Erschöpft suchte Richard den Boden ab, um die Stelle zu finden, wo der Pfad am Ende des Erdrutsches wieder anfing. Seine Hoffnung schwand. Dunkle Wolken jagten tief am Himmel dahin und ließen gelegentlich ein paar dicke, kalte Tropfen fallen, die ihm auf den Hinterkopf klatschten. Ihm war der Gedanke eingefallen, daß Kahlan es vielleicht durch den Schlund geschafft hatte, nur von ihm getrennt worden und weitergegangen war. Sie hatte den Knochen bei sich, den Adie ihr gegeben hatte, und der hätte sie eigentlich schützen müssen. Eigentlich hätte sie durchkommen können. Doch er trug den Zahn bei sich, und laut Adie hätte er dadurch unsichtbar sein müssen. Die Schatten hatten sie trotzdem angegriffen. Irgendwie seltsam. Die Schatten hatten sich erst in der Dunkelheit, in der Nähe des gespaltenen Felsens bewegt. Wieso hatten sie nicht schon vorher angegriffen?
Spuren gab es nicht. Durch den Schlund war schon lange niemand mehr gegangen. Erschöpfung und Verzweiflung ergriffen ihn aufs neue, als eisige Windböen ihm das Waldgewand um den Körper peitschten, ihn drängten weiterzugehen, fort vom Schlund. Bar jeder Hoffnung betrat er wieder den Pfad in Richtung Midlands.
Er hatte erst ein paar Schritte getan, als ein Gedanke ihn abrupt anhalten ließ. Wenn Kahlan von ihm getrennt worden war und sie annahm, die Unterwelt hätte sich seiner bemächtigt, wenn sie glaubte, sie hätte ihn verloren und sei nun allein, wäre sie dann weiter in die Midlands gegangen? Noch dazu allein?
Nein.
Er drehte sich um und blickte zum Schlund. Nein. Sie wäre zurückgegangen. Zurück zum Zauberer.
Es hätte keinen Sinn, allein in die Midlands zu gehen. Sie brauchte Hilfe, deswegen war sie ja überhaupt erst nach Westland gereist. Und ohne den Sucher war der Zauberer die einzige Hilfe.
Richard wagte es nicht, diesem Gedanken allzuviel Glauben zu schenken, doch war es nicht allzuweit bis zu der Stelle, wo er die Schatten bekämpft und Kahlan verloren hatte. Er konnte unmöglich weitergehen, ohne nachzusehen, ohne Gewißheit zu haben. Die Erschöpfung war vergessen, als er sich aufmachte und wieder in den Schlund stürzte. Er verfolgte seine Spuren zurück und hatte in kurzer Zeit die Stelle wiedergefunden, wo er gegen die Schatten gekämpft hatte. Seine Fußabdrücke waren überall im Schlamm des Erdrutsches zu sehen und erzählten die Geschichte seines Kampfes. Er war überrascht, wieviel Boden er während des Kampfes abgedeckt hatte. Er konnte sich an all das Herumkreisen, das Hin und Her überhaupt nicht erinnern. Aber bis auf den Schluß wußte er ohnehin nicht mehr viel von dem Gemetzel.
Er fuhr zusammen, als er entdeckte, was er gesucht hatte. Die Spuren der beiden, zusammen, und dann ihre, allein. Klopfenden Herzens folgte er ihnen und hoffte dabei inständig, sie würden nicht in den Wall führen. Er ging in die Hocke, untersuchte sie, berührte sie. Ihre Spuren wanderten eine Weile herum, scheinbar wirr, dann hielten sie plötzlich an und kehrten. Dort, wo ihre beiden Spuren von der anderen Seite hereinführten, lief eine Spur wieder zurück.
Kahlan.
Richard war sofort wieder auf den Beinen. Sein Atem ging schnell, sein Puls raste. Der grüne Lichtschein umflirrte ihn entnervend. Er überlegte, wie weit sie gegangen sein mochte. Sie hatten den größten Teil der Nacht gebraucht, um unter Mühe durch den Schlund zu gelangen. Allerdings hatten sie nicht gewußt, wo der Pfad verlief. Er blickte auf die Fußspuren im Schlamm. Er wußte es.
