23

Hühner flatterten ihnen um die Beine, als die Jagdgesellschaft mit Richard und Kahlan in der Mitte die beiden in das Dorf der Schlammenschen geleitete. Das Dorf lag auf einer leichten Erhebung, die in der Steppenlandschaft der Wildnis als Hügel durchgehen konnte, und bestand aus einer Ansammlung von Gebäuden aus einer Art Lehmziegel mit hellbraunem Tonputz und Dächern aus Gras, die Löcher bekamen, sobald sie trocken wurden und ständig erneuert werden mußten, damit sie den Regen abhielten. Die Türen waren aus Holz, doch in den Fenstern der dicken Wände gab es kein Glas, und nur gelegentlich ein Tuch als Wetterschutz. Die Gebäude standen kreisähnlich um einen freien Platz. Meist waren es Häuser für Familien, die jedoch nur einen Raum hatten. Besonders im Süden drängten sie sich, und oft hatten sie mindestens eine Wand gemeinsam mit einem anderen Haus. Schmale Wege verliefen hier und dort zwischen den Häusern und den Gemeinschaftsgebäuden, die sich an der Nordseite gruppierten. Getrennt wurden sie von einer Anzahl unterschiedlicher, verstreuter Gebäude im Osten und Westen. Einige davon waren nicht viel mehr als Pfahlbauten mit Grasdächern, die als Eßplätze benutzt wurden, als Schutz vor Regen und Sonne oder wo Waffen und Tongerät hergestellt wurden und Essen zubereitet und gekocht wurde. In trockenen Zeiten war das ganze Dorf in einen Staubdunst gehüllt, der sich in die Augen und Nase setzte und die Zunge verklebte, jetzt jedoch waren die Gebäude reingewaschen vom Regen, und auf dem Boden hatten sich unzählige Fußstapfen in kleine Pfützen verwandelt, in denen sich die trostlosen Gebäude spiegelten.

Frauen in einfachen Kleidern aus leuchtend buntem Stoff hockten in den Arbeitsbereichen und mahlten Tavawurzeln, aus denen sie ein Fladenbrot buken, das bei den Schlammenschen als Grundnahrungsmittel diente. Süß duftender Rauch stieg über den Feuerstellen auf. Junge Mädchen mit kurzgeschorenem und mit klebrigem Schlamm geglättetem Haar saßen bei den Frauen und halfen ihnen. Kahlan spürte ihre scheuen Blicke. Von ihren vorherigen Besuchen wußte sie, wie neugierig die jungen Mädchen auf sie waren. Als Reisende war sie an vielen fremden Orten gewesen und hatte alles mögliche gesehen. Sie war eine Frau, die von Männern geachtet und gefürchtet wurde. Die älteren Frauen duldeten die Ablenkung mit verständnisvoller Nachsicht.

Kinder eilten aus allen Ecken des Dorfes heran, um zu sehen, was für seltsame Fremde Savidlins Jagdgesellschaft angeschleppt hatte. Sie scharten sich aufgeregt kreischend um die Jäger, stampften mit ihren nackten Füßen im Matsch und bespritzten die Männer. Normalerweise hätten sie sich für die Rehe oder das Wildschwein interessiert, jetzt jedoch ließen sie das Wild zugunsten der Fremden links liegen. Die Männer lächelten gutgelaunt und duldeten sie. Kleine Kinder schalt man nicht. Sobald sie älter wurden, erhielten sie sehr strengen Unterricht, in dem man ihnen die Arbeiten der Schlammenschen beibrachte: die Jagd, das Holzsammeln und die Wege des Geistes. Im Augenblick jedoch durften sie einfach Kinder sein, denen man beim Spielen fast völlig freie Zügel ließ.

Aus dem Knäuel der Kinder wurden Essensbrocken gereicht, als Bestechung für eine Geschichte, wer denn diese Fremden seien. Die Männer lehnten die Angebote lachend ab, sie wollten sich die Erzählungen für die Dorfältesten aufheben. Die Kinder waren nur wenig enttäuscht und tanzten weiter umher, schließlich war dies das Aufregendste, was in ihrem jungen Leben geschehen war. Etwas vollkommen Außergewöhnliches mit einem Hauch von Gefahr.

Sechs Älteste standen unter dem lecken Schutzdach einer der luftigen Pfahlkonstruktionen und warteten darauf, daß Savidlin die Fremden zu ihnen brachte. Jeder trug eine Hose aus Rehleder, zeigte die nackte Brust und hatte ein Kojotenfell um die Schultern gelegt. Trotz der grimmigen Blicke waren sie freundlicher, als sie aussahen, wie Kahlan wußte. Kein Schlammensch lächelte einen Fremden an, bevor nicht eine Begrüßung stattgefunden hatte, da ansonsten seine Seele gestohlen wurde. Die Kinder blieben der Pfahlkonstruktion fern. Sie saßen im Matsch und verfolgten, wie die Jagdgesellschaft die Fremden zu den Ältesten hinaufführte. Die Frauen hatten ihre Arbeit an den Küchenfeuern unterbrochen, die Männer bei der Waffenherstellung ebenfalls, und alles wurde still, sogar die im Matsch hockenden Kinder. Die Geschäfte der Schlammenschen fanden im Freien statt, und jeder hatte daran teil.

Kahlan trat auf die sechs Ältesten zu, Richard zu ihrer Rechten, doch einen Schritt zurück, Savidlin rechts neben ihm. Die sechs beäugten die beiden Fremden.

»Kraft dem Konfessor Kahlan«, sagte der Älteste.

»Kraft dem Toffalar«, antwortete sie.

