Richard lief ihr den Fußweg hinunter nach. Kahlan marschierte entschlossen mit wehendem Haar und Kleid durch die Spätnachmittagssonne. An einem Baum blieb sie stehen und wartete. Zum zweiten Mal an diesem Tag mußte sie sich Blut von der Hand wischen.
Sie drehte sich um, als er sie an der Schulter berührte. Ihr ruhiges Gesicht verriet keine Regung.
»Kahlan, es tut mir leid…«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Was dein Bruder getan hat, war gegen dich gerichtet, nicht gegen mich.«
»Gegen mich? Was meinst du damit?«
»Dein Bruder ist eifersüchtig auf dich.« Ihr Gesicht entspannte sich. »Er ist nicht dumm, Richard. Er wußte, ich gehöre zu dir, und er war eifersüchtig.«
Richard nahm sie beim Arm und wollte den Weg weitergehen, fort von Michaels Haus. Er war wütend auf Michael, gleichzeitig schämte er sich wegen seines Zorns. Er kam sich vor, als verrate er seinen Vater.
»Das ist keine Entschuldigung. Er ist Oberster Rat und hat alles, was er sich nur wünschen kann. Tut mir leid, weil ich es nicht verhindert habe.«
»Das wollte ich nicht. Ich mußte es selber tun. Er wird immer wollen, was du hast. Hättest du versucht, ihn aufzuhalten, wäre es zu einem Streit gekommen, den er hätte gewinnen müssen. So hat er kein Interesse mehr an mir. Außerdem war das, was er dir mit deiner Mutter angetan hat, schlimmer. Hatte ich mich da einmischen sollen?«
Richard richtete den Blick wieder auf die Straße. »Nein, das ging dich nichts an.«
Sie gingen weiter. Die Häuser wurden kleiner, rückten dichter zusammen, blieben jedoch sauber und gepflegt. Einige der Besitzer waren draußen und nutzten das gute Wetter, um die vor dem Winter notwendigen Reparaturen durchzuführen. Die Luft war klar und scharf, und Richard spürte an ihrer Trockenheit, daß die Nacht kalt werden würde. Es würde eine Nacht für ein Feuer aus Birkenscheiten werden, duftend, aber nicht zu heiß. Die weiß eingezäunten Vorgärten wichen größeren Nutzgärten, in denen kleine Häuser weiter entfernt von der Straße standen. Im Gehen pflückte Richard ein Eichenblatt von einem Ast, der dicht über dem Weg hing.
»Du scheinst eine Menge über Menschen zu wissen. Du bist sehr hellsichtig. Ich meine, was ihre Beweggründe anbetrifft.«
»Kann sein.« Sie zuckte mit den Achseln.
Er riß ein kleines Stück von dem Blatt ab. »Sind sie deswegen hinter dir her?«
Sie sah im Gehen zu ihm hinüber, und als er ihren Blick erwiderte, antwortete sie: »Sie sind hinter mir her, weil sie die Wahrheit fürchten. Du nicht. Das ist ein Grund, warum ich dir vertraue.«
Er lächelte über das Kompliment. Die Antwort gefiel ihm, auch wenn er sich nicht sicher war, was sie bedeutete. »Du hast doch nicht vor, mich zu benutzen, oder?«
Der Anflug eines Lächelns. »Du bist nahe dran.« Sie überlegte einen Augenblick, das Lächeln erlosch, dann fuhr sie fort. »Tut mir leid, Richard, aber fürs erste mußt du mir vertrauen. Je mehr ich dir erzähle, desto größer wird die Gefahr für uns beide. Sind wir trotzdem noch Freunde?«
»Aber ja.« Er warf das Gerippe des Blattes fort. »Aber eines Tages wirst du mir alles erzählen?«
Sie nickte. »Ich verspreche es dir. Wenn ich kann.«
»Gut«, sagte er. »Schließlich bin ich ein ›Sucher nach der Wahrheit‹.«
Kahlan blieb abrupt stehen, riß an seinem Ärmel, wirbelte ihn herum und zwang ihn, in ihre weit aufgerissenen Augen zu sehen.
»Warum hast du das gesagt?« wollte sie wissen.