Er mußte sich beeilen. Ängstlichkeit beim Zurückverfolgen des Weges konnte er sich nicht erlauben. Ihm fiel etwas ein, das Zedd ihm beim Überreichen des Schwertes gesagt hatte. Die Kraft des Zorns verleiht dir den Schwung, um trotz Unachtsamkeit zu obsiegen.
Das klare metallische Klirren füllte die Luft des trüben Morgens, als der Sucher sein Schwert zog. Zorn durchströmte ihn. Ohne einen weiteren Gedanken stürmte Richard den Pfad hinab, den Spuren folgend. Der Widerstand des Walls schüttelte ihn durch, als er durch die kühle Luft, den kühlen Dunst trabte. Auch an Biegungen und Serpentinen verlangsamte er sein Tempo nicht, sondern stemmte seinen Fuß mal zur einen, mal zur anderen Seite, um sein Gewicht in entgegengesetzter Richtung den Pfad hinabzuwerfen.
Ein stetes, gleichmäßiges Tempo beibehaltend, hatte er den Schlund bereits gegen Mitte des Vormittages durchquert. Zweimal war er einem Schatten begegnet, der auf der Stelle über dem Pfad schwebte. Sie bewegten sich nicht, schienen ihn nicht einmal zu bemerken. Richard stürmte, Schwert voran, hindurch. Selbst ohne Gesicht wirkten sie überrascht, als sie heulend auseinanderstoben.
Ohne das Tempo zu verlangsamen, durchquerte er den gespaltenen Felsen, trat dabei einen Greifer aus dem Weg. Auf der anderen Seite blieb er stehen, um Luft zu holen. Zu seiner überwältigenden Erleichterung stellte er fest, daß ihre Spuren hindurchführten. Ab jetzt, auf dem Pfad durch den Wald, wären ihre Spuren schwerer zu erkennen, aber das spielte keine Rolle. Er wußte, wohin sie wollte, und daß sie den Schlund sicher durchquert hatte. Am liebsten hätte er vor Freude geheult, weil Kahlan noch lebte.
Er holte auf. Der Nebel hatte die scharfen Kanten ihrer Fußspuren noch nicht aufgeweicht, wie am Anfang, als er sie entdeckt hatte. Seit Tagesanbruch mußte sie zur Orientierung ihren Spuren gefolgt sein, statt sich von den Wällen den Weg zeigen zu lassen, sonst hätte er sie längst eingeholt. Gutes Mädchen, dachte er. Sie gebrauchte ihren Kopf. Er würde noch eine richtige Waldfrau aus ihr machen.
Richard trabte wieder los, den Pfad hinab, das Schwert gezückt und im Zorn hellwach. Er vergeudete keine Zeit darauf, nach ihren Spuren zu suchen. Sobald der Grund weich oder schlammig wurde, blickte, er zu Boden, wurde etwas langsamer und nahm ihre Spur auf. Nachdem er laufend eine mit weichem Moos bewachsene Stelle überquert hatte, erreichte er eine kleine, kahle Stelle mit Fußspuren. Er warf im Vorübergehen einen flüchtigen Blick darauf. Dann sah er etwas. Er blieb so abrupt stehen, daß er stürzte. Auf Händen und Knien starrte er auf die Spuren. Er riß die Augen auf.
Ein Teil ihres Abdrucks war von einem Männerstiefel überdeckt, der fast dreimal so groß war wie ihrer. Er wußte ohne den geringsten Zweifel, wem er gehörte — dem letzten Mann des Quadrons.
Wut verhalf ihm auf die Beine, und stolpernd rannte er blindlings drauflos. Äste und Felsen flogen verschwimmend vorbei. Auf dem Pfad zu bleiben und nicht aus Versehen in die Grenze hineinzurennen, war seine einzige Sorge. Nicht, weil er Angst um sich gehabt hätte, sondern weil er Kahlan schlecht helfen konnte, wenn er sich umbringen ließ. Seine Lungen brannten, seine Brust hob sich vor Anstrengung. Der Zorn der Magie ließ ihn seine Erschöpfung, seinen Schlafmangel vergessen.