Er gab ihr einen leichten Klaps ins Gesicht, kaum mehr als ein Tätscheln. Es war ihr Brauch, im Dorf selbst nur vorsichtige Schläge auszutauschen. Solche, wie Savidlin sie ausgeteilt hatte, waren zufälligen Begegnungen draußen in der Steppe vorbehalten, fern vom Dorf. Was sowohl der öffentlichen Ordnung als auch den Gebissen zugute kam. Surin, Caldus, Arbrin, Breginderin und Hajanlet begrüßten sie reihum und gaben ihr einen leichten Klaps. Kahlan erwiderte die Begrüßung und die Schläge. Sie wandten sich Richard zu. Savidlin trat vor und zog seinen neuen Freund hinter sich her. Stolz präsentierte er den Ältesten seine geschwollene Lippe.

Kahlan rief leise Richards Namen und hob gegen Ende warnend die Stimme. »Das sind wichtige Leute. Bitte schlag ihnen nicht die Zähne aus.«

Er warf ihr kurz einen Blick aus den Augenwinkeln zu und schnitt ein schelmisches Gesicht.

»Das ist der Sucher, Richard mit dem Zorn«, sagte Savidlin voller Stolz über seine Aufgabe. Er beugte sich zu den Ältesten vor und meinte mit bedeutungsschwerer Stimme: »Konfessor Kahlan hat ihn zu uns geführt. Ihr habt von ihm gesprochen. Es ist der, der den Regen gebracht hat. Sie hat es mir bestätigt

Kahlan begann sich Sorgen zu machen, sie wußte nicht, was Savidlin meinte. Die Ältesten behielten ihre versteinerten Mienen bei. Nur Toffalar zog eine Braue hoch.

»Kraft dir, Richard mit dem Zorn«, sagte Toffalar. Er gab Richard einen leichten Klaps.

»Kraft dir, Toffalar«, antwortete er, da er seinen Namen rausgehört hatte, und erwiderte sofort den Klaps.

Kahlan atmete erleichtert auf, er war sacht. Savidlin strahlte und zeigte noch einmal auf seine dicke Lippe. Endlich lächelte auch Toffalar. Nachdem die anderen ebenfalls ihre Begrüßung ausgesprochen und empfangen hatten, lächelten auch sie.

Die sechs Ältesten und Savidlin sanken auf ein Knie und verneigten vor Richard den Kopf. Kahlan wurde sofort nervös.

»Was geht hier vor?« fragte Richard leise. Ihre Unruhe hatte ihn sofort alarmiert.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Vielleicht begrüßen sie so den Sucher. Ich habe sie das nie zuvor tun sehen.«

Die Männer erhoben sich und strahlten übers ganze Gesicht. Toffalar reckte die Hand in die Höhe und zeigte über ihre Köpfe hinweg auf die Frauen.

»Bitte«, sagte Toffalar zu den beiden, »setzt euch zu uns. Es ist uns eine Ehre, euch bei uns zu haben

Kahlan setzte sich im Schneidersitz auf den feuchten Holzboden und zog Richard mit sich hinunter. Die Ältesten warteten, bis sie Platz genommen hatten, bevor sie sich selbst setzten. Sie schenkten dem Umstand, daß Richard immer eine Hand am Schwert hatte, keinerlei Beachtung. Frauen kamen mit geflochtenen Tabletts, schwer beladen mit rundem Tavafladenbrot, von dem sie das erste Toffalar und den anderen Ältesten anboten, während sie ihre Augen lächelnd auf Richard geheftet hielten. Leise schwatzend unterhielten sie sich über Richards Größe, und welch seltsame Kleidung er trug. Kahlan ignorierten sie fast völlig. Frauen in den Midlands mochten Konfessoren nicht besonders. Sie sahen in ihnen eine Bedrohung für ihre Männer und ihre Art zu leben. Unabhängige Frauen waren verpönt. Kahlan achtete nicht auf ihre kühlen Blicke, sie war längst daran gewöhnt.

Toffalar nahm ein Brot und brach es in drei Stücke, von denen er erst Richard und dann Kahlan eines anbot. Lächelnd bot eine andere Frau eine Schale mit gerösteten Pfefferschoten an. Kahlan und Richard nahmen je eine und folgten dem Beispiel des Ältesten, indem sie sie in das Brot rollten. Gerade noch rechtzeitig bemerkte Kahlan, daß Richard seine Rechte immer noch am Schwert hatte und beabsichtigte, mit der Linken zu essen.

»Richard!« zischte sie ihn warnend an. »Nicht mit der linken Hand essen.«

Er erstarrte. »Wieso nicht?«

»Weil sie glauben, daß nur böse Geister mit links essen.«

»Das ist doch Unsinn«, erwiderte er in leicht gereiztem Tonfall.

»Richard, bitte. Sie sind uns zahlenmäßig überlegen. Alle ihre Waffen sind vergiftet. Für theologische Streitereien ist dies der falsche Augenblick.«

Sie spürte seinen Blick, während sie die Ältesten anlächelte. Aus dem Augenwinkel sah sie erleichtert, wie er das Essen in die Rechte nahm.

»Bitte vergebt uns, daß wir euch nur magere Kost anbieten können«, sagte Toffalar. »Für heute abend werden wir ein Bankett ansetzen

»Nein!« platzte Kahlan heraus. »Ich meine, wir wollen deinem Volk nicht zur Last fallen

»Wie du willst«, meinte Toffalar achselzuckend und ein wenig enttäuscht.

