20

Ringsum erglühte grünes Licht, während sie sich vorsichtig und schleppend durch das Geröll am Hang arbeiteten, über oder unter Stämmen hindurchkletterten und Äste zur Seite traten, wenn es nötig war. Der schillernde, grüne Lichtschild der Grenzwälle bedrängte sie von beiden Seiten, während sie sich vorantasteten. Dunkelheit lag schwer über allem, bis auf die unheimliche Beleuchtung, die ihnen das Gefühl gab, sie seien im Innern einer Höhle.

Richard und Kahlan waren zur gleichen Zeit zum selben Entschluß gekommen. Die beiden hatten keine andere Wahl gehabt. Zurück konnten sie nicht, und am gespaltenen Felsen konnten sie auch nicht bleiben. Nicht, solange die Greifer und Schattenwesen Jagd auf sie machten. Also mußten sie weiter voran. In den Schlund.

Richard hatte den Stein der Nacht weggesteckt. Zum Auffinden des Pfades war er nutzlos, da kein Pfad vorhanden war, außerdem machte er es schwierig, die Stelle zu erkennen, wo das Licht der Grenze in den grünen Lichtschild überging. Für den Fall, daß er schnell wieder gebraucht wurde, hatte er ihn nicht in den Lederbeutel zurückgesteckt, sondern ihn einfach in seine Tasche fallen lassen.

»Wir lassen uns von den Wällen der Grenze den Weg zeigen«, hatte er gesagt. Seine ruhige Stimme hallte aus der Dunkelheit zurück. »Geh langsam, und mache keinen Schritt mehr, wenn ein Wall dunkler wird, sondern geh ein Stück zur Seite. So können wir zwischen ihnen bleiben und durch den Paß gelangen.«

Kahlan hatte keinen Augenblick gezögert. Die Greifer und die Schattenwesen bedeuteten den sicheren Tod. Sie hatte Richards Hand ergriffen, als sie in den grünen Lichtschein zurückgingen.

Schulter an Schulter hatten sie den unsichtbaren Durchgang betreten. Richards Herz klopfte, er versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie jetzt taten: blind zwischen den Wällen der Grenze herumlaufen.

Zwischen den Wällen des Todes.

Wie die Grenze aussah, wußte er, weil Chase ihn ja in ihre Nähe gebracht hatte, und später hatte das finstere Monster versucht, Kahlan hineinzuziehen. Sobald er einen der dunklen Wälle betrat, gab es kein Zurück. Wenn sie jedoch im grünen Schimmer zwischen den Wällen blieben, dann hatten sie wenigstens eine Chance.

Kahlan blieb stehen und stieß ihn nach rechts. Sie befand sich dicht am Wall. Dann tauchte er auf der rechten Seite auf. Sie suchten die Mitte und gingen weiter. Wenn sie langsam und vorsichtig gingen, konnten sie zwischen den Wällen bleiben und auf einer dünnen Linie des Lebens wandeln, mit dem Tod auf jeder Seite. Seine Jahre als Führer waren ihm hier keine Hilfe. Richard gab es schließlich auf, Reste des Pfades zu entdecken und ließ sich statt dessen vom Druck des Walles zu beiden Seiten leiten. Der Druck wurde zu seinem Führer. Es ging langsam voran. Von dem Pfad war keine Spur zu sehen, ebensowenig von den Hügeln ringsum, da war nur diese enge Welt aus leuchtend grünem Licht, wie eine Blase des Lebens, die hilflos durch ein uferloses Meer aus Finsternis und Tod trieb.

Schlamm machte seine Stiefel schwer, Angst belastete seine Gedanken. Jedes Hindernis, auf das sie stießen, mußte überquert werden, umgehen war nicht möglich. Die Grenzwälle bestimmten ihren Weg. Manchmal ging es über umgestürzte Bäume, manchmal über Felsen, manchmal durch eine Unterspülung, wo sie sich nur an freigelegten Wurzeln festhalten und so auf die andere Seite ziehen konnten. Schweigend halfen sie einander, zur Aufmunterung gab es nicht mehr als einen Händedruck. Nirgendwo konnten sie mehr als ein oder zwei Schritte von ihrem Weg abweichen, ohne daß die dunklen Wälle auftauchten. Das geschah bei jeder Biegung, manchmal auch mehrere Male hintereinander, bis sie endlich wußten, in welche Richtung der Weg weiterging. Jedesmal zogen sie sich so schnell wie möglich zurück, und jedesmal fuhr es ihm eiskalt in die Knochen.

Richards Schultern schmerzten. Er hatte vor Anspannung die Muskeln zusammengezogen, sein Atem war flach geworden. Er entspannte sich, atmete tief durch, ließ seine Arme herabhängen, schüttelte die Handgelenke, um der Anstrengung Herr zu werden. Dann ergriff er wieder Kahlans Hand. Er lächelte in ihr gespenstisch grünlich beschienenes Antlitz. Sie lächelte zurück, doch er sah ihren Augen an, wie schwer sie ihr Entsetzen beherrschen konnte. Wenigstens hielten ihnen die Knochen die Schattenwesen und die Monster vom Leib, und auch hinter den Wällen war nichts zu erkennen, wenn sie aus Versehen daranstießen.

Richard fühlte sich wie betäubt von dem Marsch, der einen Tag und eine halbe Nacht gedauert hatte, von den furchteinflößenden Dingen, die geschehen waren, vom Mangel an Schlaf und von den stundenlangen Reisen durch die unheimliche Welt zwischen den Grenzwällen, einer Welt, in der er fast spürte, wie ihm der Lebenswille mit jedem vorsichtigen Schritt aus der Seele gesogen wurde. Zeit wurde etwas Unwirkliches, barg keine feste Bedeutung mehr. Er hätte erst Stunden oder schon Tage im Schlund sein können, es fiel ihm schwer, das noch zu unterscheiden. Er hatte nur noch einen Wunsch, er sehnte sich nach Frieden, daß es vorbei und er wieder in Sicherheit sein möge. Die starke Anspannung, die ihn während ihres Vordringens erfaßt hatte, begann seine Angst abzustumpfen. Kahlans Hand war alles, was ihn noch mit der Welt aus Licht und Leben verband.

Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah sich um. Schattenwesen, jedes umgeben von einem grünen Lichtglanz, schwebten in einer Reihe dicht hinter ihnen zwischen den Grenzwällen. Sie folgten den beiden dicht über dem Boden fliegend den Pfad hinab und sprangen der Reihe nach über einen im Weg liegenden Stamm. Richard und Kahlan blieben wie erstarrt stehen und schauten zu. Die Schatten hielten nicht an.

»Geh voran«, flüsterte er, »und halte dich an meiner Hand fest. Ich behalte sie im Auge.«

Ihr Hemd war schweißnaß, genau wie seines, dabei war es keine warme Nacht. Sie zog los, ohne auch nur zu nicken. Er lief rückwärts, mit dem Rücken zu ihr, heftete den Blick auf die Schatten, und sein Verstand befand sich in Aufruhr. Kahlan lief so schnell sie konnte. Manchmal mußte sie stehenbleiben und die Richtung wechseln und zog ihn dann an der Hand hinter sich her. Wieder blieb sie stehen, tastete sich endlich nach rechts, wo der Pfad sich in scharfem Knick den Hügel hinabsenkte. Rückwärts hinab zu gehen war schwierig. Er ging vorsichtig, um nicht zu fallen. Die Schatten folgten im Gänsemarsch, kamen um die Wegbiegung. Richard widerstand der Versuchung, Kahlan zu sagen, sie solle schneller gehen. Er wollte nicht, daß sie einen Fehler machte. Doch die Schatten kamen näher. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie sie eingeholt hätten und sich auf sie stürzen würden.

Mit angespannten Muskeln packte er das Heft seines Schwertes. In Gedanken wägte er noch ab, ob er es ziehen sollte. Er wußte nicht, ob es ihnen nützen oder schaden würde. Selbst wenn es gegen die Schatten wirksam war, ein Kampf in der Enge dieser Stelle des Passes war in jedem Fall ein großes Risiko. Wenn er jedoch keine Wahl hatte, falls sie also zu dicht aufrückten, würde er das Schwert benutzen müssen.

Die Schatten schienen Gesichter angenommen zu haben. Richard versuchte sich zu erinnern, ob sie schon vorher Gesichter gehabt hatten. Es gelang ihm nicht. Seine Finger faßten das Heft fester, während er rückwärts ging und Kahlans Hand warm und weich in seiner lag. Die Gesichter wirkten im grünen Schein traurig, sanft. Sie betrachteten ihn mit freundlich flehendem Gesichtsausdruck. Die erhabenen Buchstaben des Wortes WAHRHEIT auf dem Schwert schienen sich in seine Hand zu brennen. Er packte es noch fester. Zorn strömte aus dem Schwert, tastete sich vor bis in sein Hirn, suchte nach seiner eigenen Wut, fand jedoch nichts als Angst und Verwirrung. Der Zorn schwand dahin und erlosch. Die Gestalten kamen nicht länger näher, hielten nur noch den Abstand und leisteten ihm in der einsamen Finsternis Gesellschaft. Irgendwie nahmen sie ihm ein Stück der Angst und Anspannung.

Ihr Geflüster beruhigte ihn. Richards Schwerthand entspannte sich. Er versuchte ihre Worte zu verstehen. Ihr ruhiges, gelassenes Lächeln hatte etwas Beruhigendes, lockerte seine Vorsicht und erweckte in ihm den Wunsch, mehr zu hören, das Gemurmel zu verstehen. Das grüne Licht um die Formen leuchtete tröstlich. Sein Herz pochte vor Verlangen nach Ruhe, nach Frieden und ihrer Gesellschaft. Seine Gedanken schwebten dahin wie die Schatten, sanft, sacht und leise. Richard mußte an seinen Vater denken, sehnte sich nach ihm. Voller Freude erinnerte er sich an die unbeschwerten Zeiten mit ihm, Zeiten voller Liebe, voller Gemeinsamkeiten und gegenseitiger Sorge, Zeiten der Sicherheit, in denen ihn nichts bedroht, geängstigt oder ihm Sorgen gemacht hatte. Nach diesen Zeiten sehnte er sich zurück. Das Geflüster versprach ihm genau das. Es könnte wieder so werden wie früher. Die Schattenwesen wollten ihm nur helfen, an diesen Ort zurückzukehren, das war alles.

Leise Warnungen regten sich in seinen Gedanken, welkten dahin und waren wieder verschwunden. Seine Hand glitt vom Schwert.

Wie hatte er sich getäuscht, wie blind war er gewesen, daß er es zuvor nicht erkannt hatte. Sie waren nicht hier, um ihm Schaden zuzufügen, sondern um ihm zu helfen, seinen Frieden zu finden. Es ging nicht darum, was sie wollten, sondern sein Wunsch zählte, und das boten sie ihm an. Sie wollten ihn nur aus seiner Einsamkeit befreien. Ein versöhnliches Lächeln trat auf seine Lippen. Wie hatte er das zuvor nur verkennen können? Wie süße Musik umbrandete ihn das Geflüster in sanften Wellen, nahm ihm die Angst und erleuchtete die dunklen Stellen seiner Gedanken mit warmem Licht. Er blieb stehen, damit er nicht aus dem wärmenden Bad ihres bezaubernden Gemurmels, dem Atem der Musik, heraustreten mußte.

Heftig riß eine kalte Hand an seiner und versuchte ihn weiterzuziehen. Also ließ er los. Sie ließ es widerspruchslos geschehen und störte nicht mehr.

