26

Sie ließen die Taschen fallen und rannten zur Tür hinaus auf den weiten Platz, wo sie Savidlin zuletzt gesehen hatten. Zu zweit riefen sie Siddins Namen. Die Leute sprangen zur Seite, als sie durch den Matsch rannten. Als sie den weiten Platz erreicht hatten, war in der Menge bereits Panik ausgebrochen. Niemand wußte, was geschehen war, und alles strömte in den Schutz der Häuser. Die Dorfältesten zogen sich auf die Plattform zurück. Der Vogelmann richtete sich auf und versuchte, etwas zu erkennen. Der Jagdtrupp hinter ihm legte Pfeile in die Bogen.

Dann entdeckten sie Savidlin, der verängstigt und verwirrt war, weil sie den Namen seines Sohnes riefen.

»Savidlin!« schrie Kahlan, »Du mußt Siddin finden. Er darf auf keinen Fall den kleinen Beutel öffnen, den er bei sich hat!«

Savidlin wurde blaß, als er sie schreien hörte, drehte sich suchend im Kreis, machte sich dann geduckt auf die Suche nach seinem Sohn. Sein Kopf schoß zwischen den durcheinanderlaufenden Menschen hindurch. Kahlan konnte Weselan nirgends entdecken. Richard und Kahlan trennten sich und weiteten die Suche aus. Die Menge verwandelte sich in eine verwirrte Masse, ständig mußte sie Menschen zur Seite schieben. Kahlan schlug das Herz bis zum Hals. Wenn Siddin den Beutel öffnete…

Und dann sah sie ihn.

Als die Menge die Dorfmitte räumte, saß er plötzlich da, ohne auf die Panik ringsum zu achten, mitten im Matsch, und versuchte, den Stein aus dem ledernen Beutel in seiner Hand zu schütteln.

»Siddin, nicht!« schrie sie immer wieder, während sie zu ihm rannte.

Er hörte ihre Schreie nicht. Vielleicht bekam er ihn nicht heraus. Er war doch nur ein schutzloser kleiner Junge, bitte, flehte sie in Gedanken, möge das Schicksal ihm gnädig sein.

Der Stein fiel aus dem Beutel und blieb im Matsch stecken. Lächelnd nahm Siddin ihn in die Hand. Kahlan spürte, wie ihr das Blut gefror.

Überall ringsum tauchten Schattenwesen auf. Wie Nebelschwaden wirbelten sie durch die feuchte Luft, so als wollten sie sich umsehen. Dann schwebten sie auf Siddin zu.

Richard stürmte los und rief Kahlan zu: »Nimm den Stein! Steck ihn zurück in den Beutel!«

Sein Schwert blitzte durch die Luft und durchtrennte die Schatten, während er auf kürzestem Weg zu Siddin rannte. Sie heulten gequält auf und stoben auseinander, als das Schwert sie durchschnitt. Siddin hob den Kopf, als er das fürchterliche Heulen hörte, und erstarrte mit weitaufgerissenen Augen. Kahlan schrie ihn an, er soll den Stein in den Beutel zurückstecken, doch er war wie gelähmt. Er hörte andere Stimmen. Sie rannte schneller, als sie je gerannt war, umkurvte die dichten Knäuel der Schatten, die auf den Jungen zuschwebten.

Etwas Dunkles und Kleines huschte an ihr vorbei. Ihr stockte der Atem. Dann noch eins, hinter ihr. Pfeile. Plötzlich war die Luft voller Pfeile. Der Vogelmann hatte seinen Leuten befohlen, die Schatten niederzustrecken. Ein jeder fand ins Ziel, doch die Pfeile passierten die Schatten, als flögen sie durch Rauch. Das Ergebnis war, daß überall Giftpfeile wild herumsirrten. Wenn einer davon Richard oder sie ritzte, waren sie tot. Jetzt mußte sie nicht nur den Schatten ausweichen, sondern auch noch den Pfeilen. Sie konnte sich gerade in letzter Sekunde noch ducken, als sie wieder einen an ihrem Ohr vorbeizischen hörte. Einer prallte vorn Matsch auf dem Boden ab und flog an ihrem Bein vorbei.

Richard hatte den Jungen erreicht, kam aber nicht dazu, den Stein zu packen. Er konnte nichts tun, als wie ein Rasender die vorrückenden Schatten niederzumetzeln. Für den Stein blieb keine Zeit. Kahlan war immer noch ein gutes Stück entfernt. Sie hatte nicht so zielstrebig laufen können wie Richard, der sich einfach den Weg freihackte. Wenn sie aus Versehen einen Schatten berührte, war sie tot. Um sie herum tauchten so viele auf, daß es zu einem Irrgarten in Grau wurde. Richard kämpfte einen Kreis um den Jungen frei, der ständig kleiner wurde. Er hielt das Schwert mit beiden Händen gepackt und schlug wild um sich. Keinen Augenblick durfte er langsamer werden, sonst würden sie ihn berühren. Die Schatten nahmen kein Ende.

Kahlan kam kein Stück mehr vorwärts. Die ringsum schwebenden Schatten, die vorbeizischenden Pfeile schnitten ihr bei jeder Drehung den Weg ab, zwangen sie zurückzuspringen, sobald sie glaubte, einen Durchschlupf gefunden zu haben. Richard konnte unmöglich länger durchhalten. so sehr er auch kämpfte, der Kreis schloß sich immer enger um den Jungen. Ihre einzige Chance war Kahlan, und die war nicht einmal in der Nähe.

Wieder schoß ein Pfeil vorbei. Die Feder streifte ihr Haar.

»Hört auf mit den Pfeilen!« brüllte sie wütend den Vogelmann an. »Hört auf mit den Pfeilen! Ihr bringt uns um!«

Gereizt bemerkte er ihre mißliche Lage und gebot den Bogenschützen widerwillig Einhalt. Aber dann zückten sie alle ihre Messer und rückten rasch gegen die Schatten vor. Sie hatten keine Ahnung, was sie vor sich hatten. Sie würden bis auf den letzten Mann aufgerieben werden.

»Nein!« kreischte sie. »Wenn ihr sie berührt, seid ihr tot! Bleibt zurück!«

Der Vogelmann hob den Arm und hielt seine Männer zurück. Sie wußte, wie hilflos er sich fühlen mußte, wenn er sie jetzt zwischen den Schatten hindurchschießen sah, und sie sich immer näher an Siddin und Richard herankämpfte.

Dann hörte sie eine andere Stimme. Toffalar. Er brüllte irgend etwas.

