Er schien gerade erst eingeschlafen zu sein, als Emma ihn weckte und zum Frühstück hinunterholte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und im Haus regte sich noch nichts, aber die Hähne begrüßten das Heraufziehen des neuen Tages bereits mit lautem Krähen. Der Geruch von Essen machte ihn sofort hungrig. Emma, die nicht mehr ganz so strahlend lächelte wie am vergangenen Abend, tischte ein opulentes Frühstück auf und sagte, Chase hätte bereits gegessen und bepacke die Pferde. Richard hatte Kahlan in ihrem ungewöhnlichen Kleid bezaubernd gefunden, doch ihre neue Kleidung änderte daran nicht das geringste. Während Kahlan und Emma über Kinder sprachen, und Zedd ein Kompliment über das Essen nach dem anderen von sich gab, nahm Richard in Gedanken die bevorstehende Aufgabe in Angriff.
Plötzlich verdunkelte sich der Raum. Chase' Gestalt füllte den Türrahmen. Kahlan erschrak, als sie ihn sah. Er trug ein Kettenhemd über einem hellbraunen Gewand, derbe, schwarze Hosen, Stiefel und einen schwarzen Gürtel mit einer großen Silberschnalle, die mit dem Wappen der Grenzposten verziert war. Er hatte so viele Waffen bei sich, daß er eine kleine Armee hätte ausrüsten können. Bei einem gewöhnlichen Mann hätte das lächerlich gewirkt, bei Chase wirkte es furchterregend. Er war ein Bild offenkundiger Bedrohung. Chase wählte meist zwischen zwei Gesichtsausdrücken. Entweder setzte er eine Miene geheuchelten Desinteresses auf, oder aber er sah so aus, als wollte er sich ins Schlachtgetümmel stürzen. Heute hatte er sich für die zweite Miene entschieden.
Sie waren schon auf dem Weg nach draußen, als Emma Zedd ein Bündel reichte. »Gebratenes Huhn«, sagte sie. Er strahlte sie an und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Dann umarmte Kahlan Emma und versprach, die Kleider zurückzubringen. Richard beugte sich vor und drückte Emma ebenfalls herzlich an sich. »Seid vorsichtig«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Ihrem Gatten gab sie einen Kuß auf die Wange, den der großzügig über sich ergehen ließ.
Chase gab Kahlan ein langes, in einer Scheide steckendes Messer und trug ihr auf, es immer zu tragen. Richard fragte, ob er sich ebenfalls ein Messer ausleihen könne, da er seins zu Hause gelassen habe. Geschickt tastete sich Chase durch das Gewirr, zog ein Messer heraus und reichte es Richard.
Kahlan betrachtete die Waffen. »Meinst du, die brauchst du alle?«
Er lächelte sie schief an. »Wenn ich sie nicht mitnähme, ganz bestimmt.«
Die kleine Gruppe, geführt von Chase, dann Zedd, Kahlan und schließlich Richard als Nachhut, schlug auf dem Weg durch die Wälder Kernlands ein angenehmes Tempo an. Es war ein strahlender Herbstmorgen, und leichter Frost hing in der Luft. Ein Habicht kreiste in der Luft über ihren Köpfen. Am Anfang einer Reise ein Zeichen der Warnung. Im stillen hielt Richard das Zeichen für völlig überflüssig. Am späten Vormittag verließen sie das Kernlandtal und erreichten den oberen Ven Forest, stießen unterhalb des Trunt Lake auf den Händlerpfad und bogen nach Süden ab. Die Schlangenwolke verfolgte sie gemächlich. Richard war froh, sie von Chases Haus und seinen Kindern fortzuführen. Er machte sich lediglich Sorgen, weil sie für die Überquerung der Grenze so weit nach Süden reiten mußten. Zeit war kostbar. Chase war jedoch der Ansicht, es gäbe keinen anderen Paß.
Der Laubwald wich einem uralten Fichtenbestand. Der Pfad wurde zwischen den Bäumen zu einem regelrechten Hohlweg. Die Stämme ragten zu schwindelerregender Höhe auf, bevor sich die Äste verzweigten, und Richard kam sich im Schatten der alten Bäume winzig vor. Reisen hatte ihm immer gefallen. Er war oft unterwegs. Und jetzt passierten sie vertraute Orte, die der Reise alles Ungewöhnliche zu nehmen schienen. Und dennoch war diese Reise anders. Sie gelangten an Orte, an denen er noch nie gewesen war. Gefährliche Orte. Chase war besorgt und hatte sie gewarnt. Das allein gab Richard zu denken. Chase machte sich nicht grundlos Sorgen. Eher viel zu selten, wie Richard fand.
