Fackeln in verzierten Goldhalterungen beleuchteten die Wände der Gruft mit ihrem flackernden Schein, der vom polierten rosafarbenen Granit des riesigen Gewölbes zurückgeworfen wurde, und fügten ihren Pechgestank in der abgestandenen, reglosen Luft dem Duft der Rosen hinzu. Weiße Rosen, seit drei Dekaden jeden Morgen neu gebracht, füllten jede der siebenundfünfzig Goldvasen, die unter jeder der siebenundfünfzig Fackeln in die Wand eingelassen waren. Jede Fackel stand für ein Jahr im Leben des Verstorbenen. Der Boden bestand aus weißem Marmor, damit die weißen Blütenblätter keine Blicke auf sich zogen, solange sie noch nicht fortgefegt worden waren. Eine große Dienerschaft sorgte dafür, daß keine Fackel länger als ein paar Augenblicke ausgebrannt blieb, und keine Rosenblätter lange auf dem Boden liegenblieben. Die Dienerschaft kümmerte sich voller Hingabe und Sorge um ihre Pflicht. Ein Versagen in dieser Hinsicht wurde mit sofortiger Enthauptung geahndet. Wachen hielten die Gruft Tag und Nacht im Auge, um sich zu vergewissern, ob die Fackeln brannten, die Blumen frisch waren und kein Rosenblatt zu lange auf dem Boden liegenblieb. Und natürlich, um die Hinrichtungen durchzuführen.
Freie Stellen in der Dienerschaft wurden aus dem umliegenden Land D'Hara rekrutiert. Ein Mitglied in der Grabmannschaft zu sein, war kraft Gesetzes eine Ehre. Die Ehre beinhaltete auch die Zusicherung eines raschen Todes, sollte eine Hinrichtung angeordnet werden. In D'Hara war ein langsamer Tod ebenso gefürchtet wie überall. Neuen Rekruten schnitt man aus Sorge, sie könnten während ihres Aufenthaltes in der Grabstätte schlecht über den toten König sprechen, die Zunge heraus.
Der Meister besuchte die Grabstätte an jenen Abenden, an denen er sich zu Hause im Volkspalast aufhielt. Während dieser Besuche waren weder Bedienstete noch Wachen zugelassen. Die Bediensteten waren am Nachmittag damit beschäftigt gewesen, abgebrannte Fackeln zu ersetzen und jede der Hunderte von Rosen zu überprüfen, indem sie sie sachte schüttelten, um sich so zu vergewissern, daß keines der Blätter lose war, denn jede ausgebrannte Fackel, jedes zu Boden fallende Rosenblatt würde eine Hinrichtung zur Folge haben.
Ein kurzer Pfeiler im Mittelpunkt des gewaltigen Raumes stützte den eigentlichen Sarg, wodurch der Eindruck erweckt wurde, als schwebe er in der Luft. Der mit Gold beschlagene Sarg erglühte im Schein der Fackeln. Eingravierte Symbole bedeckten die Seiten und setzten sich rings um den Raum fort, wo sie unterhalb der Goldvasen und Fackeln in den Granit eingemeißelt waren: Anweisungen eines Vaters an seinen Sohn in einer alten Sprache über das Betreten der Unterwelt und die Rückkehr aus ihr. Anweisungen in einer uralten Sprache, die außer dem Sohn nur eine Handvoll Menschen verstand. Bis auf den Sohn lebte keiner von ihnen in D'Hara. Alle anderen in D'Hara, die sie verstanden hatten, waren längst getötet worden. Der Rest würde eines Tages folgen.
Man hatte die Bediensteten der Gruft und die Wachen fortgeschickt. Der Meister besuchte das Grab seines Vaters. Zwei Männer seiner Leibwache waren bei ihm, jeweils einer auf jeder Seite der massiven, kunstvoll geschnitzten und polierten Tür. Ihre ärmellosen Leder- und Kettenuniformen unterstrichen ihre muskulösen Körper, die Riemen, die sie direkt über ihren Ellenbogen um die Arme trugen, die scharfen Konturen ihrer kräftigen Muskeln, Riemen mit zu tödlichen Spitzen gefeilten, vorstehenden Dornen, die im Nahkampf benutzt wurden, um den Gegner zu zerfetzen.
