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Michaels Haus war ein massives Gebäude aus weißem Stein und stand ein ganzes Stück von der Straße entfernt. Schieferdächer in einer Vielfalt von Winkeln und Neigungen trafen sich kompliziert verschachtelt unter einem Bleiglasgiebel, durch den Licht in die zentrale Halle fiel. Hoch aufragende Weißeichen beschatteten den Zufahrtsweg zum Haus vor der strahlenden Nachmittagssonne, der durch ausladende Rasenflächen bis zu den symmetrisch zu beiden Seiten des Hauses angelegten Zierbeeten führte. Die Beete standen in voller Blüte. Die Blumen mußten wegen der späten Jahreszeit extra für diesen Anlaß in Gewächshäusern gezüchtet worden sein.

Elegant gekleidete Menschen schlenderten über den Rasen und durch den Garten. Richard fühlte sich plötzlich fehl am Platz. Sicher, in seinem dreckigen, schweißbefleckten Waldgewand sah er bestimmt gräßlich aus, aber er hatte den Umweg über sein Haus vermieden, wo er sich hätte frischmachen können. Außerdem war seine Stimmung finster und es ihm egal, wie er aussah. Er hatte Wichtigeres im Kopf.

Kahlan dagegen wirkte nicht so sehr fehl am Platz. Das ungewöhnliche und auffällige Kleid, das sie trug, strafte die Behauptung Lügen, sie sei gerade aus dem Wald gekommen. Angesichts des vielen Blutes, das vor kurzem auf dem Kamm des Schartenbergs geflossen war, war überraschenderweise nichts davon an ihr hängengeblieben. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich herauszuhalten, während die Männer sich gegenseitig umbrachten.

Sie hatte ihm erzählt, sie sei von jenseits der Grenze aus den Midlands gekommen, hatte seine bestürzte Reaktion gesehen und anschließend zu dem Thema geschwiegen. Richard brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, und hatte sie nicht weiter gedrängt. Statt dessen fragte sie ihn nach Westland, wie die Menschen dort waren und wo er lebte. Er erzählte ihr von seinem Haus im Wald, wo er das Leben fern der Stadt genoß und als Führer für Reisende durch den Kernland Forest arbeitete.

»Hat dein Haus eine Feuerstelle?« hatte sie gefragt.

»Aber ja.«

»Benutzt du sie?«

»Aber ja, ich koche ständig darauf«, hatte er erwidert. »Warum?«

Sie hatte lediglich mit den Achseln gezuckt und in die Landschaft geschaut. »Ich vermisse es nur, vor einem offenen Feuer zu sitzen, das ist alles.«

Er erzählte ihr von der Ermordung seines Vaters. Sie hörte einfühlsam zu.

Die Ereignisse des Tages und seine Sorgen hatten Richard aufgewühlt, und es tat ihm gut, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte, auch wenn sie es geschickt vermied, von ihren Geheimnissen zu sprechen.

»Ihre Einladung, Sir?« rief jemand mit tiefer Stimme aus dem Schatten neben dem Eingang.

Einladung? Richard fuhr herum und wollte sehen, wer ihn angesprochen hatte; er blickte in ein schelmisches Grinsen. Richard mußte selbst grinsen. Es war sein Freund Chase. Er schüttelte dem Grenzposten in einer herzlichen Begrüßung die Hand.

Chase war groß, glatt rasiert, hatte hellbraunes Haar, das noch keinerlei Anzeichen des Schütterwerdens zeigte, allerdings des Alters wegen an den Schläfen ergraute. Dichte Brauen warfen einen Schatten auf die eindringlichen, braunen Augen, die sich auch beim Sprechen langsam und listig umschauten und denen nichts entging. Diese Angewohnheit hinterließ bei vielen den — irrtümlichen — Eindruck, er höre nicht zu. Richard wußte, trotz seiner Größe konnte Chase im Notfall gefährlich schnell sein. Er trug an der Seite einen Gurt voller Messer, an dem auch eine Schlachtkeule hing. Das Heft eines Kurzschwerts ragte hinter seiner linken Schulter hervor, und seine Armbrust mit einer ganzen Anzahl mit Widerhaken und Stahlspitzen versehener Bolzen hing von einem Lederhalfter an seiner Linken.

Richard zog eine Braue hoch. »Sieht aus, als wolltest du dir deinen Anteil am Festessen abholen.«

Das Grinsen verschwand aus Chases Gesicht. »Ich bin nicht als Gast hier.« Sein Blick ruhte auf Kahlan.

Richard spürte das Unbehagen. Er nahm Kahlan beim Arm und zog sie vor. Sie ließ es ohne Furcht mit sich geschehen.

»Chase, das ist meine Freundin Kahlan.« Er lächelte sie an. »Das ist Dell Brandstone. Alle nennen ihn Chase. Ein alter Freund von mir. Bei ihm sind wir sicher.« Er wandte sich wieder an Chase. »Du kannst ihr vertrauen.«

Sie betrachtete den großen Mann und nickte ihm lächelnd zu.

Chase verneigte sich, und die Angelegenheit war erledigt. Richards Wort genügte ihm. Er ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen und ihn bei verschiedenen Leuten verweilen, um zu sehen, ob jemand Interesse an ihnen hatte. Er zog die beiden von der offenen, sonnenbeschienenen Treppe zur Seite.