»Haltet sie auf! Sie vernichten die Seelen unserer Vorfahren! Schießt sie mit den Pfeilen nieder! Erschießt die Fremden!«

Die Bogenschützen sahen sich an und luden zögernd nach. Einem der Dorfältesten durften sie nicht den Gehorsam verweigern.

»Erschießt sie!« gellte er mit rotem Gesicht, die Faust schüttelnd. »Ihr habt mich gehört! Erschießt sie!«

Sie rissen ihre Bögen hoch. Kahlan ging in die Hocke und machte sich darauf gefaßt, den Pfeilen aus dem Weg zu springen, sobald sie abgeschossen würden. Der Vogelmann trat vor seine Leute, breitete die Arme aus und zog den Befehl zurück. Zwischen ihm und Toffalar kam es zu einem Wortgefecht, das sie nicht verstand. Sie ergriff die Gelegenheit, sich unter den ausgestreckten Armen der schwebenden Schatten weiter vorzuarbeiten.

Aus den Augenwinkeln entdeckte sie Toffalar. Er stürmte mit einem Messer in der Hand auf sie zu. Egal. Früher oder später würde er in einen Schatten hineinlaufen und getötet werden. Gelegentlich blieb er stehen und flehte die Schatten an. Vor lauter Geheul verstand sie nicht, was er sagte. Als sie sich das nächste Mal umdrehte, hatte er sie fast erreicht. Unfaßbar, daß er in keinen hineingelaufen war. Irgendwie schienen sich die Lücken vor ihm aufzutun, als er mit wutverzerrtem Gesicht acht- und kopflos auf sie zuraste. Sie machte sich immer noch keine Sorgen. Bald mußte er in einen hineinlaufen und würde sterben.

Der Ring aus Schatten um Richard und Siddin erwies sich für Kahlan als undurchdringliche, graue Wand. Es gab keine Öffnung. Sie tauchte nach rechts, nach links, versuchte einen Eingang zu finden, konnte aber nicht durch. Sie war so dicht dran und doch so fern. Die Falle schien sich auch um sie zu schließen. Verschiedene Male entkam sie nur knapp durch einen Schritt zurück, bevor sich die Schatten zusammenschoben. Richard versuchte zu erkennen, wo sie steckte. Mehrere Male wollte er sich zu ihr durchkämpfen, mußte sich aber dann jedesmal wieder auf die andere Seite schlagen, um Siddin die Schatten vom Leib zu halten.

Mit Entsetzen sah sie, wie das Messer durch die Luft schnitt. Toffalar stand neben ihr. Blind vor Haß kreischte er etwas, das sie nicht verstand. Doch das Messer und seine Absicht waren eindeutig. Er wollte sie umbringen. Sie tauchte unter seinem Hieb weg. Ihre Eröffnung.

Und dann machte sie einen Fehler.

Sie wollte gerade nach Toffalar greifen, als sie merkte, wie Richard sie ansah. Der Gedanke, er könnte sehen, wie sie ihre Macht benutzte, ließ sie kurz zögern, und Toffalar erhielt den winzigen Augenblick, den er brauchte. Richard schrie ihren Namen, wollte sie warnen. Dann mußte er sich umdrehen, um die Schatten hinter sich zurückzuschlagen.

Toffalar riß das Messer hoch, stach zu, traf sie am rechten Arm, und die Klinge glitt am Knochen ab.

Schock und Schmerz machten sie wie tollwütig. Über ihre eigene Dummheit. Das zweite Mal verpaßte sie ihre Eröffnung nicht. Mit links packte sie Toffalar an der Kehle und spürte, wie ihr Griff ihm für einen Augenblick die Luft abquetschte. Sie brauchte ihn nur zu berühren. Daß sie ihn an der Kehle packte, war ein Reflex ihrer Wut, nicht ihrer Macht.

Trotz der entsetzten Schreie ringsum und des Geheuls der Schatten, die Richard massenhaft vernichtete, wurde sie plötzlich ruhig. In ihrem Kopf herrschte absolute Stille. Sonst nichts. Die Stille dessen, was folgen wurde.

Im tragen Funken eines Augenblicks, der sich für sie zu einer Ewigkeit dehnte, erkannte sie den Ausdruck von Angst in Toffalars Blick, die Erkenntnis seines Schicksals, seines Endes. Sie las in seinen Augen, wie er sich diesem Ende widersetzen wollte, wie sich seine Muskeln anspannten, um sich gegen sie zu stemmen, wie seine Hände ebenso langsam wie aussichtslos nach den ihren um seine Kehle griffen. Er hatte keine Chance, nicht die geringste. Sie hatte die Oberhand. Die Zeit gehörte ihr. Er gehörte ihr. Sie spürte kein Mitleid. Keine Reue. Nur tödliche Ruhe.

Wie schon unzählige Male zuvor in dieser Ruhe, loste die Mutter Konfessor ihre Sperre. Endlich befreit, fuhr ihre Kraft Toffalar in die Knochen.

Die Luft ringsum bebte gewaltig. Donner ohne Hall. Das Wasser in den Pfützen tanzte und schleuderte schlammige Tropfen in die Luft.

Toffalar riß die Augen auf. Seine Gesichtsmuskeln erschlafften. Sein Unterkiefer klappte herunter.

»Herrin!« stieß er ehrfürchtig flüsternd hervor.

Ihr ruhiger Gesichtsausdruck verzerrte sich vor Wut. Mit voller Kraft schleuderte sie Toffalar nach hinten in den Ring aus Schatten rings um Richard und Siddin. Er warf die Arme in die Luft, stürzte schreiend in die Schatten, bevor er im Matsch versank. Irgendwie hatte der Aufprall kurz eine winzige Lücke in den Ring der Schatten gerissen. Ohne Zögern stürzte sie sich hindurch, kurz bevor er sich hinter ihr wieder schloß. Kahlan warf sich über Siddin.

»Beeil dich!« brüllte Richard.

Siddin sah sie nicht an. Er starrte wie versteinert mit offenem Mund auf die Schatten. Sie versuchte, ihm den Stein aus seiner kleinen, geballten Faust zu entwinden, doch er hielt ihn mit der ganzen Kraft seines Entsetzens umklammert. Sie riß ihm den Beutel aus der anderen Hand. Mit links packte sie den Beutel und sein Handgelenk, begann mit rechts seine kleinen Finger vom Stein zu lösen, während sie ihn die ganze Zeit anflehte loszulassen. Er hörte sie nicht. Blut lief ihr über den Arm auf die zitternde Hand, vermischte sich mit dem Regen und machte ihre Finger glitschig. Eine Schattenhand griff nach ihrem Gesicht. Sie zuckte zurück. Das Schwert zischte an ihrem Gesicht vorbei, durch den Schatten hindurch. Das Geheul ging unter in dem der anderen. Siddin hatte den Blick auf die Schatten geheftet, seine Muskeln waren erstarrt. Richard war direkt über ihr und schwang das Schwert in alle Richtungen. Es gab kein Zurück. Die drei waren auf sich gestellt. Siddins glitschige Hand ließ sich nicht öffnen.

