Zedd schlug die Augen auf. Der Duft von Gewürzsuppe lag in der Luft. Ohne sich zu bewegen, sah er sich vorsichtig um. Gleich neben ihm lag Chase, an den Wänden hingen Knochen. Draußen vor dem Fenster war es dunkel. Er sah an seinem Körper hinunter. Jemand hatte ihn mit Knochen überhäuft. Ohne sich zu bewegen, hob er sie langsam, vorsichtig in die Höhe, bis sie geräuschlos auf die Seite schwebten, wo er sie ablegte. Ohne ein Geräusch zu machen stand er auf. Er befand sich in einem Haus voller Knochen. Monsterknochen. Er drehte sich um.
Zu seiner Überraschung blickte er in das Gesicht einer Frau, die sich ebenfalls gerade umgedreht hatte.
Beide schrien vor Schreck auf und warfen ihre dürren Arme in die Luft.
»Wer bist du?« fragte er, beugte sich vor und linste in ihre weißen Augen.
Sie packte die Krücke gerade noch, bevor sie zu Boden fiel, und klemmte sie unter ihre Achsel. »Ich bin Adie«, antwortete sie mit schnarrender Stimme. »Hast du mich erschreckt! Du bist früher aufgewacht, als ich erwartet hatte.«
Zedd strich seine Kleider glatt. »Wie viele Mahlzeiten habe ich verpaßt?«
Adie betrachtete ihn mit finsterer Miene von Kopf bis Fuß. »Zu viele, wie es scheint.«
Ein Grinsen schob Zedds faltige Wangen nach hinten. Jetzt betrachtete er Adie von Kopf bis Fuß. »Du bist eine gutaussehende Frau«, verkündete er. Er verneigte sich, ergriff ihre Hand und küßte sie zart, dann richtete er sich stolz auf und hielt einen seiner knochigen Finger Richtung Himmel. »Zeddicus Zu'l Zorander, ganz zu Ihren Diensten, meine Liebe.« Er beugte sich vor. »Was ist mit deinem Bein?«
»Nichts. Es ist vollkommen in Ordnung.«
»Nein, nein«, sagte er stirnrunzelnd und zeigte hin. »Nicht das, das andere.«
Adie blickte nach unten auf den fehlenden Fuß, dann wieder hoch zu Zedd. »Er reicht bis auf den Boden. Ist was mit deinen Augen?«
»Nun, ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt. Schließlich hast du jetzt nur noch einen übrig.« Zedds besorgtes Gesicht schmolz zu einem Schmunzeln. »Und was meine Augen anbetrifft«, sagte er mit seiner dünnen Stimme, »sie waren wie ausgehungert, aber jetzt können sie sich sattsehen.«
Adie lächelte dünn. »Möchtest du eine Schale Suppe, Zauberer?«
»Ich dachte schon, du würdest nie fragen, Hexenmeisterin.«
Er folgte ihr, als sie durch das Zimmer zum Kessel humpelte, der über der Feuerstelle hing. Dann füllte sie zwei Schalen und brachte sie zum Tisch. Sie lehnte die Krücke an die Wand, nahm ihm gegenüber Platz, schnitt eine dicke Scheibe Brot und Käse ab und schob sie ihm über den Tisch zu. Zedd beugte sich vor und fiel sofort über das Essen her, hielt jedoch nach einem Löffel inne, hob den Kopf und blickte in ihre weißen Augen.
»Diese Suppe hat Richard gekocht«, sagte er ruhig, während der zweite Löffel mitten zwischen Schale und Mund verharrte.
Adie brach ein Stück Brot ab, stippte es in die Suppe und beobachtete ihn. »Das ist wahr. Du hast Glück, meine wäre nicht so gut.«
Zedd legte den Löffel in die Schale und sah sich um. »Und wo steckt er?«
Adie biß ein Stück Brot ab, kaute, beobachtete Zedd. Sie schluckte hinunter und antwortete. »Er ist mit der Mutter Konfessor durch den Paß gegangen, in die Midlands. Er kennt sie, allerdings nur als Kahlan. Sie verschweigt ihm immer noch, was sie wirklich ist.« Sie fuhr fort und erzählte dem Zauberer, wie Richard und Kahlan sie aufgesucht und um Hilfe für ihre angeschlagenen Freunde gebeten hatten.