»Was? Meinst du den ›Sucher nach der Wahrheit‹? Zedd nennt mich so. Seit ich klein war. Er meint, ich bestehe immer darauf, die Wahrheit der Dinge zu erfahren, also nennt er mich ›Sucher nach der Wahrheit‹.« Ihre Aufgeregtheit überraschte ihn. Er kniff die Augen zusammen. »Wieso?«
Sie wollte weiter. »Schon gut.«
Irgendwie schien er einen wunden Punkt berührt zu haben. Sein Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, begann sich einen Weg in seine Gedanken zu bahnen. Sie wurde verfolgt, weil jemand die Wahrheit fürchtete, überlegte er. Und dann reagierte sie bestürzt, als er sich als ›Sucher nach der Wahrheit‹ bezeichnete. Vielleicht hatte sie Angst vor ihm.
»Kannst du mir wenigstens verraten, wer diese Leute sind, die dich verfolgen?«
Sie blickte stur auf den Weg und ging weiter neben ihm her. Er wußte nicht, ob sie ihm antworten würde. Schließlich tat sie es doch.
»Es handelt sich um die Gefolgsleute eines sehr bösartigen Mannes. Sein Name ist Darken Rahl. Bitte, stell mir jetzt keine weiteren Fragen. Ich möchte nicht an ihn denken.«
Darken Rahl. Wenigstens wußte er jetzt den Namen.
Die Spätnachmittagssonne stand hinter den Hügeln der Wälder Kernlands. Es wurde kühler, als sie die sacht geschwungenen, mit Laubwald bestandenen Hügel des Kernlandwaldes passierten. Niemand sagte etwas. Ihm lag ohnehin nicht viel an der Unterhaltung, denn seine Hand schmerzte, außerdem war ihm ein wenig schwindelig. Ein Bad und ein warmes Bett waren alles, was er jetzt wollte. Das Bett überließ er besser ihr, dachte er. Er würde in seinem Lieblingssessel schlafen, dem, der immer knarrte. Es war ein langer Tag gewesen, und ihm tat jeder Knochen im Leibe weh.
An einem Birkenwäldchen bog er auf den schmalen Pfad ab, der zu seinem Haus hinaufführte. Er beobachtete sie, wie sie vor ihm auf dem schmalen Pfad herging und sich die Spinnennetze, die quer über den Weg gespannt waren, von Gesicht und Armen zupfte.
Richard hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Außer seinem Messer und anderen Dingen, die er mitzunehmen vergessen hatte, gab es noch etwas anderes, das er unbedingt haben mußte, etwas Wichtiges, das sein Vater ihm gegeben hatte.
Als sein Vater ihm das Geheimnis verraten und ihn zu dessen Hüter gemacht hatte, hatte er Richard etwas gegeben, das er immer aufbewahren sollte, als Beweis dafür, daß er der rechtmäßige Eigentümer des Geheimen Buches war und daß es nicht gestohlen, sondern gerettet worden war, um sicher verwahrt zu werden. Es war ein dreieckiger Zahn, drei Finger breit. Richard hatte ein Lederband daran befestigt, damit er ihn immer um seinen Hals tragen konnte. Doch törichterweise hatte er das Haus verlassen, ohne ihn, sein Messer oder seinen Rucksack mitzunehmen. Er brannte darauf, ihn um seinen Hals zu tragen. Ohne ihn wurde sein Vater zu einem Dieb, genau wie Michael gesagt hatte.
Weiter oben, nach einer freien Fläche blanken Felsens, machten Ahorne, Eichen und Birken den Rottannen Platz. Das Grün des Waldbodens wich einer weichen, braunen Schicht Nadeln. Während sie weitergingen, beschlich ihn eine unangenehme Vorahnung. Sachte zupfte er Kahlan am Ärmel und hielt sie zurück.
»Laß mich vorgehen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Sie blickte ihn an und gehorchte, ohne zu fragen. Während der nächsten halben Stunde ging er langsamer und betrachtete den Boden und jeden Ast in der Nähe des Pfades. Am Fuß des letzten Hügelkamms vor seinem Haus blieb Richard stehen und ging neben einem Farngestrüpp in die Hocke.
»Was ist?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht gar nichts«, flüsterte er, »aber heute nachmittag ist jemand den Pfad hinaufgegangen.« Er hob einen plattgetretenen Fichtenzapfen auf und betrachtete ihn eine Weile, bevor er ihn fortwarf.