Er erklomm den Gipfel eines kleinen Felsvorsprunges und erblickte sie unten, auf der anderen Seite. Einen Augenblick lang war er wie gelähmt. Kahlan stand links, die Füße leicht gespreizt, halb in der Hocke, mit dem Rücken zur Felswand. Der letzte Mann des Quadrons stand vor ihr, zu Richards rechter Seite. Panische Angst riß eine klaffende Wunde in seine Wut. Die Lederuniform des Mannes gleißte in der Feuchtigkeit. Die Kapuze des Kettenhemdes bedeckte seinen Blondschopf. Sein Schwert ragte zwischen massigen Fäusten empor, Muskeln wucherten knotig aus den Armen. Er stieß ein Kampfgeheul aus.
Er würde sie umbringen.
Eine Explosion von Wut füllte Richards Gedanken. »Nein!« kreischte er in mörderischer Raserei und sprang vom Felsen hinab. Beidarmig riß er noch in der Luft das Schwert der Wahrheit in die Höhe. Auf dem Boden angelangt, rollte er ab und schwenkte es von hinten im Bogen herum. Das Schwert zerschnitt pfeifend die Luft.
Der Mann hatte sich umgedreht, als Richard auf dem Boden gelandet war. Als er Richards Schwert kommen sah, riß er seins zur Verteidigung schnell wie das Licht in die Höhe, so daß die Sehnen in Hand und Gelenken knackten.
Wie im Traum verfolgte Richard, wie sein Schwert im Bogen kreiste.
Jedes Quentchen seiner Kraft steckte er in den Versuch, schneller, genauer zu sein. Tödlicher. Der Zauber raste vor Gier. Richard wandte den Blick vom Schwert des Mannes ab und blickte ihm in die stahlblauen Augen. Das Schwert des Suchers folgte dem Weg seines Blickes. Er hörte sich immer noch brüllen. Der Mann hielt sein Schwert senkrecht in die Höhe, um den Schlag abzuwehren.
Rings um den Mann schien sich alles aufzulösen. Richards Zorn, der Zauber, wurde freigesetzt wie nie zuvor. Keine Macht der Welt konnte ihm das Blut des Mannes versagen. Richard war jenseits aller Vernunft. Jenseits aller anderen Bedürfnisse. Jenseits jeden anderen Lebenszwecks. Er war der Tod, zum Leben erwacht.
Richards gesamte Lebenskraft sammelte sich als tödlicher Haß im Schwung seines Schwertes.
Während eines einzigen Herzschlags, den er bis in die angespannten Muskeln seines Halses spürte, verfolgte Richard am Rande seines Gesichtsfeldes in erwartungsvoller Hochstimmung, wie sein Schwert in sattem Bogen das letzte Stück der quälenden Entfernung zurücklegte und endlich gegen das erhobene Schwert des Feindes prallte, sah in allen Einzelheiten, wie dieses unglaublich langsam inmitten einer Wolke heißer Bruchstücke zersplitterte, sah, wie das größte Stück der abgetrennten Klinge wirbelnd in die Luft gehoben wurde, wie die glattpolierte Oberfläche mit jeder der drei Umdrehungen, die es vor dem Schwert des Suchers vollbrachte, im Licht aufblitzte. Dann, mit all der Kraft seines Zornes und der Magie dahinter, erreichte Richards Schwert den Kopf des Mannes, berührte das Kettenhemd, lenkte den Kopf des Mannes nur ein winziges Stück ab, bevor es krachend durch die Stahlglieder des Kettenhemdes fetzte und die Luft mit einem Regen aus Stahlsplittern füllte. Plötzlich färbte sich der Morgendunst explosionsartig mit einem roten Nebel, der Richard ein kurzes Hochgefühl bereitete, als er mitansah, wie blondes Haar, Knochen und Hirn wie irre davontrudelten, während die Klinge ihren Schwung durch die scharlachrote Luft fortsetzte, sich aus den letzten zerfetzten Bruchstücken des feindlichen Schädels befreite und seine Reise fortsetzte, während der Körper nur noch mit Hals und Kiefer und wenig mehr Erkennbarem darüber langsam in sich zusammensackte, so als hätten sich sämtliche Knochen aufgelöst, so als existierte nichts mehr, was ihn hätte aufrecht halten können, bis er schließlich mit einem dumpfen Geräusch den Boden erreichte. Blut spritzte in hohem, befriedigendem Bogen durch die Luft, klatschte auf die Erde und auf Richard nieder, der als Sieger in den Genuß des heißen Geschmacks der Genugtuung kam, als einige Tropfen davon in seinen zu wütendem Brüllen aufgerissenen Mund trafen, während immer mehr davon zäh und satt in den Dreck sickerte, Splitter des Kettenhemdes und des Schwertes zu Boden regneten und weitere Brocken aus Knochen und Stahl über den Felsen hinter Richard hüpften und sprangen, bis endlich mehr und mehr Knochen, Hirn und Blut aus der Luft ringsum niedergingen und alles tiefrot färbten.