Die Schatten schwebten näher. Richard erwartete sie, betrachtete ihre sanftmütigen Gesichter, lauschte auf ihr leises Flüstern. Als sie seinen Namen hauchten, bekam er vor Freude eine Gänsehaut. Er hieß sie willkommen, als sie ihn tröstlich umringten, immer näher schwebten und dabei die Hände nach ihm ausstreckten. Hände wollten nach seinem Gesicht greifen, berührten ihn fast, schienen ihn liebkosen zu wollen. Er blickte von einem Gesicht zum nächsten, sah seinen Rettern in die Augen, die seinen Blick erwiderten und ihm wunderbare Versprechungen zuflüsterten.

Fast hätte eine Hand sein Gesicht gestreift, und er glaubte einen brennenden Schmerz zu spüren. Sicher war er nicht. Der Besitzer der Hand versprach ihm, er würde nie wieder Schmerz verspüren, sobald er sich ihnen angeschlossen hätte. Er wollte sprechen, hatte so viele Fragen, doch plötzlich schien das unbedeutend, trivial. Er brauchte sich nur ihrer Obhut zu überlassen, und alles wäre in Ordnung. Er bot sich an, wollte aufgenommen werden.

Im Umdrehen hielt er nach Kahlan Ausschau. Er wollte sie mitnehmen, seinen Frieden mit ihr teilen. Die Erinnerung an sie loderte in seinen Gedanken. Es lenkte ihn ab, obwohl die Schatten ihn flüsternd bedrängten, nicht darauf zu achten. Er suchte den Hang ab, starrte in das finstere Geröll. Ein schwacher Lichtschein färbte den Himmel. Der Morgen brach an. Die schwarze Leere der Bäume vor ihm hob sich vor dem ersten Blaßrosa des Himmels ab. Er hatte das Ende des Erdrutsches fast erreicht. Kahlan war nirgendwo zu sehen. Die Schatten flüsterten ihm eindringlich zu, riefen seinen Namen. Plötzlich flammte eine erstickende Angst in ihm auf, die das Flüstern in seinen Gedanken zu Asche verbrannte.

»Kahlan!« schrie er.

Keine Antwort.

Dunkle Hände, die Hände von Toten, griffen nach ihm. Die Gesichter der Schatten flirrten wie Dämpfe über kochendem Gift.

Knarzende Stimmen riefen seinen Namen. Verwirrt trat er einen Schritt zurück, fort von ihnen.

»Kahlan!« schrie er noch einmal.

Hände griffen nach ihm und verursachten brennende Schmerzen, obwohl sie ihn nicht einmal berührten. Wieder wich er einen Schritt vor ihnen zurück, aber jetzt plötzlich hatte er den dunklen Wall im Rücken. Die Hände reckten sich empor, wollten ihn stoßen. Bestürzt sah er sich nach Kahlan um. Jetzt brachte ihn der Schmerz zu vollem Bewußtsein. Entsetzen raste durch seinen Körper, als er merkte, wo er war und was geschah.

Und dann explodierte sein Zorn.

Die heiße Wut der Magie durchströmte ihn, als er das Schwert in weitem Bogen auf die Schatten zu schwang. Wer von der Klinge getroffen wurde, flammte auf und verschwand im Nichts. Der Rauch kreiste, als wäre er in einem Luftwirbel gefangen, bevor er mit einem Heulen zerriß. Weitere kamen. Das Schwert fetzte durch sie hindurch. Immer mehr tauchten auf, als hätte ihre Zahl kein Ende. Während er sie auf der einen Seite niedermähte, langten sie auf der anderen nach ihm. Der Schmerz der Beinaheberührungen brannte sich ein, bevor er sich mit dem Schwert umdrehen konnte. Einen kurzen Augenblick lang überlegte Richard, wie es wohl sein mochte, wenn sie ihn tatsächlich berührten, ob er den Schmerz spüren oder auf der Stelle tot zusammenbrechen würde. Er rückte mit dem Schwert um sich schlagend ab von der Wand. Noch ein Schritt nach vorn unter wüstem Gedresche. Die Klinge pfiff durch die Luft.

Richard stand breitbeinig da und vernichtete die Schatten, wie sie kamen. Seine Arme schmerzten, sein Rücken tat weh, der Schädel wummerte. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Er war erschöpft. Er hatte keine Fluchtmöglichkeit und mußte standhaft bleiben, doch er wußte, ewig konnte er das nicht durchhalten. Geheul und Schreie füllten die Nachtluft, als die Schatten gierig über sein Schwert herzufallen schienen. Ein Knäuel schoß vor und zuckte zurück, bevor er es durchtrennen konnte. Wieder spürte er die dunkle Wand im Rücken. Schwarze Gestalten von der anderen Seite langten nach ihm und stießen gequälte Schreie aus. Zu viele Schatten griffen gleichzeitig an, als daß er von der Wand hätte abrücken können. Er konnte nichts tun, als seine Stellung zu behaupten. Der Schmerz der grabbelnden Hände machte ihn müde. Sie brauchten nur schnell genug und in ausreichender Zahl anzugreifen, dann konnten sie ihn mit Sicherheit durch die Wand und in die Unterwelt stoßen. Wie betäubt kämpfte er endlos weiter.

Sein Zorn wich Panik. Die Muskeln in seinen Armen brannten von der Anstrengung, das Schwert zu schwingen. Offenbar war es die Absicht der Schatten, ihn einfach durch ihre Zahl zu zermürben. Es war richtig gewesen war, das Schwert vorher nicht zu gebrauchen, es hätte nur geschadet. Aber jetzt er hatte keine Wahl. Er mußte es benutzen, um sie beide zu retten.