»Woher weißt du das?«
»Die Spinnweben.« Er sah den Hügel hinauf. »Jemand ist den Pfad hinaufgegangen und hat sie zerrissen. Die Spinnen hatten noch keine Zeit, neue zu spinnen, darum sind keine da.«
Kahlan runzelte verdutzt die Stirn. »Als ich vorging, waren überall Spinnweben. Alle zehn Schritte mußte ich sie mir aus dem Gesicht zupfen.«
»Genau das meine ich«, flüsterte er. »Den Teil des Pfades ist den ganzen Tag über niemand hinaufgegangen, aber seit der freien Fläche, die wir überquert haben, waren keine mehr zu sehen.«
»Wie ist das möglich?«
Er schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Entweder ist hinten bei der Lichtung jemand aus dem Wald gekommen und den Pfad hinaufgegangen, was recht mühsam ist.« Er sah ihr in die Augen. »Oder er ist aus dem Himmel gefallen. Mein Haus liegt hinter diesem Hügel. Halten wir die Augen offen.«
Richard führte sie vorsichtig die Steigung hinauf, dabei behielten sie den Wald im Auge. Am liebsten wäre er in die andere Richtung davongerannt, fort von hier, aber das war unmöglich. Niemals würde er ohne den Zahn davonlaufen, den ihm sein Vater zur Aufbewahrung anvertraut hatte.
Auf dem Kamm des Hügels gingen sie hinter einer dicken Fichte in die Hocke und blickten hinunter zum Haus. Die Fenster waren eingeschlagen, und die Tür, die er immer verschloß, stand offen. Seine Besitztümer lagen auf dem Boden verstreut.
Richard richtete sich auf. »Man hat es geplündert, genau wie das meines Vaters.«
Sie riß ihn an seinem Hemd zurück nach unten.
»Richard!« flüsterte sie alarmiert. »Vielleicht ist dein Vater ebenso nach Hause gekommen. Vielleicht ist er hineingegangen, wie du es eben tun wolltest, und sie haben nur auf ihn gewartet.«
Sie hatte natürlich recht. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und überlegte. Dann sah er wieder zum Haus. Die Rückseite war dicht am Waldrand, die Tür hingegen ging auf die Lichtung hinaus. Es war die einzige Tür. Jeder im Haus mußte annehmen, daß er durch sie hineinkommen würde. Dort würden sie warten, wenn sie drinnen waren.
»Also gut«, erwiderte er. »Aber ich muß etwas von drinnen holen. Ohne das gehe ich nicht. Wir können uns von hinten anschleichen, ich hole es raus, und dann verschwinden wir von hier.«
Richard hätte sie lieber nicht mitgenommen, wollte sie aber auch nicht allein auf dem Pfad warten lassen. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Wald, durch das dichte Gestrüpp, umrundeten das Haus in weitem Bogen. Als er die Stelle erreicht hatte, von wo aus er sich der Rückseite nähern konnte, gab er ihr ein Zeichen zu warten. Er wollte nicht, daß sie erwischt wurde, falls jemand im Haus war.
Er ließ Kahlan unter einer Fichte zurück und näherte sich vorsichtig im Zickzack dem Haus, blieb auf Flächen mit weichen Nadeln, um nicht auf trockenes Laub zu treten. Endlich erblickte er das Schlafzimmerfenster. Er blieb still stehen und lauschte. Nicht das geringste war zu hören. Vorsichtig schritt er vorwärts. Unter seinen Füßen bewegte sich etwas. Eine Schlange wand sich an seinem Fuß vorbei. Er wartete, bis sie weg war.
An der verwitterten Rückseite des Hauses angekommen, legte er seine Hand vorsichtig auf den nackten, hölzernen Fensterrahmen und hob den Kopf weit genug, um hineinspähen zu können. Das Glas war größtenteils herausgebrochen, und er konnte das heillose Durcheinander sehen, das in seinem Schlafzimmer herrschte. Das Bettzeug war aufgeschlitzt. Wertvolle Bücher waren auseinandergerissen, ihre Seiten lagen verstreut auf dem Fußboden. Die Tür zum Wohnzimmer an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand ein Stück offen, aber nicht weit genug, um dahinter etwas erkennen zu können. Wenn man keinen Keil darunterschob, klemmte die Tür immer an dieser Stelle. Langsam steckte er den Kopf durch das Fenster und blickte auf sein Bett. Unter dem Fenster befand sich der Bettpfosten, an dem sein Rucksack und das Lederband mit dem Zahn hingen — genau dort, wo er sie gelassen hatte. Er hob den Arm und wollte durch das Fenster hineingreifen.