Darken Rahl strich mit seinen feingliedrigen Fingern über die eingravierten Symbole des Sarkophags seines Vaters. Eine makellos weiße Robe mit einer schmalen, güldenen Stickerei um den Hals und auf der Vorderseite bedeckte seinen schlanken Körper bis drei Zentimeter über dem Boden. Abgesehen von einem Krummdolch in einer goldenen Scheide mit eingeprägten Symbolen — welche die Seelen warnten, den Weg zu räumen –, trug er keinen Schmuck. Der Gürtel, in dem der Dolch steckte, war aus Golddraht geflochten. Das feine, glatte blonde Haar hing ihm fast bis auf die Schultern. Seine Augen waren von einem schmerzhaft schönen Blau. Und die Gesichtszüge brachten diese Augen perfekt zur Geltung.
Viele Frauen waren in sein Bett verschleppt worden. Wegen seines bemerkenswerten Aussehens und seiner Macht waren einige nur allzu willig. Trotz seines Aussehens und wegen seiner Macht fügten sich auch die anderen. Ob sie willig waren oder nicht, kümmerte ihn wenig. Waren sie so unklug, sich beim Anblick seiner Narben angeekelt zu fühlen, dienten sie seinem Vergnügen auf eine Weise, die sie unmöglich hätten vorhersehen können.
Wie auch schon sein Vater vor ihm betrachtete Darken Rahl Frauen nur als Empfänger für den Samen des Mannes, den Boden, in dem er heranwuchs –, Frauen waren jeder weiteren Anerkennung unwürdig. Wie auch schon sein Vater vor ihm wollte Darken Rahl kein Weib. Seine Mutter war nicht mehr gewesen als die erste, in der der wundersame Samen seines Vaters aufgegangen war, dann hatte man sich ihrer entledigt, was nur rechtens war. Ob er Geschwister hatte, wußte er nicht. Es spielte auch keine Rolle. Er war der Erstgeborene, aller Ruhm gebührte ihm. Er war es, der mit der Gabe der Magie geboren worden war, und dem sein Vater das Wissen weitergegeben hatte. Sollte er Halbbrüder oder -schwestern haben, so waren sie lediglich Unkraut, das bei Entdeckung auszurotten war.
Darken Rahl sprach die Worte leise in Gedanken, während er mit den Fingern über die Symbole strich. Obwohl es von äußerster Wichtigkeit war, daß die Anweisungen aufs Genaueste befolgt wurden, hatte er keine Angst, einen Fehler zu begehen. Die Anweisungen waren in seine Erinnerung eingebrannt. Aber er genoß es, den Übergang erneut zu erleben. Jenen Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Er genoß es, in die Unterwelt hinabzusteigen, die Toten zu befehligen. Ungeduldig erwartete er die nächste Reise dorthin.
Widerhallende Schritte kündigten an, daß sich jemand näherte. Darken Rahl war weder besorgt noch interessiert, seine Wachen dagegen schon. Sie zückten ihre Schwerter. Niemand durfte zusammen mit dem Meister in die Gruft. Das heißt, niemand außer Demmin Nass. Als sie ihn erkannten, traten sie zurück und steckten ihre Waffen wieder ein.
Demmin Nass, Darken Rahls rechte Hand, das Licht im Dunkel der Gedanken seines Meisters, war ein Mann von der Größe jener, die er befehligte. Als er, wobei er die Wachen übersah, hineinmarschierte, hob das Licht der Fackeln seine wie gemeißelten Muskeln deutlich hervor. Die Haut auf seiner Brust war glatt wie die der jungen Männer, für die er eine Schwäche hegte. In starkem Gegensatz dazu war sein Gesicht mit Pockennarben durchsetzt. Sein blondes Haar war so kurz gestutzt, daß es wie Stacheln in die Höhe stand. Inmitten seiner rechten Braue begann eine schwarze Strähne, die rechts von der Mitte über seinen Kopf verlief: Daran erkannte man ihn aus der Ferne, ein Umstand, den all jene zu schätzen wußten, die Grund hatten, ihn zu kennen.
Darken Rahl war in das Lesen der Symbole versunken und sah weder auf, als seine Wachen ihre Waffen zückten, noch als sie sie zurücksteckten. Obwohl die Wachen ausgezeichnet waren, so waren sie doch überflüssig, reine Staffage seiner Stellung. Er verfügte über ausreichend Macht, jeder Drohung Nachdruck zu verleihen. Demmin Nass wartete, bis der Meister fertig war. Als Darken Rahl sich schließlich umdrehte, bauschten sich sein blondes Haar und seine vollkommen weiße Robe um seinen Körper auf. Demmin neigte respektvoll den Kopf.
»Lord Rahl.« Seine Stimme klang tief und rauh. Er hielt den Kopf auch weiterhin geneigt.
»Demmin, mein alter Freund, wie gut, dich wieder hier zu sehen.« Rahls Gelassenheit hatte etwas Klares, fast Flüssiges.