»Wir sind hier, weil unter anderem auch das Volk der Schlammenschen in großer Gefahr ist

Die Ältesten nickten alle und lächelten. »Stimmt«, meldete sich Surin zu Wort, »aber jetzt, wo du Richard mit dem Zorn zu uns gebracht hast, ist alles gut. Wir danken dir, Konfessor Kahlan. Wir werden nicht vergessen, was du getan hast

Kahlan sah sich um und blickte in glückliche, lachende Gesichter. Sie wußte nicht, was sie von dieser Entwicklung halten sollte, also biß sie ein Stück von dem fade schmeckenden Tava mit Pfefferschoten ab, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Was sagen sie?« fragte Richard, bevor er selber einen Bissen nahm.

»Aus irgendeinem Grund sind sie froh, weil ich dich hergebracht habe.«

Er sah zu ihr hinüber. »Frag sie nach dem Grund.«

Sie nickte und wandte sich an Toffalar. »Geehrter Ältester, ich fürchte, ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, was du über Richard mit dem Zorn erfahren hast

Er lächelte wissend. »Tut mir leid, mein Kind. Ich vergaß, daß du nicht hier warst, als wir den Rat der Propheten einberufen haben. Du mußt wissen, es war trocken, unsere Ernte welkte dahin, und unserem Volk drohte eine Hungersnot. Also haben wir eine Versammlung einberufen, um die Geister um Hilfe zu bitten. Sie versprachen uns, jemand würde erscheinen und den Regen mitbringen. Der Regen kam, und mit ihm Richard mit dem Zorn, genau wie sie es uns versprochen haben

»Und deswegen seid ihr froh, daß er hier ist, weil sich ihre Prophezeiung erfüllt hat?«

»Nein«, sagte Toffalar, die Augen vor Erregung aufgerissen, »wir sind glücklich, weil die Seele eines unserer Vorfahren sich entschlossen hat, uns aufzusuchen.« Er zeigte auf Richard. »Er ist ein Mann der Seele

Fast hätte Kahlan ihr Brot fallen gelassen. Überrascht lehnte sie sich zurück.

»Was ist?« wollte Richard wissen.

Sie starrte ihm in die Augen. »Sie haben eine Versammlung abgehalten, damit Regen kommt. Die Seelen versprachen ihnen, jemand würde erscheinen und den Regen mitbringen. Richard, sie halten dich für die Seele eines ihrer Vorfahren. Einen Mann der Seele.«

Er betrachtete einen Augenblick lang ihr Gesicht. »Aber das bin ich nicht.«

»Sie glauben es aber. Richard, für eine Seele würden sie alles tun. Sie werden eine Versammlung der Propheten einberufen, wenn du sie darum bittest.«

Sie bat ihn nicht gerne darum, schließlich entsprach es nicht der Wahrheit. Außerdem war ihr unwohl dabei, die Schlammenschen hinters Licht zu führen, aber sie mußten herausfinden, wo das Kästchen war. Richard ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen.

»Nein«, sagte er ruhig, ohne ihrem Blick auszuweichen.

»Richard, wir haben eine wichtige Aufgabe vor uns. Was macht das schon, wenn sie dich für eine Seele halten und uns das hilft, das letzte Kästchen zu finden?« Es fiel ihr schwer, so zu reden. Es war einfach nicht richtig.

»Es macht durchaus etwas, denn es ist eine Lüge. Ich werde es nicht tun.«

»Möchtest du lieber, daß Rahl gewinnt?« fragte sie ruhig.

Er sah sie böse an. »Erst einmal tue ich es deswegen nicht, weil es falsch wäre, diese Menschen in einer so wichtigen Angelegenheit zu täuschen. Zum zweiten verfügen diese Menschen über eine besondere Kraft, und deswegen sind wir hier. Das haben sie mir bewiesen, indem sie sagten, es würde jemand kommen und den Regen mitbringen. Was ja auch stimmt. In ihrer Aufregung haben sie voreilig einen falschen Schluß daraus gezogen. Haben sie denn gesagt, wer kommt, muß es eine Seele sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal glauben Menschen einfach etwas, weil sie es wollen.«

»Wenn es sowohl ihnen als auch uns zum Vorteil gereicht, was kann es dann schaden?«

»Der Schaden könnte durch ihre Kraft entstehen. Was, wenn sie die Versammlung einberufen und die Wahrheit herausfinden? Ich bin schließlich keine Seele. Glaubst du, sie werden sich darüber freuen, daß wir sie angelogen haben? Dann sind wir so gut wie tot, und Rahl gewinnt.«

Sie lehnte sich zurück und holte tief Luft. Der Zauberer hatte seinen Sucher gut gewählt.

»Haben wir den Zorn der Seele erweckt?« fragte Toffalar mit einem besorgten Ausdruck auf seinem verwitterten Gesicht.

»Er möchte wissen, warum du so wütend bist«, erklärte sie. »Was soll ich ihm erzählen?«

Richard betrachtete die Ältesten, dann sah er zu Kahlan. »Ich sage es ihnen selbst. Du übersetzt.«

Kahlan nickte. »Das Volk der Schlammenschen ist weise und stark«, hob er an. »Aus diesem Grund sind wir gekommen. Die Seelen eurer Ahnen hatten recht, denn ich habe den Regen mitgebracht.« Sie alle schienen erfreut, als Kahlan ihnen die Worte übersetzte. Jeder andere im Dorf war mucksmäuschenstill und lauschte. »Aber sie haben euch nicht alles erzählt. Ihr wißt selbst, dies entspricht der Art der Seelen.« Die Ältesten nickten; das verstanden sie. »Sie haben es eurer Weisheit überlassen, den Rest der Wahrheit zu ergründen. Auf diese Weise bleibt ihr stark, wie auch eure Kinder deshalb stark werden, weil ihr sie führt und ihnen nicht alles gebt, was sie haben wollen. Alle Eltern hoffen, ihr Kind möge stark und klug werden und für sich selber denken.«

Einige nickten, aber nicht mehr so viele. »Was willst du damit sagen, große Seele?« fragte Arbrin, einer der Stammesältesten.

Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, nachdem Kahlan übersetzt hatte. »Nun, ich habe zwar den Regen gebracht, aber das ist noch nicht alles. Vielleicht haben die Seelen eine noch größere Gefahr für euer Volk gesehen, und dies ist vielleicht der wichtigere Grund, weshalb ich hier bin. Es gibt einen sehr gefährlichen Mann, der euer Volk unterjochen und euch zu Sklaven machen will. Sein Name ist Darken Rahl.«

Unter den Dorfältesten entstand amüsiertes Getuschel. »Dann schickt er uns einen Narren als Herrn«, meinte Toffalar.

Richard blickte sie verärgert an, und das Lachen erstarb. »Es ist seine Art, euch in übergroßer Zuversicht zu wiegen. Laßt euch nicht täuschen. Er hat seine Macht und Magie mißbraucht, um zahlenmäßig größere Völker als das eure zu unterwerfen. Er wird euch vernichten, wenn es ihm gefällt. Der Regen ist gekommen, weil er mir Wolken hinterhergeschickt hat, damit er weiß, wo ich bin und mich töten kann, wann immer es ihm beliebt. Ich bin keine Seele, ich bin der Sucher. Nur ein Mensch. Ich will Darken Rahl stoppen, damit unter anderem auch euer Volk sein Leben so leben kann, wie es ihm gefällt.«

Toffalar kniff die Augen zusammen. »Wenn das stimmt, was du sagst, dann hat dieser Rahl den Regen geschickt und unser Volk gerettet. Genau das hat uns dieser Bekehrer beizubringen versucht, daß Rahl uns retten wird

»Nein. Rahl hat die Wolken geschickt, damit sie mir folgen und nicht, damit sie euch retten. Ich bin aus freien Stücken hergereist, genau wie es die Seelen euren Ahnen prophezeit haben. Sie haben gesagt, der Regen würde kommen, und mit ihm ein Mann. Sie haben nicht gesagt, ich sei eine Seele.«

»Dann wollten uns die Seelen vielleicht vor diesem Mann warnen«, meinte Surin.

»Und vielleicht wollten sie euch vor Rahl warnen«, gab Richard sofort zurück. »Ich spreche die Wahrheit. Gebraucht eure Weisheit, sie zu erkennen, sonst ist euer Volk verloren. Ich biete euch eine Möglichkeit, euch selbst zu retten.«

Die Dorfältesten dachten schweigend nach. »Deine Worte scheinen wahr zu sein, Richard mit dem Zorn. Doch die Entscheidung ist noch nicht gefallen«, sagte Toffalar endlich. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

Die Ältesten saßen schweigend da, die Freude war aus ihren Gesichtern gewichen. Der Rest des Dorfes verharrte in angstvollem Schweigen. Richard ließ den Blick über das Gesicht jedes einzelnen Dorfältesten schweifen, dann fuhr er ruhig fort.

»Darken Rahl ist auf der Suche nach einem Zauber, der ihm die Macht gibt, alle zu beherrschen, auch das Volk der Schlammenschen. Ich bin ebenfalls auf der Suche nach diesem Zauber, damit ich ihm diese Macht versagen kann. Ich möchte, daß ihr eine Versammlung der Propheten einberuft, damit ihr mir sagen könnt, wo ich diesen Zauber finden kann, bevor es zu spät ist und ihn Rahl vielleicht als erster findet.«

Toffalars Gesicht wurde härter. »Für Fremde berufen wir keine Versammlungen ein

Kahlan sah, wie Richard wütend wurde und Mühe hatte, sich zu beherrschen. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ sie den Blick in die Runde schweifen und schätzte ab, wo jeder saß, wo die Männer mit den Waffen waren, für den Fall, daß sie sich den Weg nach draußen freikämpfen mußten. Sie schätzte die Chance zu entkommen nicht besonders gut ein. Hätte sie ihn doch nie hierhergebracht.

Mit Feuer in den Augen betrachtete Richard die Dorfbevölkerung, dann wieder die Ältesten. »Als Gegenleistung für den Regen möchte ich euch nur bitten, nicht sofort zu entscheiden. Überlegt euch erst, wie ihr mich einschätzen wollt.« Er versuchte, ruhig zu bleiben, aber die Bedeutung seiner Worte war unmißverständlich. »Denkt sorgfältig darüber nach. Von eurer Entscheidung hängen viele Menschenleben ab. Meins. Kahlans. Und eure.«

Beim Übersetzen hatte Kahlan plötzlich den Eindruck, daß Richard nicht zu den Ältesten sprach. Er sprach zu jemand anderem. Plötzlich fühlte sie dessen Blicke. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen. Die Augen aller waren auf die beiden gerichtet. Sie wußte nicht, welches Paar sie spürte.

»Schon«, verkündete Toffalar schließlich. »Bis zu unserer Entscheidung könnt ihr beide euch frei unter unserem Volk bewegen. Erfreut euch an allem, was wir haben, teilt unsere Speisen und Häuser.«

Es regnete leicht, als die Dorfältesten zu den Gemeinschaftsgebäuden aufbrachen. Die Menge machte sich wieder an die Arbeit, die Kinder wurden verscheucht. Savidlin blieb bis zuletzt. Lächelnd bot er an, ihnen zu helfen, sollten sie etwas brauchen. Sie bedankte sich, und er stapfte im Regen davon. Kahlan und Richard saßen allein auf dem nassen Holzboden, wichen dem Regen aus, der durch das Dach tröpfelte. Der geflochtene Teller mit Tavabrot und die Schale mit gerösteten Pfefferschoten standen noch da. Sie beugte sich vor und nahm von jedem eins und wickelte den Pfeffer in das Brot. Sie reichte es Richard und machte sich selbst auch eins.