Aus dem Wohnzimmer ertönte ein Knarren, ein Knarren, das er gut kannte. Er erstarrte vor Schreck. Das Knarren seines Sessels. Er hatte die Federn nie geölt, weil es irgendwie zum Sessel dazuzugehören schien und er es nicht über sich brachte, etwas daran zu verändern. Geräuschlos ließ er sich zurückfallen. Es bestand kein Zweifel. Im Wohnzimmer war jemand, und dieser jemand saß in seinem Sessel. Man wartete auf ihn.
Eine Bewegung im Augenwinkel erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah nach rechts. Ein Eichhörnchen saß auf einem fauligen Baumstumpf und beobachtete ihn. Bitte, dachte er verzweifelt, bitte fang jetzt nicht laut an zu schnattern, ich soll dein Territorium verlassen. Das Eichhörnchen schien ihn eine Ewigkeit zu beobachten, dann hüpfte es von dem Baumstumpf auf einen Stamm, sprang hinauf und war verschwunden.
Richard atmete auf und kam hoch, um noch einmal durch das Fenster zu lugen. Die Tür klemmte immer noch an derselben Stelle. Rasch griff er hinein und lupfte den Rucksack und das Band mit dem Zahn vom Bettpfosten und lauschte dabei die ganze Zeit mit aufgerissenen Augen auf Geräusche aus dem anderen Zimmer. Sein Messer lag auf einem kleinen Tisch neben dem Bett. Keine Chance, es zu holen. Er hob den Sack durch das Fenster, darauf bedacht, nicht gegen die Reste der Fensterscheibe zu stoßen.
Richard hielt seine Beute in der Hand, widerstand jedoch dem Drang, einfach loszurennen. Statt dessen eilte er leise den Weg zurück, den er gekommen war. Er blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand folgte. Dann steckte er seinen Kopf durch den Lederriemen und versteckte den Zahn unter seinem Hemd. Den Zahn durfte niemand sehen, nur der Hüter des Geheimen Buches.
Kahlan wartete, wo er sie verlassen hatte. Man sah ihr an, daß sie erleichtert war, ihn zu sehen. Er legte den Finger auf die Lippen, um ihr zu sagen, sie solle sich ruhig verhalten. Er warf den Rucksack über seine linke Schulter und legte ihr die andere Hand sacht auf den Rücken, damit sie weiterging. Er wollte nicht denselben Weg zurückgehen, den sie gekommen waren, also führte er sie durch den Wald, wo der Pfad oberhalb seines Hauses weiterführte. Über den Pfad gespannte Spinnenweben glitzerten in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Sie atmeten erleichtert auf. Dieser Pfad war länger und viel anstrengender, aber er führte sie zum Ziel. Zu Zedd.
Das Haus des Alten war zu weit entfernt, um es vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, und der Pfad war nachts tückisch, trotzdem wollte Richard sich so weit wie möglich von denen entfernen, die in seinem Haus lauerten. Er wollte weitergehen, solange es noch etwas Licht gab.
Nüchtern überlegte er, ob die Leute in seinem Haus dieselben waren, die auch seinen Vater umgebracht hatten. Sein Haus war genauso durchwühlt worden wie das seines Vaters. Hatten sie auf ihn ebenso gewartet? Richard wünschte, er hätte sie stellen oder zumindest sehen können, aber irgendwas in seinem Innern hatte ihm dringend zur Flucht geraten.
Er schüttelte innerlich den Kopf. Er ließ seiner Phantasie zu sehr die Zügel schießen. Sicher, irgend etwas hatte ihn vor einer Gefahr gewarnt, ihm geraten zu fliehen. Schon einmal an diesem Tag war er gegen jede Wahrscheinlichkeit mit dem Leben davongekommen. Töricht genug, sich einmal auf sein Glück zu verlassen, es zweimal zu tun, war Dummheit der übelsten Sorte. Am besten ging er einfach fort.
Trotzdem hätte er gerne gewußt, wer es war, um sicherzugehen, daß es keine Verbindung gab. Aber warum hätte jemand sein Haus wie das seines Vaters auseinandernehmen sollen? Und wenn es doch dieselben waren? Er wollte wissen, wer seinen Vater getötet hatte. Er brannte geradezu darauf.