»Dein Bruder hat sämtliche Grenzposten zusammengerufen.« Er wartete, sah sich erneut um. »Um sie zu seinen persönlichen Wachen zu machen.«

»Was? Das gibt doch keinen Sinn!« Richard konnte es nicht fassen. »Er hat die Hofwache und die Armee. Wozu braucht er dann noch die paar Grenzposten?«

Chase legte seine Linke auf einen der Messergriffe. »Genau. Wozu eigentlich.« Sein Gesicht verriet keine Regung. Tat es selten. »Vielleicht nur des Effekts wegen. Die Leute fürchten sich vor den Posten. Du warst seit der Ermordung deines Vaters im Wald. Nicht, daß ich an deiner Stelle nicht das gleiche getan hätte. Ich will bloß sagen, du warst eben nicht hier. Hier sind seltsame Dinge passiert, Richard. Mitten in der Nacht kommen und gehen irgendwelche Leute. Michael bezeichnet sie als ›besorgte Bürger‹. Ständig redet er irgendwelchen Unsinn über Verschwörungen gegen die Regierung. Er hat auf dem gesamten Gelände Posten verteilt.«

Richard sah sich um, konnte aber keine entdecken. Das hatte nicht viel zu sagen. Wenn ein Grenzposten nicht gesehen werden wollte, konnte er einem auf den Füßen stehen, und man wäre nicht in der Lage, ihn zu entdecken.

Chase beobachtete Richard, wie er seinen Blick schweifen ließ, und trommelte mit den Fingern auf einen Messerknauf. »Meine Männer sind da draußen, glaube mir.«

»Schön. Und woher weißt du, daß Michael nicht recht hat? Schließlich wurden der Vater des neuen Obersten Rates und wer sonst noch alles ermordet.«

Chase setzte seine subtilste Miene des Ekels auf. »In Westland kenne ich jeden kleinen Schleimer. Es gibt keine Verschwörung. Vielleicht gäbe es ein bißchen Spaß, wenn es so wäre. Ich halte mich jedoch nur für einen Teil der Dekoration. Michael meinte, ich sollte mich ›ein bißchen zeigen‹.« Sein Gesicht nahm schärfere Züge an. »Und was den Mord an deinem Vater anbelangt, nun, George Cypher und ich kannten uns sehr lange, schon lange vor deiner Geburt und vor der Entstehung der Grenze. Er war ein guter Mann. Ich war stolz, ihn meinen Freund nennen zu dürfen.« In seinen Augen kochte Wut. »Ich bin ein paar Leuten auf die Füße getreten.« Er wechselte auf sein anderes Bein und sah sich noch einmal um, bevor er sein grimmiges Gesicht wieder Richard zuwandte. »Und zwar fest. Die hätten den Namen ihrer Mutter verraten, wenn ich das gewollt hätte. Kein Mensch weiß etwas. Und glaub mir, hätten sie etwas gewußt, sie wären froh gewesen, die Unterhaltung mit mir so kurz wie möglich zu gestalten. Zum ersten Mal bin ich hinter jemandem her und kann nicht die geringste Spur finden.« Er verschränkte die Arme und lächelte wieder, als er Richard von Kopf bis Fuß musterte. »Wo wir gerade von Schleimern sprechen, wo hast du dich eigentlich rumgetrieben? Du siehst aus, als könntest du einer meiner Kunden sein.«

Richard sah zu Kahlan hinüber, dann zurück zu Chase. »Wir waren oben im Ven Forest.« Richard senkte die Stimme. »Uns haben vier Männer angegriffen.«

Chase wirkte leicht überrascht. »Kenne ich die Männer?«

Richard schüttelte den Kopf.

Chase runzelte die Stirn. »Und wo sind die vier hin, nachdem sie euch überfallen haben?«

»Du kennst doch den Pfad über den Schartenbergfelsen?«

»Sicher.«

»Sie liegen tief unten auf den Felsen. Wir müssen darüber reden.«

Chase starrte die beiden an. »Ich werde es mir ansehen.« Er zog die Brauen ungläubig zusammen. »Wie habt ihr das angestellt?«

Richard und Kahlan wechselten einen kurzen Blick, dann sah Richard wieder den Grenzposten an. »Ich glaube, die guten Seelen haben uns beschützt.«

Chase sah argwöhnisch von einem zum anderen. »Tatsächlich? Nun, Michael solltest du im Augenblick besser nichts davon erzählen. Ich fürchte, er glaubt nicht an gute Seelen.« Er blickte den beiden fest in die Augen. »Wenn ihr meint, es sei nötig, könnt ihr bei mir bleiben. Dort seid ihr sicher.«

Richard mußte an Chases viele Kinder denken. Er wollte sie auf keinen Fall gefährden. Darüber streiten wollte er aber auch nicht, also nickte er bloß.

»Wir gehen besser rein. Michael wird mich vermissen.«

»Noch eins«, meinte Chase. »Zedd will dich sehen. Er war ganz aufgebracht. Er meint, es sei wirklich wichtig.«

Richard warf einen Blick über die Schulter und sah die wimmelnde Menschenmenge. »Ich glaube, ich muß ihn ebenfalls treffen.« Er machte kehrt und wollte gehen.

»Richard«, sagte Chase mit einem Blick, der jeden anderen vernichtet hätte, »was hast du im oberen Ven Forest gemacht?«

Richard scheute sich nicht. »Das gleiche wie du. Ich habe versucht, eine Spur aufzunehmen.«

Chases hartes Gesicht entspannte sich, und er lächelte wieder knapp. »Mit Erfolg?«

Richard nickte und hielt seine rote, entzündete Hand in die Höhe. »Sie beißt sogar.«

Kahlan und er drehten sich um und mischten sich unter die ins Haus strömende Menschenmenge, passierten den Eingang, überquerten den weißen Marmorboden und gingen zum eleganten, zentralen Versammlungssaal. Wo das von oben hereinfallende Sonnenlicht sie erfaßte, bekamen die Marmorwände und -säulen einen unheimlichen, goldenen Glanz. Richard hatte immer die Wärme von Holz vorgezogen. Michael jedoch hatte gemeint, aus Holz könne jeder machen, was er wolle. Wenn man dagegen Marmor wollte, mußte man eine Menge Leute anheuern, die in Holzhäusern lebten und die Arbeit für einen taten. Richard erinnerte sich an die Zeit vor dem Tod ihrer Mutter, als er und Michael im Sand gespielt und Häuser und Forts aus Stöckchen gebastelt hatten. Damals hatte Michael ihm geholfen. Hoffentlich tat er es auch jetzt.