»Bist du böse auf mich?« fragte er.

»Nein«, gab sie lächelnd zu. »Ich bin stolz auf dich.«

Ein Kleinjungengrinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. Er begann zu essen, mit rechts, stopfte das Brot in sich hinein. Als er den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, redete er weiter.

»Sieh über meine rechte Schulter. Dort lehnt ein Mann an einer Mauer. Langes graues Haar, die Arme über der Brust verschränkt. Weißt du, wer das ist?«

Kahlan biß ein Stück Brot und Pfeffer ab und warf kauend einen Blick über seine Schulter.

»Das ist der Vogelmann. Ich weiß nichts über ihn, außer daß er Vögel herbeirufen kann.«

Richard nahm das nächste Stück Brot, rollte es ein und biß ein Stück ab. »Ich glaube, wir sollten uns mal mit ihm unterhalten.«

»Warum?«

Richard sah sie von unten herauf an. »Weil er hier das Sagen hat.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Das Sagen haben die Dorfältesten.«

Richard lächelte aus dem Mundwinkel. »Die wahre Macht wird nicht öffentlich verwaltet.« Er sah sie aus seinen stechend grauen Augen an. »Die Dorfältesten sind nur für den Schein. Sie werden verehrt, daher setzt man sie den anderen vor. Wie die Schädel auf den Pfählen, nur daß sie noch die Haut darauf haben. Sie haben Autorität, weil man sie schätzt, aber das Sagen haben sie nicht.« Mit einer raschen Bewegung seiner Augen deutete Richard auf den Vogelmann, der an der Wand hinter ihm lehnte. »Das hat er.«

»Warum hat er sich dann nicht zu erkennen gegeben?«

»Weil«, er grinste, »er herausfinden möchte, wie schlau wir sind.«

Richard stand auf und reichte ihr die Hand. Sie stopfte sich den Rest Brot in den Mund und wischte sich die Hände an der Hose ab. Als er Kahlan aufhalf, mußte sie daran denken, wie sehr ihr diese kleine Geste gefiel. Das hatte noch niemand getan. Bei ihm schien alles so einfach.

Sie gingen durch Matsch und kalten Regen zum Vogelmann. Er lehnte noch immer an der Wand und verfolgte mit seinen stechenden, braunen Augen, wie sie näher kamen. Er hatte langes, meist silbergraues Haar. Es hing ihm über die Schultern und fiel auf das Wildlederhemd, das zu seinen Hosen paßte. Seine Kleider waren schmucklos, doch um seinen Hals hing ein Lederriemen. Er war weder alt noch jung, sah noch recht gut aus und war ungefähr so groß wie sie. Die Haut seines wettergegerbten Gesichts wirkte ebenso zäh wie seine Wildlederkleidung.

Sie traten vor ihn. Noch immer lehnte er mit den Schultern an der Wand, stützte den einen Fuß gegen die verputzten Ziegel, reckte sein Knie vor. Mit verschränkten Armen betrachtete er ihre Gesichter.

Richard verschränkte ebenfalls die Arme. »Ich würde gerne mit dir sprechen, es sei denn, du hast Angst, ich könnte eine Seele sein.«

Der Vogelmann sah sie an, als sie übersetzte, dann sah er wieder zu Richard.

»Ich habe bereits Seelen gesehen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Sie tragen keine Schwerter

Kahlan übersetzte. Richard mußte lachen. Ihm gefiel, wie locker er geantwortet hatte.

»Ich habe auch schon Seelen gesehen, und du hast recht, sie tragen tatsächlich keine Schwerter.«

Ein dünnes Lächeln verzog die Mundwinkel des Vogelmannes. Er löste seine Arme und richtete sich auf. »Kraft dem Sucher.« Er verpaßte Richard einen Klaps.

»Kraft dem Vogelmann«, sagte der und erwiderte den Klaps.

Der Vogelmann ergriff den Gegenstand, der an der Lederschnur um seinen Hals hing und führte ihn an die Lippen. Seine Wangen blähten sich, und er blies, doch war kein Ton zu hören. Er ließ die Pfeife fallen und breitete die Arme aus, ohne Richards Blick auszuweichen. Nach einer Weile kam kreisend ein Habicht aus dem grauen Himmel und ließ sich auf seinem ausgestreckten Arm nieder. Er plusterte die Federn auf, glättete sie, blinzelte mit den schwarzen Augen und drehte dabei den Kopf in kurzen, ruckartigen Bewegungen.

»Kommt«, sagte der Vogelmensch. »Unterhalten wir uns

Er führte sie zwischen den großen Gemeinschaftsgebäuden hindurch nach hinten zu einem kleineren Haus, das etwas abseits von den anderen stand. Kahlan kannte das Haus ohne Fenster, obwohl sie es noch nie betreten hatte. Es war das Haus der Seelen, in dem die Versammlungen abgehalten wurden.