Der Todesbote stand siegreich über dem Objekt seines Hasses und seiner Wut, getränkt in Blut und Herrlichkeit, wie er es sich nie hätte träumen lassen. Seine Brust hob und senkte sich vor Verzückung. Er brachte das Schwert wieder vor den Körper und suchte nach einer weiteren Bedrohung. Die gab es nicht.
Und dann schlug die Welt über ihm zusammen.
Seine Umgebung war mit einem Schlag wieder da. Richard sah die aufgerissenen Augen, den Ausdruck des Schocks auf Kahlans Gesicht, bevor der Schmerz ihn in die Knie zwang, ihn zerriß, ihn sich krümmen ließ.
Das Schwert der Wahrheit fiel ihm aus der Hand.
Plötzlich wurde ihm bewußt, was er gerade getan hatte. Er hatte einen Mann getötet. Schlimmer noch, er hatte einen Mann getötet, den er hatte töten wollen. Daß er das Leben eines anderen hatte schützen wollen, spielte keine Rolle, er hatte töten wollen. Er hatte sich daran ergötzt. Nichts hätte ihn am Töten hindern dürfen.
Immer wieder blitzte das Bild des Schwertes, das den Kopf des Mannes wie in einer Explosion zerfetzte, vor seinem inneren Auge auf. Er konnte nichts dagegen tun.
Zum Schutz gegen einen brennenden Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor gekannt hatte, schlug er die Arme über dem Unterleib zusammen. Sein Mund war aufgerissen, doch entwich ihm kein Schrei. Er versuchte, das Bewußtsein zu verlieren, damit der Schmerz aufhörte, doch es gelang ihm nicht. Nur der Schmerz existierte noch, so wie in seiner Gier zu töten nichts anderes als dieser Mann existiert hatte. Der Schmerz nahm ihm das Sehvermögen. Er war blind. Feuer brannte in jedem Muskel, Knochen und Organ seines Körpers, drohte ihn zu vernichten, raubte ihm die Luft aus den Lungen, erstickte ihn mit krampfartiger Qual. Er stürzte seitlich zu Boden, zog die Knie an die Brust. Schließlich schrie er vor Schmerz, so wie er vorher vor Wut geschrien hatte. Richard fühlte sich, als würde ihm das Leben aus dem Körper gesogen. Bei aller Qual und Pein wußte er, wenn dies noch lange anhielt, würde er seinen Verstand, oder schlimmer, sein Leben verlieren. Die Macht der Magie zermalmte ihn. Nie hätte er sich vorstellen können, daß es solche Schmerzen gab, jetzt glaubte er nicht mehr, es könnte je wieder aufhören. Er spürte, wie ihm der Schmerz den Verstand raubte. In Gedanken begann er, um seinen Tod zu bitten. Wenn sich nichts änderte, und zwar schnell, dann hätte er es hinter sich, so oder so.
In seinem qualvollen Dämmerzustand kam ihm eine Erkenntnis: Er kannte diesen Schmerz. Es war derselbe wie sein Zorn. Er durchströmte ihn genau wie der Zorn des Schwertes. Er kannte das Gefühl gut genug, es war die Magie. Nachdem er sie als Magie erkannt hatte, versuchte er, sie zu beherrschen, so wie er gelernt hatte, die Wut zu beherrschen. Er wußte, diesmal mußte es gelingen, oder er würde sterben. Er versuchte logisch zu denken, begriff die Unausweichlichkeit seiner Tat, so schrecklich sie war. Der Mann hatte sich mit seiner Absicht zu töten selbst zum Tode verurteilt.
