16

Kahlan sprang aus dem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen, als Richard die Tür entriegelte. Sie zog ihr Messer. Bill zwängte sich schwer atmend durch die Tür und drückte sie mit dem Rücken zu. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

»Was gibt's? Was ist passiert?« wollte Richard wissen.

»Alles war ziemlich ruhig.« Bill schluckte, versuchte zu Atem zu kommen. »Und dann sind vor einer Weile diese zwei Kerle aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Große Männer mit kräftigem Hals, blonden Haaren. Gutaussehend. Bis an die Zähne bewaffnet. Die Sorte Männer, denen man besser nicht in die Augen sieht.« Er holte ein paarmal tief Luft.

Richard blickte Kahlan kurz in die Augen. Sie hatte keinen Zweifel, wer die Männer waren. Offenbar hatte ihnen der Arger, den ihnen der Zauberer bereitet hatte, nicht gereicht.

»Zwei?« fragte Richard. »Bist du sicher, es waren nicht mehr?«

»Ich hab nur zwei reinkommen sehen, aber das hat mir gereicht.« Bill sah mit aufgerissenen Augen unter den buschigen Brauen hervor. »Der eine war ziemlich abgerissen, trug einen Arm in der Schlinge und hatte große Krallenspuren an seinem anderen Arm. Schien ihm aber nichts auszumachen. Wie auch immer, sie fingen an, sich nach einer Frau zu erkundigen, die sich sehr nach deiner Lady hier anhörte. Aber sie trägt eben kein weißes Kleid, wie die Kerle es beschrieben haben. Sie wollten gerade die Treppe hoch, als sie sich zu streiten begannen, wer was mit ihr anstellen wollte. Dein rothaariger Freund hat sich auf den mit der Armschlinge gestürzt und ihm die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Der andere hat innerhalb eines Herzschlages ein paar meiner Gäste niedergemäht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Dann war er auf einmal einfach nicht mehr da. Verschwunden im Nichts. Überall ist Blut. Der Rest der Meute steht jetzt unten und streitet sich, wer der erste sein darf, der…« Er sah zu Kahlan hinüber und sparte sich den Rest. Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Randy bringt die Pferde nach hinten, ihr müßt sofort raus hier. Reitet zu Adie. Eine Stunde bis Sonnenaufgang, zwei, bis die Hunde kommen, ihr habt also genug Zeit. Aber nicht, wenn ihr zögert.«

Richard packte Chase an den Beinen, Bill an den Schultern. Kahlan sagte er, sie solle die Tür verriegeln und ihre Sachen zusammenpacken. Mit Chase in ihren Armen stapften sie die Hintertreppe hinunter, dann hinaus in die Dunkelheit und in den Regen. Der gelbe Lichtschein aus den Fenstern spiegelte sich in den Pfützen und erhellte die nassen, schwarzen Umrisse der Pferde. Randy wartete und machte ein besorgtes Gesicht. Er hielt die Pferde. Sie ließen Chase auf eine Bahre fallen und liefen so leise wie möglich die Treppe wieder hinauf. Bill nahm Zedd in die Arme, während Richard und Kahlan ihre Umhänge umwarfen und sich ihr Gepäck schnappten. Zu dritt rannten sie die Treppe hinunter und zur Tür.

Als sie aus der Tür herausplatzten, wären sie beinahe über Randy gestolpert. Er lag ausgestreckt auf dem Boden. Richard riß den Kopf hoch und sah, wie der Rothaarige ausholte. Er sprang zurück und entging nur knapp dem langen Messer. Der Mann landete mit dem Gesicht zuerst im Matsch. Überraschend schnell war er wieder auf den Beinen, außer sich vor Wut — um sofort zu erstarren. Das Klirren von Stahl erfüllte die Luft. Die Schwertspitze befand sich einen Zentimeter von seiner Nase. Der Mann blickte aus wilden, schwarzen Augen nach oben. Wasser und Matsch tropften ihm von den Haarsträhnen. Mit einer kurzen Bewegung hatte Richard das Schwert um ein Viertel gedreht und hämmerte ihm die flache Seite der Klinge über den Schädel. Er sackte zu einem schlaffen Haufen zusammen.

Bill legte Zedd auf die Bahre, während Kahlan Randy umdrehte.

Ein Auge war zugeschwollen. Regen trommelte auf sein Gesicht. Er stöhnte. Als er mit seinem guten Auge Kahlan erblickte, fing er an zu grinsen. Sie umarmte ihn erleichtert und half ihm auf.

»Er hat mich angesprungen«, sagte Randy zur Entschuldigung. »Tut mir leid.«

»Du bist ein tapferer junger Mann, du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Danke für die Hilfe!« Sie drehte sich zu Bill. »Auch an dich.«

Bill lächelte und nickte ihr zu. Zedd und Chase wurden rasch mit Decken und Öltuch zugedeckt, und das Gepäck aufgeladen. Bill erklärte, die Vorräte für Adie befänden sich bereits auf Chases Pferd. Richard und Kahlan stiegen auf. Sie schnippte Randy die Silbermünze zu.

»Bezahlt wird bei Lieferung, wie versprochen«, meinte sie zu ihm. Er fing die Münze mit einem Grinsen auf.

Richard beugte sich vor, bedankte sich aufrichtig mit einem Handschlag bei Randy und zeigte dann verärgert auf Bill.