Zedd nahm den Käse in die eine, das Brot in die andere Hand, und biß abwechselnd ab, während er Adies Geschichte zuhörte. Innerlich zuckte er zusammen, als er erfuhr, daß man ihn mit Haferschleim durchgefüttert hatte.
»Er sagte, er könne nicht auf dich warten«, sagte sie, »aber er meinte, du würdest ihn verstehen. Der Sucher hat mir seine Anweisungen für Chase gegeben. Er soll umkehren und Vorkehrungen für den Fall der Grenze und den Angriff von Rahls Truppen treffen. Es tat ihm leid, weil er deinen Plan nicht kannte. Warten war ihm jedoch zu riskant.«
»Auch gut«, sagte der Zauberer fast tonlos, »mein Plan hat nichts mit ihm zu tun.«
Zedd machte sich wieder über das Essen her. Als er mit der Suppe fertig war, ging er zum Kessel und holte sich einen Nachschlag. Er bot sich an, Adie noch etwas zu holen, doch sie war noch nicht mit ihrer ersten Schale fertig, da sie die meiste Zeit nicht die Augen vom Zauberer hatte lassen können. Als er sich wieder hinsetzte, schob sie ihm noch etwas Brot und Käse rüber.
»Richard hat ein Geheimnis vor dir«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Wenn es nicht um die Geschichte mit Rahl ginge, würde ich nicht davon anfangen, aber ich dachte, du solltest es wissen.«
Das Licht der Lampe fiel auf sein schmales Gesicht und das weiße Haar und ließ ihn starr und in den harten Schatten noch dürrer wirken. Er nahm seinen Löffel, blickte einen Augenblick in die Suppe, bevor er Adie wieder ansah.
»Wie du sehr wohl weißt, haben wir alle unsere Geheimnisse, Zauberer noch mehr als die meisten anderen. Wüßten wir alle Geheimnisse der anderen, wäre dies eine sehr seltsame Welt. Außerdem ginge der Spaß verloren, sie weiterzuerzählen.« Er verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln, seine Augen funkelten. »Wenn ich jemandem vertraue, habe ich keine Angst vor seinen Geheimnissen, und er braucht keine Angst vor meinen zu haben. Das gehört zu einer Freundschaft dazu.«
Adie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte ihn aus leeren weißen Augen an. Sie schmunzelte. »Ich hoffe um seinetwillen, daß du ihm zurecht vertraust. Ich möchte keinem Zauberer Grund zum Ärgern geben.«
Zedd zuckte mit den Achseln. »Für einen Zauberer bin ich ziemlich harmlos.«
Sie betrachtete seine Augen im Schein der Lampe.
»Das ist gelogen«, schnarrte die Hexenmeisterin leise.
Zedd räusperte sich und beschloß, das Thema zu wechseln. »Sieht so aus, als müßte ich mich für deine Pflege bedanken, meine Liebe.«
»Das stimmt.«
»Und dafür, daß du Richard und Kahlan geholfen hast.« Er sah zu Chase hinüber und zeigte mit dem Löffel auf ihn. »Und auch dem Grenzposten. Ich stehe in deiner Schuld.«
Adies Schmunzeln wurde breiter. »Vielleicht kannst du es mir eines Tages zurückzahlen.«
Zedd machte sich wieder über seine Suppe her, wenn auch nicht ganz so eifrig wie zuvor. Er und die Hexenmeisterin beobachteten sich gegenseitig. Das Feuer im Kamin knackte, und draußen zirpten die Käfer der Nacht. Chase schlief noch immer.
»Wie lange sind sie fort?« fragte Zedd schließlich.
»Es ist jetzt sieben Tage her, seit er dich und den Grenzposten in meiner Obhut zurückgelassen hat.«
Zedd beendete seine Mahlzeit, schob die Schale behutsam von sich. Er faltete seine dürren Hände auf dem Tisch, betrachtete sie und tippte mit den Daumen gegeneinander. Der Schein der Lampe flackerte und tanzte über sein dichtes, weißes Haar.