Demmin richtete sich auf, und auf seinem Gesicht stand Mißfallen. »Lord Rahl, Königin Milena hat ihre Liste mit Forderungen überbracht.«
Darken Rahl starrte durch den Kommandeur hindurch, als wäre er nicht da, führte seine Zunge langsam an die Spitzen der ersten drei Finger seiner rechten Hand, leckte daran und befeuchtete dann mit ihnen sorgsam Lippe und Brauen.
»Hast du mir einen Jungen mitgebracht?« fragte Rahl hoffnungsvoll.
»Ja, Lord Rahl. Er erwartet Euch im Garten des Lebens.«
»Gut.« Ein dünnes Lächeln huschte über Darken Rahls schönes Gesicht. »Gut. Und er ist nicht zu alt? Er ist immer noch ein Junge?«
»Ja, Lord Rahl. Er ist noch ein Junge.« Demmin wich Rahls blauen Augen aus.
Darken Rahls Lächeln wurde breiter. »Bist du sicher, Demmin? Hast du ihm seine Hosen selber runtergezogen und nachgesehen?«
Demmin verlagerte sein Gewicht. »Ja, Lord Rahl.«
Rahl suchte mit den Augen das Gesicht seines Gegenübers ab. »Du hast ihn doch nicht angefaßt, oder?« Sein Lächeln verschwand. »Er muß unverdorben sein.«
»Nein, Lord Rahl!« beharrte Demmin, und sah den Meister aus aufgerissenen Augen an. »Euren geistigen Führer würde ich nie anfassen! Ihr habt es verboten!«
Darken Rahl befeuchtete seine Finger, glättete erneut seine Augenbrauen und trat einen Schritt näher. »Ich weiß, daß du es wolltest, Demmin. Ist es dir schwergefallen? Hinzusehen, ohne anzufassen?« Er lächelte milder, stichelte, wurde wieder ernst. »Deine Schwäche hat mir schon früher Ärger bereitet.«
»Darum habe ich mich gekümmert!« protestierte Demmin mit seiner tiefen Stimme, jedoch nicht zu vehement. »Ich habe diesen Händler, Brophy, für den Mord an diesem Jungen verhaften lassen.«
»Ja«, fuhr Darken Rahl ihn an, »und dann hat er sich einem Konfessor anvertraut, um seine Unschuld zu beweisen.«
Demmins Gesicht zerknitterte vor Enttäuschung. »Woher sollte ich wissen, was er tun würde? Wer konnte erwarten, daß jemand freiwillig so etwas tut?«
Rahl hob seine Hand. Demmin verstummte.
»Du hättest vorsichtiger sein und mit den Konfessoren rechnen müssen. Ist die Geschichte mittlerweile erledigt?«
»Bis auf einen«, räumte Demmin ein. »Das Quadron, das hinter Kahlan, der Mutter Konfessor, her war, hat versagt. Ich mußte ein zweites losschicken.«
Darken Rahl runzelte die Stirn. »Konfessor Kahlan war es, die diesem Händler Brophy die Beichte abgenommen und ihn für unschuldig erklärt hat, oder?«
Demmin nickte langsam mit wutverzerrtem Gesicht. »Sie muß Hilfe gefunden haben, sonst hätte das Quadron nicht versagt.«
Rahl schwieg und betrachtete sein Gegenüber. Schließlich brach Demmin das Schweigen.
»Es handelt sich nur um eine unwesentliche Angelegenheit, Lord Rahl. Nichts, auf das Ihr Zeit oder Gedanken verschwenden müßtet.«
Darken Rahl hob eine Braue. »Worauf ich meine Gedanken verschwende, entscheide ich.« Seine Stimme klang sanft, fast freundlich.
»Natürlich, Lord Rahl. Bitte vergebt mir.« Auch ohne den drohenden Unterton wußte Demmin sofort, daß er sich auf gefährliches Gebiet gewagt hatte.
Rahl befeuchtete erneut seine Finger und rieb sich über die Lippen. Dann sah er seinem Gegenüber scharf in die Augen. »Demmin«, flüsterte er. Seine blauen Augen wurden stechend.
