sie die Bäume hinter sich gelassen, waren steil aufwärts gestiegen, der Sonne entgegen. Sie hielten sich östlich auf dem Felsvorsprung, erst später knickte der Pfad nach Westen ab. Wenn die Männer ihnen folgten, mußten sie in die Sonne blicken, um sie zu sehen. Sie gingen so geduckt wie möglich, und Richard sah während des Anstiegs oft über die Schulter, um nach den Männern Ausschau zu halten. In der Nähe des Trunt Lake waren sie gut verborgen gewesen, hier draußen jedoch war das Gelände zu offen, um sich zu verstecken. Er entdeckte nichts und fühlte sich allmählich besser. Niemand verfolgte sie. Die Männer waren nirgends zu sehen und befanden sich wahrscheinlich mittlerweile meilenweit entfernt auf dem Händlerpfad. Je weiter sie sich von der Grenze entfernten, je mehr sie sich der Stadt näherten, desto besser fühlte er sich. Sein Plan hatte funktioniert.

Richard hätte gerne angehalten und Rast gemacht. Nichts deutete darauf hin, daß sie verfolgt wurden, und seine Hand pochte. Die Frau schien jedoch eine Pause weder zu brauchen noch zu wollen. Sie drängte weiter, als wären ihnen die Männer dicht auf den Fersen. Richard mußte an ihren Gesichtsausdruck denken, als er gefragt hatte, ob sie gefährlich wären, und verwarf jeden Gedanken an eine Rast.

Im Verlauf des Vormittages wurde es für die späte Jahreszeit recht warm. Im klaren, strahlenden Blau des Himmels zogen nur ein paar weiße Federwölkchen vorüber. Eine der Wolken hatte die Gestalt einer sich windenden Schlange angenommen, mit dem Kopf nach unten und dem Schwanz nach oben. Das war ungewöhnlich. Diese Wolke hatte Richard bereits früher am selben Tag gesehen — oder war es gestern gewesen? Er durfte nicht vergessen, Zedd davon zu berichten, wenn er ihn das nächste Mal sah. Zedd konnte Wolken lesen, und wenn Richard es versäumte, von seiner Beobachtung zu berichten, würde er einen stundenlangen Vortrag über die Bedeutung von Wolken über sich ergehen lassen müssen. Vermutlich sah Zedd sie jetzt auch, genau in diesem Augenblick, und fragte sich besorgt, ob Richard achtgab.

Der Pfad führte sie zur Südwand des kleinen Schartenbergs, wo er an einer nackten Felswand entlangging, nach der der Berg benannt worden war. Der Pfad verlief auf halber Höhe in der Wand und bot einen Panoramablick über den südlichen Ven Forest und zu ihrer Linken, in Wolken und Dunst halb verdeckt hinter der Felswand, auf die hohen, zerklüfteten Gipfel, die zum Grenzgebiet gehörten. Richard entdeckte braune, sterbende Bäume, die aus dem grünen Teppich herausragten. Weiter oben, dichter an der Grenze, standen die toten Bäume dicht an dicht. Die Schlingpflanze, wie er erkannte.

Die beiden kamen gut voran. Sie hatten allerdings im Moment keine Chance, sich zu verstecken, und jeder hätte sie leicht sehen können. Auf der anderen Seite der Felswand jedoch würde der Pfad sich in die Wälder Kernlands senken und später hinab in die Stadt. Selbst wenn die Männer ihren Fehler erkannten und ihnen noch folgten, hatten Richard und die Frau einen sicheren Vorsprung.

Als sie sich dem Ende der Felswand näherten, wurde der trügerische, schmale Pfad breiter, und man konnte nebeneinander gehen. Richard tastete zur Sicherheit mit der Rechten an der Felswand entlang, während er in den Abgrund blickte, auf das gut hundert Meter tiefer liegende Felsenmeer. Er sah sich um. Immer noch nichts.

Er drehte sich wieder nach vorn; die Frau erstarrte mitten im Schritt. Die Falten ihres Kleides wogten um ihre Beine.