Man hatte ihm zwar nicht gestattet, sich die Leiche seines Vaters anzusehen, trotzdem hatte er wissen wollen, wie man ihn umgebracht hatte. Chase hatte versucht, es ihm so behutsam wie möglich beizubringen, aber immerhin. Man hatte seinem Vater den Bauch aufgeschlitzt und seine Gedärme über den Fußboden verteilt. Wie konnte jemand so etwas tun? Und wozu? Bei dem Gedanken daran wurde ihm übel und schwindelig. Richard schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.
»Und?« Ihre Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.
»Was? Was meinst du?«
»Und, hast du bekommen, was du holen wolltest?«
»Ja.«
»Und was war es?«
»Was es war? Mein Rucksack. Ich mußte meinen Rucksack holen.«
Sie drehte sich mit einem finsteren Ausdruck auf dem Gesicht zu ihm und stemmte die Hände in die Hüften. »Richard Cypher, soll ich vielleicht glauben, du riskierst dein Leben für einen Rucksack?«
»Kahlan, noch ein Wort, und ich werde böse.« Er brachte es nicht fertig zu lächeln.
Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn immer noch schief an, aber er hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. »Also schön, mein Freund«, sagte sie leise. »Wie du willst.«
Offenbar war Kahlan es gewohnt, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.
Mit dem Licht erloschen die Farben und verstummten zu Grau, und Richard begann über einen Schlafplatz für die Nacht nachzudenken. Er kannte mehrere Launenfichten, die er zu den verschiedensten Gelegenheiten benutzt hatte. Am Rande der Lichtung stand eine, gleich vorne neben dem Pfad. Der mächtige Stamm hob sich gegen das erblassende Rosa des Himmels ab und überragte alle anderen Bäume. Er führte Kahlan dorthin.
Er spürte den Zahn, der um seinen Hals hing. Er nagte an ihm wie seine Geheimnisse. Er wünschte, sein Vater hätte ihn nie zum Hüter des Geheimen Buches gemacht. Ein Gedanke, den er am Haus noch unterdrückt hatte, drängte sich jetzt in den Vordergrund. Die Bücher in seinem Haus sahen aus, als wären sie in einem Wutanfall zerfetzt worden. Vielleicht, weil keines das richtige gewesen war. Vielleicht suchten diese Leute nach dem Geheimen Buch? Aber das war ausgeschlossen. Außer dem rechtmäßigen Besitzer wußte niemand von dessen Existenz.
Und sein Vater. Und er selbst. Und dieses Etwas, von dem der Zahn stammte. Der Gedanke war zu weit hergeholt. Er beschloß, nicht mehr daran zu denken. Versuchte es mit aller Kraft.
Nach dem, was auf dem Schartenberg passiert war und in seinem Haus auf ihn gewartet hatte, schien ihm Angst die Kräfte geraubt zu haben. Fast wurden ihm die Füße auf dem moosigen Untergrund zu schwer. Gerade, als er durch das Dickicht auf eine Lichtung treten wollte, mußte er stehenbleiben, um eine Mücke totzuschlagen, die ihn in den Hals stach.
Mitten im Schlag packte Kahlan sein Handgelenk.
Ihre andere Hand schloß sich über seinem Mund.
Er erstarrte.
Sie blickte ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. Dann ließ sie sein Handgelenk los und legte ihm die Hand hinter den Kopf. Die andere blieb über seinem Mund. Ihrem Gesichtsausdruck nach hatte sie Angst, er könnte ein Geräusch machen. Langsam drückte sie ihn nach unten. Er gab ihr seine Bereitwilligkeit zu verstehen.
Ihr Blick hielt ihn so fest wie ihre Hände. Sie blickte ihm immer noch in die Augen und brachte ihr Gesicht so nah an seines, bis er den warmen Atem auf seiner Wange spürte.
»Hör zu.« Ihr Flüstern war sehr leise, und er mußte sich konzentrieren, um sie zu verstehen. »Tu genau, was ich sage.« Er sah ihren Gesichtsausdruck und hatte Angst, mit den Augen zu zwinkern. »Beweg dich nicht. Egal, was geschieht, beweg dich nicht. Oder wir sind tot.«
Sie wartete. Er nickte knapp. »Laß die Mücken stechen. Oder wir sind tot.« Wieder wartete sie. Wieder ein knappes Nicken.