Doch das ›sie‹ stimmte gar nicht mehr. Kahlan war nirgends zu entdecken. Er war allein. Das Schwert schwingend, fragte er sich, ob es für sie genauso gewesen war, ob die Schatten sie mit ihrem Flüstern verführt, sie berührt und durch die Wand gedrängt hatten. Sie besaß kein Schwert, um sich zu schützen, diese Aufgabe hatte er übernehmen wollen. Erneut brach die Wut in ihm aus. Die Vorstellung, Kahlan könnte von den Schatten der Unterwelt überwältigt worden sein, weckte abermals einen tosenden Zorn in ihm. Das Schwert der Wahrheit wurde seinen Anforderungen gerecht. Richard zerstückelte die Schatten mit neuem Mut. Haß loderte zwischen dem weißglühenden Verlangen auf, trieb ihn vor, zwischen die Gestalten, und ließ ihn das Schwert schneller schwingen, als sie angreifen konnten. Jetzt war er es, der auf sie losging. Ihr Geheul vermischte sich zu einem angstvollen Aufschrei. Richards Wut, sie könnten Kahlan etwas angetan haben, trieb ihn in wild-gewalttätiger Raserei nach vorn.

Zuerst merkte er es nicht. Die Schatten hatten aufgehört, sich zu bewegen. Sie standen nur noch in der Luft, während Richard sich weiter den Pfad zwischen den Wällen hindurcharbeitete und auf sie eindrosch. Eine Weile machten sie keine Anstalten, seiner Klinge auszuweichen, sondern schwebten an einer Stelle. Dann begannen sie wie Rauchschwaden in fast stehender Luft wegzugleiten. Sie schwebten in die Grenzwälle, verloren auf dem Weg durch sie hindurch ihren grünlichen Schimmer und wurden zu den dunklen Wesen der anderen Seite. Endlich gelangte Richard keuchend zur Ruhe. Seine Arme pochten vor Erschöpfung.

Das waren sie also. Keine Schattenmenschen, sondern die Wesen von der anderen Seite des Grenzwalles. Jene Wesen, die entkommen waren und Menschen geraubt hatten, genau wie sie versucht hatten, ihn zu rauben.

Genau, wie sie Kahlan geraubt hatten.

Ein Schmerz stieg aus seinem tiefsten Innern empor, Tränen traten ihm in die Augen.

»Kahlan«, hauchte er in die kühle Morgenluft.

Der Schmerz über ihren möglichen Verlust schien ihm das Herz zu zerreißen. Es war sein Fehler gewesen, er war nicht wachsam genug gewesen, er hatte sie im Stich gelassen und sie nicht beschützt. Wie hatte das so schnell geschehen können? So leicht? Adie hatte ihn gewarnt, daß sie ihn rufen würden. Wieso war er nicht vorsichtiger gewesen? Warum hatte er sich ihre Warnung nicht mehr zu Herzen genommen? Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Angst, die sie jetzt haben mußte, ihre Verwirrung, warum er nicht bei ihr war, ihr Flehen, ihr zu helfen. Ihre Qual. Ihren Tod. Verzweifelt rasten seine Gedanken, während er unter Tränen versuchte, die Zeit zurückzudrehen, es noch mal — anders — zu machen, die Stimmen zu ignorieren, ihre Hand festzuhalten und sie zu retten. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er die Schwertspitze senkte und über den Boden schleifen ließ. Er war zu erschöpft, es wegzustecken, und trottete wie im Tran vorwärts. Das Geröll hatte aufgehört. Das grüne Licht wurde schwächer und war verschwunden, als er in den Wald und auf den Pfad trat.

Jemand flüsterte seinen Namen, die Stimme eines Mannes. Er blieb stehen und sah sich um.

Im Licht der Grenze stand Richards Vater.

»Sohn«, hauchte sein Vater, »laß mich dir helfen.«

Richard starrte ihn hölzern an. Der Morgen hellte den bedeckten Himmel auf und tauchte alles in ein graues Licht. Die einzige Farbe war das leuchtende Grün um seinen Vater, der die Hände ausbreitete.

»Du kannst mir nicht helfen«, flüsterte Richard heiser zurück.

»Doch, ich kann. Sie ist bei uns. Sie ist in Sicherheit.«

Richard trat ein paar Schritte auf seinen Vater zu. »In Sicherheit?«

»Ja. Sie ist in Sicherheit. Komm, ich bringe dich zu dir.«

Richard ging noch ein paar Schritte, schleppte das Schwert mit der Spitze über den Boden. Tränen liefen ihm über die Wangen. Seine Brust hob sich. »Du könntest mich wirklich zu ihr bringen?«

»Ja, mein Sohn«, sagte sein Vater sanft. »Komm. Sie wartet auf dich. Ich werde dich zu ihr bringen.«

Wie betäubt ging Richard zu seinem Vater. »Und ich kann bei ihr bleiben? Für immer?«

»Für immer«, erklang die Antwort in dem vertraut beruhigenden Ton.

Richard trottete zu seinem Vater ins grüne Licht zurück, der ihn voller Wärme anlächelte.

Als er ihn erreicht hatte, hob Richard das Schwert der Wahrheit und stieß es seinem Vater durchs Herz. Sein Vater riß die Augen auf und starrte ihn an, als er durchbohrt wurde.

»Wie viele Male, lieber Vater«, fragte Richard unter Tränen und mit zusammengebissenen Zähnen, »muß ich deinen Schatten noch niedermetzeln?«

Doch sein Vater schimmerte nur und löste sich in der trüben Morgenluft auf.

Ein Gefühl bitterer Befriedigung trat an die Stelle seines Zorns, dann war auch das verschwunden. Er wandte sich wieder dem Pfad zu. Tränen flossen in Strömen durch den Schmutz und Schweiß auf seinem Gesicht. Er wischte sie sich mit dem Ärmel seines Hemdes ab und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Der Wald schloß sich gleichgültig um ihn, als er wieder auf dem Weg war.

Schwerfällig steckte Richard das Schwert in die Scheide zurück. Dabei bemerkte er das Licht des Steins der Nacht, das durch seine Tasche schien. Es war gerade noch dunkel genug, um das schwache Leuchten zu sehen. Er blieb stehen, nahm den glatten Stein noch einmal heraus, steckte ihn in den Lederbeutel und löschte so das blaßgelbe Licht.