»Du! Stell mir eine genaue Rechnung auf. Berechne auch sämtliche Schäden, deine Zeit, deinen Aufwand, selbst die Totengräber. Ich möchte, daß du einen angemessenen Betrag hinzufügst, weil du uns das Leben gerettet hast. Und dann möchte ich, daß du sie einreichst. Wenn sie nicht zahlen wollen, sagst du ihnen, du hättest dem Bruder des Obersten Rates das Leben gerettet, und Richard Cypher hätte gesagt, wenn sie nicht zahlen, wolle er den Verantwortlichen persönlich köpfen und ihn im Garten vor dem Haus seines Bruders auf einer Lanze aufspießen.«

Bill nickte. Sein Lachen war lauter als der strömende Regen. Richard riß die Zügel zurück, um sein herumtänzelndes Pferd zu halten. Es wollte los. Wütend zeigte er auf den bewußtlosen Kerl im Matsch.

»Ich habe ihn nur deshalb nicht getötet, weil er jemanden umgebracht hat, der übler war als er selbst, und er dadurch vielleicht, ohne es zu wissen, Kahlan das Leben gerettet hat. Aber er ist des Mordes schuldig, des versuchten Mordes und der versuchten Vergewaltigung. Ich schlage vor, du hängst ihn auf, bevor er wieder zu sich kommt.«

Bill sah ihn mit harter Miene an. »Erledigt.«

»Vergiß nicht, was ich über die Grenze gesagt habe. Es wird Ärger geben. Paß auf dich auf.«

Bill sah Richard in die Augen und legte seinem Sohn den Arm um die Schultern. »Wir werden es nicht vergessen.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem vorsichtigen Lächeln. »Lang lebe der Sucher.«

Richard sah ihn überrascht an und mußte grinsen. Es löschte ein wenig die Glut seines Zorns. »Als ich dich zum ersten Mal sah, habe ich dich für einen unaufrichtigen Menschen gehalten. Wie ich sehe, habe ich mich geirrt.«

Richard und Kahlan zogen ihre Kapuzen über und trieben ihre Pferde hinein in den Regen, zur Knochenfrau.


Schnell hatte der Regen die Lichter Southhavens geschluckt, und die Reisenden mußten sich durch die Dunkelheit tasten. Chases Pferde hatten sich vorsichtig ihren Weg den Pfad hinab gesucht. Sie waren von den Posten auf diese Aufgaben vorbereitet und fanden sich gut unter diesen widrigen Umständen zurecht. Seit geraumer Zeit bemühte sich die Dämmerung bereits, den neuen Tag ans Licht zu bringen. Selbst als Richard wußte, daß die Sonne schon aufgegangen war, verharrte die Welt noch im Zwielicht zwischen Tag und Traum; es war ein gespenstischer Morgen. Der Regen hatte geholfen, die Wut des Suchers abzukühlen.

Irgendwo lief der letzte Mann des Quadrons noch frei herum. Hinter jeder Bewegung lauerte möglicherweise Gefahr. Früher oder später würde er angreifen. Die Ungewißheit über den genauen Zeitpunkt nagte an ihnen. Und Bills Worte, nach denen Zedd und Chase nicht mehr lange durchhalten würden, raubten ihm den Mut. Wenn diese Frau, Adie, nicht helfen konnte, wußte er nicht, was er tun sollte. Ohne ihre Hilfe würden seine beiden Freunde sterben. Eine Welt ohne Zedd war für ihn unvorstellbar. Eine Welt ohne seine Tricks, seine Hilfe und seinen Trost wäre eine tote Welt. Schon beim Gedanken daran schnürte sich ihm die Kehle zu. Zedd würde sagen, er sollte sich keine Gedanken über die Zukunft machen, sondern über die Gegenwart.

Aber die schien fast ebenso trostlos. Sein Vater war ermordet worden. Darken Rahl stand kurz davor, alle drei Kästchen in seine Gewalt zu bringen. Er war allein mit einer Frau, die ihm viel bedeutete, aber auch das durfte nicht sein. Immer noch hütete sie ihre Geheimnisse vor ihm. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, da diese Geheimnisse offenbart werden würden. Er wollte sie erfahren. Doch ihr Schweigen bedeutete nichts Gutes. Irgendwie mußten sie ihn verletzen, sonst hätte sie sie ihm längst verraten. Ständig rang sie in Gedanken damit. Manchmal, wenn er glaubte ihr näherzukommen, sah er die Qual und die Angst in ihren Augen. Bald waren sie in den Midlands, wo die Menschen sie kannten. Er wollte es von ihr erfahren, und nicht von einem Fremden. Wenn sie es ihm nicht bald erzählte, würde er sie fragen müssen. Auch wenn es seiner Natur widersprach.

Vier Stunden waren sie schon geritten, tief in seine Gedanken versunken, hatte Richard das gar nicht bemerkt. Der Wald sog den Regen auf. Bäume ragten finster und geduckt in den Nebel, das Moos auf ihren Stämmen wuchs kraftvoll und üppig. Grün und schwammig quoll es aus der Rinde der Bäume hervor oder in rundlichen Erhebungen aus dem Boden. Die Flechten auf den Felsen leuchteten strahlend gelb und rostfarben in der Feuchtigkeit. An einigen Stellen lief das Wasser den Pfad hinab und verwandelte ihn vorübergehend in einen reißenden Bach. Die Stangen von Zedds Bahre klatschten hindurch, wurden über Stock und Stein gerissen, und der Kopf des alten Mannes wurde an den unwegsameren Stellen von einer Seite zur anderen geworfen. Seine Füße hingen fast im Wasser, wenn sie diese Sturzbäche überquerten.