Mit einem Zucken der Augen gab sie ihm zu verstehen, er solle auf die Lichtung blicken. Langsam drehte er den Kopf ein Stück: Nichts zu sehen. Ihre Hand lag immer noch über seinem Mund. Er hörte ein paar Grunzer, wie von einem Wildschwein.
Dann sah er es.
Er zuckte zusammen, ohne es zu wollen. Sie drückte ihm die Hand fester auf den Mund.
Auf der anderen Seite der Lichtung spiegelte sich das schwindende Abendlicht in zwei grünen funkelnden Augen, deren Blick in seine Richtung schwenkte. Es stand wie ein Mensch auf zwei Beinen und war ungefähr einen Kopf größer als er. Seiner Schätzung nach wog es vielleicht das Dreifache. Mücken zerstachen Richard den Hals, er versuchte jedoch, sie zu ignorieren.
Er sah ihr wieder in die Augen. Sie hatte das Monster nicht angeschaut. Sie wußte, was sie auf der anderen Seite der Lichtung erwartete. Statt dessen behielt sie ihn im Auge und wartete, ob er sie durch seine Reaktion verraten würde. Mit einem Nicken versuchte er, sie erneut zu beruhigen. Erst jetzt nahm sie ihre Hand von seinem Mund, legte sie ihm aufs Handgelenk und drückte es auf den Boden. Blut rann ihr über den Hals, während sie reglos im weichen Moos lag und die Mücken gewähren ließ. Er spürte jeden einzelnen Einstich. Dann hörte er wieder ein tiefes, kurzes Grunzen, und sie drehten den Kopf ein wenig, um etwas erkennen zu können.
Mit einer schlurfenden, seitwärtigen Bewegung und in überraschendem Tempo stürmte das Monster mitten auf die Lichtung. Grunzend und mit argwöhnischem Blick in den grünen Augen, ließ es den langen Schwanz durch die Luft schwirren. Es legte den Kopf schief, stellte die kurzen, runden Ohren nach vorn und lauschte. Fell bedeckte seinen ganzen massigen Körper bis auf Brust und Bauch, wo eine glatte, glänzende, rosige Haut kräftige Muskelstränge verdeckte. Mücken umschwirrten die gespannte Haut, die mit irgend etwas beschmiert war. Das Monster warf den Kopf zurück, öffnete das Maul und stieß ein Zischen in die nachtkalte Luft. Richard sah, wie der Atem zwischen fingergroßen Zähnen verdampfte.
Um nicht vor Entsetzen aufzuschreien, konzentrierte sich Richard auf die stechenden Mücken. Davonschleichen oder -rennen war ausgeschlossen, dafür war das Monster zu nahe und, wie er gesehen hatte, auch zu schnell.
Ein Schrei vom Boden genau vor ihnen. Richard zuckte zusammen. Augenblicklich schoß das Monster in einer seitwärtigen Bewegung auf sie zu. Kahlans Finger bohrten sich ihm ins Handgelenk, ansonsten rührte sie sich nicht. Richard verfolgte gebannt, wie es zuschlug. Ein Kaninchen, dessen Ohren von Mücken übersät waren, schoß, erneut schreiend, genau vor ihnen davon und wurde im Nu gepackt und in zwei Stücke gerissen. Die Vorderhälfte verschwand mit einem einzigen Biß. Das Monster stand genau vor ihnen und machte sich über die Innereien des Kaninchens her. Dabei schmierte es sich ein wenig von dem Blut auf Brust und Bauch. Die Mücken, selbst die, die Richard und Kahlan gestochen hatten, kehrten zu dem Monster zurück und labten sich. Der Kaninchenrest wurde an den Beinen gepackt, auseinandergerissen und verschlungen.
Anschließend legte das Vieh erneut den Kopf auf die Seite und lauschte. Die beiden befanden sich genau vor ihm, hielten den Atem an. Richard schrie innerlich.
Auf seinem Rücken breiteten sich riesige Hügel aus. Im nachlassenden Licht erkannte Richard die pulsierenden Adern in den dünnen Membranen, aus denen die Flügel bestanden. Das Vieh sah sich ein letztes Mal um und schlurfte seitwärts über die Lichtung. Es richtete sich auf, hüpfte zweimal, hob ab und verschwand Richtung Grenze. Mit ihm verschwanden auch die Mücken.