»Ich weiß.« Demmin ballte die Fäuste. »Giller. Ihr braucht es nur zu sagen, Lord Rahl, und ich bringe Euch seinen Kopf.«
»Demmin, was meinst du, warum nimmt Königin Milena einen Zauberer in ihre Dienste auf?« Demmin zuckte bloß mit den Achseln, also beantwortete Rahl die Frage selbst. »Um das Kästchen zu schützen, deswegen. Sie glaubt, auch sie sei damit geschützt. Wenn wir sie oder den Zauberer umbringen, stellen wir vielleicht fest, daß er das Kästchen mit Zauberkraft versteckt hat, dann müßten wir Zeit darauf verschwenden, es zu finden. Warum also voreilig handeln? Im Augenblick ist es das einfachste, ihr beizupflichten. Wenn sie Arger macht, werde ich mich um sie kümmern. Und um den Zauberer auch.« Er schritt langsam um den Sarg seines Vaters herum, strich mit den Fingern über die eingravierten Symbole und hielt seine blauen Augen auf Demmin gerichtet. »Außerdem werden ihre Forderungen bedeutungslos, sobald ich das letzte Kästchen habe.« Er ging zu dem großen Mann zurück und blieb vor ihm stehen. »Aber es gibt noch einen anderen Grund, mein Freund.«
Demmin legte den Kopf auf die Seite. »Einen anderen Grund?«
Darken Rahl nickte, beugte sich vor und senkte die Stimme. »Demmin, tötest du deinen kleinen Freund, bevor du … oder danach?«
Demmin wich ein kleines Stück zurück und hakte einen Daumen in seinen Gürtel. Er räusperte sich. »Danach.«
»Und wieso danach? Warum nicht vorher?« fragte Rahl mit geheucheltem Interesse.
Demmin wich dem Blick des Meisters aus, sah auf den Boden und verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Darken Rahl blieb dran, beobachtete ihn, wartete. Demmin sprach so leise, daß ihn die Wächter nicht hören konnten.
»Ich mag es, wenn sie sich winden.«
Ein Lächeln zog auf Rahls Gesicht. »Das ist der andere Grund, mein Freund. Auch ich mag es sozusagen, wenn sie sich winden. Ich möchte mit Genuß verfolgen, wie sie sich windet, bevor ich sie töte.« Wieder befeuchtete er seine Fingerspitzen und strich sich damit über die Lippen.
Ein wissendes Grinsen huschte über das pockennarbige Gesicht. »Ich werde Königin Milena ausrichten, Vater Rahl habe ihren Bedingungen wohlwollend zugestimmt.«
Darken Rahl legte seine Hand auf Demmins muskulöse Schulter. »Sehr gut, mein Freund. Und jetzt zeig mir, was du mir für einen Jungen mitgebracht hast.«
Die beiden schritten, ein Lächeln auf dem Gesicht, zur Tür. Bevor sie sie erreicht hatten, blieb Darken Rahl plötzlich stehen. Er wirbelte auf dem Absatz herum, und seine Robe wehte um ihn herum.
»Was war das für ein Geräusch?« verlangte er zu wissen.
Bis auf das Zischen der Fackeln war die Gruft so still wie der tote König. Demmin und die Wächter sahen sich langsam in der Grabkammer um.
»Da!« Rahl stieß seinen Arm vor.
Die drei anderen blickten in die angezeigte Richtung. Ein einzelnes Blütenblatt lag auf dem Boden. Darken Rahls Gesicht wurde rot, seine Augen wild. Zitternd ballte er seine Hände zu Fäusten, die Knöchel wurden weiß, seine Augen füllten sich mit Tränen der Wut. Er war zu sehr außer sich, um zu sprechen. Er gewann seine Fassung zurück und zeigte mit der Hand auf die Stelle, wo das weiße Blütenblatt auf dem kalten Marmorboden lag. Als hätte eine Brise es erfaßt, stieg es in die Luft, schwebte durch den Raum und ließ sich auf Rahls ausgestreckter Hand nieder. Er leckte das Blütenblatt an, drehte sich zu einem der Wächter um und klebte es dem Mann auf die Stirn.
Der muskelbepackte Wächter blickte ihn teilnahmslos an. Er wußte, was der Meister wollte, und nickte einmal kurz und grimmig, bevor er in einer einzigen, fließenden Bewegung durch die Tür schritt und dabei sein Schwert zog.
Darken Rahl richtete sich auf, und strich sich mit der Hand über Haare und Kleidung. Er atmete tief durch und ließ dabei seinen Arger ab. Stirnrunzelnd sah er mit seinen blauen Augen an Demmin hoch, der ruhig neben ihm stand.