Richard beobachtete die drei anderen während des Ritts: Chase, ein schwarzer Umhang auf einem Pferd, bis an die Zähne bewaffnet, gefürchtet sowohl von denen, die er beschützte, wie von denen, die er jagte, doch seltsamerweise nicht von Kindern; der kleine, schmächtige Kerl von einem Zauberer, der dürre Zedd, bescheiden und kaum mehr als ein Lächeln, weißes Haar und seine schlichte Kleidung, zufrieden, nicht mehr als ein Bündel mit gebratenem Huhn bei sich zu haben, gleichzeitig jedoch Herrscher über das Feuer des Zauberers und wer weiß was noch; und Kahlan, mutig, entschlossen, Hüterin irgendeiner geheimen Kraft, entsandt, einen Zauberer zu erpressen, damit er den Sucher benennt. Alle drei waren seine Freunde, und trotzdem löste jeder auf seine Weise Unbehagen in ihm aus. Er fragte sich, wer gefährlicher war. Sie folgten ihm, ohne zu fragen, aber gleichzeitig führten sie ihn auch. Alle drei hatten geschworen, den Sucher mit ihrem Leben zu schützen. Und dennoch war die kleine Gruppe, jeder für sich oder alle zusammen, Darken Rahl keinesfalls ebenbürtig. Alles erschien so hoffnungslos.
Zedd hatte sich bereits über das Huhn hergemacht. In regelmäßigen Abständen warf er einen Knochen über seine Schulter. Nach einer Weile kam ihm der Gedanke, er könnte den anderen ein Stück anbieten. Chase lehnte ab. Er beobachtete unablässig die Umgebung. Der linken Seite des Pfades, zur Grenze hin, schenkte er besonderes Augenmerk. Die beiden anderen nahmen an. An dem Huhn war mehr dran, als Richard gedacht hatte. Als der Pfad breiter wurde, brachte er sein Pferd auf gleiche Höhe mit Kahlans und ritt neben ihr. Sie nahm ihren Umhang ab, da es wärmer geworden war, und lächelte ihn mit diesem besonderen Lächeln an, das sie nie jemand anderem schenkte.
Richard hatte eine Idee. »Zedd, kann ein Zauberer irgend etwas gegen diese Wolke unternehmen?«
Der alte Mann blinzelte nach oben, dann sah er wieder zu Richard hinüber. »Daran habe ich auch schon gedacht. Vielleicht, aber ich will noch ein wenig warten, bis wir weiter von Chase' Familie entfernt sind. Ich möchte die Verfolger nicht auf sie lenken.«
Am späten Nachmittag stießen sie auf ein altes Ehepaar. Waldleute, die Chase kannte. Die vier hielten ihre Pferde an, und der Grenzer sprach mit ihnen. Er saß entspannt auf seinem Roß, das Leder knarzte, und er hörte sich die Gerüchte über die Wesen an, die aus dem Grenzgebiet vordrangen. Richard wußte, das waren mehr als nur Gerüchte. Chase behandelte das Paar wie die meisten Leute mit Respekt, trotzdem hatten sie Angst vor ihm. Er versprach ihnen, sich um die Angelegenheit zu kümmern und riet ihnen, nachts im Haus zu bleiben.
Sie ritten bis lange nach Einbruch der Dunkelheit, bevor sie in einem Fichtenwäldchen ihr Nachtlager aufschlugen. Am nächsten Morgen waren sie schon unterwegs, als der Himmel hinter dem Grenzgebiet gerade erst hell wurde. Stellenweise gab es offene Wiesen, süß duftend in der Sonne. Ihre Reise führte sie nach Süden durch hügeliges Land. Ab und an entfernte sich die Straße von den Bergen der Grenze. Manchmal kamen sie an kleinen Höfen vorbei, deren Besitzer sich davonmachten, sobald sie Chase erblickten.
Das Land wurde weniger vertraut. Richard war nur selten so weit im Süden gewesen. Er hielt Ausschau und merkte sich im Vorbeireiten Orientierungspunkte: Nach einem kalten Mittagessen in der warmen Sonne schwenkten sie die Straße in Richtung der Berge ab, bis sie am Spätnachmittag der Grenze so nahe waren, daß sie immer wieder auf die grauen Skelette von Bäumen stießen, die die Schlingpflanze getötet hatte. Die Sonne erhellte den dichten Tann kaum. Chases Verhalten wurde abweisend, unnachgiebiger. Er beobachtete alles noch sorgfältiger. Mehrere Male stieg er ab, studierte, sein Pferd am Zügel führend, den Boden, las Spuren.