Mit zusammengebissenen Zähnen und einer Anstrengung, die in ihrem verwundeten Arm einen siedenden Schmerz verursachte, löste sie schließlich den Stein aus Siddins Hand. Im Blut und Matsch entglitt er ihren Fingern wie ein Melonenkern und versank beinahe neben ihrem Knie im Schlamm. Sie schob ihn in den Beutel und riß die Schnur zusammen. Keuchend hob sie den Kopf.

Die Schatten hielten inne. Sie hörte Richards schweren Atem; der Sucher drosch immer noch auf sie ein. Zuerst langsam, dann schneller, zogen sich die Schatten zurück, ganz so, als wären sie verwirrt, verloren, auf der Suche nach irgend etwas. Nacheinander lösten sie sich in Luft auf, verschwanden in die Unterwelt, aus der sie aufgetaucht waren. Die drei befanden sich allein auf einer leeren, weiten Fläche aus Schlamm.

Kahlan lief der Regen übers Gesicht. Sie nahm Siddin in die Arme und drückte ihn fest an sich. Er begann zu weinen. Richard schloß erschöpft die Augen und sank auf Knie und Fersen. Er ließ den Kopf hängen und schnappte nach Luft.

»Kahlan«, jammerte Siddin, »sie haben meinen Namen gerufen

»Ich weiß«, flüsterte sie in sein Ohr und küßte es, »jetzt ist alles gut. Du warst sehr tapfer. So tapfer wie ein Jäger

Er schlang ihr die Arme um den Hals und ließ sich von ihr trösten. Sie fühlte sich schwach. Fast hätten sie ihr Leben verloren, nur um ein einziges zu retten. Sie hatte dem Sucher gesagt, so etwas dürfe er nicht tun, und doch hatte er es ohne jedes Zögern getan. Wie, hätten sie es nicht wenigstens versuchen sollen? Siddins Arme um ihren Hals waren die schönste Belohnung. Richard hielt das Schwert immer noch in beiden Händen, seine Spitze steckte im Schlamm. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.

Bei der Berührung riß er sofort den Kopf hoch und schwang das Schwert, das erst dicht vor ihrem Gesicht stoppte. Kahlan sprang überrascht auf. In Richards grauen Augen blitzte Wildheit.

»Richard«, sagte sie erschrocken, »ich bin's doch nur. Es ist vorbei. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Er löste seine verspannten Muskeln und ließ sich seitlich in den Matsch sinken.

»Tut mir leid«, brachte er hervor, immer noch um Atem ringend. »Als deine Hand mich berührt hat … ich dachte wohl, es wäre ein Schatten.«

Plötzlich waren überall Beine. Sie hob den Kopf. Der Vogelmann war da, Savidlin und Weselan auch. Weselan schluchzte laut. Kahlan stand auf und gab ihr ihren Sohn. Weselan gab den Jungen weiter an ihren Mann, schlang ihre Arme um Kahlan und gab ihr einen Kuß.

»Danke, Mutter Konfessor, danke, daß du meinen Jungen gerettet hast«, sagte sie weinend. »Danke, Kahlan, danke

»Schon gut, schon gut.« Kahlan nahm sie in den Arm. »Es ist alles wieder gut

Tränenüberströmt drehte Weselan sich um und nahm Siddin in die Arme. Kahlan entdeckte Toffalar, der in der Nähe lag, tot. Sie ließ sich erschöpft in den Schlamm sinken, zog die Knie hoch und schlang die Arme darum.

Sie legte das Gesicht auf die Knie, verlor die Beherrschung und fing an zu weinen. Nicht, weil sie Toffalar getötet hatte, sondern weil sie gezögert hatte. Fast hätte es sie das Leben gekostet. Und auch Richard und Siddin. Jeden. Fast hätte sie Rahl den Sieg überlassen, nur weil Richard nicht sehen sollte, was sie tat. Etwas Dümmeres hatte sie noch nie getan, sah man einmal davon ab, daß sie Richard nicht verraten hatte, daß sie Konfessor war. Niedergeschlagen ließ sie den Tränen freien Lauf, während sie schluchzend nach Luft rang.

Eine Hand griff unter ihren gesunden Arm und zog sie hoch. Der Vogelmann. Sie biß sich auf die bebenden Lippen und zwang sich, mit dem Geheule aufzuhören. Sie durfte vor diesen Menschen keine Schwäche zeigen. Sie war Konfessor.

»Gut gemacht, Mutter Konfessor«, sagte er und nahm von einem seiner Männer einen Stoffetzen entgegen, den er ihr um den verwundeten Arm wickelte.

Kahlan hob den Kopf. »Danke, geehrter Ältester

»Das wird genäht werden müssen. Ich werde unseren besten Heiler damit beauftragen

Wie betäubt ließ sie ihn den Verband anlegen. Ein stechender Schmerz schoß durch die tiefe Schnittwunde. Sie sah zu Richard, der zufrieden damit zu sein schien, auf dem Rücken im Matsch zu liegen, als wäre dies das bequemste Bett der Welt.

Der Vogelmann sah sie an, zog eine Braue hoch und deutete mit einem Nicken auf Richard. »Deine Warnung, ich sollte dem Sucher keinen Grund geben, sein Schwert im Zorn zu ziehen, war so treffend wie der Pfeil meines besten Schützen.« Er zwinkerte mit den scharfen, braunen Augen, und die Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er den Sucher anblickte. »Du hast uns ebenfalls eine gute Vorstellung geboten, Richard mit dem Zorn. Wenn man bedenkt, daß böse Geister noch nicht gelernt haben, dein Schwert zu fürchten

»Was hat er gesagt?« fragte Richard.

Sie sagte es ihm. Mit einem bitteren Lächeln über den Scherz rappelte er sich auf und steckte das Schwert weg. Er nahm ihr den Beutel aus der Hand. Sie hielt ihn immer noch umklammert, doch das hatte sie völlig vergessen. Richard steckte ihn ein. »Auf daß wir nie mit Schwertern bewaffneten Geistern begegnen.«

Der Vogelmann nickte. »Es gibt einiges zu tun

Er packte das Kojotenfell, in das Toffalar gehüllt war. Die Leiche rollte herum, als er an dem Fell zog. Er wandte sich an die Jäger.