»Mehr verlange ich von ihnen nicht. Sie müssen sich nur um das Grab meines Vaters kümmern. Sie bekommen, was sie brauchen, zu essen, Kleidung, man kümmert sich um sie. Es ist ein einfacher Wunsch.« Er machte ein gekränktes Gesicht. »Warum verhöhnen sie mich mit ihrer Achtlosigkeit?« Er sah zum Sarg seines Vaters hinüber, dann wieder in das Gesicht seines Gegenübers. »Glaubst du, ich bin zu streng mit ihnen, Demmin?«
Der Kommandant erwiderte den finsteren Blick mit seinen harten Augen. »Nicht streng genug. Wärt Ihr nicht so einfühlsam, und würdet Ihr ihnen nicht eine rasche Bestrafung gewähren, vielleicht würden die anderen dann Euren Herzenswünschen mit mehr Eifer nachkommen. Ich wäre nicht so nachsichtig.«
Darken Rahl richtete seinen Blick in die Ferne, auf nichts Bestimmtes, und nickte geistesabwesend. Nach einer Weile atmete er tief durch und schritt mit Demmin an seiner Seite durch die Tür. Der verbliebene Wächter folgte in gebührendem Abstand. Sie gingen durch lange von Fackeln erleuchtete Korridore aus poliertem Granit, stiegen eine Wendeltreppe aus weißem Stein empor, durch weitere Korridore voller Fenster, die das Licht hinaus in die Dunkelheit warfen. Das Gestein roch feucht, muffig. Mehrere Stockwerke weiter oben wurde die Luft wieder frisch. Auf kleinen Tischen aus glänzendem Holz, in Abständen entlang der Flure postiert, standen Vasen mit frischen Blumensträußen, die die Räume mit zartem Duft erfüllten.
Als sie zu einer Doppeltür mit dem geschnitzten Relief einer waldigen Hügellandschaft kamen, stieß der zweite Wächter wieder zu ihnen. Sein Auftrag war erledigt. Demmin riß an den eisernen Ringen, und die schweren Türen öffneten sich leise und leicht. Dahinter befand sich ein in dunkler Eiche getäfelter Raum. Er erstrahlte im Licht der Kerzen und Lampen, die man auf den schweren Tischen verteilt hatte. Zwei Wände waren mit Büchern gesäumt, ein gewaltiger Kamin wärmte den zweistöckigen Raum. Rahl blieb einen kurzen Augenblick stehen, um ein altes, in Leder gebundenes Buch auf einem Pult zu Rate zu ziehen, dann gingen er und der Kommandant durch ein Labyrinth von Zimmern, von denen die meisten mit der gleichen warmen Holzvertäfelung ausgestattet waren. Einige Wände waren verputzt und mit Szenen aus den Landschaften, Wäldern und Feldern D'Haras bemalt, mit Tieren und Kindern. Die Wachen folgten mit Abstand und hatten ihre Augen überall. Wachsam, aber schweigend. Die Schatten des Meisters.
Scheite knisterten und knackten, und die Flammen loderten in einem Kamin aus Ziegelsteinen, der die einzige Lichtquelle in einem der kleineren Zimmer bildete, das sie jetzt betraten. An den Wänden hingen Jagdtrophäen, die Köpfe aller möglichen Wildtiere. Geweihe, vom Licht der Flammen beleuchtet, schienen sich in den Raum hineinzurecken. Darken Rahl blieb plötzlich mitten in der Bewegung stehen. Sein Gewand wirkte im Widerschein der Flammen rosa.
»Schon wieder«, flüsterte er.
Demmin war zusammen mit Rahl stehengeblieben und sah ihn jetzt mit fragenden Augen an.
»Sie kommt schon wieder in die Grenze. In die Unterwelt.« Er befeuchtete sich die Fingerspitzen, und fuhr sich bedachtsam über Lippen und Brauen, während sein Blick erstarrte.
»Wer?« fragte Demmin.
»Mutter Konfessor. Kahlan. Sie hat Hilfe von einem Zauberer bekommen, verstehst du?«
»Giller ist bei der Königin«, beharrte Demmin, »nicht bei der Mutter Konfessor.«
Auf Darken Rahls Lippen breitete sich ein dünnes Lächeln aus. »Nicht Giller«, flüsterte er, »der Alte. Der, den ich suche. Der meinen Vater umgebracht hat. Sie hat ihn gefunden.«
Demmin richtete sich überrascht auf. Rahl drehte sich um und ging zum Fenster am Ende des Raumes. Es war aus kleinen Scheiben zusammengesetzt, hatte oben einen Rundbogen und war doppelt so hoch wie er. Der Widerschein der Flammen funkelte am Griff des geschwungenen Messers an seinem Gürtel. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und starrte auf die dunkle Landschaft hinaus, in die Nacht, auf Dinge, die andere nicht sahen. Er drehte sich wieder zu Demmin um. Seine blonde Mähne wehte ihm über die Schultern.