Sie überquerten einen Bach, der aus den Bergen strömte. Das Wasser floß träge dahin, war kalt und voller Schlamm. Chase hielt an, setzte sich und starrte angestrengt in die Schatten. Die anderen warteten, sahen sich an und blickten zur Grenze. Richard erkannte den Verwesungsgeruch wieder, der in der Luft hing: die Schlingpflanze. Der Grenzer führte sie noch ein Stück weiter, dann stieg er ab, ging in die Hocke und begutachtete den Boden. Als er sich erhob, reichte er Zedd die Zügel seines Pferdes. Er drehte sich zu ihnen um und sagte schlicht: »Wartet.« Sie sahen zu, wie er zwischen den Bäumen verschwand, und blieben still sitzen. Kahlans großes Pferd graste und schüttelte dabei Fliegen von seinem Fell.
Chase kehrte zurück, streifte die schwarzen Handschuhe über, und nahm Zedd die Zügel ab. »Ich möchte, daß ihr drei weiterreitet. Wartet nicht auf mich und haltet nicht an. Bleibt auf der Straße.«
»Was ist? Was hast du gefunden?« fragte Richard.
Chase drehte sich um und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Die Wölfe haben ein Tier geschlagen. Ich werde die Reste vergraben und anschließend das Land zwischen euch dreien und der Grenze durchstreifen. Ich muß etwas überprüfen. Denkt daran, was ich gesagt habe. Haltet nicht an. Laßt eure Pferde nicht galoppieren, aber legt ein gutes Tempo vor und haltet die Augen offen. Kommt bloß nicht auf die Idee, umzukehren und nach mir zu suchen, falls ihr glaubt, ich sei schon zu lange fort. Ich weiß, was ich tue. Ihr würdet mich ohnehin nicht finden. Sobald ich kann, bin ich wieder bei euch. Bis dahin reitet ihr weiter. Und bleibt auf der Straße.«
Er stieg auf, riß sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Die Hufe warfen Klumpen feuchter Erde auf. »Reitet los!« rief Chase über die Schulter. Als er zwischen den Bäumen verschwand, sah Richard, wie er nach einem über seine Schulter geschnallten Kurzschwert griff. Er wußte, daß Chase log. Er hatte nicht vor, irgend etwas zu begraben. Richard gefiel der Gedanke nicht, seinen Freund so allein losreiten zu lassen, andererseits verbrachte Chase den größten Teil seines Lebens hier draußen an der Grenze und wußte, was er zu tun hatte und wie man sich schützen konnte. Richard blieb nichts anderes übrig, als sich auf sein Urteil zu verlassen.
»Ihr habt gehört, was er gesagt hat«, sagte der Sucher, »brechen wir auf.«
Die drei durchritten die Grenzwälder. Die nackten Felsen wurden größer und zwangen ihren Pfad mal hier-, mal dorthin. Die Bäume wurden stämmiger und höher und verbannten fast das ganze Sonnenlicht aus dem stillen Wald. Die Straße verwandelte sich in einen Tunnel durch das Dickicht. Richard gefiel nicht, wie nahe alles zu rücken schien. Er behielt die tiefe Schatten zu ihrer Linken im Auge, während sie eilig weiterritten. Zweige hingen über den Weg, und sie mußten sich beim Hindurchreiten ducken. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Chase durch einen derart dichten Wald reiten konnte. Als der Weg breit genug war, ritt Richard an Kahlans Linke, um sich zwischen sie und die Grenze schieben. Er hielt die Zügel mit links, um die Schwerthand frei zu haben. Sie hielt den Umhang eng um sich gerafft. Er sah trotzdem, daß sie eine Hand immer am Messer hatte.
Von links, noch weit entfernt, näherte sich heulend ein Rudel wolfsähnlicher Tiere — nur waren es keine Wölfe. Es waren irgendwelche Untiere aus dem Grenzgebiet.