Richard witterte den süßlichen Rauch eines Holzfeuers in der stillen Luft. Birkenholz. Die Gegend, die sie erreichten, sah schon seit Stunden so aus wie jetzt, und doch hatte sich etwas verändert. Ehrfurchtsvoll strömte der Regen auf den Wald herab. Die Gegend strahlte etwas Heiliges aus. Er wollte Kahlan etwas sagen, doch Reden erschien ihm wie ein Frevel. Er begriff, warum die Männer aus dem Gasthof nicht hier heraufkamen. Ihr übles Auftreten gliche einer Schändung.

Sie erreichten ein Haus, das mit seiner Umgebung fast verschmolz, und selbst direkt neben dem Pfad kaum zu erkennen war. Eine Rauchfahne kräuselte sich über dem Kamin in die diesige Luft. Die Stämme der Wände waren verwittert und alt und paßten zur Farbe der Bäume ringsum. Das Haus schien aus dem Waldboden hervorzuwachsen, ringsum ragten Bäume auf wie zum Schutz. Das Dach war mit einem Farndickicht überwuchert. Ein kleines Schrägdach schützte eine Tür und eine kleine Veranda, gerade groß genug, daß zwei oder drei Leute gleichzeitig darauf stehen konnten. Vorn gab es ein viergeteiltes Fenster, und, soweit Richard erkennen konnte, in der Seitenwand ein weiteres. Keines davon hatte Vorhänge.

Eine Stelle vor dem Haus war mit Farnen bewachsen, die sich unter dem von den Bäumen herabtropfenden Regen beugten und nickten. Der Nebel brachte ihre charakteristische blaßgrüne Farbe zum Leuchten. Mitten hindurch führte ein schmaler Pfad. Zwischen den Farnen, mitten auf dem Pfad, stand eine große Frau, größer als Kahlan, doch nicht größer als Richard. Sie trug einen schlichten, braunen Umhang aus grobem Garn mit roten und gelben Symbolen und Verzierungen am Kragen. Ihr Haar war fein und glatt, eine Mischung aus Schwarz und Grau, in der Mitte geteilt und auf der Höhe ihres kräftigen Kinns abgeschnitten. Das Alter hatte dieses verwitterte Gesicht noch nicht seiner angenehmen Züge beraubt. Die Frau stützte sich auf eine Krücke. Sie hatte nur einen Fuß. Richard brachte die Pferde vor ihr langsam zum Stehen.

Die Augen der Frau waren weiß.

»Ich bin Adie. Wer seid ihr?« Adies Stimme hatte etwas Rauhes, Kehliges, Reibeisenartiges. Richard lief es eiskalt den Rücken runter.

»Vier Freunde«, erwiderte Richard mit Respekt in der Stimme. Der leichte Regen verursachte ein ruhiges, sanftes Plätschern. Er wartete.

Feine Fältchen bedeckten jede Stelle ihres Gesichts. Sie holte die Krücke unter ihrem Arm hervor und stützte sich mit gefalteten Händen darauf. Adies dünne Lippen verzogen sich zu einem verhaltenen Lächeln.

»Ein Freund«, sagte sie mit rauher Stimme. »Drei gefährliche Leute. Ich werde entscheiden, ob es Freunde sind.« Sie nickte bedächtig.

Richard und Kahlan warfen sich einen verstohlenen Seitenblick zu. Er wurde vorsichtig. Irgendwie fühlte er sich auf seinem Pferd unwohl, so als wäre das Sprechen von oben herab eine Respektlosigkeit. Er stieg ab, und Kahlan tat es ihm nach. Mit den Zügeln in der Hand stellte er sich vorn neben das Tier, Kahlan dicht neben sich.

»Ich bin Richard Cypher. Das ist eine Freundin von mir, Kahlan Amnell.«

Die Frau betrachtete sein Gesicht aus ihren weißen Augen. Er hatte keine Ahnung, ob sie etwas sehen konnte, wußte nicht, ob es überhaupt möglich war. Sie wandte ihr Gesicht Kahlan zu. Mit rauher Stimme sagte sie ihr ein paar Worte in einer Sprache, die er nicht verstand. Kahlan hielt dem Blick der Frau stand, dann nickte sie Adie kurz zu.

Es war eine Begrüßung. Eine Begrüßung voller Respekt. Richard hatte weder die Worte ›Kahlan‹ noch ›Amnell‹ heraushören können. Seine Nackenhaare richteten sich auf.

Er war lange genug mit Kahlan zusammengewesen, um aus der Art, wie sie aufrecht und mit erhobenem Haupt dastand, schließen zu können, daß sie auf der Hut war. Und zwar sehr. Wäre sie eine Katze, sie hätte einen Buckel gemacht und ihr Fell hätte sich gesträubt. Die beiden Frauen standen sich gegenüber, das Alter war für beide im Augenblick ohne Bedeutung. Sie maßen sich an Eigenschaften, die ihm verborgen blieben. Diese Frau konnte ihnen schaden. Das Schwert würde sie davor nicht schützen.

Adie wandte sich wieder an Richard. »Was willst du, sprich, Richard Cypher.«

»Wir brauchen deine Hilfe.«

Adies Kopf schwankte. »Stimmt.«

»Unsere beiden Freunde sind verletzt. Der eine, Dell Brandstone, meinte, er sei dein Freund.«

»Stimmt«, sagte Adie mit ihrer rauhen Stimme.