»Hat Richard gesagt, wie ich ihn finden soll?«
Adie antwortete eine Weile nicht. Der Zauberer wartete und tippte mit den Daumen aneinander, bis sie endlich sprach. »Ich habe ihm einen Stein der Nacht gegeben.«
Zedd sprang auf. »Du hast was getan?«
Adie sah in aller Ruhe zu ihm hoch. »Hätte ich ihn vielleicht nachts durch den Paß schicken sollen, ohne ihm eine Möglichkeit zu geben, etwas zu erkennen? Blind durch den Paß zu laufen bedeutet den sicheren Tod. Er sollte es schaffen. Nur so konnte ich ihm helfen.«
Der Zauberer stemmte sich mit den Knöcheln auf den Tisch und beugte sich vor. Sein weißes Haar fiel wallend um sein Gesicht. »Und hast du ihn gewarnt?«
»Natürlich habe ich das.«
Er kniff die Augen zusammen. »Wie denn? Mit einem Hexenrätsel?«
Adie nahm zwei Äpfel zur Hand und warf Zedd einen zu. Er fing ihn mitten in der Luft mit einem Zauber auf. Der Apfel schwebte, sich in der Luft drehend, während Zedd die alte Frau immer noch wütend ansah.
»Setz dich, Zauberer, und hör auf mit der Angeberei.« Sie biß in ihren Apfel, kaute langsam. Zedd nahm eingeschnappt Platz. »Ich wollte ihm keine Angst einjagen. Er hatte schon so genug Angst. Hätte ich ihm gesagt, wozu der Stein der Nacht gut ist, hätte er vielleicht Angst gehabt, ihn zu benutzen. Das Ergebnis wäre, die Unterwelt hätte ihn mit Sicherheit bekommen. Ja, ich habe ihn gewarnt, doch mit einem Rätsel, damit er erst später darauf kommt, wenn er durch den Paß hindurch ist.«
Zedd schnappte den Apfel mit seinen hölzern wirkenden Fingern aus der Luft. »Verdammt, Adie, du verstehst nicht. Richard kann Rätsel nicht ausstehen, das konnte er noch nie. Er betrachtet sie als Beleidigung seines Ehrgefühls. Er duldet sie nicht und beachtet sie aus Prinzip nicht.« Er biß krachend in den Apfel.
»Er ist der Sucher, und das ist es, was Sucher tun. Sie lösen Rätsel.«
Zedd reckte einen knochigen Finger in die Höhe. »Rätsel des Lebens, keine Worträtsel. Das ist ein Unterschied.«
Adie legte den Apfel weg und beugte sich vor. Mit sorgenvoller Miene legte sie ihre Hände mitten auf den Tisch. »Zedd, ich habe versucht, dem Jungen zu helfen. Er soll Erfolg haben. Ich habe im Paß meinen Fuß verloren, aber er hätte sein Leben verloren. Wenn der Sucher sein Leben verliert, verlieren wir auch unseres. Ich wollte ihm nichts Böses.«
Zedd legte den Apfel weg und wischte seinen Ärger mit einer Handbewegung fort. »Das weiß ich, Adie. Das habe ich auch nicht sagen wollen.« Er ergriff Adies Hand. »Es wird schon klappen.«
»Ich bin ein Narr«, sagte sie bitter. »Er hat mir gesagt, daß er keine Rätsel mag, aber ich habe nicht mehr daran gedacht. Zedd, suche ihn mit Hilfe des Steins der Nacht. Stelle fest, ob er es geschafft hat.«
Zedd nickte. Er schloß die Augen, ließ das Kinn auf die Brust sinken und atmete dreimal tief durch. Dann hörte er für lange Zeit auf zu atmen. In der Luft ringsum ertönte das leise, sanfte Säuseln eines fernen Windes, eines Windes über einer weiten Ebene, einsam, unheilvoll, gespenstisch. Endlich verschwand das Windgeräusch, und der Zauberer begann wieder zu atmen. Er hob den Kopf und öffnete die Augen.
»Er ist in den Midlands. Er hat es durch den Paß geschafft.«
Adie nickte erleichtert. »Ich werde dir einen Knochen mitgeben, damit du sicher durch den Paß kommst. Willst du ihm sofort nachgehen?«
Der Zauberer wich ihren weißen Augen aus und blickte auf den Tisch. »Nein«, sagte er ruhig. »Wie du gesagt hast, er ist der Sucher. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen, wenn wir Darken Rahl aufhalten wollen. Hoffentlich kann er inzwischen allen Ärger vermeiden.«
»Geheimnisse?« fragte die Hexenmeisterin mit ihrem dünnen Lächeln.