»Deshalb ist sie nach Westland gegangen, mußt du wissen. Nicht, weil sie vor dem Quadron fliehen wollte, wie du dachtest, sondern um den großen Zauberer zu finden.« Seine blauen Augen funkelten. »Sie hat mir einen großen Gefallen getan, mein Freund. Sie hat den Zauberer aufgetrieben. Es ist ein Glück, daß sie den Wesen der Unterwelt entgangen ist. Das Schicksal ist wahrlich auf unserer Seite. Begreifst du jetzt, Demmin, warum ich dir sage, du sollst dir nicht so viele Sorgen machen? Der Erfolg ist meine Bestimmung. Alles arbeitet mir in die Hand.«
Demmin runzelte nachdenklich die Stirn. »Nur weil ein Quadron versagt hat, heißt das noch lange nicht, daß sie den Zauberer gefunden hat. Quadrone haben auch schon früher versagt.«
Rahl befeuchtete sich bedächtig die Fingerspitzen. Er trat näher an den großen Mann heran. »Der Alte hat einen Sucher ernannt«, flüsterte er.
Demmin löste überrascht seine verschränkten Hände. »Bist du sicher?«
Rahl nickte. »Der alte Zauberer hat geschworen, ihnen nie wieder zu helfen. Seit vielen Jahren hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. Niemand hat seinen Namen verraten können, nicht einmal um den Preis des eigenen Lebens. Und nun geht ein Konfessor hinüber nach Westland, das Quadron verschwindet, und ein Sucher wird ernannt.« Er lächelte vor sich hin. »Sie muß ihn berührt haben, damit er ihr hilft. Stell dir seine Überraschung vor, als er sie gesehen hat.« Rahls Lächeln verblaßte, er ballte die Fäuste. »Fast hätte ich sie gehabt. Alle drei. Aber andere Dinge haben mich abgelenkt, und sie sind mir entwischt. Fürs erste.« Er dachte schweigend einen Augenblick darüber nach und verkündete dann: »Auch das zweite Quadron wird versagen. Auf die Begegnung mit einem Zauberer sind sie nicht vorbereitet.«
»Ich werde ein drittes Quadron losschicken und ihnen von dem Zauberer erzählen«, versprach Demmin.
»Nein.« Rahl leckte sich die Fingerspitzen und dachte nach. »Noch nicht. Im Augenblick wollen wir abwarten und sehen, was passiert. Vielleicht ist sie dazu bestimmt, mir noch einmal zu helfen.« Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Ist sie attraktiv? Diese Mutter Konfessor?«
Demmins Gesicht verfinsterte sich. »Ich selbst habe sie nie gesehen, aber einige meiner Männer. Sie haben darum gekämpft, wer für die Quadrone nominiert werden würde, wer sie bekommen sollte.«
»Schick ihr im Augenblick kein Quadron hinterher.« Darken Rahl lächelte. »Es wird Zeit, daß ich einen Erben bekomme.« Er nickte gedankenverloren. »Ich will sie für mich«, verkündete er.
»Sie ist verloren, wenn sie versucht, durch die Grenze zu gelangen«, gab Demmin zu bedenken.
Rahl zuckte mit den Achseln. »So dumm ist sie vielleicht nicht. Sie hat schon einmal bewiesen, wie gerissen sie ist. Wie auch immer, ich will sie haben.« Er sah zu Demmin hinüber. »Wie auch immer, sie wird sich vor mir winden.«
»Beide zusammen, die Mutter Konfessor und der Zauberer, sind gefährlich. Sie könnten uns Schwierigkeiten machen. Konfessoren können das Wort Rahls außer Kraft setzen, sie sind eine Plage. Ich glaube, wir sollten Euren ersten Plan durchführen und sie töten.«
Rahl winkte ab. »Du sorgst dich zu sehr, Demmin. Wie du gesagt hast, Konfessoren sind eine Plage, sonst nichts. Ich werde sie selber töten, sollte sie mir Ärger machen. Aber zuvor trägt sie meinen Sohn aus. Den Sohn einer Konfessorin. Der Zauberer kann mir nichts anhaben, im Gegensatz zu meinem Vater. Ich werde sehen, wie er vor mir im Dreck kriecht, und ihn dann töten. Langsam.«
»Und den Sucher?« Demmins Gesicht war vor gespannter Erwartung erstarrt.