Endlich gelang es ihm, den Schmerz zu verdrängen, so wie er gelernt hatte, den Zorn zu verdrängen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Er hatte beide Schlachten geschlagen. Der Schmerz ließ nach und verschwand.
Er lag keuchend auf dem Rücken, als die Welt zum zweiten Mal auf ihn einstürzte. Kahlan kniete neben ihm, wischte ihm mit einem kühlen, feuchten Lappen übers Gesicht. Wischte das Blut ab. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Spritzer vom Blut des Mannes zogen sich in langen Streifen über ihr Gesicht.
Richard kam auf die Knie, nahm ihr den Lappen aus der Hand, um ihr das Gesicht abzuwischen, so als wollte er den Anblick seiner Tat aus ihrer Erinnerung löschen. Bevor er dazu kam, schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn fester an sich, als er es für möglich gehalten hätte. Er erwiderte die Umarmung ebenso fest, während sie ihm in den Nacken griff, ins Haar und seinen weinenden Kopf an sich drückte. Unglaublich das Gefühl, sie gefunden zu haben. Er wollte sie nicht mehr loslassen, niemals.
»Es tut mir so leid, Richard«, schluchzte sie.
»Weshalb?«
»Daß du den Mann wegen mir töten mußtest.«
Er wiegte sie sanft, strich ihr übers Haar. »Schon gut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, welche Schmerzen dir die Magie zufügen würde. Deswegen solltest du auch nicht mit den Männern im Gasthaus kämpfen.«
»Zedd meinte, der Zorn würde mich vor den Schmerzen schützen. Kahlan, das begreife ich nicht. Wütender hätte ich unmöglich werden können.«
Sie löste sich von ihm, die Hände auf seinen Armen, und kniff sie, als wollte sie prüfen, ob sie wirklich seien. »Zedd hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen, wenn du das Schwert benutzt, um einen Menschen zu töten. Er sagte, was er dir über den Zorn, der dich vor den Schmerzen schützt, gesagt hat, sei wahr, fügte jedoch hinzu, nur beim ersten Mal sei es anders. Die Magie stelle dich auf die Probe, messe den Sucher an seinem Schmerz, und nichts könne dich davor schützen. Er meinte, er könne es dir nicht sagen, denn wenn du es wüßtest, würde es dich behindern, du wärst vorsichtiger, und das könnte verheerende Folgen haben. Er meinte, die Magie müsse bei ihrer ersten Anwendung mit dem Sucher verschmelzen, damit sie seine Entschlossenheit beim Töten feststellen kann.« Sie drückte seine Arme. »Er meinte, die Magie könne Fürchterliches mit dir anstellen. Der Schmerz sei eine Prüfung, um herauszufinden, wer der Meister ist und wer der Beherrschte.«
Richard ging verblüfft in die Hocke. Adie hatte gesagt, der Zauberer enthalte ihm ein Geheimnis vor. Das mußte es gewesen sein. Zedd mußte sehr besorgt gewesen sein und Angst um ihn gehabt haben. Der alte Freund tat ihm leid.
Zum ersten Mal begriff Richard, was es hieß, ein Sucher zu sein, auf eine Art, wie es nur ein Sucher begreifen konnte. Der Todesbote. Jetzt verstand er. Verstand die Magie, wie man sie anwendete, wie sie ihn benutzte, wie sie jetzt miteinander verschmolzen und eins geworden waren. Was auch immer dabei herauskommen mochte, er würde nie wieder derselbe sein. Er hatte einen Geschmack von der Erfüllung seiner dunkelsten Sehnsüchte bekommen, das war erledigt. Unmöglich, zu seinem alten Selbst zurückzukehren.
Richard wischte Kahlan das Blut aus dem Gesicht.
»Ich verstehe. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat. Du hattest recht, mir nichts davon zu sagen.« Er berührte ihre Wange, seine Stimme war sanft. »Ich hatte solche Angst, du könntest getötet werden.«
Sie legte ihre Hand auf seine. »Ich dachte, du wärst tot. Eben hielt ich noch deine Hand, dann merkte ich, daß ich sie verloren hatte.«
Wieder traten ihr die Tränen in die Augen. »Ich konnte dich nicht finden. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Das einzige, was mir einfiel, war zu Zedd zurückzugehen, zu warten, bis er aufwacht und ihn dazu zu bringen, mir zu helfen. Ich dachte, du wärst an die Unterwelt verloren.«
»Ich dachte, dir wäre das gleiche passiert. Fast wäre ich allein weitergegangen.« Er grinste schelmisch. »Sieht so aus, als müßte ich dich immer wieder irgendwo heraushauen.«
Zum ersten Mal, seit er sie wiedergefunden hatte, lächelte sie. Dann schlang sie die Arme um ihn. Und ließ sofort wieder los.