»Geheimnisse«, bejahte der Zauberer mit einem Nicken. »Ich muß sofort aufbrechen.«
Sie zog eine Hand unter der seinen hervor und strich über seine lederne Haut.
»Draußen ist es dunkel.«
»Richtig«, gab er ihr recht.
»Warum bleibst du nicht über Nacht? Und brichst in der Dämmerung auf.«
Zedd riß die Augen auf und sah sie mit gesenktem Kopf an. »Ich soll über Nacht bleiben?«
Adie zuckte mit den Achseln und strich weiter über seine Hand. »Manchmal ist es hier recht einsam.«
»Also«, Zedd strahlte schelmisch übers ganze Gesicht — »du hast recht, es ist dunkel draußen. Und ich schätze, es macht auch mehr Sinn, morgens aufzubrechen.« Plötzlich runzelte er die Stirn. »Das ist doch nicht eines deiner Rätsel, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, nein, das war es nicht. Und er strahlte wieder.
»Ich habe meinen Zaubererfelsen dabei. Hast du vielleicht Interesse?«
Adies Züge schmolzen zu einem schüchternen Lächeln. »Sehr gerne.« Sie sah ihn an, lehnte sich zurück und biß von ihrem Apfel ab.
Zedd zog eine Braue hoch. »Nackt?«
Wind und Regen beugten das hohe Gras in weiten, gemächlichen Wogen, während sich die beiden ihren Weg über die offene, flache Ebene bahnten. Die wenigen Bäume, die es gab, standen weit auseinander. Meist waren es kleine Birken- und Erlengruppen längs der Bachläufe. Kahlan behielt das Gras ringsum im Auge. Sie befanden sich in der Nähe des Gebietes der Schlammenschen. Richard folgte schweigend und hielt sein Auge wachsam auf Kahlan gerichtet, wie immer.
Der Gedanke, ihn zu den Schlammenschen mitzunehmen, behagte ihr nicht, doch er hatte recht, sie mußten wissen, wo sie nach dem letzten Kästchen suchen sollten, und es gab niemanden sonst in der Nähe, der ihnen die richtige Richtung zeigen konnte. Der Herbst neigte sich dem Ende zu, die Zeit wurde knapp. Vielleicht halfen ihnen die Schlammenschen aber auch nicht, dann wäre die Zeit vergeudet.
Schlimmer noch. Sie wußte zwar, sie würden es nicht wagen, einen Konfessor zu töten, noch dazu einen, der unter dem Schutz eines Zauberers reiste, ob sie sich aber trauen würden, den Sucher zu töten, wußte sie nicht. Nie war sie zuvor ohne einen Zauberer durch die Midlands gereist, das tat kein Konfessor. Es war zu gefährlich. Richard war ein besserer Schutz als Giller, der letzte Zauberer, den man ihr zugeteilt hatte, doch eigentlich sollte Richard nicht sie beschützen, sondern sie ihn. Sie durfte nicht zulassen, daß er sein Leben für sie aufs Spiel setzte. Er sollte schließlich Rahl aufhalten. Das vor allem zählte. Sie hatte geschworen, ihr Leben für den Sucher einzusetzen. Für Richard. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas inbrünstiger gewollt. Sollte je der Zeitpunkt der Entscheidung kommen, dann wäre sie es, die sterben müßte.
Der Pfad durch die Steppe erreichte zwei mit getrockneten Häuten umspannte Pfähle, die mit roten Streifen eingefärbt waren, jeweils einer zu beiden Seiten des Pfades. Richard blieb bei den Pfählen stehen und betrachtete die Totenschädel, die oben auf ihnen befestigt waren.
»Soll uns das abschrecken?« fragte er und strich mit der Hand über die Häute.