Mit grimmig entschlossener Miene stapfte er weiter und griff dabei nach dem Zahn unter seinem Hemd. Einsamkeit, tiefer als er sie je gekannt hatte, lastete auf seinen Schultern. Er hatte alle seine Freunde verloren. Jetzt wußte er, sein Leben gehörte nicht ihm. Er hatte es seiner Pflicht, seiner Aufgabe verschrieben. Er war der Sucher. Nicht mehr und nicht weniger. Er war nicht sein eigener Herr, sondern ein Bauer, der von anderen auf dem Spielbrett verschoben wurde. Ein Werkzeug, genau wie sein Schwert, das anderen helfen sollte, ein Leben zu führen, das er nur einen Lidschlag lang erahnt hatte.

Er unterschied sich durch nichts von den finsteren Wesen auf der anderen Seite der Grenze. Ein Bote des Todes.

Und ihm war bewußt, wem er den Tod bringen wollte.


Der Meister hockte mit geradem Rücken und verschränkten Beinen im Gras vor dem schlafenden Jungen. Seine Hände ruhten mit der Fläche nach oben auf seinen Knien, und ein Lächeln spielte über seine Lippen, als er daran dachte, was mit Konfessor Kahlan in der Grenze geschehen war. Morgendliches Sonnenlicht fiel schräg durch die Deckenfenster und brachte die Farben der Gartenblumen zum Leuchten. Langsam führte er die Finger seiner Rechten an die Lippen, befeuchtete die Spitzen und strich sich anschließend die Brauen glatt, bevor er sorgsam die Hand an ihren Ruheplatz zurücklegte. Die Überlegung, was er mit der Mutter Konfessor anstellen würde, hatte seinen Atem beschleunigt. Er brachte ihn wieder unter Kontrolle und kehrte in Gedanken zur anstehenden Aufgabe zurück. Er machte eine Bewegung mit den Fingern, und Carls Augen gingen auf.

»Guten Morgen, mein Sohn. Schön dich wiederzusehen«, sagte er mit freundlicher Stimme. Das Lächeln lag, wenn auch aus anderem Grund, immer noch auf seinen Lippen.

Carl blinzelte und kniff im grellen Licht die Augen zusammen. »Guten Morgen«, sagte er mit einem Stöhnen. Und fügte, während er sich umsah, hinzu: »Vater Rahl.«

»Du hast gut geschlafen«, versicherte Rahl dem Jungen.

»Du warst hier? Die ganze Nacht?«

»Die ganze Nacht. Wie ich es dir versprochen habe. Ich würde dich doch nicht anlügen, Carl.«

Carl lächelte. »Danke.« Er senkte scheu den Blick. »Ich glaube, es war bißchen dumm von mir, solche Angst zu haben.«

»Ich glaube, das war überhaupt nicht dumm. Ich bin froh, daß ich hier war, um dich zu beruhigen.«

»Mein Vater sagt, ich bin ein Narr, wenn ich vor der Dunkelheit Angst habe.«

»Es gibt Dinge in der Dunkelheit, die dich anfallen könnten«, sagte Rahl ernst. »Es ist klug, das zu wissen und vor ihnen auf der Hut zu sein. Dein Vater würde sich selbst einen Gefallen tun, wenn er auf das hörte, was du sagst.«

Carl strahlte. »Wirklich?« Rahl nickte. »Genau dasselbe habe ich auch immer gedacht.«

»Wenn man jemanden aufrichtig liebt, hört man ihm auch zu.«

»Mein Vater sagt immer zu mir, ich soll meine Zunge hüten.«

Rahl schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das überrascht mich. Ich hatte gedacht, sie hätten dich sehr lieb.«

»Na ja, tun sie auch. Meistens jedenfalls.«

»Ich bin sicher, du hast recht. Das weißt du bestimmt besser als ich.«

Das lange, blonde Haar des Meisters schimmerte im Morgenlicht, sein weißes Gewand leuchtete hell. Er wartete. Eine ganze Weile lang folgte beklommenes Schweigen.

»Aber ich bin es leid, daß sie mir immer sagen, was ich tun soll.«

Rahl hob die Brauen. »Ich glaube, du bist jetzt in dem Alter, in dem du selber denken und Entscheidungen treffen kannst. Ein netter Junge wie du, fast ein Mann, und sie sagen dir, was du tun sollst«, fügte er halb zu sich selbst hinzu und schüttelte erneut den Kopf. Als könnte er nicht glauben, was Carl ihm erzählte, fragte er: »Heißt das, sie behandeln dich wie ein kleines Kind?«

Carl nickte ernst, beschloß dann, den Eindruck zu berichtigen. »Meistens sind sie aber gut zu mir.«

Rahl nickte ein wenig argwöhnisch. »Gut, das zu wissen. Mir fällt ein Stein vom Herzen.«

Carl blickte hoch in die Sonne. »Aber eins kann ich dir sagen, meine Eltern werden wilder als Hornissen sein, wenn ich solange fortbleibe.«

»Sie werden böse, wenn du spät nach Hause kommst?«

»Klar. Einmal war ich mit einem Freund spielen und bin spät nach Hause gekommen, da war meine Mutter richtig wütend. Mein Vater hat es mir mit seinem Gürtel gegeben. Er sagt, er hätte sich solche Sorgen um mich gemacht.«

»Mit einem Gürtel? Dein Vater hat dich mit seinem Gürtel geschlagen?« Darken Rahl ließ den Kopf hängen, stand dann auf und kehrte dem Jungen den Rücken zu. »Tut mir leid, Carl. Ich hatte keine Ahnung, wie es bei euch zugeht.«

»Na ja, das ist doch nur, weil sie mich lieben«, fügte Carl hastig hinzu. »Das haben sie jedenfalls gesagt, sie lieben mich und ich hätte ihnen Sorgen gemacht.« Rahl stand noch immer mit dem Rücken zu dem Jungen. Carl runzelte die Stirn. »Meinst du nicht, das zeigt, wie wichtig ich ihnen bin?«

Rahl befeuchtete sich die Finger und glättete Brauen und Lippen, bevor er sich zu dem Jungen umdrehte und wieder vor dem gespannten Gesicht des Jungen Platz nahm.