Einige Leute erkannten Richard. Sie begrüßten ihn und erhielten dafür nur ein steifes Lächeln oder einen flüchtigen Händedruck. Richard war überrascht, wie wohl sich Kahlan zwischen all den wichtigen Leuten fühlte, obwohl sie aus einem fremden Land stammte. Er war längst auf die Idee gekommen, auch sie könnte jemand Wichtiges sein. Mordbanden verfolgen nicht irgend jemanden.

Es fiel Richard schwer, jedem zuzulächeln. Wenn die Gerüchte von der Grenze stimmten, war ganz Westland in Gefahr. Die Menschen in den an das Kernland angrenzenden Gebieten hatten bereits jetzt Angst, nachts das Haus zu verlassen; Geschichten von halb aufgefressenen Leichenfunden machten die Runde. Richard hatte gemeint, sie seien lediglich eines normalen Todes gestorben, und wilde Tiere hätten ihre Leichen gefunden. So was passierte ständig. Die Leute behaupteten, sie kämen aus der Luft. Er tat es als abergläubischen Unsinn ab.

Bis jetzt.

Selbst zwischen all diesen Menschen spürte Richard eine überwältigende Einsamkeit. Er wußte nicht, an wen er sich halten konnte. Kahlan war die einzige, bei der er sich wohl fühlte, und doch fürchtete er sich vor ihr. Die Begegnung auf dem Felsen hatte ihm angst gemacht. Am liebsten hätte er sie an die Hand genommen und wäre gegangen.

Vielleicht wußte Zedd, was zu tun war. Vor den Zeiten der Grenze hatte er in den Midlands gelebt, auch wenn er nie darüber sprechen wollte. Und dann dieses kalte Gefühl, das alles könnte etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun haben, und der Tod seines Vaters mit seinen eigenen Geheimnissen, die sein Vater ihm, ganz allein ihm aufgebürdet hatte.

Richard fragte sich, wo Michael steckte. Seltsam, daß er noch nicht hier war.

Ihm war der Appetit zwar vergangen, aber Kahlan hatte schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Offenbar verfügte sie über eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung bei all den verlockenden Köstlichkeiten ringsum. Die herrlichen Düfte begannen, seine Einstellung zu seinem Appetit zu verändern.

Er beugte sich zu ihr. »Hungrig?«

»Sehr.«

Er führte sie an einen langen Tisch voller Speisen und Getränke. Es gab riesige dampfende Tabletts voller Würste und Fleisch, verschiedene Sorten Trockenfisch, gegrillten Fisch, große Terrinen mit Kohl- und Wursteintopf, Zwiebelsuppe, Gewürzsuppe, Tabletts mit Brot, Käse, Obst, Pasteten und Kuchen, Krüge voller Wein und Bier. Bedienstete eilten hin und her und sorgten dafür, daß die Tabletts immer gefüllt waren.

Kahlan sah sie sich an. »Einige der Mädchen, die bedienen, tragen die Haare lang. Ist das erlaubt?«

Richard blickte sich ein wenig verwirrt um. »Ja. Jeder kann die Haare so tragen, wie er möchte. Sieh.« Er beugte sich vor und wies mit angelegtem Arm in eine bestimmte Richtung. »Die Frauen dort drüben sind Beraterinnen. Einige haben kurzes, andere langes Haar. Ganz wie es ihnen gefällt.« Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln. »Hast du dir jemals die Haare abschneiden müssen?«

Sie sah ihn überrascht an. »Nein. Mich hat noch nie jemand gebeten, mir die Haare abzuschneiden. Wo ich herkomme, hat die Länge der Haare bei den Frauen eine gewisse soziale Bedeutung.«

»Heißt das, du bekleidest einen gewissen gesellschaftlichen Rang?« Mit einem beiläufigen Lächeln versuchte er, der Frage jede Aufdringlichkeit zu nehmen. »Bei deinen wundervollen, langen Haaren, meine ich.«

Sie erwiderte verlegen sein Lächeln, wenn auch ohne Freude. »Einige glauben das. Nach heute morgen hätte ich mir denken können, daß du auf diese Idee kommst. Wir alle können nur das sein, was wir sind, nicht mehr und nicht weniger.«

»Also, schlag mich, wenn ich dir eine Frage stelle, die man einer Freundin nicht stellt.«

Ihre Miene erhellte sich, trotzdem blieb ihr Lächeln so dünn wie zuvor. Das teilnahmsvolle Lächeln. Er mußte grinsen.

Er wandte sich dem Buffet zu und entdeckte eine seiner Lieblingsspeisen, Rippchen in würziger Soße, legte ein paar davon auf einen Teller und reichte sie ihr.

»Probier die zuerst, eine meiner Lieblingsspeisen.«

Kahlan hielt den Teller mit ausgestrecktem Arm von sich und betrachtete ihn argwöhnisch. »Von welchem Tier stammt das Fleisch?«

»Vom Schwein«, sagte er, ein wenig überrascht. »Probier es, das ist das Beste hier, bestimmt.«

Sie entspannte sich, zog den Teller heran und aß. Er verspeiste selbst mit Genuß ein halbes Dutzend Rippchen.