»Nein, das sind die Schädel der verehrten Ahnen. Sie sollen das Land bewachen. Nur den Geachtetsten wird diese Ehre zuteil. Anhand der Gebeine der Ehrwürdigsten sollen anderen sozusagen die Besten aus ihrer Mitte gezeigt werden.«
»Klingt nicht bedrohlich. Vielleicht sind sie gar nicht so abgeneigt, uns zu sehen.«
Kahlan drehte sich zu ihm um und zog eine Braue hoch. »Bei den Schlammenschen verschafft man sich unter anderem dadurch Achtung, daß man Fremde tötet.« Sie sah wieder zu den Schädeln. »Trotzdem ist das nicht als Drohung für Fremde gedacht. Es handelt sich bei ihnen lediglich um eine traditionelle Ehrung.«
Erleichtert nahm Richard die Hand vom feuchten Pfahl. »Mal sehen, vielleicht können wir sie überreden, uns zu helfen, dann können sie wieder ihre Ahnen verehren und sich die Fremden vom Leib halten.«
»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, warnte sie. »Vielleicht wollen sie uns nicht helfen. Die Entscheidung liegt bei ihnen, das mußt du anerkennen. Sie gehören zu den Völkern, die ich versuche zu retten. Ich will ihnen nicht weh tun.«
»Kahlan, ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas zu tun. Keine Sorge, sie werden uns helfen. Es liegt doch in ihrem eigenen Interesse.«
»Sie sehen es vielleicht nicht ganz so«, hakte sie nach. Der Regen hatte aufgehört und war einem kühlen Dunst gewichen, den sie auf ihrem Gesicht spürte. Sie schob ihre Kapuze nach hinten. »Richard, versprich mir, daß du ihnen nichts tun wirst.«
Er schob seine Kapuze ebenfalls zurück, stemmte die Hände in die Hüften und überraschte sie mit einem kleinen, schiefen Lächeln. »Jetzt weiß ich endlich, wie sich das anfühlt.«
»Was?« fragte sie mit leichtem Argwohn in der Stimme.
Er blickte an ihr hinunter, und sein Lächeln wurde breiter. »Weißt du noch, als ich das Fieber von der Schlingpflanze hatte und dich bat, Zedd nichts zu tun? Jetzt weiß ich, wie dir zumute war, als du dieses Versprechen nicht geben konntest.«
Kahlan sah in seine grauen Augen, dachte daran, wie sehr sie sich wünschte, Rahl aufzuhalten. Sie dachte auch an alle jene, die er getötet hatte, wie sie wußte.
»Und ich weiß jetzt, wie du dich gefühlt haben mußt, als du mir das Versprechen nicht geben konntest.« Sie mußte gegen ihren Willen lächeln. »Bist du dir auch so dumm vorgekommen, als du gefragt hast?«
Er nickte. »Ja, als ich gemerkt habe, was auf dem Spiel stand. Und vor allem nachdem ich wußte, was für ein Mensch du bist, und du niemandem etwas antun würdest, es sei denn, du hast keine andere Wahl. In dem Augenblick kam ich mir dumm vor, weil ich dir nicht vertraut habe.«
Ihr ging es genauso. Dabei wußte sie, wie sehr er ihr vertraute.
»Tut mir leid«, sagte sie, das Lächeln noch immer auf den Lippen. »Ich sollte dich eigentlich besser kennen.«
»Weißt du, wie wir sie dazu bringen können, uns zu helfen?« Sie war bereits mehrere Male im Dorf der Schlammenschen gewesen, nie jedoch auf Einladung. Einen Konfessor lud man dort nicht ein. Es gehörte einfach zu den üblichen Aufgaben eines Konfessors, den verschiedenen Völkern der Midlands einen Besuch abzustatten. Sie hatten Angst gehabt und waren deswegen recht höflich gewesen, hatten ihr aber zu verstehen gegeben, daß sie ihre Angelegenheiten allein zu regeln pflegten und keine Einmischung von außen wünschten. Auf Drohungen reagierten sie nicht.
»Die Schlammenschen halten eine Versammlung ab, die man den Rat der Propheten nennt. Man hat mir nie erlaubt, teilzunehmen, sei es, weil ich eine Fremde bin, sei es, weil ich eine Frau bin, doch ich habe davon gehört. Irgendwie weissagen sie dabei die Antworten auf Fragen. Ich will damit nur sagen, Richard, sie werden keine Versammlung bei vorgehaltenem Schwert abhalten. Vielleicht hätten sie unter solchen Umständen nicht mal Erfolg. Wenn sie uns helfen, dann nur freiwillig. Du mußt sie für dich gewinnen.«
Er sah ihr hart in die Augen. »Mit deiner Hilfe schaffen wir es. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.«
Sie nickte und wandte sich wieder dem Pfad zu. Mächtige Wolken hingen tief über der Steppe und schienen zu brodeln, während sie in endloser Prozession dahinzogen. Hier draußen über der Ebene schien es so viel mehr Himmel zu geben als überall sonst. Das Gefühl war übermächtig und ließ das abwechslungslose, flache Land winzig erscheinen.