»Carl«, seine Stimme war leise, und der Junge mußte sich anstrengen, um etwas zu verstehen, »hast du einen Hund?«

»Klar«, er nickte, »Tinker. Er ist toll. Ich habe ihn, seit er ein Welpe war.«

»Tinker«, Rahl ließ den Namen genüßlich auf der Zunge zergehen. »Und ist Tinker jemals verlorengegangen, oder hat er sich verlaufen?«

Carl legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ja, klar, ein paarmal, bevor er groß war. Aber am nächsten Tag ist er zurückgekehrt.«

»Hast du dir Sorgen gemacht, als der Hund weg war? Als er nicht nach Hause gekommen ist?«

»Ja, klar.«

»Warum?«

»Weil ich ihn lieb habe.«

»Verstehe. Und als Tinker dann am nächsten Tag wieder da war, was hast du da getan?«

»Ich habe ihn in den Arm genommen und gedrückt.«

»Du hast Tinker nicht mit deinem Gürtel geschlagen?«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Weil ich ihn lieb habe!«

»Aber du hast dir Sorgen gemacht?«

»Ja.«

»Du hast Tinker also in den Arm genommen, als er zurückkam, weil du ihn lieb hast und du dir Sorgen gemacht hast.«

»Ja.«

Rahl lehnte sich ein Stück zurück. Seine blauen Augen wurden stechend. »Verstehe. Und was meinst du, hätte Tinker getan, wenn du ihn bei seiner Rückkehr mit dem Gürtel geschlagen hättest?«

»Ich wette, beim nächsten Mal wäre er nicht mehr zurückgekommen. Er hätte keine Lust. Nur damit ich ihn wieder schlage? Er würde woanders hingehen, wo die Leute ihn liebhaben.«

»Verstehe«, sagte Rahl bedeutungsvoll.

Tränen liefen Carl über die Wange. Er wich Rahls Blick aus, während er weinte. Schließlich streckte Rahl die Hand aus und strich dem Jungen das Haar zurück.

»Es tut mir leid, Carl. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich möchte, daß du weißt, wenn das alles hier vorbei ist und du wieder nach Hause gehst, wenn du jemals ein Zuhause brauchst, bist du hier immer willkommen. Du bist ein feiner Junge, ein netter junger Mann, und ich wäre stolz, wenn du hier bei mir bleiben würdest. Ihr beide, du und Tinker. Du sollst wissen, ich glaube, du kannst für dich selber denken und also auch kommen und gehen, wie es dir beliebt.«

Carl schaute mit feuchten Augen auf. »Danke, Vater Rahl.«

Rahl lächelte voller Wärme. »Wie wär's mit etwas zu essen?«

Carl nickte. Er war einverstanden.

»Was möchtest du? Wir haben alles, was du willst.«

Carl dachte einen Augenblick nach, und ein Lächeln überkam ihn. »Ich mag Blaubeerkuchen. Mein Lieblingsgericht.« Er senkte die Augen, das Lächeln erlosch. »Aber vor dem Frühstück kriege ich keinen.«

Ein breites Grinsen zog über Darken Rahls Gesicht. Er stand auf. »Blaubeerkuchen, also gut. Ich gehe ihn holen und bin sofort zurück.«

Der Meister ging durch den Garten zu einer kleinen, mit Kletterpflanzen bewachsenen Tür an der Seite. Die Tür öffnete sich für ihn, als er sich näherte. Der kräftige Arm von Demmin Nass hielt sie auf, als Rahl hindurchging und in einem dunklen Raum verschwand. Über einem Feuer in einer kleinen Esse hing ein Kessel, in dem übelriechender Schleim vor sich hin brodelte. Die beiden Wachen standen schweigend an der gegenüberliegenden Wand. Sie waren mit einer glänzenden Schweißschicht bedeckt.

»Meister Rahl.« Demmin verneigte sich. »Ich nehme an, der Junge findet Eure Zustimmung.«

Rahl leckte sich die Fingerspitzen. »Durchaus.« Er strich seine Brauen glatt. »Füll mir einen Teller von der Pampe ab, damit sie abkühlen kann.«

Demmin nahm eine Zinnschüssel und begann, mit dem Holzlöffel aus dem Kessel Haferschleim hineinzufüllen.

»Falls alles zum Besten steht«, ein verschlagenes Grinsen huschte über sein pockennarbiges Gesicht, »werde ich jetzt gehen und Königin Milena unseren Respekt bezeugen.«

»Schön. Mach auf dem Weg halt und sag der Drachendame, daß ich sie brauche.«

Demmin hörte auf zu löffeln. »Sie kann mich nicht ausstehen.«

»Sie kann niemanden ausstehen«, sagte Rahl entschieden. »Aber keine Sorge, Demmin, sie wird dich nicht fressen. Sie weiß, was ich tue, wenn sie meine Geduld übermäßig beansprucht.«

Demmin löffelte weiter. »Sie wird fragen, wie bald Ihr sie braucht.«

Rahl sah ihn aus dem Augenwinkel an. »Das braucht sie nicht zu kümmern. Sag ihr, ich hätte das gesagt. Sie hat zu kommen, wenn ich es will, und zu warten, bis ich soweit bin.« Er drehte sich um und blickte durch einen kleinen Schlitz zwischen den Blättern hindurch seitlich auf den Kopf des Jungen. »Aber dich brauche ich hier wieder in zwei Wochen.«

»Zwei Wochen, in Ordnung.« Demmin stellte die Schüssel mit Haferschleim ab. »Aber muß das wirklich so lange dauern mit dem Jungen?«

»Muß es, wenn ich aus der Unterwelt zurückkehren will.« Rahl sah noch immer durch den Schlitz. »Vielleicht auch länger. Es dauert so lange, wie es eben dauert. Ich muß sein völliges Vertrauen erlangen, ich brauche seinen vollkommen freiwilligen Schwur bedingungsloser Ergebenheit.«