Er legte ihr einige Würstchen auf den Teller. »Hier, probier die auch mal.«

Wieder flammte ihr Argwohn auf. »Woraus sind die?«

»Aus Rind- und Schweinefleisch und Gewürzen, welche, weiß ich nicht. Warum? Gibt es Dinge, die du nicht ißt?«

»Einiges«, sagte sie unbestimmt, bevor sie ein Würstchen verspeiste. »Könnte ich von der Gewürzsuppe kosten, bitte?«

Er schöpfte die Suppe in eine feine, weiße Schüssel mit Goldrand und nahm ihr den Teller ab. Sie hielt die Schale mit beiden Händen und probierte.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sie ist gut, genau wie ich es mache. Ich denke, unsere beiden Heimatländer sind nicht so verschieden, wie du fürchtest.«

Während sie den Rest der Suppe austrank, nahm Richard, der sich nach ihrer Bemerkung besser fühlte, ein großes Stück Brot, belegte es mit Hühnerfleischstreifen und gab es ihr, als sie mit der Suppe fertig war. Sie reichte ihm die leere Schale, nahm das Brot mit dem Hühnerfleisch und ging essend zum Rand des Saales. Er stellte die Suppenschale ab und folgte ihr, wobei er gelegentlich jemandem die Hand schüttelte. Alle beäugten kritisch ihre Kleidung. Als sie einen ruhigen Ort neben einer Säule erreicht hatte, drehte sie sich zu ihm um.

»Holst du mir bitte ein Stück Käse?«

»Sicher. Welche Sorte?«

Sie ließ den Blick über die Menge schweifen. »Egal.«

Richard arbeitete sich durch das Gedränge zurück zum Buffet, wählte zwei Stücke Käse aus, von denen er eins auf dem Rückweg zu Kahlan verspeiste. Er reichte ihr den Käse. Sie griff danach, doch statt ihn zu essen, ließ sie den Käse zu Boden fallen, als hätte sie vergessen, daß sie ihn in der Hand hielt.

»Die falsche Sorte?«

Ihre Stimme klang abwesend. »Ich kann Käse nicht ausstehen.« Sie starrte an ihm vorbei auf einen Punkt auf der anderen Seite des Raumes.

»Sieh mich an«, sagte sie und blickte ihm in die Augen. »Hinter dir, drüben, stehen zwei Männer. Sie beobachten uns schon die ganze Zeit. Als ich dich Essenholen geschickt habe, haben sie dich dabei beobachtet. Auf mich haben sie nicht geachtet. Du bist es, auf den sie ein Auge geworfen haben.«

Richard legte ihr die Hände auf die Schulter und wechselte den Platz mit ihr, damit er sich selbst ein Bild machen konnte. Er ließ den Blick über die Köpfe hinweg zur gegenüberliegenden Seite des Raumes schweifen. »Das sind nur zwei von Michaels Gehilfen. Sie kennen mich. Vermutlich fragen sie sich, wo ich gesteckt habe und warum ich so heruntergekommen aussehe.« Er sah ihr in die Augen und sprach so leise, daß niemand es hören konnte. »Alles in Ordnung, Kahlan, entspann dich. Die Männer von heute morgen sind tot. Du bist in Sicherheit.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es werden andere kommen. Ich sollte mich nicht bei dir aufhalten. Ich möchte dein Leben nicht mehr gefährden, als ich es bereits getan habe. Du bist mein Freund.«

»Kein Quadron kann dich aufspüren, nicht hier in Kernland, ausgeschlossen.« Er verstand vom Aufspüren genug und war von dem überzeugt, was er gesagt hatte.

Kahlan hakte ihren Finger in sein Hemd und zog sein Gesicht dicht heran. In ihren grünen Augen blitzten Ärger und Unduldsamkeit auf.

Im Flüsterton sagte sie scharf: »Als ich meine Heimat verließ, belegten fünf Magier meine Fährte mit einem Zauber, und niemand konnte wissen, wohin ich gegangen war. Anschließend haben sie sich umgebracht, damit man sie nicht zum Sprechen bringen konnte!« Sie biß wütend die Zähne aufeinander, und ihre Augen waren feucht. Sie begann zu zittern.

Zauberer! Richard erstarrte. Endlich nahm er sachte ihre Hand von seinem Hemd, hielt sie fest und sagte mit einer Stimme, die in dem Lärm kaum zu verstehen war. »Das tut mir leid.«

»Richard, ich habe eine Todesangst!« Ihr Zittern war heftiger geworden. »Wenn du heute nicht gewesen wärst, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre. Der Tod wäre vielleicht noch das Beste gewesen. Du weißt nichts über diese Männer.« Sie schüttelte sich voller Entsetzen.

Er bekam eine Gänsehaut. Sachte schob er sie hinter die Säule zurück, wo sie niemand sehen konnte. »Tut mir leid, Kahlan. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Du weißt wenigstens etwas, aber ich stehe völlig im dunkeln. Ich habe auch Angst. Heute auf dem Felsen … Ich habe mich noch nie so gefürchtet. Außerdem habe ich nicht gerade viel zu unserer Rettung beigetragen.« Ihre Hilflosigkeit gab ihm die Kraft, sie zu beruhigen.

»Was du getan hast«, brachte sie mühsam hervor, »hat den Ausschlag gegeben. Es hat uns gerettet. Ganz gleich, wie gering du deinen Beitrag einschätzt, es hat gereicht. Hättest du mir nicht geholfen … ich will nicht, daß du durch mich Schwierigkeiten bekommst.«

Er drückte ihre Hand fester. »Bestimmt nicht. Ich habe einen Freund. Zedd. Vielleicht kann er uns sagen, was wir zu deiner Sicherheit unternehmen können. Er ist ein bißchen seltsam, aber er ist der klügste Mensch, den ich kenne. Wenn irgend jemand weiß, was zu tun ist, dann er. Sobald Michael seine Rede gehalten hat, werden wir zu mir nach Hause gehen. Du kannst dich vor das offene Feuer setzen, und morgen früh bringe ich dich zu Zedd.« Lächelnd deutete er mit einem Nicken auf ein Fenster gleich neben ihnen. »Sieh, dort drüben.«

Sie drehte sich um und sah Chase vor dem Fenster stehen. Der Grenzposten warf einen Blick über seine Schulter, zwinkerte ihr herzlich lächelnd zu, dann machte er sich wieder an die Beobachtung des Geländes.