Der Habicht blieb auf dem Arm sitzen, als der Vogelmann die Tür aufstieß und sie bat, einzutreten. In einer Vertiefung am hinteren Ende brannte ein kleines Feuer und erhellte den ansonsten dunklen Raum ein wenig. Ein Loch in der Decke über dem Feuer ließ den Rauch abziehen, wenn auch nur schlecht, so daß es beißend rauchig stank. Überall auf dem Boden standen Tonschalen herum, die von einer früheren Mahlzeit übriggeblieben waren, und auf einem Bretterregal an einer Wand lag ein gutes Dutzend Ahnenschädel. Abgesehen davon war der Raum leer. Der Vogelmann fand eine Stelle fast in der Mitte des Raumes, wo kein Regen durchtropfte, und ließ sich auf dem Lehmboden nieder. Richard und Kahlan setzten sich Seite an Seite ihm gegenüber. Der Habicht verfolgte ihre Bewegungen.

Der Vogelmann sah Kahlan in die Augen. Offenbar war er es gewohnt, daß Menschen Angst hatten, wenn sie ihn ansahen, auch wenn es unberechtigt war. Sie wußte es, weil es ihr genauso ging. Diesmal entdeckte er keine Angst.

»Mutter Konfessor, Ihr habt noch keinen Begleiter erwählt.« Sanft strich er dem Habicht über den Kopf, während er sie beobachtete.

Kahlan gefiel sein Ton nicht. Er wollte sie auf die Probe stellen. »Nein. Wollt Ihr Euch selber anbieten?«

Er lächelte dünn. »Nein. Ich muß mich entschuldigen. Ich wollte Euch nicht beleidigen. Warum befindet Ihr euch nicht in Begleitung eines Zauberers?«

»Bis auf zwei sind alle Zauberer tot. Und von diesen zweien hat einer sich bei einer Königin verdingt. Der andere wurde von einem Monster aus der Unterwelt niedergeschlagen und liegt in tiefem Schlaf. Es gibt keinen mehr, der mich beschützen könnte. Alle anderen Konfessoren sind getötet worden. Wir leben in einer finsteren Zeit

Seine Augen machten einen aufrichtig mitfühlenden Eindruck, seine Stimme dagegen noch immer nicht. »Für einen Konfessor ist das Alleinsein gefährlich

»Richtig. Und für einen Mann ist es gefährlich, mit einem Konfessor allein zu sein, der dringend etwas braucht. Meiner Ansicht nach schwebt Ihr in größerer Gefahr als ich

»Vielleicht«, sagte er und streichelte den Habicht. Er lächelte erneut dünn. »Vielleicht. Und dieser Mann hier ist ein echter Sucher? Von einem Zauberer ernannt?«

»Ja

Der Vogelmann nickte. »Es ist viele Jahre her, seit ich einen echten Sucher gesehen habe. Einmal ist hier ein Sucher aufgetaucht, der kein echter Sucher war. Er hat viele aus meinem Volk getötet, als wir ihm nicht geben wollten, was er verlangte

»Das tut mir leid«, sagte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Braucht es nicht. Sie sind sehr schnell gestorben. Der Sucher sollte dir leid tun, er starb nicht so schnell.« Der Habicht sah sie an und blinzelte.

»Ich habe noch keinen falschen Sucher gesehen, dafür aber diesen hier, wenn er in Wut gerät. Glaubt mir, Ihr und Euer Volk dürft ihm niemals einen Grund geben, sein Schwert aus Wut zu ziehen. Er weiß, wie man sich den Zauber zunutze macht, ich habe sogar gesehen, wie er böse Geister niederstreckt

Einen Augenblick lang betrachtete er ihre Augen, als wollte er prüfen, ob sie die Wahrheit sagte. »Danke für die Warnung. Ich werde an Eure Worte denken

Endlich meldete sich Richard zu Wort. »Seid ihr endlich fertig mit den Drohgebärden?«

Kahlan sah ihn überrascht an. »Ich dachte, du könntest ihre Sprache nicht verstehen?«

»Kann ich auch nicht. Aber ich sehe es an den Augen. Wenn Blicke Funken sprühen könnten, stände dieses Haus in Flammen.«

Kahlan drehte sich wieder zu dem Vogelmann um. »Der Sucher möchte wissen, ob wir mit den gegenseitigen Drohungen fertig sind

Er sah kurz zu Richard hinüber. »Er ist ungeduldig, hab' ich recht?«

Sie nickte. »Das habe ich ihm auch schon gesagt. Er streitet es ab

»Mit ihm zu reisen ist bestimmt anstrengend

Kahlan mußte lächeln. »Überhaupt nicht

Der Vogelmann erwiderte ihr Lächeln und richtete seinen Blick auf Richard. »Und wenn wir beschließen, dir nicht zu helfen, wie viele von uns wirst du dann töten?«

Kahlan übersetzte, während er sprach.

»Keinen.«

Der Vogelmann betrachtete den Habicht und fragte: »Und wenn wir beschließen, Darken Rahl nicht zu helfen, wie viele wird er dann von uns töten?«

»Sehr viele, früher oder später.«

Er ließ vom Habicht ab, und warf Richard einen stechenden Blick zu. »Das klingt, als wolltest du uns überreden, Darken Rahl zu helfen

Richard mußte grinsen. »Solltest du dich entschließen, mir nicht zu helfen und neutral zu bleiben, so töricht das auch wäre, so ist das dein gutes Recht. Ich werde niemandem aus deinem Volk etwas tun. Rahl dagegen schon. Ich werde weiter gegen ihn kämpfen, bis zum letzten Atemzug, wenn es sein muß.« Sein Gesicht nahm einen bedrohlichen Ausdruck an. Er beugte sich vor. »Solltest du dich andererseits jedoch entschließen, Darken Rahl zu unterstützen, und ich gewinne, dann werde ich zurückkommen und…« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und machte eine Geste, die keiner Übersetzung bedurfte.