Die beiden legten sich erschöpft auf den Rücken. Ihr Atem raste vor Angst. Richard mußte an die Leute vom Land denken, die ihm von einem Monster aus dem Himmel erzählt hatten, das Menschen fraß. Er hatte ihnen nicht geglaubt. Jetzt glaubte er ihnen.
Etwas in seinem Rucksack bohrte sich ihm in den Rücken. Als er es nicht mehr aushielt, rollte er auf die Seite und stützte sich auf einen Ellenbogen. Er war schweißgebadet. In der frostigen Nachtluft war ihm eiskalt. Kahlan lag immer noch mit geschlossenen Augen da und atmete hastig. Ein paar Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, das meiste jedoch wallte auf den Boden. Rund um den Hals war es rot gefärbt. Trauer überwältigte ihn, als er an das Grauen in ihrem Leben dachte. Wenn ihr doch nur die Begegnungen mit diesen Monstern erspart blieben, die sie nur zu gut zu kennen schien.
»Kahlan, was war das?«
Sie setzte sich auf, atmete tief durch und schaute zu ihm hinunter. Mit der Hand strich sie sich ein paar Haare hinter die Ohren. Die übrigen fielen ihr über die Schultern nach vorn.
»Das war ein langschwänziger Gar.«
Sie streckte die Hand aus und packte eine der Stechmücken bei den Flügeln. Sie mußte sich irgendwie in einer Hemdfalte verfangen haben und war zerdrückt worden, als er sich auf den Rücken gerollt hatte.
»Das ist eine Blutmücke. Gars benutzen sie zur Jagd. Die Mücken scheuchen das Opfer auf, und der Gar schlägt zu. Sie beschmieren sich zum Teil mit Blut, für die Mücken. Wir haben sehr großes Glück gehabt.« Sie hielt ihm die Blutmücke unter die Nase, um ihre Aussage zu unterstreichen. »Langschwänzige Gars sind dumm. Wäre es ein kurzschwänziger gewesen, wären wir jetzt tot. Kurzschwänzige sind größer und erheblich gerissener.« Sie wartete, um sich zu vergewissern, ob er ihr genau zuhörte. »Die zählen ihre Mücken.«
Er hatte Angst, war erschöpft und verwirrt, hatte Schmerzen. Er sehnte das Ende dieses Alptraums herbei. Mit einem entmutigten Stöhnen ließ er sich auf seinen Rucksack fallen, ohne sich daran zu stören, daß sich ihm etwas in den Rücken bohrte.
»Kahlan, ich bin dein Freund. Ich habe dich nicht bedrängt, als du nach dem Überfall der Männer nicht erzählen wolltest, was eigentlich vorgeht.« Er hatte die Augen geschlossen. Er hielt ihrem prüfenden Blick nicht stand. »Und jetzt werde auch ich gejagt. Womöglich von denselben Leuten, die meinen Vater ermordet haben. Ich glaube, ich habe ein Recht, wenigstens teilweise eingeweiht zu werden. Schließlich bin ich dein Freund und nicht dein Feind.
Einmal, als ich klein war, bekam ich Fieber und wäre fast gestorben. Zedd fand eine Wurzel, die mich rettete. Da war ich das einzige Mal dem Tod nahe. Und heute ist es schon dreimal geschehen. Was soll ich…«
Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Du hast recht. Ich werde dir deine Fragen beantworten. Nur nicht über mich. Das kann ich jetzt noch nicht.«
Er setzte sich auf und sah sie an. Sie zitterte vor Kälte. Er ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, zog eine Decke heraus und wickelte sie damit ein.
»Du hast mir ein Feuer versprochen«, sagte sie bibbernd. »Hast du vor, dein Versprechen zu halten?«
Er konnte nicht anders. Lachend erhob er sich. »Aber sicher. Dort drüben, auf der anderen Seite der Lichtung steht eine Launenfichte. Oder wenn du willst, ein Stück den Pfad hinauf stehen auch noch andere.«
Sie hob den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und Zorn an.
»Also gut«, er lächelte, »suchen wir uns eine andere Launenfichte den Pfad hinauf.«
»Was ist eine Launenfichte?« fragte sie.