Demmin hakte einen Daumen in seinen Gürtel. »Wir haben noch ein anderes Problem.«

Rahl blickte über seine Schulter nach hinten. »Hast du nichts Besseres zu tun, Demmin, als herumzulaufen und nach Problemen zu suchen?«

»Dadurch bleibt mein Kopf auf meinen Schultern.«

Rahl grinste. »Das stimmt, mein Freund. Das stimmt.« Er seufzte. »Dann also raus damit.«

Demmin verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. »Ich habe gestern abend Berichte erhalten, denen zufolge die Spürwolke verschwunden ist.«

»Verschwunden?«

»Nun vielleicht nicht gerade verschwunden, aber untergetaucht.« Er kratzte sich an der Wange. »Es hieß, andere Wolken seien aufgezogen und hätten sie verdeckt.«

Rahl mußte lachen. Demmin runzelte verwirrt die Stirn.

»Unser Freund, der alte Zauberer. Klingt, als hätte er die Wolke gesehen und einen seiner alten Tricks angewandt, um mich zu ärgern. Das war zu erwarten. Dieser Kerl ist kein Problem, mein Freund. Die Sache ist ohne Bedeutung.«

»Meister Rahl, auf diese Weise wolltet Ihr das Buch finden. Abgesehen vom letzten Kästchen, was könnte bedeutender sein?«

»Ich habe nicht gesagt, daß das Buch unwichtig ist. Ich sagte, die Wolke sei unwichtig. Das Buch ist ausgesprochen wichtig, deshalb habe ich es auch nicht nur einer Spürwolke anvertraut. Was meinst du, Demmin, wie ich die Wolke dem jungen Cypher angehängt habe?«

»Meine Begabungen liegen auf anderen Gebieten als dem der Magie, Meister Rahl.«

»Wie wahr, mein Freund.« Rahl leckte sich die Fingerspitzen. »Vor vielen Jahren, bevor mein Vater von diesem miesen Zauberer getötet wurde, erzählte er mir von den Kästchen der Ordnung und dem Buch der Gezählten Schatten. Er hat selbst versucht, es wiederzufinden, aber dafür war er nicht gebildet genug. Er war zu sehr ein Mann der Tat, ein Mann des Schlachtfeldes.«

Rahl schaute auf und sah Demmin in die Augen. »Ganz so wie du, mein großer Freund. Ihm fehlte das nötige Wissen. Er war jedoch klug genug, mir beizubringen, daß der Kopf wertvoller ist als das Schwert. Durch den Gebrauch deines Kopfes kannst du jede Zahl Männer besiegen. Er ließ mich von den besten Lehrern unterrichten. Dann wurde er ermordet.«

Rahl hämmerte seine Faust auf den Tisch. Sein Gesicht wurde rot. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder. »Also habe ich noch fleißiger gelernt. Viele Jahre lang, damit mir gelingen möge, woran mein Vater gescheitert war. Dem Hause Rahl wieder zu seiner rechtmäßigen Stellung als Herrscher aller Länder zu verhelfen.«

»Ihr habt die höchsten Erwartungen Eures Vaters übertroffen, Meister Rahl.«

Rahl lächelte kaum merklich. Nach einem weiteren Blick durch den Schlitz fuhr er fort: »Bei meinen Studien stieß ich auf das Versteck des Buchs der Gezählten Schatten. Es befand sich in den Midlands, auf der anderen Seite der Grenze. Doch ich war nicht in der Lage, durch die Unterwelt zu reisen, dorthinzugehen und es zurückzuholen. Also entsandte ich ein Wachtier, das es für mich bewachen sollte bis zu dem Tag, an dem ich selber losziehen und es holen konnte.«

Er richtete sich auf und drehte sich mit finsterem Gesichtsausdruck zu Demmin um. »Bevor ich lernte, die Unterwelt zu bereisen, die Grenze zu durchqueren, bevor ich das Buch holen konnte, tötete ein Mann namens George Cypher das Wachtier und stahl das Buch. Mein Buch. Er hat dem Tier einen Zahn als Trophäe ausgebrochen. Ein sehr dummer Fehler, denn das Tier war durch Zauberkraft entsandt worden, durch meine Zauberkraft.« Er zog eine Braue hoch. »Und die kann ich überallhin verfolgen.«

Rahl leckte sich die Finger, strich sich über die Lippen und starrte gedankenverloren ins Leere. »Das erste Gesetz des Zauberers. Darauf ist immer Verlaß«, sagte er fast tonlos zu sich selbst, bevor er fortfuhr. »Nachdem ich die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht hatte, zog ich los, das Buch zu holen. Dabei fand ich heraus, daß man es gestohlen hatte. Es dauerte eine Weile, aber ich fand den Mann, der es gestohlen hatte. Unglücklicherweise hatte er das Buch nicht mehr und wollte mir auch nicht verraten, wo es war.« Rahl sah auf und lächelte Demmin an. »Er weigerte sich, mir zu helfen, und ich habe ihn dafür leiden lassen.« Demmin erwiderte das Lächeln. »Aber er hatte den Zahn seinem Sohn gegeben, wie ich herausfand.«

»Daher wißt Ihr also, daß der junge Cypher das Buch hat.«

»Richtig. Richard Cypher ist im Besitz des Buches der Gezählten Schatten. Außerdem trägt er den Zahn bei sich. Auf diese Weise habe ich ihm auch die Spürwolke angehängt, indem ich sie am Zahn festgemacht habe, dem Zahn mit meiner Zauberkraft. Ich hätte das Buch längst gefunden, es gab jedoch viele andere Dinge, um die ich mich hatte kümmern müssen. Die Wolke habe ich ihm nur angehängt, damit ich in der Zwischenzeit nicht seine Spur verliere. Das war reine Bequemlichkeit. Aber die Angelegenheit ist so gut wie erledigt. Ich kann das Buch haben, wann immer es mir beliebt. Die Wolke ist von geringer Bedeutung. Ich kann ihn durch den Zahn finden.«

Rahl nahm die Schale mit Haferschleim zur Hand und reichte sie Demmin. »Koste mal, ob es kalt genug ist.« Er zog eine Braue hoch. »Ich möchte dem Jungen nicht weh tun.«

Demmin schnupperte an der Schale und rümpfte angewidert die Nase. Er reichte die Schüssel einer der Wachen, der sie widerspruchslos entgegennahm und einen Löffel Haferschleim an die Lippen führte. Er nickte.