»Richard, wir müssen fort von hier. Hier sind überall diese Untiere. Sie werden sich auf seine Leiche stürzen. Dann dürfen wir auf keinen Fall hier sein.«
Er nickte, drehte sich um, ergriff sein Schwert und stand auf. Er reichte ihr die Hand und half ihr auf.
Die Zauberkraft entlud sich in einem Wutausbruch und warnte ihren Meister.
Richard sah sie verblüfft an, schockiert. Die Zauberkraft war zum Leben erwacht, genau wie beim letzten Mal, als sie seine Hand berührt und er das Schwert gehalten hatte. Nur stärker diesmal. Sie lächelte und schien nichts zu spüren. Richard zwang sich, die Wut zu unterdrücken. Doch der Zorn ließ es nur widerwillig mit sich geschehen.
Sie nahm ihn in den Arm, drückte ihn kurz an sich. »Ich kann es immer noch nicht glauben, daß du lebst. Ich war so sicher, ich hätte dich verloren.«
»Wie bist du den Schatten entkommen?«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Sie haben uns verfolgt, und als wir getrennt wurden und ich zurückging, habe ich sie nicht mehr gesehen. Hast du welche gesehen?«
Richard nickte ernst. »Ja, das habe ich. Auch meinen Vater wieder. Sie haben mich angegriffen und versucht, mich in die Grenze zu holen.«
Kahlans Gesicht wurde besorgt. »Wieso nur dich? Warum nicht uns beide?«
»Ich weiß es nicht. Gestern abend am gespaltenen Felsen und später, als sie uns verfolgt haben, müssen sie hinter mir und nicht dir hergewesen sein. Der Knochen hat dich beschützt.«
»Beim letzten Mal haben sie alle angegriffen, nur dich nicht«, sagte sie. »Was ist denn diesmal anders?«
Richard überlegte einen Augenblick. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall müssen wir über den Paß. Wir sind zu müde, um uns diese Nacht noch einmal mit den Schatten rumzuschlagen. Wir müssen die Midlands vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Und ich verspreche dir, diesmal werde ich deine Hand nicht loslassen.«
Kahlan drückte lächelnd seine Hand. »Ich deine auch nicht.«
»Ich bin durch den Schlund zurückgelaufen. Es hat nicht lange gedauert. Meinst du, du schaffst das?«
Sie nickte, und die beiden trabten in einem lockeren Tempo los, das sie, wie er glaubte, halten konnten. Wie bei seiner letzten Durchquerung folgten auch diesmal keine Schatten, wenngleich einige über dem Pfad schwebten. Wie zuvor stürmte Richard mit dem Schwert voran hindurch, ohne abzuwarten, was sie tun würden. Ihr Geheul ließ Kahlan zusammenzucken. Er behielt im Laufen die Spuren im Auge, zog sie durch die Biegungen, sorgte dafür, daß sie auf dem Pfad blieben.
Als sie den Erdrutsch hinter sich und den Waldpfad am anderen Ende des Schlundes erreicht hatten, verlangsamten sie das Tempo zu einem flotten Marsch, um wieder zu Atem zu kommen. Nieselregen legte sich auf Haare und Gesichter. Die Freude darüber, Kahlan wiedergefunden zu haben, dämpfte seine Sorge über die Schwierigkeiten, die noch vor ihnen lagen. Im Gehen teilten sie sich Brot und Früchte. Obwohl sein Magen vor Hunger knurrte, wollte er nicht anhalten, um etwas Vernünftigeres zu essen.