»Für Chase wäre ein Quadron das reinste Vergnügen. Während er sie erledigt, könnte er dir eine Geschichte über echte Schwierigkeiten erzählen. Er paßt auf dich auf, seit wir ihm von den Männern erzählt haben.«

Daraufhin lächelte sie dünn, doch das währte nicht lange.

»Es steckt noch mehr dahinter. Ich dachte, in Westland wäre ich sicher. So hätte es auch sein sollen. Nur durch Magie konnte ich die Grenze überqueren.« Sie zitterte immer noch, bekam sich aber allmählich wieder unter Kontrolle. Er gab ihr Kraft. »Wie diese Männer herübergelangt sind, weiß ich nicht. Eigentlich hätten sie es nicht schaffen dürfen. Sie hätten nicht einmal wissen dürfen, daß ich die Midlands verlassen habe. Irgendwie müssen sich die Regeln verändert haben.«

»Darum kümmern wir uns morgen. Fürs erste bist du sicher. Außerdem würde ein anderes Quadron Tage bis hierher brauchen, oder? Wir haben also Zeit, uns alles in Ruhe zu überlegen.«

Sie nickte. »Danke, Richard Cypher. Mein Freund. Aber du sollst wissen, wenn ich dich in Gefahr bringe, werde ich gehen, bevor dir etwas passiert.« Sie zog ihre Hand zurück und wischte sich über die unteren Lider. »Ich habe immer noch Hunger. Können wir noch etwas essen?«

Richard mußte schmunzeln. »Gerne. Was möchtest du denn?«

»Noch etwas von deinen Lieblingsspeisen!«

Sie gingen zum Buffet zurück und aßen, während sie auf Michael warteten. Richard fühlte sich besser. Nicht wegen der Dinge, die sie ihm erzählt hatte, sondern weil er jetzt etwas mehr wußte und weil er ihr hatte Sicherheit geben können. Irgend jemand würde die Antwort auf ihre Probleme finden, und er würde herausfinden, was es mit der Grenze auf sich hatte. Er fürchtete sich vor den Antworten, aber er würde sie endlich erfahren.

Ein Raunen ging durch die Menge, während sich die Köpfe zum anderen Ende des Raumes wendeten. Michael. Richard nahm Kahlan an der Hand und ging zur Seite des Saales, damit sie zusehen konnten.

Als Michael auf das Podium trat, sah Richard, warum er solange gebraucht hatte, um zu erscheinen. Er hatte gewartet, bis das Sonnenlicht auf diese Stelle fiel, damit er im Licht stehen und für alle sichtbar in seinem Ruhm glänzen konnte.

Er war nicht nur kleiner, sondern auch schwerer und runder als Richard. Das Sonnenlicht brachte seine ungebändigte Mähne zum Leuchten. Auf seiner Oberlippe prangte stolz ein Schnauzer. Er trug weite, weiße Hosen, und sein weißes Hemd mit den lockeren Armen wurde an der Hüfte von einem goldenen Gürtel zusammengerafft. Dort im Sonnenlicht schien Michael den gleichen kalten, merkwürdigen Glanz auszustrahlen wie der Marmor. Er hob sich überdeutlich vor dem im Schatten liegenden Hintergrund ab.

Richard hob die Hand, um sich bemerkbar zu machen. Michael sah die Hand, lächelte seinem Bruder zu und sah ihm einen Augenblick lang in die Augen, bevor er zu sprechen begann und den Blick der Menge zuwandte.

»Ladies und Gentlemen, heute habe ich das Amt des Obersten Rates von Westland übernommen.« Im Saal erhob sich Gebrüll. Michael ließ es regungslos über sich ergehen, dann reckte er plötzlich die Arme in die Höhe und bat um Ruhe. Er wartete, bis auch der letzte Rufer verstummt war. »Die Räte aus ganz Westland haben mich erwählt, um uns durch diese Zeiten der Herausforderung zu führen, weil ich über den Mut und die Visionen verfüge, uns in ein neues Zeitalter zu führen. Zu lange haben wir in die Vergangenheit geblickt statt in die Zukunft! Zu lange haben wir alte Geister bekämpft und waren blind für neue Herausforderungen! Zu lange haben wir auf jene gehört, die uns in den Krieg ziehen wollten, und jene ignoriert, die uns auf den Pfad des Friedens führen wollten!«

Die Menge raste. Richard war verblüfft. Was redete Michael da? Welchen Krieg meinte er? Es gab niemanden, gegen den man hätte Krieg führen können!

Wieder reckte Michael seine Arme in die Höhe und fuhr diesmal fort, ohne zu warten, bis alles ruhig war. »Ich werde nicht abwarten und zusehen, wie Westland von diesen Verrätern in Gefahr gebracht wird!« Sein Gesicht war rot vor Zorn. Wieder grölten die Leute, doch diesmal reckten sie die Fäuste in die Höhe. Sie intonierten Michaels Namen. Richard und Kahlan sahen sich an.

»Besorgte Bürger sind vorgetreten und haben diese Feiglinge, diese Verräter, beim Namen genannt. Genau in diesem Augenblick, während wir unsere Herzen in einem gemeinsamen Ziel vereinen, beschützen uns die Grenzposten, während die Armee die Verräter zusammentreibt, die sich gegen die Regierung verschworen haben. Es sind keine gewöhnlichen Kriminellen, wie ihr vielleicht denken mögt, sondern geachtete Männer in hohen Ämtern!«

Ein Murmeln durchzog die Versammlung. Richard war wie gelähmt. War das möglich? Eine Verschwörung? Sein Bruder war nicht dahin gelangt, wo er jetzt stand, ohne zu wissen, was gespielt wurde. Männer in hohen Ämtern. Das erklärte sicher, warum Chase nichts davon wußte.