»Vergrabt den Toten.« Sein Blick verengte sich. »Und zwar vollständig

Die Männer blickten sich unsicher an. »Ältester, du meinst vollständig, bis auf den Schädel?«

»Ich meine, was ich gesagt habe. Alles. Wir bewahren nur die Schädel von ehrenvollen Ältesten auf, damit wir an ihre Weisheit erinnert werden. Die Schädel von Narren behalten wir nicht

Ein Schauer ging durch die Menge. Das war ungefähr das Schlimmste, was man einem Ältesten antun konnte, eine Entehrung höchsten Grades. Sie bedeutete, daß sein Leben wertlos gewesen war. Die Männer nickten. Keiner ergriff das Wort für den toten Ältesten, auch nicht die fünf anderen, die ganz in der Nähe standen.

»Uns fehlt ein Ältester«, verkündete der Vogelmann. Er sah sich um, blickte in die Augen der Umstehenden, dann nahm er Haltung an und drückte Savidlin das Kojotenfell vor die Brust. »Ich ernenne dich.«

Savidlin legte die Hände mit einer Ehrfurcht um das schlammverschmutzte Fell, als sei es eine goldene Krone. Mit einem verhaltenen, stolzen Lächeln nickte er dem Vogelmann zu.

»Hast du als jüngster Dorfältester unserem Volk etwas zu sagen?« Es war keine Frage, sondern ein Befehl.

Savidlin ging hinüber, machte kehrt und stellte sich zwischen Richard und Kahlan. Er legte sich das Fell um die Schultern, strahlte Weselan voller Stolz an und wandte sich an die versammelte Menge. Kahlan bemerkte, wie sie inzwischen von dem gesamten Dorf umringt wurden.

»Verehrtester von uns allen«, sprach er zum Vogelmann, »diese beiden Menschen haben sich selbstlos für die Verteidigung unseres Volkes eingesetzt. Ich habe in meinem Leben noch nichts Vergleichbares erlebt. Sie hätten uns uns selbst überlassen können, nachdem wir ihnen törichterweise den Rücken gekehrt hatten. Statt dessen haben sie uns gezeigt, welcher Sorte Mensch sie angehören. Sie sind ebenso gut wie die Besten von uns.« Fast jeder in der Menge nickte. »Nimm sie als Schlammenschen auf und mache sie zu unsrigen

Der Vogelmann lächelte dünn. Er wandte sich an die fünf anderen Ältesten, und sein Lächeln verflüchtigte sich. Auch wenn er es gut verbarg, in den Augen des Vogelmannes blitzte immer noch Wut. »Tretet vor.« Sie warfen sich Seitenblicke zu, dann folgten sie dem Befehl. »Savidlin hat eine außergewöhnliche Forderung vorgebracht. Die Entscheidung muß einstimmig erfolgen. Stellt ihr die gleiche Forderung?«

Savidlin trat zu den Bogenschützen und riß einem von ihnen den Bogen aus der Hand. Geschickt legte er einen Pfeil auf, während er die Ältesten mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Er spannte die Sehne, brachte den Pfeil mit der Bogenhand in die richtige Stellung und trat vor die fünf. »Stellt die Forderung oder wir werden fünf andere Älteste haben, die es tun

Verbissen standen sie da und betrachteten Savidlin. Der Vogelmann machte keine Anstalten einzugreifen. Lange herrschte Stille, während die Menge wie gebannt wartete. Endlich trat Caldus einen Schritt vor. Er legte die Hand auf Savidlins Bogen und drückte die Spitze sachte nach unten.

»Bitte, Savidlin, erlaube uns, aus dem Herzen zu sprechen, und nicht vor vorgehaltenem Bogen

»Sprich

Caldus ging zu Richard, blieb vor ihm stehen und sah ihm in die Augen.

»Das Allerschwerste, besonders für einen alten Mann«, sagte er mit leiser Stimme und wartete ab, bis Kahlan übersetzt hatte, »ist, wenn er zugeben muß, daß er töricht gehandelt hat. Du warst weder töricht noch eigennützig. Ihr zwei seid geeigneter als Vorbilder für unsere Kinder als ich selbst. Ich bitte den Vogelmann, euch zu Schlammenschen zu ernennen. Bitte, Richard mit dem Zorn und Mutter Konfessor, unser Volk braucht euch.« Er streckte die Handflächen zu einer Willkommensgeste aus. »Solltet ihr mich nicht für würdig halten, diese Forderung in eurem Namen auszusprechen, dann streckt mich nieder, auf daß ein Besserer als ich die Forderung wiederhole

Gesenkten Kopfes ließ er sich im Schlamm vor Richard und Kahlan auf die Knie fallen. Sie übersetzte alles wortgetreu, nur ihren Titel ließ sie aus. Die vier anderen Ältesten kamen hinzu und knieten neben ihm und unterstrichen Caldus' Forderung. Kahlan atmete erleichtert auf. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Es war auch an der Zeit gewesen.

Richard stand mit verschränkten Armen über den fünf Männern und blickte schweigend auf ihre Köpfe hinunter. Sie verstand nicht, warum er ihnen nicht sagte, es sei gut, sie könnten jetzt aufstehen. Keiner rührte sich. Was hatte er vor? Worauf wartete er? Es war vorbei. Wieso erkannte er ihre Unterwerfung nicht an?

Kahlan sah, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer anspannten und lösten. Sie erstarrte. Sie kannte den Blick in seinen Augen. Den Zorn. Diese Männer waren ihm gegenüber zu weit gegangen. Und ihr gegenüber auch. Sie mußte daran denken, wie er noch an diesem Tag vor ihnen gestanden und sein Schwert weggesteckt hatte. Es war endgültig gewesen, und Richard hatte es auch so gemeint. Er dachte nicht einfach nach. Er dachte nach über ihren Tod.

Richard löste die Arme und griff zum Heft. Langsam, widerstandslos, glitt das Schwert heraus, wie beim letzten Mal. Beim hellen Klingen des Stahls, welches das Ziehen des Schwertes verkündete, fuhr ihr ein kalter Schauder den Rücken hoch. Kahlan sah, wie Richards Brust sich hob und senkte. Sie warf dem Vogelmann einen verstohlenen Blick zu. Er bewegte sich nicht, hatte auch nicht die Absicht. Richard wußte es nicht, doch nach dem Gesetz der Schlammenschen durfte er diese Männer töten, wenn er es wünschte. Ihr Angebot war ernst gemeint gewesen. Auch Savidlin hatte nicht geblufft, auch er hätte sie getötet. Ohne mit der Wimper zu zucken. Stärke, das war für die Schlammenschen die Stärke, seinen Gegner zu töten. In den Augen des Dorfes waren diese Männer bereits tot, und nur Richard konnte ihnen das Leben zurückgeben.