Der Vogelmann saß da mit versteinerter Miene. »Wir wollen nur in Frieden gelassen werden«, sagte er schließlich.

Richard zuckte mit den Achseln und senkte den Blick. »Das kann ich verstehen. Ich möchte auch gerne in Frieden gelassen werden.« Er hob den Kopf. »Darken Rahl schickt mir böse Geister, die aussehen wie mein Vater, den er umgebracht hat, und die mich verfolgen. Er schickt Männer aus, die Kahlan töten sollen. Er läßt die Grenze zusammenbrechen, um meine Heimat zu überfallen. Seine Diener haben zwei meiner ältesten Freunde niedergeschlagen. Sie liegen in tiefem Schlaf, dem Tode nahe, aber wenigstens werden sie überleben. Wenn er nicht beim nächsten Mal mehr Erfolg hat. Kahlan hat mir erzählt, wie viele er auf dem Gewissen hat. Kinder. Die Geschichten würden dir das Herz brechen.« Er nickte, seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. »Ja, mein Freund, auch ich würde gerne in Frieden gelassen werden. Am ersten Tag des Winters, vorausgesetzt, Darken Rahl gelingt es, den Zauber zu finden, den er sucht, wird er über eine Macht verfügen, der sich niemand widersetzen kann. Dann ist es zu spät.« Er griff nach dem Schwert. Kahlan riß die Augen auf. »Säße er hier an meiner Stelle, er würde dieses Schwert ziehen und deine Hilfe oder deinen Kopf verlangen.« Er ließ das Schwert los. »Das ist der Grund, mein Freund, weshalb ich dir nichts tun kann, auch wenn du dich entscheidest, mir nicht zu helfen.«

Der Vogelmann saß eine Weile schweigend da und rührte sich nicht. »Eins begreife ich jetzt. Ich will weder Darken Rahl zum Feind noch dich.« Er stand auf und ging zur Tür, warf den Habicht in die Luft. Der Vogelmann nahm wieder Platz und atmete schwer unter der Last seiner Gedanken. »Deine Worte scheinen wahr zu sein, aber genau kann ich das noch nicht wissen. Du willst offenbar, daß wir dir helfen, gleichzeitig willst du uns helfen. Ich glaube, du meinst es ernst damit. Ein weiser Mann, wer Hilfe durch Hilfe zu gewinnen sucht, und nicht durch Drohungen oder Tricks

»Wenn ich deine Hilfe durch Tricks hätte gewinnen wollen, hätte ich dich in dem Glauben gelassen, ich sei eine Seele.«

Die Mundwinkel des Vogelmannes verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Bei einer Versammlung hätten wir die Wahrheit herausgefunden. Ein weiser Mann hätte auch das geahnt. Aus welchem Grund erzählst du uns also die Wahrheit? Hast du uns nicht hereinlegen wollen, oder hattest du Angst davor?«

Richard lächelte ebenfalls. »Soll ich die Wahrheit sagen? Beides.«

Der Vogelmann nickte. »Du sprichst die Wahrheit, und ich danke dir dafür

Richard saß schweigend da und atmete erleichtert auf. »Jetzt habe ich dir also meine Geschichte erzählt. Ob sie wahr ist oder nicht, mußt du entscheiden. Die Zeit läuft gegen mich. Wirst du mir helfen?«

»So einfach ist das nicht. Ich biete meinem Volk Orientierung. Sie bitten mich um Führung. Würdest du um Lebensmittel bitten, könnte ich sagen ›gebt ihm etwas zu essen‹, und sie würden es tun. Aber du hast um eine Versammlung gebeten. Das ist etwas anderes. Der Rat der Propheten besteht aus den sechs Dorfältesten, mit denen du gesprochen hast, und aus mir. Es sind alte Männer, sehr festgelegt in ihrer Meinung. Noch nie hat man einem Fremden eine Versammlung gewährt, noch nie ist zugelassen worden, daß jemand den Frieden unserer Ahnenseelen stört. Die sechs werden schon bald zu den Ahnenseelen gehören, und der Gedanke, aus der Welt der Seelen auf Wunsch eines Außenstehenden herbeizitiert zu werden, wird ihnen nicht gefallen. Brechen sie mit dieser Tradition, werden sie immer an dieser Last zu tragen haben. Ich kann ihnen nicht befehlen, das zu tun

»Es geht nicht nur um den Wunsch eines Fremden«, sagte Kahlan und übersetzte für beide, »es hilft auch den Schlammenschen, wenn sie uns helfen.«

»Am Ende vielleicht«, meinte der Vogelmann, »am Anfang jedoch nicht

»Und wenn ich zum Volk der Schlammenschen gehören würde?« fragte Richard. Er kniff die Augen zusammen.

»Dann werden sie die Versammlung für dich einberufen, ohne die Tradition verletzen zu müssen

»Könntest du mich zu einem Schlammenschen machen?«

Das silbergraue Haar des Vogelmannes leuchtete im Schein der Flammen, während er es sich durch den Kopf gehen ließ. »Du müßtest erst etwas tun, das für unser Volk von Nutzen ist, das ihm guttut und aus dem du keinen Vorteil für dich selber ziehst. Damit hättest du bewiesen, wie wohlgesonnen du uns bist. Wenn wir dir dann nicht versprechen müßten, dir zu helfen, und die Ältesten einverstanden sind, dann vielleicht

»Und sobald du mich zu einem der Schlammenschen ernannt hast, könnte ich um eine Versammlung bitten?«

»Wenn du einer von uns wärst, wüßten sie, daß dir unser Wohl am Herzen liegt. Sie würden den Rat der Propheten einberufen, um dir zu helfen

»Und wenn sie den Rat einberiefen, könnten sie mir dann auch verraten, wo sich das befindet, was ich suche?«

»Das kann ich nicht beantworten. Manchmal weigern sich die Seelen, unsere Fragen zu beantworten, manchmal wissen sie die Antworten nicht. Niemand kann dir unsere Hilfe versprechen, selbst wenn wir eine Versammlung einberufen. Ich kann dir nur zusagen, daß wir unser Bestes geben werden

Richard blickte zu Boden und dachte nach. Mit dem Finger schob er ein wenig Erde in eine Pfütze, die sich dort gebildet hatte, wo der Regen durchtropfte.