»Ein anderer Mann in Southhaven meinte, du könntest ihnen helfen. Als Gegenleistung haben wir dir Vorräte mitgebracht. Wir hielten es für angemessen, dir etwas für deine Hilfe anzubieten.«

Adie beugte sich näher. »Lüge!« Sie stampfte mit ihrer Krücke auf den Boden. Sowohl Richard als auch Kahlan fuhren ein Stück zurück.

Richard wußte nicht, was er sagen sollte. Adie wartete. »Aber es stimmt. Die Vorräte sind gleich hier.« Er drehte sich ein wenig und deutete auf Chases Pferd. »Wir hielten es für angemessen…«

»Lüge!« Wieder stampfte sie mit der Krücke auf den Boden.

Richard verschränkte die Arme. Er wurde wütend. Seine Freunde lagen im Sterben, und er spielte Spielchen mit dieser Alten. »Was ist eine Lüge?«

»Das ›wir‹.« Und wieder stampfte sie ihre Krücke auf. »Du warst es, der daran gedacht hat, die Vorräte anzubieten. Du hast beschlossen, sie mitzubringen. Nicht du und Kahlan. Du. ›Wir‹ ist gelogen, ›Ich‹ ist die Wahrheit.«

Richard breitete fragend die Arme aus. »Was für einen Unterschied macht das? ›Ich‹, ›wir‹, was spielt das für eine Rolle?«

Sie starrte ihn an. »Das eine ist die Wahrheit, das andere gelogen. Wieviel größer könnte der Unterschied sein?«

Richard verschränkte seine Arme wieder vor der Brust und runzelte die Stirn. »Es ist bestimmt sehr anstrengend für Chase, dir seine Abenteuer zu erzählen.«

Adies dünnes Lächeln kam zurück. »Stimmt«, sie nickte. Sie beugte sich ein wenig vor und machte eine Handbewegung. »Bring deine Freunde nach drinnen.«

Damit drehte sie sich um, stemmte die Krücke wieder unter ihren Arm und schleppte sich zum Haus. Richard und Kahlan sahen sich an, gingen zu Chase und zogen ihm die Decke weg. Richard überließ Kahlan die Füße und nahm selbst den schweren Oberkörper. Sie hatten Chase gerade durch die Tür gewuchtet, als Richard entdeckte, warum sie die Knochenfrau genannt wurde.

Knochen jeder Art waren wie ein irres Relief an den dunklen Wänden befestigt, und zwar über und über. An einer der Wände lehnten mit Schädeln gefüllte Regale. Schädel von wilden Tieren, die Richard nicht kannte. Die meisten sahen mit ihren langen, gebogenen Zähnen furchterregend aus. Wenigstens sind keine menschlichen dabei, dachte Richard bei sich. Einige der Knochen waren zu Halsketten verarbeitet. Einige zierten rituelle Gegenstände mit Federn und Perlen, um die an der Wand ein Kreidekreis gezogen war. In einer Ecke befand sich ein Knochenstapel, der in der Menge von Gebeinen harmlos wirkte. Andere wurden sorgfältig an der Wand zur Schau gestellt, mit Platz ringsum, um ihre Bedeutung zu unterstreichen. Über dem Kaminsims hing ein Rippenknochen, so dick wie Richards Arm und so groß wie er selbst, der Länge nach mit dunkel symbolischen Schnitzereien verziert, die Richard nichts sagten. Zwischen so vielen ausgebleichten Gebeinen kam sich Richard wie im Bauch eines toten Raubtieres vor.

Sie legten Chase ab, und Richard sah sich um. Alle drei waren triefnaß vom Regen. Adie beugte sich über ihn. Sie war so trocken wie die Knochen ringsum. Sie hatte draußen im Regen gestanden, und dennoch war sie trocken. Richard überlegte sich, ob es schlau gewesen war, hierherzureiten. Hätte Chase ihm nicht gesagt, Adie sei mit ihm befreundet, wäre er jetzt nicht hier.

Er sah Kahlan an. »Ich gehe Zedd holen.« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

»Ich helfe dir, die Vorräte reinzutragen«, erbot sie sich mit einem kurzen Blick auf Adie.

Richard legte Zedd vorsichtig zu Füßen der Knochenfrau ab. Zusammen mit Kahlan stapelte er die Vorräte auf dem Tisch. Als sie damit fertig waren, stellten sie sich vor Adie neben ihre Freunde und betrachteten die Knochen. Adie ließ sie nicht aus den Augen.

»Wer ist das?« fragte sie und zeigte auf Zedd.

»Zeddicus Zu'l Zorander. Mein Freund«, sagte er.

»Ein Zauberer!« fuhr Adie ihn an.

»Mein Freund!« brüllte Richard, dem die Geduld riß.

Adie blickte ihn ruhig aus ihren weißen Augen an, während seine vor Erregung unter den aggressiven Brauen flackerten. Zedd würde sterben, wenn er keine Hilfe bekam, und Richard war nicht gewillt, das geschehen zu lassen. Adie beugte sich vor und preßte Richard ihre runzlige Hand flach auf den Bauch. Er war ein wenig überrascht und verhielt sich ruhig, während sie ihre Hand langsam kreisen ließ, so, als könne sie auf diese Weise etwas erkennen. Die Frau mit den weißen Augen zog die Hand zurück und faltete ihre Hände auf der Krücke. Sie verzog die dünnen Lippen, deutete ein Lächeln an und sah auf.