Vor ihnen auf dem Pfad, der eben noch leer gewesen war, standen zwei Männer. Richard war größer als die meisten Männer, diese beiden jedoch überragten ihn noch um einiges. Ihre dunkelgrünen Kapuzengewänder ließen ihre Gesichter im Schatten verschwinden, ihre massigen, muskulösen Körper konnten sie nicht verhüllen. Richard war verwirrt, er konnte nicht begreifen, wie die Männer sie überholt haben konnten.

Er und die Frau wirbelten herum und wollten fliehen. Vom Felsen oben fielen zwei Seile. Die beiden anderen Männer ließen sich auf den Pfad herab. Sie versperrten den Rückzug. Sie waren ebenso groß wie die beiden ersten. An Schnallen und Lederriemen unter ihren Umhängen hing ein ganzes Arsenal Waffen, die in der Sonne blinkten.

Richard wirbelte zu den ersten beiden herum. In aller Ruhe schoben sie ihre Kapuzen zurück. Beide hatten dichtes, blondes Haar und einen kräftigen Nacken. Ihre Gesichter waren gerötet, gutaussehend.

»Du kannst passieren, Junge, uns interessiert nur das Mädchen.«

Der Mann hatte eine tiefe, fast freundliche Stimme. Nichtsdestotrotz klang die Drohung scharf wie eine Klinge. Beim Sprechen zog er die Lederhandschuhe aus und stopfte sie in seinen Gürtel, ohne Richard auch nur eines Blickes zu würdigen. Richard stellte für ihn offenbar kein Hindernis dar. Der Kerl hatte eindeutig das Sagen, denn die drei anderen warteten still, während er sprach.

Noch nie war Richard in einer solchen Lage gewesen. Bislang hatte er Ärger immer aus dem Weg gehen können. Niemals verlor er die Beherrschung, und gewöhnlich gelang es ihm mit seiner lockeren Art, eine finstere Miene in ein Lächeln zu verwandeln. Wenn Reden nichts nutzte, war er flink und kräftig genug, um zu verhindern, daß jemand zu Schaden kam, und wenn nötig, machte er sich einfach davon. Er wußte, diese Männer hatten mit Reden nichts im Sinn und fürchteten sich ganz offensichtlich nicht vor ihm. Wenn er doch einfach nur gehen könnte.

Richard warf einen Blick in ihre grünen Augen und sah das Gesicht einer stolzen Frau, die ihn um Hilfe anflehte.

Er beugte sich zu ihr hinüber und sagte mit gesenkter, aber fester Stimme: »Ich werde dich nicht im Stich lassen.«

Ihre Miene wirkte erleichtert.

Sie nickte leicht und legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Du mußt sie trennen und verhindern, daß sie mich alle gleichzeitig angreifen«, flüsterte sie ihm zu. »Und faß mich auf keinen Fall an, wenn sie kommen.« Sie packte seinen Arm fester, blickte ihm in die Augen und wartete auf eine Bestätigung. Zwar verstand er ihre Beweggründe nicht, trotzdem nickte er. »Mögen die guten Seelen mit uns sein.«

Sie ließ ihre Hände an die Seiten fallen und wandte sich den beiden hinter ihr zu. Ihr Gesicht war tödlich ruhig, bar jeder Regung.

»Geh jetzt, Junge.« Die Stimme des Anführers hatte an Härte gewonnen. Seine wilden blauen Augen funkelten. Er knirschte mit den Zähnen. »Mein letztes Angebot.«

Richard schluckte trocken.

Er versuchte, selbstsicher zu klingen. »Wir werden beide passieren.« Sein Herz schien bis zum Hals hinauf zu schlagen.

»Heute nicht«, sagte der Anführer entschieden. Er zückte sein häßliches, gebogenes Messer.

Der Mann neben ihm zog ein Kurzschwert aus der Scheide, die auf seinem Rücken hing. Mit einem ekelerregenden Grinsen zog er es über die Innenseite seines muskulösen Unterarms und färbte die Klinge rot. Hinter sich hörte Richard das Geräusch von Stahl, der gezückt wird. Er war starr vor Angst. Das ging alles viel zu schnell. Sie hatten keine Chance. Keine.

Einen kurzen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann zuckte Richard unter dem Schlachtgeheul der Männer zusammen, Männer, die bereit waren, im Kampf zu sterben. Sie griffen mit beängstigender Wucht an. Der mit dem Kurzschwert holte aus und ging auf Richard los. Währenddessen hörte er, wie einer der Männer hinter ihm die Frau packte.