Trotzdem war ihr Gesetz ohne Bedeutung, denn der Sucher war sich selbst Gesetz, und niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldig. Er hatte das Recht, sie nach ihren Vorstellungen und Gesetzen zu töten. Und nach seinen. Niemand hier hätte ihn daran hindern können.

Mit weißen Knöcheln hielt Richard das Schwert der Wahrheit gerade beidhändig über die Köpfe der fünf Ältesten. Kahlan sah, wie die Wut in ihm aufstieg, das heiße Verlangen, die Wildheit. Es war wie im Traum. Ein Traum, in dem sie nur tatenlos zusehen konnte.

Kahlan mußte an all jene denken, die bereits gestorben waren, Unschuldige, wie auch an jene, die ihr Leben im Kampf gegen Darken Rahl geopfert hatten. Dennee, all die anderen Konfessoren, die Zauberer, das Irrlicht Shar, und vielleicht sogar Zedd und Chase.

Sie verstand ihn.

Richard überlegte nicht etwa, ob er sie töten sollte, sondern ob er es riskieren konnte, sie am Leben zu lassen.

Die Ältesten hielten ihre Versammlung ab. Konnte er diesen Männern seine Chance anvertrauen, Darken Rahl aufzuhalten? Sein Leben? Oder sollte er einen neuen Ältestenrat einberufen lassen, einen, dem mehr an seinem Erfolg lag? Wenn er diesen Männern nicht trauen konnte, sich nicht darauf verlassen konnte, daß sie ihm den richtigen Weg im Kampf gegen Rahl wiesen, mußte er sie töten und durch andere ersetzen, die auf seiner Seite standen. Nur der Erfolg zählte, Darken Rahl aufzuhalten. Das Leben dieser Männer mußte geopfert werden, bestand auch nur die geringste Möglichkeit, daß sie den Erfolg gefährden konnten. Kahlan wußte, Richard würde das Richtige tun. Sie würde nicht anders handeln, und der Sucher durfte nicht anders handeln.

Sie sah, wie er über den Ältesten stand. Der Regen hatte aufgehört. Schweiß rann über sein Gesicht. Sie mußte an die Qualen denken, die er durchlitten hatte, nachdem er den letzten Mann des Quadrons getötet hatte. Sie hoffte, sie wäre stark genug zu verhindern, was er gerade imstande war zu tun.

Kahlan verstand jetzt, warum ein Sucher so gefürchtet war. Dies war kein Spiel. Ihm war es ernst. Er verlor sich in sich selbst, in der Magie. Wollte irgend jemand versuchen, ihn jetzt zu bremsen, er würde ihn ebenfalls umbringen. Vorausgesetzt, derjenige kam an ihr vorbei.

Richard hob die Klinge vor sein Gesicht. Er warf den Kopf nach hinten. Er schloß die Augen. Er bebte vor Zorn. Die fünf rührten sich nicht, knieten noch immer vor dem Sucher.

Kahlan mußte an den Mann denken, den Richard umgebracht hatte. Wie das Schwert durch seinen Kopf gekracht war. Das Blut überall. Richard hatte ihn getötet, weil er ihn unmittelbar bedroht hatte. Töten oder getötet werden. Auch wenn die Drohung ihr galt, und nicht ihm. Dies jedoch war eine indirekte Bedrohung. Eine andere Art des Tötens. Dies war eine Hinrichtung. Und Richard war gleichzeitig Richter und Henker.

Das Schwert senkte sich wieder. Richard funkelte die Ältesten wütend an, dann ballte er eine Faust und zog die Klinge in langsamem Bogen über die Innenseite seines linken Unterarms. Er drehte die Klinge, wälzte beide Seiten in seinem Blut, bis es herunterlief und von der Spitze tropfte.

Kahlan warf einen raschen Blick in die Runde. Alles stand wie gebannt da, ergriffen von dem tödlichen Drama, das sich vor ihren Augen abspielte. Niemand wollte hinsehen, doch den Blick abwenden war ebenso möglich. Keiner sagte etwas. Niemand rührte sich. Keiner zuckte auch nur mit der Wimper.

Alle Augen folgten Richard, als er das Schwert erneut hob und seine Stirn berührte.

»Klinge, tue recht an diesem Tag«, flüsterte er.

Seine linke Hand glänzte vor Blut. Sie sah, daß er vor Gier erzitterte. Inmitten des Rot blitzte die Klinge auf. Er blickte auf die Männer hinunter.

»Sieh mich an«, sagte er zu Caldus. Der Älteste rührte sich nicht. »Sieh mich an, während ich dies tue!« brüllte er. »Sieh mir in die Augen!« Caldus rührte sich noch immer nicht.

»Richard«, sagte sie. Er sah sie wütend an. Mit Augen wie aus einer anderen Welt. Die Magie tanzte in ihnen. »Er versteht dich nicht.«

»Dann sag du es ihm!«

»Caldus.« Sie sah in sein leeres Gesicht. »Der Sucher möchte, daß du ihm in die Augen siehst, wenn er dies tut

Er antwortete nicht, sondern sah Richard einfach an, hielt dessen wütendem Blick stand.

Richard sog scharf die Luft ein, und riß das Schwert in die Luft.

Sie beobachtete die Spitze, die nur einen winzigen Augenblick zögerte. Einige Leute drehten sich um. Manche drehten ihre Kinder weg. Kahlan hielt den Atem an, drehte den Kopf zur Seite und machte sich auf die blutigen Fetzen gefaßt.

Der Sucher schrie und brachte das Schwert mit aller Wucht nach unten. Die Spitze verursachte in der Luft ein pfeifendes Geräusch. Der Menge stockte der Atem. Caldus rührte sich nicht.

Mitten in der Luft vor seinem Gesicht hielt das Schwert plötzlich an, genau wie beim ersten Mal, als Richard es benutzt hatte, als Zedd wollte, daß er den Baum fällte.

Scheinbar eine Ewigkeit stand Richard regungslos da, die Muskeln in seinen Armen hart wie Stahl. Dann endlich entspannten sie sich, er zog die Klinge zurück und löste seinen brennenden Blick.