»Der gerechte Zorn eines wahren Suchers. Gut.« Sie sah zu Kahlan hinüber. »Du hast nichts von ihm zu fürchten, mein Kind. Es ist der Zorn der Wahrheit. Der Zorn der Zähne. Die Guten brauchen ihn nicht zu fürchten.« Gestützt auf ihre Krücke ging sie ein paar Schritte auf Kahlan zu. Sie legte Kahlan die Hand auf den Bauch und wiederholte die Prozedur. Als sie fertig war, stützte sie die Hand auf die Krücke und nickte. Sie blickte zu Richard hinüber.

»Sie hat das nötige Feuer. Auch in ihr brennt der Zorn. Aber es ist der Zorn der Zunge. Davor mußt du dich hüten. Davor müssen sich alle hüten. Es wird gefährlich, wenn sie ihn je herausläßt.«

Richard warf Adie einen bösen Blick zu. »Ich mag keine Rätsel. Sie lassen zuviel Raum für Fehldeutungen. Wenn du mir etwas sagen willst, dann sprich dich aus.«

»Sprich dich aus«, äffte sie ihn nach. Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist stärker, Zahn oder Zunge?«

Richard holte tief Luft. »Zahn wäre die offensichtliche Antwort. Also wähle ich Zunge.«

Adie warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. »Manchmal rührt sich deine Zunge, wenn sie es besser nicht täte. Hüte sie. Halte sie im Zaum«, befahl sie mit trockenem Krächzen.

Richard schwieg verlegen.

Adie nickte mit einem Lächeln. »Verstehst du jetzt?«

Richard runzelte die Stirn. »Nein.«

»Der Zorn der Zähne entwickelt seine Kraft erst beim Kontakt. Gewalt durch Berührung. Kampf. Die Magie des Schwertes der Wahrheit ist die Magie des Zorns der Zähne. Reißen. Zerfetzen. Der Zorn der Zunge braucht keine Berührung, doch die Kraft ist die gleiche. Sie schneidet ebenso schnell.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, sagte Richard.

Adie streckte ihren langen Finger nach ihm aus und berührte ihn leicht an der Schulter. Plötzlich füllte eine Vision seinen Kopf, die Vision einer Erinnerung. Der Erinnerung an die vergangene Nacht. Er sah die Männer im Gasthaus. Er stand mit Kahlan vor ihnen, die Männer bereit zum Angriff. Er griff bereits nach dem Schwert der Wahrheit, bereit, sie mit aller Gewalt aufzuhalten. Blut mußte fließen. Dann sah er Kahlan neben sich, die auf den Pöbel einredete, die Männer aufhielt, sie mit ihren Worten fesselte, sich mit ihrer Zunge über die Lippen fuhr und so etwas sagte, ohne zu sprechen. Ihnen ihr Feuer nahm. Die verrohten Kerle entwaffnete, ohne sie zu berühren. Und etwas tat, was das Schwert nicht konnte. Er begann zu begreifen, was Adie gemeint hatte.

Mit einer heftigen Bewegung packte Kahlan Adie am Handgelenk und riß die Hand von Richard fort. In ihrem Blick lag etwas Gefährliches, das Adie nicht verborgen blieb.

»Ich habe geschworen, das Leben des Suchers zu schützen. Ich weiß nicht, was du tust. Vergib mir, wenn ich zu heftig reagiere, es ist nicht respektlos gemeint. Aber ich würde es mir nie verzeihen, sollte ich versagen. Zuviel steht auf dem Spiel.«

Adie betrachtete die Hand auf ihrem Handgelenk. »Ich verstehe, Kind. Entschuldige, wenn ich dir gedankenlos Grund zur Besorgnis gegeben habe.«

Kahlan hielt Adies Handgelenk noch einen kurzen Augenblick fest, um das Gesagte zu unterstreichen, dann ließ sie los. Adie faltete ihre Hände über der Krücke. Sie schaute zu Richard auf.

»Zahn und Zunge arbeiten Hand in Hand. Mit der Zauberei ist es das gleiche. Du beherrschst den Zauber des Schwertes, den Zauber der Zähne. Aber dadurch verfügst du auch über die Magie der Zunge. Die Magie der Zunge funktioniert, weil du sie mit dem Schwert unterstützt.« Sie drehte ihren Kopf langsam zu Kahlan. »Du verfügst über beides, Kind. Zahn und Zunge. Wenn du sie zusammen gebrauchst, unterstützen sie sich gegenseitig.«

»Und worin besteht die Magie des Zauberers?« fragte Richard.

Adie sah ihn an und wog die Frage ab. »Es gibt viele Arten von Magie, Zunge und Zahn sind nur zwei davon. Zauberer kennen sie alle, bis auf jene aus der Unterwelt. Zauberer machen sich den größten Teil ihres Wissens zunutze.« Sie sah auf Zedd hinunter. »Ein sehr gefährlicher Mann.«

»Mir gegenüber hat er sich nie anders als freundlich und verständnisvoll gezeigt. Er ist ein sanftmütiger Mensch.«

»Stimmt. Und doch kann er auch gefährlich sein«, wiederholte Adie.

Richard überging die Bemerkung. »Und Darken Rahl? Weißt du, welche Magie er benutzen kann?«

Adies Blick verengte sich. »O ja«, zischte sie. »Ich kenne ihn. Er kann all die Zauberkräfte eines Zauberers benutzen, dazu die, die ein Zauberer nicht nutzen kann. Darken Rahl kann sich der Unterwelt bedienen.«

Richard erstarrte. Er wollte fragen, welche Zauberkraft Adie benutzen konnte, besann sich jedoch eines Besseren. Sie wandte sich wieder Kahlan zu.