Der Regen hatte die Bachläufe anschwellen lassen. Das gurgelnde, schlammige Wasser donnerte stampfend und schäumend unter den Baumstämmen hindurch, die als Steg dienten. Kahlan spürte die Kraft des Wassers, das die Stämme unter ihren Stiefeln zum Zittern brachte. Sie trat vorsichtig auf. Die Stämme waren glitschig, und es gab keine Halteseile, die das Überqueren erleichtert hätten. Richard bot ihr die Hand, um sie zu stützen, und sie war froh über den Vorwand, sie ergreifen zu können. Sie stellte fest, daß sie sich darauf freute, nur um seine Hand berühren zu können. Doch so sehr es auch schmerzte, sie durfte ihm keine Hoffnungen machen. Wie gerne wäre sie einfach nur eine Frau gewesen wie alle anderen. Aber das war sie nicht. Sie war Konfessor. Manchmal jedoch, für einen kurzen Augenblick, konnte sie es vergessen und so tun als ob.
Gerne hätte sie Richard an ihrer Seite gehabt, doch er blieb hinter ihr, suchte das Land ab und paßte auf sie auf. Er befand sich in einem fremden Land, nahm nichts als selbstverständlich, sah in allem eine Bedrohung. In Westland hatte sie sich genauso gefühlt, sie kannte das also. Er riskierte sein Leben im Kampf gegen Rahl und gegen Dinge, denen er nie zuvor begegnet war, und er hatte die Pflicht, wachsam zu sein. Die Wachsamen starben schnell genug in den Midlands. Und die Unachtsamen noch viel schneller.
Sie hatten gerade einen weiteren Bach überquert und waren wieder in das feuchte Gras eingetaucht, als acht Männer vor ihnen aufsprangen. Kahlan und Richard blieben wie angewurzelt stehen. Die Männer hatten ihre Körper größtenteils in Felle gehüllt. Klebriger Schlamm, den selbst der Regen nicht herunterwaschen konnte, bedeckte den Rest der Haut und die Gesichter, glättete die Haare. An Armen und an verschiedenen Stellen der Haut sowie unter den Stirnbändern hatten sie Grasbüschel befestigt, so daß sie in ihrer Lauerstellung nicht zu sehen gewesen waren. Schweigend blieben sie vor den beiden stehen. Alle hatten eine finstere Miene aufgesetzt. Kahlan erkannte mehrere der Männer wieder. Es handelte sich um einen Jagdtrupp der Schlammenschen.
Der Älteste, ein drahtiger Mann namens Savidlin, ging auf sie zu. Die anderen warteten, Speer und Bogen bei Fuß, aber bereit. Kahlan spürte Richard dicht hinter sich. Ohne sich umzudrehen flüsterte sie ihm zu, er solle ruhig bleiben und das gleiche tun wie sie. Savidlin blieb vor ihr stehen.
»Kraft dem Konfessor Kahlan«, sagte er.
»Kraft dir, Savidlin, und dem Volk der Schlammenschen«, erwiderte sie in deren Sprache.
Savidlin schlug ihr fest ins Gesicht. Sie schlug ebenso fest zurück. Sofort hörte Kahlan, wie Richard klirrend sein Schwert zog. Sie wirbelte herum.
»Richard, nein!« Er hatte das Schwert erhoben. »Nein!« Sie packte seine Handgelenke. »Ich hab' dir doch gesagt, du sollst ruhig bleiben und dasselbe tun wie ich.«
Sein Blick zuckte von Savidlins Augen zu ihren. Die enthemmte Wut stand in seinen Augen, die Magie war bereit zum tödlichen Schlag. Er biß die Zähne zusammen. »Wenn sie dir die Kehle aufschlitzen, soll ich sie mir dann vielleicht auch aufschlitzen lassen?«
»Das ist ihre Art der Begrüßung. Es soll den Respekt vor der Kraft des anderen bekunden.« Er runzelte die Stirn und zögerte. »Tut mir leid, ich hätte dich warnen sollen. Steck das Schwert weg, Richard.«
Sein Blick schwankte zwischen den beiden hin und her, bevor er nachgab und das Schwert verärgert zurück in die Scheide schob. Erleichtert wandte sie sich den Schlammenschen zu. Richard stellte sich schützend neben sie. Savidlin und die anderen hatten die Szene in aller Ruhe verfolgt. Die Worte verstanden sie nicht, doch schienen sie ihre Bedeutung zu ahnen. Savidlin wandte den Blick von Richard ab und sah Kahlan an.