Ohne sich zu ihr umzudrehen, fragte er: »Wie sagt man in ihrer Sprache ›Ich gebe dir dein Leben und deine Ehre zurück‹?«

Sie sagte es ihm leise.

»Caldus, Surin, Arbrin, Breginderin, Hajanlet«, verkündete er laut genug, daß alle es hören konnten, »ich gebe euch euer Leben und eure Ehre zurück

Für einen Moment war es still, dann brachen die Schlammenschen in lautes Jubeln aus. Richard ließ das Schwert zurück in die Scheide gleiten und half den Ältesten auf die Beine. Sie lächelten ihn blaß an, froh über das, was er getan hatte, und ohne Zweifel auch über das Ergebnis. Sie wandten sich an den Vogelmann.

»Wir bitten dich einstimmig, verehrtester Ältester. Was willst du uns sagen?«

Der Vogelmann stand mit verschränkten Armen da. Er sah von den Ältesten zu Richard, zu Kahlan. Sein Blick spiegelte die Anstrengung der schweren Prüfung wider, deren Zeuge er gerade geworden war. Er senkte die Arme und kam näher. Richard wirkte verbraucht, erschöpft. Der Vogelmann legte den beiden einen Arm um die Schultern, so als wollte er sie zu ihrem Mut beglückwünschen, anschließend legte er den Ältesten die Hand auf die Schulter, zum Zeichen, daß alles gerichtet sei. Er wandte sich um und gab den anderen einen Wink, sie sollten ihm folgen. Kahlan und Richard gingen hinter ihm. Savidlin und die anderen Ältesten folgten als königliche Eskorte.

»Richard«, fragte sie leise, »hast du erwartet, das Schwert würde anhalten?«

Er ging weiter, starrte nach vorn und seufzte tief. »Nein.«

Das hatte sie sich gedacht. Sie versuchte sich vorzustellen, was dies in seinem Innenleben anrichtete. Er hatte die Ältesten zwar nicht hingerichtet, war aber fest dazu entschlossen gewesen. Mit der Tat brauchte er nicht zu leben, aber mit der Absicht. Sie fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte, sie nicht umzubringen. Was sie an seiner Stelle getan hätte, wußte sie. Die Möglichkeit der Gnade hätte sie nicht zugelassen. Es stand zuviel auf dem Spiel. Andererseits hatte sie mehr gesehen als er. Vielleicht zuviel, vielleicht war sie zu sehr bereit, zu töten. Man konnte nicht jedesmal töten, wenn es ein Risiko gab. Das Risiko gab es immer. Irgendwann mußte Schluß sein.

»Wie geht es deinem Arm?« fragte er.

»Er schmerzt wie verrückt«, gab sie zu. »Der Vogelmann meint, er müsse genäht werden.«

Richard sah angestrengt geradeaus, als er neben ihr ging. »Ich brauche meinen Führer«, sagte er ruhig, ohne jedes Gefühl. »Du hast mir einen Schrecken eingejagt.«

Einen schärferen Vorwurf würde er ihr nie machen. Ihr Gesicht glühte. Sie war froh, daß er es nicht bemerkte. Er hatte keine Ahnung, zu was sie fähig war, aber er wußte, sie hatte gezögert. Er wußte auch, beinahe hätte sie einen tödlichen Fehler begangen und sie alle in Gefahr gebracht, nur weil sie nicht wollte, daß er es sah. Er hatte sie nie gedrängt, obwohl er die Gelegenheit und das Recht gehabt hatte. Sie glaubte, ihr würde das Herz brechen.

Die kleine Gruppe trat auf die Plattform des Pfahlbaus. Die Ältesten hielten sich im Hintergrund. Der Vogelmann stand zwischen den beiden, als sie sich zur Menge umdrehten.

Der Vogelmann betrachtete sie aufmerksam. »Bist du bereit?«

»Wie meinst du das?« fragte sie argwöhnisch.

»Ich meine, wenn ihr beide Schlammenschen werden wollt, dann müßt ihr tun, was von Schlammenschen verlangt wird. Ihr müßt unsere Gesetze beachten. Unsere Sitten

»Ich allein weiß, was uns bevorsteht, und ich erwarte, dabei zu sterben.« Sie ließ ihre Stimme absichtlich hart klingen. »Ich bin dem Tod schon häufiger entkommen, als es jemandem ansteht. Wir wollen euer Volk retten. Das haben wir bei unserem Leben geschworen. Was kann man mehr verlangen?«

Der Vogelmann bemerkte, wie sie auswich und hatte nicht die Absicht, sie damit durchkommen zu lassen. »Das fällt mir gewiß nicht leicht. Ich tue es, weil ich weiß, daß euer Kampf ehrlich ist, daß ihr mein Volk vor dem Sturm schützen könnt, der aufzieht. Trotzdem, ihr müßt euch unseren Sitten beugen. Nicht um meinetwillen, sondern aus Respekt vor meinem Volk. Die Menschen erwarten es

Ihr Mund fühlte sich trocken an, sie konnte kaum schlucken. »Ich esse kein Fleisch. Das weißt du von meinem letzten Besuch

»Obwohl du ein Krieger bist, bist du auch eine Frau, es mag dir also verziehen sein. Dazu bin ich ermächtigt. Als Konfessor hast du mit dem anderen nichts zu tun.« Zu weiteren Eingeständnissen war er nicht bereit, das sah man seinen Augen an. »Der Sucher aber doch. Er muß es tun

»Aber…«

»Du hast gesagt, du willst ihn nicht zu deinem Gatten machen. Er will eine Versammlung einberufen, also muß er es tun wie einer von uns

Kahlan fühlte sich in der Falle. Wenn sie ihn jetzt abwies, wäre Richard wütend, und das aus gutem Grund. Sie würden gegen Rahl verlieren. Richard stammte aus dem Westland und kannte daher die Sitten anderer Völker nicht. Vielleicht war er nicht bereit mitzumachen. Möglicherweise wurde er zornig. Das durfte sie nicht wagen. Zuviel stand auf dem Spiel. Der Vogelmann sah sie wartend an.

»Wir werden tun, was euer Gesetz verlangt«, sagte sie und versuchte, sich ihre wirklichen Gefühle nicht anmerken zu lassen.

»Mochtest du nicht wissen, wie der Sucher über diese Dinge denkt?«

Sie sah zur Seite, über die Köpfe der Menge hinweg. »Nein

Er nahm ihr Kinn in die Hand und drehte ihr Gesicht zurück. »Dann bist du dafür verantwortlich, daß er tut, was man von ihm verlangt. Mit deinem Wort

Sie spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Richard sah hinter dem Vogelmann hervor.