Doch dann, kurz bevor der Mann ihn erreicht hatte, wirkte eine mächtige Kraft auf die Luft ein, ein Donner ohne Hall. Die gewaltige Wucht ließ jedes Gelenk in seinem Körper stechend schmerzen. Ringsum wurde Staub aufgewirbelt, der sich ringförmig ausbreitete.

Auch der Mann mit dem Schwert spürte den Schmerz, und für einen Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit an Richard vorbei auf die Frau gelenkt. Richard ließ sich nach hinten gegen die Wand fallen und stieß dem voranpreschenden Mann beide Füße so fest er konnte vor die Brust. Es hob ihn glatt vom Pfad, in die Luft. Der Mann riß überrascht die Augen auf, als er rücklings auf die Felsen tief unten stürzte, das Schwert immer noch mit beiden Händen über den Kopf erhoben.

Schockiert verfolgte Richard, wie einer der beiden hinteren Männer mit aufgeschlitzter, blutender Brust ebenfalls ins Nichts stürzte. Bevor er einen Gedanken daran verschwenden konnte, stürmte der Anführer zielstrebig mit dem Krummschwert an ihm vorbei auf die Frau los. Dabei hieb er Richard mit dem Ballen seiner freien Hand unter das Brustbein. Der Aufprall nahm dem Jungen die Luft und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand, und sein Kopf prallte an die Felsen. Er kämpfte dagegen an, das Bewußtsein zu verlieren, und hatte nur einen Gedanken: Er mußte den Mann daran hindern, sie anzugreifen. Kräfte sammelnd, von deren Existenz er nichts geahnt hatte, packte Richard den Anführer an seinem stämmigen Handgelenk und wirbelte ihn herum. Das Messer kam in weitem Bogen auf ihn zu. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht. In den blauen Augen des Mannes herrschte wilde Gier. Noch nie in seinem Leben hatte Richard solche Angst gehabt.

In diesem Augenblick war er sich sicher, er müsse sterben.

Scheinbar aus dem Nichts tauchte der letzte Mann mit blutverschmiertem Schwert auf, hieb dem Anführer sein Metall in den Unterleib und rammte ihm den Atem aus dem Körper. Der Zusammenprall war derart grimmig, daß er beide über den Felsrand warf. Bis ganz nach unten stieß der letzte Mann ein Wutgeheul aus, das erst mit dem Aufprall auf den Felsen tief unten endete.

Richard blieb wie gelähmt stehen und starrte über den Felsrand. Widerstrebend wandte er sich der Frau zu. Er hatte Angst, hinzusehen, fürchtete, er würde sie aufgeschlitzt und leblos vorfinden. Statt dessen saß sie an die Felswand gelehnt auf dem Boden. Sie wirkte erschöpft, war aber unverletzt. Ihr Gesicht hatte etwas Abwesendes. Es war alles so schnell gegangen, und er begriff eigentlich nicht, was geschehen war, oder wie. Richard und die Frau waren in der plötzlichen Stille allein.

Er ließ sich neben ihr auf den von der Sonne warmen Felsen sacken. Vom Schlag gegen die Felswand hatte er heftige Kopfschmerzen. Es ging ihr gut, wie Richard sah, und er fragte nicht nach. Er war zu überwältigt, um etwas zu sagen, und spürte, daß es ihr ebenso ging. Sie bemerkte das Blut auf ihrem Handrücken und wischte es an der Felswand neben den dort bereits vorhandenen Spritzern ab. Richard meinte, sich übergeben zu müssen.

Unfaßbar, sie lebten noch. Es schien nicht möglich. Was war dieser Donner ohne Hall gewesen? Und diese Schmerzen, die er dabei verspürt hatte? Nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Die Erinnerung ließ ihn erschaudern. Was es auch war, sie hatte etwas damit zu tun, und sie hatte ihm das Leben gerettet. Etwas Unerhörtes war geschehen, und er war alles andere als sicher, ob er wissen wollte, was.