Michael stand in dem Kegel, den das hereinfallende Sonnenlicht bildete, und wartete, bis das Gemurmel verebbte. Als er wieder ansetzte, war seine Stimme freundlich und leise.

»Aber das ist Vergangenheit. Heute verkünden wir unseren neuen Kurs. Ein Grund, warum ich zum Obersten Rat erwählt wurde, besteht darin, daß ich als Kernländer im Schatten der Grenze lebe. Ein Schatten, der über unser aller Leben liegt. Aber auch das ist nur ein Blick in die Vergangenheit. Das Licht eines neuen Tages vertreibt die Schatten der vergangenen Nacht und macht uns deutlich, daß unsere Angst nichts anderes ist als ein Hirngespinst.

Wir müssen jenem Tag freudig entgegensehen, da die Grenze nicht mehr sein wird, denn nichts hält ewig, hab' ich recht? Und wenn der Tag kommt, müssen wir den anderen die Hand entgegenstrecken, und zwar nicht mit dem Schwert, wie einige es gerne sähen. Das führt nur zu sinnlosen Kriegen und unsinnigem Sterben.

Sollen wir unsere Kräfte darauf verschwenden, uns auf einen Kampf mit einem Volk vorzubereiten, von dem wir lange getrennt waren? Einem Volk, aus dem viele unserer Vorfahren stammen? Sollen wir bereitwillig unseren Schwestern und Brüdern Gewalt antun, nur weil wir sie nicht kennen? Was für eine Vergeudung! Unsere Kräfte sollten dafür verwendet werden, das wahre Elend ringsum auszumerzen. Wenn die Zeit kommt — vielleicht nicht mehr während unseres Lebens, aber kommen wird sie –, sollten wir bereit sein, unsere lange von uns getrennten Brüder und Schwestern willkommen zu heißen. Wir müssen nicht nur zwei Länder vereinigen, sondern alle drei! Denn wie eines Tages die Grenze zwischen Westland und den Midlands verschwinden wird, so wird auch die Grenze zwischen den Midlands und D'Hara fallen, und alle drei Länder werden eins sein! Voller Zuversicht erwarten wir den Tag, an dem wir die Freude über die Wiedervereinigung mit allen werden teilen können, vorausgesetzt, wir tragen sie in unseren Herzen! Und diese Freude wird heute von hier, von Kernland, ausgehen!

Aus diesem Grund habe ich all denen einen Riegel vorgeschoben, die uns bloß deswegen in einen Krieg mit unseren Brüdern und Schwestern stürzen wollen, weil eines Tages die Grenzen fallen werden. Eure Verantwortung als Räte des Westlandes ist es, diese Kunde im ganzen Land zu verbreiten! Bringt allen guten Menschen unsere Botschaft vom Frieden. Sie werden die Wahrheit in euren Herzen entdecken. Bitte, unterstützt mich. Ich will, daß das, wofür wir hier den Grundstein legen, unseren Kindern und Enkeln zugute kommt. Ich will, daß wir selbst den Weg in den Frieden und in die Zukunft beschreiten, damit zukünftige Generationen ihren Nutzen daraus ziehen können.«

Michael stand mit gebeugtem Kopf da und preßte sich die geballten Fäuste auf die Brust. Das Sonnenlicht ließ ihn erglühen. Die Zuhörer schwiegen ergriffen. Richard entdeckte Männer mit Tränen in den Augen und Frauen, die offen weinten. Alle Augen waren auf Michael gerichtet, der so regungslos dastand, als sei er aus Stein.

Richard war verblüfft. Noch nie hatte er seinen Bruder so gewandt und mit solcher Überzeugung reden hören. Alles schien so sinnvoll. Denn schließlich stand er hier mit einer Frau von jenseits der Grenze, aus den Midlands, und schon heute war sie seine Freundin.

Andererseits hatten vier Männer versucht, sie beide umzubringen. Nein, ganz so war es nicht. Eigentlich wollten sie nur die Frau, und er hatte im Weg gestanden. Sie hatten angeboten, ihn ziehen zu lassen. Es war sein Entschluß gewesen, zu bleiben und zu kämpfen. Er hatte immer Angst vor den anderen jenseits der Grenze gehabt, und jetzt hatte er sich mit einer von ihnen angefreundet, genau wie Michael gesagt hatte.

Er begann, seinen Bruder in einem neuen Licht zu sehen. Michaels Worte hatten die Menschen bewegt. Auf eine Art, wie Richard es noch nicht gesehen hatte. Michael trat für Frieden und Freundschaft mit anderen Völkern ein. Was sollte daran verkehrt sein?

Warum war ihm so unbehaglich dabei zumute?

»Und nun zu dem anderen Problem«, fuhr Michael fort, »dem wahren Leiden, das uns umgibt. Während wir uns um die Grenzen gesorgt haben, die keinem von uns je ein Leid zugefügt haben, mußten viele aus unseren Familien, von unseren Freunden und Nachbarn, leiden und sterben. Tragische und sinnlose Tote, die im Feuer ums Leben gekommen sind. Ja, genau das habe ich gesagt. Im Feuer.«

Einige murmelten verwirrt. Michael verlor seine Bindung zur Menge. Er schien es erwartet zu haben. Er blickte von Gesicht zu Gesicht, sah, wie die Verwirrung wuchs. Dann streckte er dramatisch seine Hand aus und zeigte mit dem Finger auf jemanden.

Auf Richard.