»Kahlan«, sagte er ruhig, »kennst du sonst noch jemanden, der die Macht hat, uns zu sagen, wo das Kästchen ist?«

Kahlan hatte bereits den ganzen Tag darüber nachgedacht. »Ja. Ich weiß aber nicht, ob die, die ich kenne, dazu bereit wären, uns wie die Schlammmenschen zu helfen. Manche würden uns töten, nur weil wir fragen.«

»Nun, wie weit sind die entfernt, die uns nicht gleich deswegen töten würden?«

»Drei Wochen mindestens. Richtung Norden. Durch Gebiete, die Rahl in seiner Gewalt hat.«

»Drei Wochen«, wiederholte Richard schwer enttäuscht.

»Aber Richard, der Vogelmann kann uns herzlich wenig versprechen. Wenn du eine Möglichkeit findest, ihnen zu helfen, wenn die Dorfältesten einverstanden sind, wenn sie den Vogelmann bitten, dich zu einem Schlammenschen zu ernennen, wenn der Rat der Propheten eine Antwort erhält, wenn die Seelen die Antwort überhaupt wissen … wenn, wenn, wenn. Viele Möglichkeiten, einen falschen Schritt zu tun.«

»Hast du nicht selbst gesagt, ich müßte sie für uns gewinnen?« fragte er mit einem Lächeln.

»Stimmt.«

»Also, was meinst du? Glaubst du, wir sollten bleiben und versuchen, sie dazu zu bringen, uns zu helfen, oder sollen wir losziehen und die Antwort woanders suchen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich denke, du bist der Sucher, und du wirst entscheiden müssen.«

Er lächelte. »Wir sind Freunde. Ich könnte deinen Rat gebrauchen.«

Sie klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dabei hängt auch mein Leben von der Richtigkeit der Entscheidung ab. Als dein Freund vertraue ich dir; du wirst schon einen weisen Entschluß fällen.«

Grinsend meinte er: »Und wenn ich die falsche Entscheidung treffe, wirst du mich dann hassen?«

Sie blickte in seine grauen Augen, Augen, die in sie hineinsehen und sie vor Sehnsucht schwach werden lassen konnten. »Selbst wenn du dich falsch entscheidest und es mich das Leben kostet«, hauchte sie und würgte den Kloß im Hals hinunter, »selbst dann könnte ich dich niemals hassen.«

Er vermied es, sie anzusehen und starrte einen Augenblick lang in den Staub. Dann sah er wieder den Vogelmann an. »Mag dein Volk Dächer, die leck sind?«

Der Vogelmann sah ihn erstaunt an. »Wie würde es dir gefallen, wenn dir das Wasser im Schlaf ins Gesicht tropft?«

Richard lächelte und schüttelte den Kopf. »Warum baut ihr dann keine Dächer, die dicht sind?«

Der Vogelmann zuckte mit den Achseln. »Weil es unmöglich ist. Wir haben nichts anderes. Lehmziegel sind zu schwer und würden herunterfallen. Holz ist zu selten, es muß über weite Strecken herangeschleppt werden. Gras ist alles, was wir haben, und das leckt eben

Richard nahm eine der Tonschalen in die Hand und stellte sie verkehrt herum unter eines der Lecks. »Ihr habt den Ton, aus dem ihr die Töpferwaren macht.«

»Unsere Ofen sind klein, eine so große Schale könnten wir nicht herstellen. Außerdem würde sie Risse bekommen und ebenfalls undicht werden. Es ist unmöglich

»Es ist ein Fehler, zu meinen, etwas sei unmöglich, nur weil man nicht weiß, wie man es angehen soll. Ich wäre sonst nicht hier.« Er sagte es mit Bedacht, ohne jede Bosheit. »Dein Volk ist stark und klug. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn der Vogelmann mir gestatten würde, seinem Volk beizubringen, wie man dichte Dächer herstellt, durch die gleichzeitig noch der Rauch abziehen könnte.«

Der Vogelmann ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, ohne irgendwelche Regungen zu zeigen. »Wenn dir das gelänge, wäre dies für mein Volk von großem Vorteil. Man wäre dir sehr dankbar. Aber darüber hinaus kann ich dir nichts versprechen

Richard zuckte mit den Achseln. »Ich habe auch nicht darum gebeten.«

»Die Antwort könnte dennoch ›nein‹ lauten, das mußt du annehmen, ohne meinem Volk Schaden zuzufügen

»Ich werde für dein Volk mein Bestes geben und hoffe darauf, daß sie mich gerecht beurteilen.«

»Es steht dir frei, es zu versuchen. Trotzdem sehe ich nicht, wie du ein Lehmdach herstellen willst, das nicht leckt

»Ich werde ein Dach für euer Haus der Seelen machen, das tausend Risse hat und doch nicht leckt, und ich werde euch beibringen, wie ihr so etwas selber herstellen könnt.«

Der Vogelmann lächelte und nickte kurz.

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