Sie legte ihren Kopf nach hinten gegen den Fels und neigte ihn in seine Richtung zur Seite. »Ich weiß nicht einmal deinen Namen. Ich wollte dich schon vorher fragen, hatte aber Angst, etwas zu sagen.« Mit einer vagen Geste deutete sie auf den Abgrund. »Ich hatte solche Angst vor ihnen … ich wollte nicht, daß sie uns finden.«

Er dachte, sie würde anfangen zu weinen, und sah zu ihr hinüber. Noch nicht, aber möglicherweise gleich. Er nickte. Er hatte verstanden, was sie über die Männer gesagt hatte.

»Mein Name ist Richard Cypher.«

Sie betrachtete ihn mit ihren grünen Augen, während er zu ihr hinübersah. Die Brise wehte ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht.

Sie lächelte. »Es gibt nicht viele, die mir so beigestanden hätten.« Er fand ihre Stimme ebenso attraktiv wie alles andere an ihr. Sie paßte zu dem intelligenten Funken ihrer Augen. Fast raubte sie ihm den Atem. »Es gibt nicht viele wie dich, Richard Cypher.«

Zu seinem großen Unbehagen spürte Richard, wie er rot wurde. Sie sah weg, wischte sich die Haare aus dem Gesicht und tat, als bemerke sie sein Erröten nicht.

»Ich bin…« Es klang, als wollte sie etwas sagen und hätte es sich dann anders überlegt. Sie drehte ihm den Rücken zu. »Ich bin Kahlan. Mein Familienname lautet Amnell.«

Er sah ihr lange in die Augen. »Wie dich gibt es auch nicht viele, Kahlan Amnell. Nur wenige hätten so durchgehalten wie du.«

Sie wurde nicht rot, sondern lächelte ihn nur an. Ein seltsames Lächeln, ein besonderes, bei dem man die Zähne nicht sah, mit zusammengepreßten Lippen, wie man es tut, wenn man jemanden ins Vertrauen ziehen will. Gleichzeitig funkelten ihre Augen. Es war ein Lächeln voller Anteilnahme.

Richard befühlte die schmerzhafte Beule an seinem Hinterkopf und suchte seine Finger nach Blut ab. Es gab keins, dabei war er überzeugt, da hätte welches sein müssen. Er sah sie an und fragte sich, was geschehen war, was sie getan hatte und wie. Erst dieser Donner ohne Hall, dann hatte er einen Mann vom Felsvorsprung gestoßen, einer der beiden hinter ihnen hatte den anderen getötet und schließlich den Anführer und sich selbst.

»Also, Kahlan, meine Freundin, kannst du mir sagen, wie es kommt, daß wir leben und diese vier nicht?«

Sie sah ihn überrascht an. »Meinst du das im Ernst?«

»Meinen? Was?«

Sie zögerte. »Die ›Freundin‹.«

Richard zuckte mit den Achseln. »Klar. Du hast gerade selbst gesagt, ich hätte dir beigestanden. Das tut man doch als Freund, oder?« Er lächelte sie an.

Kahlan drehte sich weg. »Ich weiß es nicht.« Sie spielte mit dem Ärmel ihres Kleides und sah zu Boden. »Ich war noch nie mit jemandem befreundet. Außer vielleicht mit meiner Schwester…«

Er spürte, wie schwer ihr das Sprechen fiel. »Nun, jetzt bist du es jedenfalls«, sagte er so gut gelaunt es ging. »Schließlich haben wir gerade zusammen etwas ziemlich Beängstigendes durchgemacht. Wir haben einander geholfen und überlebt.«

Sie nickte stumm. Richard ließ den Blick über den Ven Forest schweifen, sein Zuhause. Im Sonnenlicht wirkte das Grün der Bäume lebendig, üppig. Sein Blick wurde nach links gezogen, hin zu den braunen Flecken, wo die toten und sterbenden Bäume inmitten ihrer gesunden Nachbarn standen. Bis heute morgen, als er die Schlingpflanze gefunden und sie ihn gestochen hatte, hatte er keine Ahnung gehabt, daß sie hier oben an der Grenze gedieh und den ganzen Wald durchzog. Altere Leute hielten sich meilenweit von ihr entfernt. Andere gingen näher ran, wenn sie auf dem Händlerpfad reisten oder um zu jagen, niemand jedoch kam ihr zu nahe. Die Grenze bedeutete den Tod. Es hieß, wer an die Grenze ging, starb nicht nur, sondern büßte auch seine Seele ein. Die Grenzer sorgten dafür, daß die Menschen sich von ihr fernhielten.