»Sei gewarnt, Kind. Du verfügst über die wahre Macht der Zunge. Du hast sie noch nie gesehen. Es wird fürchterlich, solltest du ihr je freien Lauf lassen.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Kahlan stirnrunzelnd.

»Das stimmt«, Adie nickte. »Das stimmt.« Sie streckte die Hand aus, legte sie Kahlan sacht auf die Schulter und zog sie ein wenig zu sich. »Deine Mutter starb, bevor du zur Frau wurdest, bevor du das Alter erreicht hattest, daß sie dich darin hätte unterrichten können.«

Kahlan schluckte. »Was kannst du mir darüber beibringen?«

»Nichts. Tut mir leid, ich verstehe nicht, wie es geht. Das kann einem nur die eigene Mutter beibringen, wenn ihre Tochter zur Frau wird. Da deine Mutter es dir nicht gezeigt hat, ging die Lehre verloren. Aber die Kraft ist immer noch da. Sei gewarnt. Nur weil man es dir nicht beigebracht hat, heißt das nicht, es könnte nicht hervorbrechen.«

»Hast du meine Mutter gekannt?« flüsterte Kahlan gequält.

Adie sah Kahlan an, und ihr Gesicht entspannte sich. Langsam nickte sie. »Ich erinnere mich an deinen Familiennamen. Und ich erinnere mich an ihre grünen Augen, die vergißt man nicht leicht. Du hast ihre Augen. Ich habe sie gekannt, als sie mit dir schwanger ging.«

Eine Träne lief Kahlan über die Wange. »Meine Mutter hat eine Halskette mit einem kleinen Knochen daran getragen. Die hat sie mir als Kind geschenkt. Ich habe sie immer getragen, bis — bis Dennee, das Mädchen, das ich meine Schwester genannt habe … als sie starb, habe ich sie mit ihr begraben. Sie hat ihr immer gefallen. Die Halskette hast du meiner Mutter geschenkt, stimmt's?«

Adie schloß die Augen und nickte. »Ja. Ich habe sie ihr gegeben, damit sie ihr ungeborenes Kind schützt, ihre Tochter sicher bewahrt, damit sie heranwächst und stark wird wie ihre Mutter. Wie ich sehe, ist es wirklich geschehen.«

Kahlan schlang ihre Arme um die alte Frau. »Danke, Adie«, sagte sie unter Tränen, »weil du meiner Mutter geholfen hast.« Adie hielt die Krücke in einer Hand und strich Kahlan mit aufrichtigem Mitgefühl über den Rücken. Nach einer Weile löste sich Kahlan von der alten Frau und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Richard erkannte die Chance und nutzte sie entschlossen und zielbewußt.

»Adie«, sagte er leise, »du hast Kahlan geholfen, bevor sie geboren wurde. Hilf ihr auch jetzt. Vielleicht steht ihr Leben und das vieler anderer auf dem Spiel. Wir brauchen die Unterstützung dieser beiden Männer. Bitte, hilf ihnen. Hilf Kahlan.«

Adie lächelte ihn dünn an. »Der Zauberer hat seinen Sucher gut gewählt. Zum Glück für dich gehört Geduld nicht zu den Anforderungen dieses Postens. Sei beruhigt, ich hätte sie nicht hereinbringen lassen, wenn ich nicht vorgehabt hätte, ihnen zu helfen.«

»Nun, vielleicht siehst du es nicht«, drängte er, »aber besonders Zedd ist in einem üblen Zustand, er atmet kaum noch.«

Adie betrachtete ihn aus ihren weißen Augen. »Sag«, meinte sie mit ihrem trockenen Krächzen, »kennst du das Geheimnis, das Kahlan vor dir verbirgt?«

Richard sagte nichts und versuchte, sich kein Gefühl anmerken zu lassen. Adie wandte sich an Kahlan.

»Sag mir, Kind, kennst du das Geheimnis, das er vor dir verbirgt?« Kahlan erwiderte nichts. Adie sah wieder zu Richard. »Kennt der Zauberer das Geheimnis, das ihr vor ihm verbergt? Nein. Drei Blinde. Hm? Wie es aussieht, sehe ich besser als du.«

Richard fragte sich, welches Geheimnis Zedd vor ihm verbarg. Er zog eine Braue hoch. »Und welches dieser Geheimnisse kennst du, Adie?«

Sie zeigte mit dem Finger auf Kahlan. »Ihres. Nur das eine.«

Richard war erleichtert, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Er wäre fast in Panik geraten. »Jeder hat seine Geheimnisse, meine Gute, und das Recht, sie wenn nötig zu verschweigen.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Das stimmt, Richard Cypher.«

»Was ist nun mit den beiden hier?«

»Weißt du, wie man sie heilt?« fragte sie.

»Nein. Wenn, dann hätte ich es doch wohl schon getan.«

»Deine Ungeduld sei dir verziehen. Es ist nur recht, wenn du um das Leben deiner Freunde bangst. Doch sei unbesorgt, sie erhalten bereits Hilfe, seit ihr sie hereingebracht habt.«

Richard sah sie verwirrt an. »Wirklich?«

Sie nickte. »Sie sind von Monstern aus der Unterwelt niedergeschlagen worden. Sie werden Zeit brauchen, um wieder aufzuwachen, Tage vielleicht. Wie viele, vermag ich nicht zu sagen. Aber sie werden ausgetrocknet sein. Wassermangel wird ihr Tod sein, deswegen muß man sie wecken, damit sie trinken, oder sie werden sterben. Der Zauberer atmet langsam, aber nicht, weil es ihm schlechter ginge, sondern weil Zauberer auf diese Weise in schwierigen Zeiten Kraft sparen. Sie fallen in einen tiefen Schlaf. Ich muß sie beide wecken, damit sie trinken. Hab keine Angst. Geh in die Ecke und hol den Wassereimer.«

Richard holte Wasser, dann half er Adie, sich mit untergeschlagenen Beinen neben die Köpfe von Zedd und Chase zu setzen. Sie bat Richard, ihr das Knochenwerkzeug vom Regal zu bringen.