»Seht!« schrie er. Alles drehte sich um wie ein Mann. Hunderte von Augen sahen auf Richard. »Dort steht mein geliebter Bruder!«

Richard wäre am liebsten im Boden versunken. »Mein geliebter Bruder, der«, und dabei schlug er sich mit der Faust auf die Brust, »mit mir die Trauer um unsere Mutter teilt, die wir an das Feuer verloren haben! Das Feuer nahm uns unsere Mutter, als wir noch jung waren, und wir mußten alleine, ohne ihre Liebe und Fürsorge, aufwachsen, ohne ihre Hilfe. Nicht etwa irgendein eingebildeter Feind von jenseits der Grenze war es, der sie raubte, sondern ein anderer Feind: das Feuer! Sie war nicht da, um uns in unserem Schmerz zu trösten, wenn wir nachts weinten. Und am meisten schmerzt es mich, weil es nicht hätte sein müssen.«

Tränen, die im Licht der Sonne glitzerten, liefen Michael über die Wangen. »Tut mir leid, Freunde, bitte vergebt mir.« Er wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch fort, das er in der Hand hatte. »Nur: erst heute morgen habe ich wieder von einem Feuer gehört, das prächtige junge Eltern geraubt und eine Tochter zum Waisenkind gemacht hat. Da spürte ich auf einmal meinen eigenen Schmerz wieder, und ich konnte nicht schweigen.« Jetzt hatte er die Menge abermals fest im Griff. Man ließ den Tränen freien Lauf. Eine Frau legte den Arm um Richard, der wie betäubt dastand. Flüsternd gestand sie ihm, wie leid es ihr täte.

»Ich frage mich, wie viele von euch den Schmerz teilen, mit dem mein Bruder und ich jeden Tag leben. Bitte, wer von euch einen seiner Lieben oder einen Freund hat, der vom Feuer verletzt oder gar getötet wurde, der hebe die Hand.« Eine ganze Menge Hände gingen in die Höhe, und manche in der Menge begannen zu klagen.

»Seht ihr, meine Freunde«, sagte er mit brechender Stimme, die Arme ausbreitend, »das Leid ist mitten unter uns. Wir brauchen nicht weiter zu suchen, es ist hier in diesem Raum.«

Richard schluckte, als die Erinnerung an das Entsetzen in ihm aufstieg. Ein Mann, der ihren Vater für einen Betrüger gehalten hatte, war in Wut geraten und hatte eine Lampe vom Tisch gestoßen: Richard und sein Bruder hatten im Hinterzimmer geschlafen. Während der Mann auf den Vater eindrosch und ihn nach draußen zerrte, schleppte seine Mutter Richard und seinen Bruder aus dem brennenden Haus und lief dann wieder nach drinnen, um noch etwas herauszuholen. Was, hatten sie nie erfahren. Dabei war sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Ihre Schreie brachten den Mann wieder zur Vernunft, und er und ihr Vater versuchten vergeblich, sie zu retten. Voller Schuldgefühle und Abscheu vor dem, was er getan hatte, lief der Mann weinend davon, immer wieder beteuernd, wie leid es ihm täte.

Solche Dinge, das hatte ihr Vater ihnen tausendmal erzählt, passierten, wenn ein Mann außer sich vor Wut geriet. Michael hatte es auf die leichte Schulter, Richard hatte es sich zu Herzen genommen. Es hatte ihm die Angst vor seinem eigenen Zorn eingeimpft, und wann immer der auszubrechen drohte, würgte er ihn hinunter.

Michael irrte. Nicht Feuer hatte ihre Mutter getötet, sondern Zorn.

Michael senkte den Kopf, ließ die Arme schlaff an den Seiten hinunterhängen. Seine Stimme wurde sanfter. »Was können wir gegen die Gefahr unternehmen, die unseren Familien durch das Feuer droht?« Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht, meine Freunde. Ich bilde gerade eine Kommission zu diesem Problem, und ich bitte jeden betroffenen Bürger eindringlich, seine Vorschläge zu unterbreiten. Meine Tür steht euch immer offen. Zusammen sind wir stark. Zusammen können wir etwas erreichen.

Und nun, meine Freunde, erlaubt mir bitte, meinen Bruder zu trösten. Ich fürchte, die Erwähnung dieser Tragödie kam überraschend für ihn, und ich möchte ihn um Vergebung bitten.«

Er sprang von dem Podest. Die Menge teilte sich, ließ ihn durch. Einige streckten die Hände aus, um ihn im Vorübergehen zu berühren. Er ignorierte sie.

Richard verfolgte starren Blicks, wie sein Bruder auf ihn zukam. Die Menge rückte von ihm ab. Nur Kahlan blieb an seiner Seite und berührte ihn am Arm. Die Leute machten sich wieder über das Essen her und unterhielten sich aufgeregt. Er war vergessen. Richard richtete sich auf und würgte seinen Zorn hinunter.

Michael schlug ihm lächelnd auf die Schulter. »Großartige Rede!« gratulierte er sich selbst. »Was meinst du?«

Richard senkte den Blick und betrachtete das Muster des Marmorbodens. »Warum hast du von Mutters Tod angefangen? Warum hast du das vor allen Leuten erzählen müssen? Wieso hast du sie so mißbraucht?«

Michael legte Richard den Arm um die Schulter. »Ich weiß, es schmerzt, und es tut mir leid, aber es war für einen guten Zweck. Hast du die Tränen in ihren Augen gesehen? Was ich hier beginne, wird uns allen eine bessere Zukunft bringen. Ich glaube an das, was ich gesagt habe. Wir müssen den Herausforderungen der Zukunft mit Begeisterung entgegensehen, nicht mit Angst.«

»Und was hast du mit den Grenzen gemeint?«

»Die Dinge verändern sich, Richard. Ich muß ihnen immer ein Stück voraus sein.« Das Lächeln war verschwunden. »Mehr wollte ich damit nicht sagen. Die Grenzen werden nicht ewig bestehen. Dazu waren sie nie angelegt. Wir alle werden darauf gefaßt sein müssen.«

Richard wechselte das Thema. »Was hast du über den Mord an Vater herausgefunden? Haben die Spurenleser irgend etwas entdeckt?«