»Wer ist dieser zornige Mann?«
»Sein Name ist Richard. Er ist der Sucher.«
Unter den anderen Männern des Jagdtrupps erhob sich Gemurmel. Savidlin sah Richard in die Augen.
»Kraft dem Sucher Richard.«
Kahlan übersetzte ihm, was er gesagt hatte. Der Zorn stand ihm immer noch ins Gesicht geschrieben.
Savidlin trat vor und schlug Richard, jedoch nicht mit der flachen Hand wie Kahlan, sondern mit der Faust. Sofort antwortete Richard mit einem kräftigen Hieb, der Savidlin von den Füßen holte und ausgestreckt auf den Rücken warf. Benommen streckte er alle viere von sich. Die Waffen wurden fester gepackt. Richard richtete sich auf und warf den Männern einen warnenden Blick zu, der sie an Ort und Stelle festwachsen ließ.
Savidlin stützte sich auf eine Hand und rieb sich das Kinn mit der anderen. Er grinste über das ganze Gesicht. »Noch nie hat jemand solchen Respekt vor meiner Kraft bekundet! Dies ist ein weiser Mann.«
Die anderen brachen in Gelächter aus. Kahlan hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen. Die Spannung verflog.
»Was hat er gesagt?« wollte Richard wissen.
»Er meinte, du hättest großen Respekt vor ihm und seist ein weiser Mann. Ich glaube, du hast aus Versehen einen Freund gewonnen.«
Savidlin hielt Richard die Hand hin, er solle ihm aufhelfen. Richard kam der Bitte nach. Als Savidlin auf den Beinen stand, legte er Richard einen Arm um seine muskulösen Schultern.
»Ich freue mich wirklich, daß du meine Kraft erkannt hast, doch hoffe ich, daß du mir keinen weiteren Respekt mehr zollst.« Die Männer lachten. »Bei den Schlammenschen sollst du den Namen tragen ›Richard, der Mann mit dem Zorn‹.«
Kahlan versuchte beim Übersetzen nicht loszuprusten. Die Männer kicherten noch immer. Savidlin wandte sich an sie.
»Vielleicht wollt ihr jetzt meinen kräftigen Freund begrüßen und ihm Gelegenheit geben, euch zu zeigen, welchen Respekt er vor eurer Kraft hat.«
Alle streckten abwehrend die Arme von sich und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein«, meinte einer zwischen Lachanfällen, »der Respekt, den er dir gegenüber gezeigt hat, reicht für uns alle.«
Er wandte sich wieder Kahlan zu. »Konfessor Kahlan ist den Schlammmenschen wie immer willkommen.« Ohne hinzusehen deutete er mit einem Nicken auf Richard. »Ist er dein Gatte?«
»Nein!«
Savidlin verkrampfte sich. »Dann bist du gekommen, um einen unserer Männer zu erwählen?«
»Nein«, sagte sie und fand zu ihrer ruhigen Stimme zurück.
Savidlin zeigte sich überaus erleichtert. »Der Konfessor hat einen gefährlichen Reisegefährten ausgesucht.«
»Für mich ist er nicht gefährlich, nur für die, die mir etwas antun wollen.«
Savidlin nickte lächelnd und betrachtete Kahlan von Kopf bis Fuß. »Du trägst seltsame Kleidung. Anders als sonst.«
»Darunter bin ich dieselbe wie immer«, sagte Kahlan und beugte sich ein wenig vor, um das Gesagte zu unterstreichen. »Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Savidlin wich ein wenig zurück und nickte. Er kniff die Augen zusammen. »Und warum bist du hier?«
»Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Es gibt einen Mann, der euer Volk unterwerfen will. Der Sucher und ich möchten, daß ihr euch selbst regiert. Wir sind gekommen, die Kraft und Weisheit eures Volkes zu erbitten, und um Unterstützung in unserem Kampf.«
»Vater Rahl«, verkündete Savidlin wissend.