Teils sah es aus wie ein menschlicher Hüftknochen. Der Gegenstand war ganz mit dunkelbrauner Patina überzogen und sah uralt aus. Längs des Schafts waren Symbole eingeritzt, die Richard nicht kannte. An einem Ende waren zwei Schädeldecken befestigt worden. Sie waren zu glatten Halbkugeln geschnitten und mit Häuten bespannt. In beiden Häuten befand sich ein Knoten, der wie ein Nabel aussah. Die Häute waren über den Schädelrand gespannt und wurden in gleichmäßigen Abständen von derben, schwarzen Haarsträngen gehalten, die mit perlenbesetzten Schnüren zusammengebunden waren — diese glichen jenen, die Adie um den Hals trug. Die Schädeldecken sahen aus, als könnten sie von einem Menschen stammen. Im Innern rasselte etwas.

Richard reichte ihn Adie. »Woher kommt das Rasseln?«

Ohne aufzusehen, sagte sie: »Getrocknete Augen.«

Adie schwenkte die Knochenrassel sachte über die Köpfe von Chase und Zedd hinweg und murmelte dabei einen Gesang in jener fremden Sprache, in der sie auch zu Kahlan gesprochen hatte. Die Rassel gab einen hohlen, hölzernen Ton von sich. Kahlan setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben sie, und da man Richard nicht hinzugebeten hatte, blieb er im Hintergrund und sah zu.

Nach zehn oder fünfzehn Minuten winkte ihn Adie zu sich. Zedd setzte sich plötzlich auf und öffnete die Augen. Richard sollte ihm Wasser geben. Sie fuhr mit ihrem Singsang fort, während er die Kelle eintauchte und sie Zedd an den Mund hielt. Er trank gierig. Richard war sichtlich erleichtert, als er sah, wie der alte Mann die Augen aufschlug, auch wenn er weder sprechen konnte noch wußte, wo er war. Zedd trank einen halben Eimer Wasser. Als er fertig war, legte er sich wieder hin und schloß die Augen. Als nächstes kam Chase an die Reihe und trank die andere Hälfte des Wassers.

Adie reichte Richard die Knochenrassel und bat ihn, sie ins Regal zurückzustellen. Nun mußte er den Knochenhaufen herbeitragen und ihn zur Hälfte über Zedd, zur Hälfte über Chase verteilen. Für jeden Knochen gab sie ihm genaue Positionsanweisungen. Zum Schluß mußte er Rippenknochen in einem Wagenradmuster mit der Nabe genau über der Brust eines jeden Mannes zusammenlegen. Als er fertig war, gratulierte sie ihm zu dem gelungenen Werk. Er war allerdings nicht gerade stolz, da sie ihn bei jedem Handgriff angeleitet hatte. Adie schaute mit ihren weißen Augen hoch.

»Kannst du kochen?«

Richard mußte daran denken, wie Kahlan gemeint hatte, seine Gewürzsuppe sei genau wie ihre, und daß ihre beiden Länder sich so ähnlich seien. Adie war aus den Midlands, vielleicht mochte auch sie etwas aus ihrer Heimat. Er lächelte sie an.

»Es wäre mir eine Ehre, dir eine Gewürzsuppe zu kochen.«

Sie schlug die Hände zusammen. »Das wäre wunderbar. Ich habe schon seit Jahren keine gute Gewürzsuppe mehr gegessen.«

Richard zog sich in die gegenüberliegende Ecke des Raumes zurück, setzte sich an den Tisch, schnitt Gemüse und mischte die Gewürze. Über eine Stunde arbeitete er und beobachtete dabei die beiden auf dem Boden sitzenden Frauen, die sich in einer fremden Sprache unterhielten. Die beiden Frauen tauschten Neuigkeiten aus der Heimat aus, dachte er glücklich. Er war bei guter Laune. Endlich tat jemand etwas für Zedd und Chase. Jemand, der wußte, worum es ging. Als er fertig war und die Suppe über dem Feuer hing, wollte er sie nicht stören. Sie sahen aus, als hätten sie Spaß miteinander, daher bat er Adie, ob er ein wenig Feuerholz für sie hacken könnte. Der Vorschlag schien ihr zu gefallen.

Er ging nach draußen und entfernte den Zahn von seinem Hals, steckte ihn in die Tasche und ließ sein Hemd auf der Veranda, damit es trocknen konnte. Das Schwert nahm er mit hinters Haus, wo er den Stapel Feuerholz finden würde, wie Adie ihm gesagt hatte. Er legte die Scheite auf den Sägebock und schnitt die Stücke der Länge nach zu. Das meiste war Birkenholz, für eine alte Frau am einfachsten zu sägen. Er wählte den Steinahorn aus, ausgezeichnetes Feuerholz, doch schwer zu sägen. Der Wald ringsum war dunkel, dicht, wirkte aber nicht bedrohlich. Eher einladend, schützend und sicher. Dennoch, irgendwo dort draußen befand sich der letzte Mann des Quadrons und machte Jagd auf Kahlan.