Die Reaktion der Magie, als Kahlan seine Hand ergriffen hatte, bereitete Richard immer noch Sorgen. Spürte die Magie etwas in ihr, oder reagierte sie auf etwas, das sich in seinen Gedanken abspielte? Vielleicht weil er Angst vor ihrem Geheimnis hatte? Oder ging es um mehr, um etwas, das die Magie selbst in ihr erfühlte? Wenn Zedd nur da wäre und er ihn fragen könnte, was er darüber dachte. Allerdings war Zedd auch beim letzten Mal dabei gewesen, und da hatte er ihn auch nicht gefragt. Hatte er Angst vor dem, was Zedd ihm erzählen könnte?
Sie aßen ein wenig, und der Nachmittag schleppte sich dahin. Dann hörten sie ein Knurren tief im Wald. Kahlan meinte, es seien die Monster. Sie beschlossen, wieder zu laufen, um den Paß so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Richard war vollkommen übermüdet. Wie betäubt rannte er zusammen mit ihr durch den dichten Wald. Der leichte Regen auf den Blättern übertönte das Geräusch ihrer Schritte.
Vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie den Rand eines langen Grats. Vor ihnen führte der Pfad in Serpentinen hinunter. Sie standen oben im Wald am Rand des Grats wie an der Öffnung einer gewaltigen Felsenhöhle, vor sich eine offene Prärie, über die der Regen hinwegfegte.
Kahlan hielt sich aufrecht, starr. »Ich kenne diese Gegend«, flüsterte sie.
»Und, wo sind wir?«
»Man nennt sie die Wildnis. Wir befinden uns in den Midlands.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ich bin wieder zu Hause.«
Er zog eine Braue hoch. »So wild sieht mir diese Gegend nicht aus.«
»Man hat sie nicht nach dem Land benannt, sondern nach den Leuten, die hier leben.«
Nach dem steilen Abstieg entdeckte Richard eine kleine, geschützte Stelle unter einer Felsplatte. Sie war nicht tief genug, um den Regen völlig abzuhalten, daher schnitt er einige Fichtenäste und lehnte sie an den Felsvorsprung, und baute so einen kleinen, halbwegs trockenen Unterschlupf, in dem sie die Nacht verbringen konnten. Kahlan kroch hinein, Richard folgte und zog die Zweige vor den Eingang. Die beiden ließen sich durchnäßt und erschöpft auf den Boden fallen.
Kahlan zog ihr Gewand aus und schüttelte das Wasser ab. »Ich habe noch nie so lange einen bedeckten Himmel oder so viel Regen gesehen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie die Sonne aussieht. Langsam bin ich es leid.«
»Ich nicht«, sagte er ruhig. Sie runzelte die Stirn, also erklärte er es ihr. »Erinnerst du dich noch an die Schlangenwolke, die mir gefolgt ist, und die Rahl auf mich angesetzt hat?« Sie nickte. »Zedd hat ein magisches Netz ausgeworfen, damit andere Wolken kommen und sie verdecken. Solange es bedeckt ist und wir die Schlangenwolke nicht sehen können, kann Rahl es auch nicht. Der Regen ist mir lieber als Darken Rahl.«
Kahlan dachte darüber nach. »Ich werde mich von jetzt an mehr über die Wolken freuen. Könntest du ihn trotzdem bitten, daß er beim nächsten Mal Wolken nimmt, die nicht so naß sind?« Richard lächelte und nickte. »Möchtest du etwas zu essen?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde. Ich will nur schlafen. Ist es hier sicher?«
»Ja. In der Wildnis nahe der Grenze lebt niemand. Adie meinte, wir seien vor den Monstern geschützt, also dürften uns die Herzhunde auch nicht behelligen.«
Das Geräusch des gleichmäßigen Regens machte ihn noch schläfriger. Bereits jetzt war die Nacht kühl, und sie hüllten sich in ihre Decken. Im schwachen Licht konnte Richard gerade noch Kahlans Gesicht erkennen, die aufrecht an der Felswand lehnte. Für ein Feuer war der Unterschlupf zu klein, außerdem war alles ohnehin zu feucht. Er griff in seine Tasche, tastete nach dem Beutel mit dem Stein der Nacht und überlegte, ob er ihn herausnehmen sollte, damit man besser sehen konnte, entschied sich aber schließlich dagegen.