»Du hast von ihm gehört?«
Savidlin nickte. »Ein Mann kam vorbei. Er nannte sich Bekehrer und meinte, er wolle uns von der Güte eines gewissen Vater Rahl berichten. Drei Tage sprach er zu unserem Volk, bis wir ihn leid wurden.«
Jetzt war Kahlan an der Reihe zu erstarren. Sie sah zu den anderen Männern hinüber, die bei der Erwähnung des Bekehrers angefangen hatten zu grinsen. Sie sah dem Ältesten wieder ins schlammbeschmierte Gesicht. »Und was wurde nach den drei Tagen aus ihm?«
»Er war ein guter Mann.« Savidlin lächelte vielsagend.
Kahlan richtete sich auf. Richard beugte sich zu ihr.
»Worüber reden sie?«
»Sie wollen wissen, warum wir hier sind. Sie sagen, sie hätten von Darken Rahl gehört.«
»Sag ihnen, ich möchte zu ihrem Volk sprechen. Und an einer Versammlung teilnehmen.«
Sie sah ihn von unten her an. »Dazu komme ich noch. Adie hatte recht, du bist nicht gerade geduldig.«
Richard schmunzelte. »Nein, sie hatte unrecht. Ich bin sehr geduldig, nur nicht sehr tolerant. Das ist ein Unterschied.«
Kahlan lächelte Savidlin an, während sie mit Richard sprach. »Schön. Aber im Augenblick solltest du weder intolerant werden noch ihnen weiter deinen Respekt bekunden. Ich weiß, was ich tue; alles läuft gut. Laß es mich auf meine Art machen, einverstanden?«
Er gab nach, doch sie sah, wie unzufrieden er war. Wieder wandte sie sich dem Ältesten zu. Er blickte sie scharf an und stellte ihr eine Frage, die sie überraschte.
»Hat Richard mit dem Zorn uns den Regen gebracht?«
Kahlan runzelte die Stirn. »Na ja, ich nehme an, das könnte man sagen.« Die Frage verwirrte sie. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, also versuchte sie es mit der Wahrheit. »Die Wolken verfolgen ihn.«
Der Älteste betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und nickte dann. Sie fühlte sich unter seinen musternden Blicken nicht wohl und hätte das Gespräch gern wieder auf die wichtigen Dinge gebracht.
»Savidlin, ich habe dem Sucher geraten, dein Volk aufzusuchen. Er ist nicht hier, um deinem Volk Schaden zuzufügen oder sich in dessen Angelegenheiten zu mischen. Du kennst mich. Ich bin schon bei euch gewesen. Du weißt, wie sehr ich die Schlammenschen respektiere. Ich würde keinen anderen hierherbringen, wenn es nicht wichtig wäre. Im Augenblick läuft die Zeit gegen uns.«
Savidlin ließ sich das Gesagte eine Weile durch den Kopf gehen, dann endlich sprach er.
»Wie schon gesagt, du bist bei uns willkommen.« Schmunzelnd sah er den Sucher an, dann wieder zurück zu ihr. »Richard mit dem Zorn ist in unserem Dorf auch willkommen.«
Die Entscheidung stimmte die anderen sichtlich froh, sie schienen Richard zu mögen. Sie sammelten ihre Sachen zusammen, darunter zwei Rehe und ein Wildschwein, die jeweils an einen Tragebalken gebunden waren. Kahlan hatte ihre Beute zuvor nicht gesehen, sie hatte verborgen im hohen Gras gelegen. Beim Aufbruch scharte sich alles um Richard, berührte ihn vorsichtig und überschüttete ihn mit Fragen, die er nicht verstand. Savidlin schlug ihm aus Vorfreude auf die Schultern, mit seinem neuen, großen Freund im Dorf angeben zu können. Kahlan lief neben ihm und wurde von den meisten nicht beachtet. Sie war froh, daß Richard bis jetzt gern gelitten wurde. Was sie durchaus verstand. Es fiel schwer, ihn nicht zu mögen. Es gab aber auch noch einen anderen Grund, weshalb sie ihn bereitwillig anerkannten.
»Ich habe dir doch gesagt, ich könnte sie für uns gewinnen«, meinte Richard grinsend und blickte sie über ihre Köpfe hinweg an. »Ich hätte nur nicht gedacht, daß ich dazu einen von ihnen niederschlagen müßte.«