Er mußte an Michael denken. Hoffentlich war er in Sicherheit. Michael wußte nicht, was Richard gerade tat und fragte sich wahrscheinlich, wo er steckte. Vermutlich machte er sich Sorgen. Richard hatte vorgehabt, nach seinem Besuch bei Zedd zu Michaels Haus zu gehen. Doch dafür war keine Zeit gewesen. Rahl hätte sie beinahe erwischt. Er wünschte, er wäre in der Lage gewesen, Michael zu benachrichtigen. Michael war in großer Gefahr, wenn die Grenze fiel.

Als er müde vom Sägen war, begann er mit dem Hacken. Es fühlte sich gut an, seine Muskeln zu gebrauchen, vor Anstrengung zu schwitzen, etwas zu tun, bei dem er nicht nachzudenken brauchte. Der Regen war angenehm kühl auf seiner Haut. Wenn er die Axt herabsausen ließ, stellte er sich vor, das Holz wäre Darken Rahls Kopf. Hin und wieder stellte er sich zur Abwechslung vor, es sei ein Gar. War ein Stück besonders hart, stellte er sich vor, es sei der Kopf des Rothaarigen.

Kahlan erschien draußen und fragte ihn, ob er zum Essen kommen wollte. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie es dunkel geworden war. Als sie weg war, ging er zum Brunnen und kippte sich einen Eimer Wasser über, um den Schweiß abzuwaschen. Kahlan und Adie saßen am Tisch, und da es nur zwei Stühle gab, holte er einen Holzklotz herein, um sich daraufzusetzen. Kahlan reichte ihm einen Teller Suppe und einen Löffel.

»Du hast mir eine große Freude gemacht, Richard«, sagte Adie.

»Und wie das?« Er pustete, um die Suppe abzukühlen.

Sie sah ihn aus ihren weißen Augen an. »Du hast mir Zeit gelassen, mich mit Kahlan in meiner Muttersprache zu unterhalten, ohne dich gekränkt zu fühlen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Geschenk das für mich ist. Es ist so viele Jahre her. Du bist ein sehr scharfsichtiger Mann. Ein wahrer Sucher.«

Richard strahlte sie an. »Du hast mir auch etwas sehr Wertvolles gegeben. Das Leben meiner Freunde. Ich danke dir, Adie.«

»Und deine Gewürzsuppe ist ausgezeichnet«, fügte sie etwas überrascht hinzu.

»Ja«, Kahlan zwinkerte ihm zu. »Sie ist genauso gut wie meine.«

»Kahlan hat mir von Darken Rahl erzählt, und vom Schwächerwerden der Grenze«, sagte Adie. »Das erklärt einiges. Sie hat mir erzählt, daß du den Paß kennst und in die Midlands willst. Nun mußt du entscheiden, was du tun willst.« Sie nahm einen Löffel Suppe.

»Wie meinst du das?«

»Die beiden müssen jeden Tag zum Trinken geweckt und mit Haferschleim gefüttert werden. Deine Freunde werden vielleicht noch fünf Tage schlafen, vielleicht auch zehn. Als Sucher mußt du entscheiden, ob du auf sie warten oder weiterziehen willst. Wir können dir dabei nicht helfen, entscheiden mußt du.«

»Für dich allein wäre das eine Menge Arbeit.«

Adie nickte. »Ja. Aber nicht soviel wie die Suche nach den Kästchen oder der Kampf gegen Darken Rahl.« Sie aß noch etwas Suppe und beobachtete ihn.

Richard rührte gedankenverloren in seiner Schale. Lange Zeit sagte niemand etwas. Er sah zu Kahlan hinüber, aber sie erwiderte den Blick nicht. Er blickte wieder in seine Suppe.

»Mit jedem Tag, der verstreicht«, sagte er schließlich ruhig, »kommt Rahl dem dritten Kästchen näher. Zedd hat mir gesagt, er hätte einen Plan. Das heißt nicht, daß der Plan gut ist. Und vielleicht ist keine Zeit mehr, wenn er wieder aufwacht. Wir könnten verloren haben, bevor wir anfangen.« Er blickte Kahlan in ihre grünen Augen. »Wir können nicht warten. Dieses Risiko können wir nicht eingehen, es steht zuviel auf dem Spiel. Wir müssen ohne ihn aufbrechen.« Kahlan lächelte ihm beruhigend zu. »Chase wollte ich ohnehin nicht mitnehmen. Für ihn habe ich eine wichtigere Aufgabe.«

Adie streckte den Arm über den Tisch aus und legte ihre Hand auf seine. Sie fühlte sich weich an und warm. »Die Entscheidung ist nicht einfach. Es ist nicht leicht, Sucher zu sein. Was vor dir liegt, wird deine schlimmsten Erwartungen übertreffen.«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Wenigstens habe ich meine Führerin noch.«

Die drei saßen schweigend da und überlegten, was zu tun sei.

»Ihr beide werdet heute nacht ordentlich ausschlafen«, sagte Adie. »Ihr werdet es brauchen. Nach dem Abendessen werde ich euch erzählen, was ihr wissen müßt, um über den Paß zu kommen.« Ihr Blick schwenkte von einem zum anderen, ihre Stimme schien noch mehr zu schnarren. »Und ich werde euch erzählen, wie ich meinen Fuß verloren habe.«

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