»Kahlan, was ist? Stimmt etwas nicht?«

Sie richtete ihren Blick wieder auf den Vogelmann und nickte. »Nichts. Alles in Ordnung.«

Der Vogelmann ließ ihr Kinn los, wandte sich an sein Volk und blies in die lautlose Pfeife, die er um seinen Hals trug. Er begann, über ihre Geschichte zu sprechen, ihre Sitten, warum sie den Einfluß von Fremden vermieden, wieso sie das Recht hatten, ein stolzes Volk zu sein. Während seiner Ansprache flogen Tauben heran und landeten zwischen den Menschen.

Kahlan hörte zu, ohne etwas zu verstehen. Sie stand regungslos auf der Plattform und fühlte sich wie ein gefangenes Tier. Sie hatte geglaubt, sie könnten die Schlammenschen für sich gewinnen und sich zu einer der ihren ernennen lassen, und hatte dabei vergessen, daß sie diesen Dingen würde zustimmen müssen. Sie hatte geglaubt, es sei eine reine Formalität, bevor Richard um eine Versammlung bitten konnte. Eine solche Entwicklung hatte sie nicht erwartet. Vielleicht brauchte sie ihm nicht alles zu erzählen. Er würde es einfach nicht erfahren. Schließlich sprach nur sie ihre Sprache. Sie würde einfach schweigen. Das wäre nur zu seinem Besten.

Andere Dinge dagegen, dachte sie verzweifelt, wären allerdings nur zu offensichtlich. Sie würden in einer Sprache stattfinden, die er nur zu gut kannte. Sie spürte, wie ihre Ohren rot wurden, fühlte sich, als würde sich ihr der Magen umdrehen.

Richard spürte, daß die Worte des Vogelmannes von Dingen handelten, die er noch nicht zu verstehen brauchte, und bat nicht um eine Übersetzung. Der Vogelmann war am Ende seiner Vorrede angelangt und kam zum wichtigen Teil.

»Als diese zwei uns aufsuchten, waren sie Fremde. In mehrfacher Hinsicht, und durch ihre Taten haben sie bewiesen, daß sie unser Volk mögen und sich seiner würdig erwiesen. Von diesem Tag an sollen Richard mit dem Zorn und Konfessor Kahlan zu den Schlammenschen gehören

Kahlan übersetzte, ließ aber ihren Titel aus. Die Menge johlte. Richard hob lächelnd die Hand, und die Leute jubelten noch mehr. Savidlin versetzte ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. Der Vogelmann legte ihr eine Hand auf die Schulter, drückte sie voller Mitgefühl und versuchte, vergessen zu machen, daß er sie zu der Übereinkunft gezwungen hatte. Sie atmete tief durch und fügte sich in das Unvermeidliche. Bald war es ohnehin vorbei, dann waren sie wieder unterwegs, um Rahl aufzuhalten. Das allein zählte. Außerdem hatte ausgerechnet sie keinen Grund, sich deswegen gekränkt zu fühlen.

»Noch etwas«, fuhr der Vogelmann fort. »Diese beiden wurden nicht als Schlammenschen geboren. Kahlan wurde als Konfessor geboren, es war eine Frage des Blutes, nicht der persönlichen Entscheidung. Richard mit dem Zorn ist ein Kind des Westlands jenseits der Grenze und einer Lebensweise, die für uns ein Rätsel darstellt. Beide haben zugestimmt, Schlammenschen zu werden und vom heutigen Tage an unsere Gesetze und Sitten zu achten, doch müssen wir anerkennen, wie rätselhaft sie ihnen vielleicht manchmal erscheinen. Wir müssen Geduld mit ihnen haben und begreifen, daß sie zum ersten Mal versuchen, Schlammenschen zu sein. Wir haben unser ganzes Leben als Schlammenschen gelebt, doch für sie ist dies ihr erster Tag. Sie sind für uns wie neugeborene Kinder. Bringt für sie das gleiche Verständnis auf wie für Neugeborene, und sie werden ihr Bestes geben

Dies wurde überall in der Menge besprochen, und Köpfe nickten.

Man hielt den Vogelmann für weise. Kahlan stieß einen Seufzer aus. Der Vogelmann hatte sich selbst und den beiden ein klein wenig Spielraum gelassen, für den Fall, daß etwas schiefging. Er war tatsächlich weise. Er drückte ihre Schulter noch einmal, und sie legte ihre Hand auf seine und erwiderte den Druck voller Anerkennung.

Richard verschwendete keinen Augenblick. Er wandte sich an die Dorfältesten.

»Ich fühle mich geehrt, zu den Schlammenschen zu gehören. Wo immer mich meine Reisen hinführen, werde ich die Ehre eures Volkes verteidigen, damit ihr stolz auf mich sein könnt. Im Augenblick jedoch ist euer Volk in Gefahr. Ich brauche Hilfe, um es beschützen zu können. Ich bitte um einen Rat der Propheten. Ich bitte um eine Versammlung.«

Kahlan übersetzte, und die Ältesten gaben einmütig nickend ihr Einverständnis.

»Es sei dir gewährt«, sagte der Vogelmann. »Die Vorbereitung für die Versammlung wird drei Tage in Anspruch nehmen

»Geehrter Ältester«, sagte Richard, der sich nur mit Mühe beherrschen konnte. »Die Gefahr ist groß. Ich achte eure Sitten. Doch gibt es keine Möglichkeit, sie schneller einzuberufen? Das Überleben eures Volkes hängt davon ab.«

Der Vogelmann atmete tief durch, sein langes Silberhaar spiegelte das trübe Licht. »Unter diesen besonderen Umständen werden wir alles tun, um euch zu helfen. Heute abend werden wir das Festmahl abhalten, und morgen abend die Versammlung. Schneller geht es einfach nicht. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden, damit die Ältesten die Kluft zu den Seelen überbrücken können

Richard atmete tief durch. »Also dann morgen abend.«

Der Vogelmann blies erneut auf der Pfeife, und die Tauben stiegen in den Himmel. Kahlan hatte das Gefühl, als bekämen ihre Hoffnungen, so töricht und unwahrscheinlich sie gewesen waren, mit ihnen Flügel.

Die Vorbereitungen wurden rasch in Angriff genommen. Savidlin nahm Richard mit in sein Haus, um seine Schnittwunden zu versorgen, und der Vogelmann brachte Kahlan zum Heiler, wo ihre Wunde genäht werden sollte. Der Verband war vollkommen durchgeblutet, und der Schnitt tat ernstlich weh. Der Vogelmann führte sie durch die engen Gassen, den Arm schützend um ihre Schulter gelegt. Sie war dankbar, daß er nicht vom Festmahl sprach.