Michael zog seinen Arm zurück. »Werde erwachsen, Richard. George war ein alter Narr. Wahrscheinlich ist er mit etwas erwischt worden, das dem Falschen gehörte. Jemandem mit einer üblen Laune und einem großen Messer.«

»Das ist nicht wahr! Und das weißt du!« Richard konnte es nicht ausstehen, wie Michael ihren Vater ›George‹ nannte. »Er hat sein Lebtag nichts gestohlen!«

»Nur weil der, dem du etwas abnimmst, lange tot ist, bedeutet das noch lange nicht, daß du ein Recht darauf hast. Offenbar wollte es jemand zurück.«

»Woher weißt du das alles?« wollte Richard wissen. »Was hast du herausgefunden?«

»Nichts! Das sagt mir alles nur mein gesunder Menschenverstand. Jemand hat das Haus auseinandergenommen. Jemand hat etwas gesucht. Er hat es nicht gefunden, George wollte ihm nicht verraten, wo es ist, also hat er ihn umgebracht. Das ist alles. Die Spurenleser meinten, es gäbe keine Hinweise. Wahrscheinlich erfahren wir nie, wer es war.« Michael kniff die Augen zusammen, sein Gesicht wurde hart. »Du solltest lernen, mit dieser Tatsache zu leben.«

Richard stieß einen tiefen Seufzer aus. Das machte Sinn. Jemand hatte nach etwas gesucht. Er sollte Michael nicht dafür verantwortlich machen, wenn er nicht herausfand, wer. Michael hatte es versucht. Richard fragte sich, wieso es keine Spuren gab.

»Tut mir leid. Vielleicht hast du recht, Michael.« Ihm fiel noch etwas ein. »Es hatte also nichts mit dieser Verschwörung zu tun? Es waren nicht die Männer, die versuchten, dich abzusetzen?«

Michael winkte ab. »Nein, nein, nein. Damit hatte es gar nichts zu tun. Das Problem hat sich erledigt. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin sicher, alles ist in Ordnung.«

Richard nickte. Michaels Gesicht wurde verdrießlich.

»Wie siehst du eigentlich aus, mein kleiner Bruder? Hättest du dich nicht wenigstens waschen können? Es ist ja nicht so, daß man dir nicht Bescheid gesagt hätte. Du wußtest doch schon seit Wochen von dieser Feier.«

Bevor er antworten konnte, meldete sich Kahlan zu Wort. Richard hatte ganz vergessen, daß sie noch immer neben ihm stand.

»Bitte, vergib deinem Bruder, es war nicht seine Schuld. Er war gekommen, um mich nach Kernland zu führen, ich hatte mich jedoch verspätet. Ich hoffe, er verliert deswegen nicht dein Vertrauen.«

Michael betrachtete sie von Kopf bis Fuß, dann sah er ihr wieder ins Gesicht. »Und wer bist du?«

Sie richtete sich auf. »Ich bin Kahlan Amnell.«

Michael lächelte zaghaft und nickte kurz. »Du bist also nicht die Begleitung meines Bruders, wie ich angenommen hatte. Und woher kommst du?«

»Aus einem kleinen Ort, weit weg. Ich bin sicher, du hast noch nie davon gehört.«

Michael fragte nicht weiter nach, sondern wandte sich wieder seinem Bruder zu. »Bleibst du über Nacht?«

»Nein. Ich muß zu Zedd. Er hat schon nach mir gesucht.«

Michaels Lächeln schwand. »Du solltest dir bessere Freunde suchen. Es kann nichts Vernünftiges dabei herauskommen, wenn du deine Zeit mit diesem eigensinnigen Alten verbringst.« Er wandte sich wieder Kahlan zu. »Und du, meine Liebe, bist heute abend mein Gast.«

»Ich habe andere Pläne«, sagte sie vorsichtig.

Michael umfaßte sie mit beiden Armen, legte ihr beide Hände auf das Gesäß und zog die untere Hälfte ihres Körpers fest an sich. Er drückte ihr ein Bein zwischen die Schenkel.

»Dann ändere sie.« Sein Lächeln war kalt wie eine Winternacht.

»Nimm … deine … Hände … weg!« Ihre Stimme klang hart und warnend. Die beiden starrten sich in die Augen.

Richard war entsetzt. Er konnte nicht fassen, was sein Bruder tat. »Michael! Hör auf!«

Die beiden ignorierten ihn und starrten sich unvermindert an. Sie waren gleich groß, standen sich von Gesicht zu Gesicht gegenüber und verhakten ihre Blicke wie Geweihe im Kampf. Richard stand hilflos daneben. Er spürte, beide wollten, daß er sich raushielt. Sein Körper spannte sich an, die Muskeln verhärteten sich, bereit, dieses Gefühl zu ignorieren.

»Du fühlst dich gut an«, flüsterte Michael. »Ich glaube, ich könnte mich in dich verlieben.«

Kahlan atmete schwer. »Du hast ja keine Ahnung.« Ihre Stimme war klar und kontrolliert. »Und jetzt nimm deine Hände weg.«

Als er keine Anstalten machte, legte sie ihm in aller Ruhe den Nagel ihres Zeigefingers auf die Brust, gleich unter die Vertiefung an seinem Halsansatz. Während sie sich anfunkelten, begann sie langsam, ganz langsam, ihren Nagel nach unten zu ziehen und seine Haut aufzuritzen. In kleinen Rinnsalen lief das Blut über seine Haut. Einen winzigen Augenblick lang bewegte sich Michael nicht, aber dann konnten seine Augen den Schmerz nicht mehr verbergen, und er stieß sie heftig von sich.

Kahlan stürmte aus dem Haus, ohne sich umzusehen.

Richard warf seinem Bruder einen wütenden Blick zu und folgte ihr nach draußen.

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