»Cypher könnte den Zahn verlieren oder ihn einfach wegwerfen. Dann könntet Ihr weder ihn noch das Buch finden.« Demmin senkte unterwürfig den Kopf, während er sprach. »Bitte vergebt mir, daß ich davon spreche, Meister Rahl, aber mir scheint, als überließet Ihr eine Menge dem Zufall.«

»Gelegentlich, Demmin, überlasse ich Dinge dem Schicksal, dem Zufall jedoch nie. Ich verfüge über andere Mittel, Richard Cypher zu finden.«

Demmin atmete tief durch und wurde ruhiger, als er über Rahls Worte nachdachte. »Jetzt begreife ich, warum Ihr nicht besorgt wart. Ich wußte das alles nicht.«

Rahl sah seinen treuen Kommandanten stirnrunzelnd an. »Wir haben nicht mal die Oberfläche dessen angekratzt, was du alles nicht weißt, Demmin. Aus diesem Grunde dienst du mir und nicht ich dir.« Sein Ausdruck wurde versöhnlicher. »Seit wir Jungen waren, warst du ein guter Freund, Demmin, also werde ich dir diesbezüglich deine Sorgen nehmen. Es gibt eine Reihe dringlicher Angelegenheiten, für die ich Zeit brauche, Angelegenheiten der Magie, die keinen Aufschub dulden. Wie dies zum Beispiel.« Er streckte den Arm aus und zeigte auf den Jungen. »Ich weiß, wo sich das Buch befindet, und ich kenne meine Fähigkeiten. Ich kann das Buch beschaffen, wann immer es mir beliebt. Im Augenblick verwahrt es Richard Cypher lediglich sicher für mich.« Rahl beugte sich weiter vor. »Zufrieden?«

Demmin senkte den Blick zum Boden. »Ja, Meister Rahl.« Er sah wieder auf. »Ihr sollt wissen, daß ich nur deshalb mit meinen Bedenken zu Euch komme, weil ich Euch den Erfolg wünsche. Ihr seid der rechtmäßige Herrscher aller Länder. Wir alle brauchen Euch, damit Ihr uns führt. Ich möchte nur zu Eurem Sieg beitragen. Ich fürchte nichts mehr, als Euch zu enttäuschen.«

Darken Rahl legte Demmin den Arm um seine breiten Schultern, schaute hinauf in das pockennarbige Gesicht, auf die schwarze Strähne im blonden Haar. »Hätte ich nur mehr wie dich, mein Freund.« Er zog seinen Arm zurück und ergriff die Schale. »Geh jetzt und berichte Königin Milena von unserem Bündnis. Vergiß nicht, den Drachen herbeizurufen.« Sein angedeutetes Lächeln erschien wieder auf seinen Lippen. »Und laß dich von deinen kleinen Zerstreuungen nicht dazu verleiten, zu spät zu kommen.«

Demmin verneigte sich. »Danke, Meister Rahl, für die Ehre, Euch dienen zu dürfen.«

Der große Mann ging durch die Hintertür, als Rahl durch die Gartenpforte hinaustrat. Die Wachen blieben in der kleinen, heißen Schmiede zurück.

Rahl nahm sein Fütterhorn und ging zu dem Jungen. Das Fütterhorn bestand aus einer langen Messingröhre, schmal am Mundstück, breit am anderen Ende. Das breite Ende wurde in Schulterhöhe von zwei Beinen getragen. Rahl stellte es so auf, daß Carl das dünne Ende vor sich hatte.

»Was ist denn das für ein Ding?« fragte Carl und sah es mit zusammengekniffenen Augen an. »Ein Horn?«

»Ja, ganz recht. Sehr gut, Carl. Es ist ein Fütterhorn. Es gehört zu der Zeremonie, an der du teilnehmen wirst. Die anderen jungen Männer, die dem Volk in der Vergangenheit geholfen haben, hielten es für eine höchst vergnügliche Art des Essens. Du stülpst deinen Mund über das Ende dort, und ich fütterte dich, indem ich das Essen oben hineinschütte.«

Carl wirkte skeptisch. »Wirklich?«

»Ja.« Rahl lächelte beruhigend. »Und stell dir vor, ich habe dir einen frischen Blaubeerkuchen mitgebracht, noch warm, aus dem Backofen.«

Carls Augen begannen zu leuchten. »Prima!« Bereitwillig stülpte er den Mund über die Öffnung des Horns.

Rahl ließ seine Hand dreimal über der Schale kreisen, dann schaute er auf Carl hinunter. »Ich mußte ihn zerstampfen, damit er durch das Fütterhorn paßt. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Ich zerdrücke ihn immer mit meiner Gabel«, erwiderte Carl grinsend und stülpte den Mund wieder über das Horn.

Rahl kippte ein wenig Haferschleim in den Trichter des Horns. Als er Carls Mund erreichte, verschlang dieser ihn gierig.

»Ganz prima! Der beste, den ich je gegessen habe!«

»Das freut mich wirklich«, sagte Rahl mit einem scheuen Lächeln. »Das Rezept ist von mir. Ich hatte befürchtet, er wäre nicht so gut wie der von deiner Mutter.«

»Er ist sogar besser. Kann ich noch etwas bekommen?«

»Aber natürlich, mein Sohn. Bei Vater Rahl kannst du immer noch etwas bekommen.«

Загрузка...