Rahl zuckte mit den Achseln. »Er ist nicht mal eine Plage.«
»Lord Rahl, der Winter naht; daran muß ich Euch nicht erst erinnern.«
Der Meister zog eine Braue hoch. Das Licht der Flammen flackerte in seinen Augen. »Die Königin ist im Besitz des letzten Kästchens. Ich werde es schon bald haben. Es besteht kein Grund zur Sorge.«
Demmin schob sein hartes Gesicht näher. »Und das Buch?«
Rahl holte tief Luft. »Nach meiner Reise in die Unterwelt werde ich mich noch einmal auf die Suche nach diesem Jungen, diesem Cypher, begeben. Deswegen brauchst du nicht beunruhigt zu sein, mein Freund. Das Schicksal ist auf unserer Seite.«
Er wandte sich um und ging. Demmin folgte. Die Wachen huschten durch die Schatten hinter ihnen.
Der Garten des Lebens war ein höhlenartiger Raum in der Mitte des Palastes des Volkes. Bleiverglaste Fenster hoch oben ließen das Licht für den üppigen Pflanzenwuchs hinein. In dieser Nacht fiel das Mondlicht durch sie hinein. Außen, rings um den Raum, hatte man Blumen in Beeten angepflanzt, durch die sich kleine Wege wanden. Kieme Bäume hinter den Blumen, kurze Steinmauern, an denen sich Kletterpflanzen emporrankten, sowie sorgsam gepflegte Gewächse vervollständigten die Landschaftsgestaltung. Bis auf die Fenster oben glich er einem Freiluftgarten. Ein Ort voller Schönheit. Und des Friedens.
In der Mitte des weitläufigen Raumes gab es eine Rasenfläche, die sich fast zu einem vollen Kreis ausdehnte. Der Grasring wurde unterbrochen von einem Keil aus weißen Steinen, auf denen eine Granitplatte stand, die bis auf die Rillen dicht unterhalb des obersten Randes glatt war. Die Rillen führten zu einem kleinen Brunnen in der Ecke, der von zwei ausgekehlten Säulen getragen wurde. Hinter der Platte stand neben einer Feuerstelle ein polierter Steinklotz. Der Klotz trug eine uralte Eisenschüssel, die mit wilden Tieren verziert war, deren Beine die Stütze für den runden unteren Teil bildeten.
Der Eisendeckel in der gleichen Halbkugelform trug nur ein einziges Tier — einen Shinga, ein Geschöpf der Unterwelt –, das, auf seinen zwei Hinterbeinen stehend, als Griff diente. Im Mittelpunkt der Rasenfläche gab es eine weiße, runde Fläche, Zauberersand, umringt von Fackeln, in denen flüssiges Feuer brannte. Den Sand durchzogen geometrische Symbole.
Mitten im Sand steckte der Junge. Man hatte ihn aufrecht stehend bis zum Hals eingegraben.
Darken Rahl hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und trat langsam näher. Demmin wartete hinten bei den Bäumen, entfernt von der Rasenfläche. Der Meister blieb an der Grenze von Rasen und weißem Sand stehen und blickte auf den Jungen hinunter. Er lächelte.
»Wie heißt du, mein Sohn?«
Der Junge blickte mit bebender Unterlippe zu Rahl auf. Sein Blick schweifte zu dem großen Mann hinten bei den Bäumen. Es war ein Blick voller Angst. Rahl drehte sich um und sah zum Kommandanten hinüber.
»Laß uns allein. Und bitte nimm die Wachen mit. Ich möchte nicht gestört werden.«
Demmin verbeugte sich und ging. Die Wachen folgten. Darken Rahl drehte sich wieder um, betrachtete den Jungen und ließ sich dann auf den Rasen nieder. Er zog seine Kleider am Boden zurecht und lächelte den Jungen an.
»Besser?«
Der Junge nickte. Seine Lippe bebte noch immer.
»Fürchtest du dich vor dem großen Mann?« Der Junge nickte. »Hat er dir weh getan? Hat er dich berührt, wo er es nicht hätte tun sollen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. Die Augen blieben in einer Mischung aus Angst und Wut auf Rahl geheftet. Eine Ameise krabbelte vom weißen Sand auf seinen Hals.
»Wie heißt du?« fragte Rahl noch einmal. Der Junge antwortete nicht. Der Meister sah ihm fest in die braunen Augen. »Weißt du, wer ich bin?«
»Darken Rahl«, antwortete der Junge mit schwacher Stimme.
Rahl grinste genüßlich. »Vater Rahl«, verbesserte er.
Der Junge starrte ihn an. »Ich will nach Hause.« Die Ameise erforschte sein Kinn.