Kahlan lächelte zu ihm hinüber. »Willkommen in den Midlands. Du hast erreicht, was du versprochen hast. Du hast uns hergebracht. Jetzt beginnt der schwierige Teil. Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
Richards Kopf pochte, er lehnte sich zurück, neben sie. »Wir brauchen jemanden mit Zauberkraft, der uns sagen kann, wo sich das letzte Kästchen befindet. Oder zumindest, wo wir suchen sollen. Wir können nicht einfach blind in der Gegend herumrennen. Wir brauchen jemanden, der uns den richtigen Weg weisen kann. Wer käme deiner Meinung nach in Frage?«
Kahlan warf ihm einen Seitenblick zu. »Hier gibt es weit und breit niemanden, der uns helfen will.«
Sie wollte ihm etwas verschweigen. Er wurde sofort gereizt. »Ich habe nicht gesagt, sie müssen uns helfen wollen, sie müssen es nur können. Bring mich einfach hin, um das übrige kümmere ich mich!« Richard bereute seinen scharfen Ton sofort. Er legte den Kopf an die Felswand und schluckte den Ärger hinunter. »Tut mir leid, Kahlan.« Er drehte den Kopf von ihr fort. »Ich hatte einen harten Tag. Ich mußte nicht nur diesen Mann töten, sondern auch wieder meinen Vater mit dem Schwert durchbohren. Aber das Schlimmste war, ich habe geglaubt, ich hätte meine beste Freundin an die Unterwelt verloren. Ich will nur eins: Rahl aufhalten, damit dieser Alptraum ein Ende hat.«
Er wandte sich zu ihr um, und sie schenkte ihm ihr besonderes, schmallippiges Lächeln. Kahlan sah ihm in fast völliger Dunkelheit ein paar Minuten in die Augen.
»Nicht leicht, Sucher zu sein«, sagte sie sanft.
Er erwiderte ihr Lächeln. »Allerdings«, gab er ihr recht.
»Die Schlammenschen«, sagte sie schließlich. »Möglicherweise können sie uns sagen, wo wir suchen sollen. Aber es gibt keine Garantie dafür, daß sie uns helfen. Die Wildnis ist ein entlegenes Gebiet in den Midlands, und die Schlammenschen sind Fremde nicht gewöhnt. Sie haben seltsame Bräuche. Die Probleme anderer interessieren sie nicht. Sie wollen nur in Ruhe gelassen werden.«
»Im Falle eines Erfolges wird Darken Rahl ihre Wünsche wohl kaum beherzigen«, erinnerte er sie.
Kahlan atmete tief durch. »Sie können gefährlich sein, Richard.«
»Hattest du schon mal mit ihnen zu tun?«
Sie nickte. »Ein paarmal. Sie sprechen nicht unsere Sprache, aber ich ihre.«
»Vertrauen sie dir?«
Kahlan sah fort, als sie die Decke fester um sich raffte. »Ich denke schon.« Sie schaute zu ihm auf. »Auf jeden Fall haben sie Angst vor mir, und das könnte bei ihnen wichtiger sein als Vertrauen.«
Richard mußte sich auf die Lippe beißen, um sie nicht zu fragen, wieso sie Angst vor ihr hatten. »Wie weit ist es?«
»Ich weiß nicht genau, wo in der Wildnis wir uns befinden. Ich habe nicht genug gesehen, um es mit Sicherheit sagen zu können. Ich bin aber sicher, daß sie nicht weiter entfernt sind als eine Woche Richtung Nordosten.«
»Also schön. Morgen früh brechen wir Richtung Nordosten auf.«
»Wenn wir dort sind, mußt du mich vorgehen lassen und auf mich hören, wenn ich etwas sage. Schwert oder kein Schwert, du mußt sie überzeugen, dir zu helfen.« Er nickte. Sie zog ihre Hand unter der Decke hervor und legte sie ihm auf den Arm. »Richard«, flüsterte sie, »danke, weil du wegen mir umgekehrt bist. Du hast wegen mir einen solch hohen Preis zahlen müssen.«
»Was blieb mir anderes übrig? Was hätte ich ohne meine Führerin in den Midlands anfangen sollen?«
Kahlan schmunzelte. »Ich werde versuchen, deinen Erwartungen zu genügen.«
Er drückte ihre Hand, dann legten sie sich beide hin. Der Schlaf übermannte ihn, während er sich noch bei den guten Seelen dafür bedankte, daß sie sie beschützt hatten.