Er sah sie von der Seite her an. »Und was ist mit dem anderen? Wir haben überlebt. Wie kam das?«

Kahlan wich seinem Blick aus. »Ich glaube, die guten Seelen haben uns beschützt.«

Richard glaubte ihr kein Wort. Aber so sehr er auch die Antwort wissen wollte, es war nicht seine Art, Menschen zu zwingen, etwas zu sagen, was sie nicht sagen wollten. Sein Vater hatte ihn dazu erzogen, die Geheimnisse anderer zu respektieren. Wenn sie wollte, würde sie ihm ihre Geheimnisse schon noch verraten. Zwingen würde er sie nicht.

Jeder hatte Geheimnisse; er ganz bestimmt auch. Nach dem Tod seines Vaters und den Ereignissen des heutigen Tages spürte er, wie sie sich in seinem Hinterkopf regten.

»Kahlan«, sagte er und versuchte dabei, seiner Stimme einen beruhigenden Unterton zu verleihen, »Freundschaft bedeutet nicht, daß du etwas erzählen mußt, wenn du nicht willst. Ich bin trotzdem dein Freund.«

Sie sah ihn nicht an, nickte aber. Sie war derselben Ansicht.

Richard stand auf. Sein Kopf schmerzte, seine Hand schmerzte, und jetzt stellte er auch noch fest, daß seine Brust weh tat, dort, wo ihn der Mann geschlagen hatte. Zu allem Überfluß fiel ihm auch noch ein, wie hungrig er war. Michael! Er hatte die Feier seines Bruders vollkommen vergessen. Er sah nach der Sonne und wußte, er würde zu spät kommen. Hoffentlich verpaßte er Michaels Ansprache nicht. Er würde Kahlan mitnehmen, Michael von den Männern berichten und jemanden zu ihrem Schutz besorgen.

Er hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie sah ihn überrascht an. Er zog sie nicht zurück. Sie schaute in seine Augen und ergriff sie.

Richard lächelte. »Hat dir noch nie ein Freund die Hand gereicht, um dir aufzuhelfen?«

Sie wandte den Blick ab. »Nein.«

Richard spürte ihr Unbehagen und wechselte das Thema.

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«

»Vor zwei Tagen« sagte sie tonlos.

Er sah sie erstaunt an. »Dann mußt du noch hungriger sein als ich. Ich werde dich zu meinem Bruder mitnehmen.« Er warf einen vorsichtigen Blick über die Felskante. »Wir werden ihm von den Toten erzählen müssen. Er wird wissen, was zu tun ist.« Damit wandte er sich ihr wieder zu. »Kahlan, weißt du, wer diese Männer waren?«

Ihre grünen Augen bekamen etwas Hartes. »Man bezeichnet sie als Quadron. Sie sind, nun, so eine Art Mördertrupp. Man schickt sie aus, um zu töten.« Sie fing sich wieder. »Um Menschen zu töten.« Ihr Gesicht strahlte wieder dieselbe Ruhe aus wie in dem Augenblick, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. »Ich glaube, je weniger Menschen von mir wissen, desto sicherer bin ich.«

Richard war bestürzt. So etwas hatte er noch nie gehört. Er strich sich die Haare zurück und dachte nach. Wieder kreisten finstere, schattengleiche Gedanken. Aus irgendeinem Grund hatte er Angst vor ihrer Antwort. Fragen mußte er trotzdem.

Er sah ihr fest in die Augen. Diesmal erwartete er die Wahrheit. »Kahlan, woher kam das Quadron?«

Einen Augenblick lang betrachtete sie sein Gesicht. »Sie müssen mich seit Verlassen der Midlands bis über die Grenze verfolgt haben.«

Richard fröstelte. Eine Gänsehaut kroch ihm den Nacken hinauf, und die feinen Haare standen ihm zu Berge. Tief in ihm regte sich Wut.

Sie mußte gelogen haben. Niemand konnte die Grenze überqueren.

Niemand.

Niemand war je in die Midlands gegangen oder von dort gekommen. Die Grenze war seit der Zeit vor seiner Geburt abgeriegelt.

Die Midlands, das war ein Land der Magie.

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