»Natürlich, das möchtest du«, sagte Rahl, im Ton voller Mitgefühl und Sorge. »Bitte glaube mir, ich werde dir nicht weh tun. Du bist lediglich hier, weil du mir bei einer wichtigen Zeremonie helfen sollst. Du bist ein Ehrengast, der die Unschuld und Kraft der Jugend repräsentieren soll. Man hat dich ausgewählt, weil Leute erzählt haben, was für ein feiner Junge du bist, was für ein sehr, sehr guter Junge. Alle hatten eine hohe Meinung von dir. Sie haben mir erzählt, wie klug und stark du bist. Haben sie die Wahrheit gesagt?«
Der Junge zögerte, seine schüchternen Augen sahen fort. »Ja, ich glaube schon.« Er sah Rahl wieder an. »Aber ich vermisse meine Mutter, und ich will nach Hause.« Die Ameise zog ihre Kreise auf seiner Wange.
Darken Rahl blickte sehnsüchtig in die Ferne und nickte. »Ich verstehe. Ich vermisse meine Mutter auch. Sie war eine so wunderbare Frau, und ich habe sie sehr geliebt. Sie hat gut für mich gesorgt. Wenn ich eine Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, hat sie mir oft etwas besonders Leckeres zu essen gekocht, was immer ich wollte.«
Die Augen des Jungen wurden größer: »Das tut meine Mutter auch.«
»Mein Vater, meine Mutter und ich, wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen. Wir alle haben uns geliebt, und wir hatten sehr viel Spaß zusammen. Meine Mutter hat immer so fröhlich gelacht. Sobald mein Vater anfing zu prahlen, machte sie sich über ihn lustig, und dann lachten wir alle drei. Manchmal bis uns die Tränen in die Augen traten.«
Die Augen des Jungen leuchteten auf, er lächelte ein wenig. »Warum vermißt du sie? Ist sie fortgegangen?«
»Nein«, Rahl seufzte. »Sie und mein Vater sind vor ein paar Jahren gestorben. Sie waren beide alt. Die beiden hatten ein gutes Leben zusammen. Trotzdem, ich vermisse sie. Ich verstehe also, wie du deine Eltern vermißt.«
Der Junge nickte vorsichtig. Seine Lippe hatte aufgehört zu beben. Die Ameise krabbelte ihm auf die Nase. Er verzog sein Gesicht, und versuchte, sie abzuschütteln.
»Wir wollen jetzt so viel Spaß haben wie möglich, dann bist du wieder bei ihnen, ehe du dich's versiehst.«
Der Junge nickte erneut. »Ich heiße Carl.«
Rahl lächelte. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Carl.« Er streckte die Hand aus und wischte die Ameise vom Gesicht des Jungen.
»Danke«, sagte Carl erleichtert.
»Deswegen bin ich hier, Carl. Ich will dein Freund sein und dir helfen, so gut ich kann.«
»Wenn du mein Freund bist, gräbst du mich dann aus und läßt mich nach Hause gehen?« Seine Augen glitzerten feucht.
»Schon bald, mein Sohn, schon bald. Ich wünschte, ich könnte es gleich jetzt tun, aber die Menschen erwarten, daß ich sie vor den bösen Menschen beschütze, die sie töten wollen. Also muß ich tun, was ich kann, um zu helfen. Du mußt mir dabei helfen. Du wirst ein wichtiger Bestandteil der Zeremonie sein, die deine Mutter und deinen Vater vor den bösen Menschen schützen werden, die sie töten wollen. Du möchtest doch verhindern, daß deiner Mutter oder deinem Vater etwas Schlimmes zustößt, oder?«
Die Fackeln flackerten und zischten. Carl dachte nach.
»Doch, schon. Aber ich will nach Hause.« Seine Lippe begann wieder zu beben.
Darken Rahl streckte die Hand aus und strich dem Jungen beruhigend übers Haar, kämmte es mit den Fingern, strich es wieder glatt. »Ich weiß, aber versuche, tapfer zu sein. Ich werde nicht zulassen, daß dir jemand etwas tut, das verspreche ich. Ich werde dich bewachen und beschützen.« Er lächelte Carl voller Wärme an. »Hast du Hunger? Möchtest du etwas essen?«
Carl schüttelte den Kopf.
»Also gut. Es ist spät. Ich werde dich jetzt ruhen lassen.« Er erhob sich, strich seine Kleider glatt, wischte das Gras ab.
»Vater Rahl?«
Rahl hielt inne und sah noch einmal nach unten. »Ja, Carl?«
Eine Träne rollte Carl über die Wange. »Ich habe Angst hier alleine. Kannst du nicht bei mir bleiben?«
Der Meister betrachtete den Jungen mit einem tröstlichen Blick. »Aber natürlich, mein Sohn.« Darken Rahl ließ sich wieder auf dem Rasen nieder. »Solange du willst. Die ganze Nacht, wenn du möchtest.«