Er gab seine Anweisungen zu Kahlans Versorgung, als wäre sie seine Tochter, und überließ sie einer gebeugten Frau namens Nissel. Nissel lächelte selten, und wenn, dann zu den seltsamsten Gelegenheiten und gab bis auf Anweisungen wenig von sich. Stell dich dorthin, halte den Arm hoch, nimm ihn runter, atme, halte die Luft an, trink dies, leg dich hierhin, sage das Candra auf. Kahlan wußte nicht, was das Candra war. Nissel zuckte mit den Achseln und ließ sie statt dessen flache Steine auf dem Nabel balancieren, während sie die Wunde untersuchte. Wenn es schmerzte und die Steine zu rutschen begannen, ermahnte sie Kahlan, sich mehr Mühe zu geben, um die Steine im Gleichgewicht zu halten. Man verabreichte ihr bitter schmeckende Blätter, die sie kauen sollte, während Nissel ihr die Kleider auszog und sie badete.

Das Bad war für sie besser als die Blätter. Sie konnte sich an kein Bad erinnern, das ihr je so gut getan hätte. Sie versuchte, ihre Niedergeschlagenheit mit dem Schlamm abzustreifen. Sie gab sich alle Mühe. Während man sie einweichen ließ, wusch Nissel ihre Kleider und hängte sie ans Feuer, wo ein kleiner Topf mit bräunlicher, nach Fichtenharz riechender Paste köchelte. Nissel trocknete Kahlan ab, hüllte sie in warme Felle und setzte sie auf eine in die Wand neben der erhöhten Feuerstelle eingelassene Bank. Der Geschmack der Blätter wurde besser, je länger sie sie kaute. Ihr Kopf begann sich zu drehen.

»Nissel, zu was sind die Blätter gut?«

Nissel ließ von Kahlans Hemd ab, das sie begutachtet hatte und sehr seltsam fand. »Sie werden dich entspannen, damit du nicht spürst, was ich mache. Kau weiter und sorge dich nicht, mein Kind. Du wirst so entspannt sein und nicht spüren, wenn ich dich nähe

Kahlan spie die Blätter sofort aus. Die alte Frau betrachtete sie auf dem Boden, sah Kahlan an und zog eine Braue hoch.

»Nissel, ich bin Konfessor. Wenn ich mich auf diese Weise entspanne, kann ich vielleicht meine Kraft nicht zurückhalten. Wenn du mich berührst, könnte ich sie freisetzen, ohne es zu wollen

Nissel runzelte neugierig die Stirn. »Aber du wirst schlafen, mein Kind. Dann bist du entspannt

»Das ist etwas anderes. Ich habe von Geburt an geschlafen, bevor die Kraft in mir heranwuchs. Wenn ich auf eine Weise, die ich nicht kenne, zu sehr entspanne oder abgelenkt werde, könnte ich dich damit berühren, ohne es zu wollen

Nissel nickte vorwurfsvoll. Dann runzelte sie die Stirn. Sie beugte sich vor. »Wie willst du dann…«

Kahlan sah sie ausdruckslos an, sagte nichts und doch alles.

Plötzlich erhellte sich Nissels Gesicht. Sie richtete sich auf. »Oh, jetzt verstehe ich

Sie strich Kahlan mitfühlend übers Haar, verschwand in der gegenüberliegenden Ecke und kam mit einem Stück Leder in der Hand zurückgeschlurft. »Klemm dir das zwischen die Zähne.« Sie tätschelte Kahlans gesunde Schulter. »Solltest du dich jemals wieder verletzen, laß dich auf jeden Fall zu Nissel bringen. Ich werde mich an dich erinnern und weiß, was ich nicht tun darf. Als Heiler ist es manchmal wichtiger zu wissen, was man nicht tun darf. Als Konfessor vielleicht auch, ja?«

Kahlan nickte mit einem Lächeln. »Und nun, mein Kind, mache mir einen Zahnabdruck in dieses Stück Leder

Als sie fertig war, wischte Nissel Kahlan den Schweiß mit einem feuchten Tuch vom Gesicht. Kahlan war schwindlig und übel, sie konnte nicht einmal aufrecht sitzen. Nissel bestand darauf, daß sie liegenblieb, während sie die braune Paste verabreichte und den Arm mit sauberen Bandagen umwickelte.

»Du solltest eine Weile schlafen. Ich wecke dich vor dem Festmahl

Kahlan legte der alten Frau die Hand auf den Arm und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, Nissel

Sie wachte auf, als sie spürte, wie jemand ihr Haar bürstete. Es war getrocknet, während sie schlief. Nissel lächelte sie an.

»Es wird dir schwerfallen, deine hübschen Haare zu bürsten, bis dein Arm besser ist. Es gibt nicht viele, die mit solchem Haar beschenkt werden. Ich dachte, du möchtest es vielleicht vor dem Festmahl gebürstet bekommen. Es fängt bald an. Draußen wartet ein gutaussehender junger Mann

Kahlan setzte sich auf. »Wie lange wartet er schon da?«

»Fast die ganze Zeit. Ich habe versucht, ihn mit einem Besen zu verscheuchen.« Nissel runzelte die Stirn. »Aber er wollte nicht gehen. Er ist ziemlich hartnäckig, ja?«

»Ja.« Kahlan schmunzelte.

Nissel half ihr dabei, frische Kleider anzuziehen. Ihr Arm tat nicht mehr so sehr weh. Vermutlich die braune Paste. Richard lehnte voller Ungeduld draußen an der Hauswand und stand sofort auf, als sie herauskam. Er hatte gebadet und sah sauber und frisch aus, der Schlamm war völlig verschwunden, und er trug eine einfache Wildlederhose, eine Jacke und natürlich sein Schwert. Nissel hatte recht, er sah wirklich gut aus.

»Wie fühlst du dich? Wie geht es deinem Arm? Alles in Ordnung?«

»Mir geht's gut.« Sie lächelte. »Nissel hat mich gesundgepflegt.«

Richard gab der alten Frau einen Kuß auf die Stirn. »Ich danke dir, Nissel. Der Besen sei dir verziehen.«

Nissel schmunzelte, als sie die Übersetzung hörte, beugte sich vor und sah ihn so durchdringend an, daß ihm unbehaglich wurde.

»Soll ich ihm einen Trank geben«, fragte Nissel und drehte sich zu Kahlan um, »für sein Stehvermögen

»Nein.« Kahlan wurde böse. »Ich bin sicher, er kommt auch so durchaus zurecht

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