Die drei rissen die Köpfe in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die Pferde begannen zu scheuen und wollten fliehen. Sie mußten die Zügel raffen und ihnen gleichzeitig genügend Spielraum zum Traben lassen. Richard wußte, wie den Pferden zumute war. Er verspürte den Drang, sie laufen zu lassen, aber genau das hatte Chase ausdrücklich untersagt. Er muß einen Grund dafür gehabt haben, also hielt er sie zurück. Dann mischten sich Schreie unter das Geheul, die einem das Blut gerinnen und die Nackenhaare sich sträuben ließen. Es wurde schwieriger, sich zusammenzureißen und die Pferde zu zügeln. Das Gekreische bestand aus wilden, mordlustigen Schreien, gierig, verzweifelt. Die drei ritten fast eine Stunde im Trab, doch die Schreie schienen ihnen zu folgen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterzureiten, und sich dabei das Geheul der wilden Ungetüme aus dem Grenzgebiet anzuhören.
Als er es nicht mehr aushielt, brachte Richard sein Pferd zum Stehen und blickte in den Wald. Chase war dort alleine mit diesen Viechern. Er konnte seinen Freund nicht länger damit alleine lassen, er mußte helfen.
Zedd drehte sich um. »Wir müssen weiterreiten, Richard.«
»Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen.«
»Das ist seine Aufgabe. Überlaß das ihm.«
»Im Augenblick soll er nicht den Grenzposten spielen, sondern uns zum Paß bringen!«
Der Zauberer kam zurückgeritten und redete leise auf ihn ein. »Genau das tut er gerade, Richard. Er hat geschworen, dich mit seinem Leben zu schützen. Und genau das tut er jetzt. Er sorgt dafür, daß du zum Paß kommst. Das mußt du einfach in deinen Kopf kriegen. Was du tust, ist wichtiger als das Leben eines einzelnen Mannes. Chase weiß das. Deswegen sollst du nicht umkehren und nach ihm suchen.«
Richard war fassungslos. »Ich soll einen Freund in den Tod ziehen lassen, wenn ich es verhindern kann?« Das Heulen kam näher.
»Du sollst ihn nicht umsonst sterben lassen.«
Richard starrte seinen alten Freund an. »Aber vielleicht können wir helfen.«
»Vielleicht auch nicht.« Die Pferde stampften nervös mit den Hufen.
»Zedd hat recht«, sagte Kahlan. »Chase hinterherzureiten, beweist keinen Mut. Weiterreiten schon, wenn du ihm helfen willst.«
Richard wußte, sie hatten recht, gab es aber nur widerwillig zu. Er blickte Kahlan verärgert an. »Vielleicht kommst du eines Tages in seine Lage! Was soll ich dann deiner Meinung nach tun?«
Sie sah ihn gelassen an. »Weiterreiten!«
Er funkelte sie wütend an, wußte nicht, was er sagen sollte. Das Kreischen aus dem Wald war immer nähergekommen. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung.
»Richard, Chase macht das ständig, er wird schon zurechtkommen«, versuchte Zedd ihn zu beruhigen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er gerade eine Menge Spaß hat. Und nachher hat er etwas zu erzählen. Du kennst Chase. Vielleicht ist sogar ein Körnchen Wahrheit an seiner Geschichte.«
Richard war böse auf die beiden und auf sich selbst. Er gab seinem Pferd die Sporen und übernahm die Führung. Er wollte nicht mehr reden. Sie überließen ihn seinen Gedanken, ließen sein Pferd vorneweg traben. Es machte ihn wütend, daß Kahlan dachte, er könne sie einfach so alleine lassen. Sie war kein Grenzer. Warum sollten andere sterben, um sie selbst zu retten. Es ergab keinen Sinn. Zumindest wollte er den Sinn nicht sehen.
Er versuchte, nicht auf das Kreischen und Heulen hinten im Wald zu achten. Nach einer Weile entfernten sich die Schreie wieder. Aus dem Wald schien alles Leben gewichen. Es gab weder Vögel noch Kaninchen und nicht einmal Mäuse, nur die verschlungenen Bäume, Gestrüpp und Schatten. Er lauschte aufmerksam, um sich zu vergewissern, daß die beiden anderen folgten. Er wollte sich nicht umdrehen, wollte nicht in ihre Augen blicken müssen. Nach einer Weile hatte das Heulen aufgehört. Er fragte sich, ob dies ein gutes Zeichen war oder nicht.
Er wollte ihnen sagen, es täte ihm leid, er habe lediglich Angst um seinen Freund gehabt, brachte es aber nicht fertig. Er fühlte sich hilflos. Chase würde schon zurechtkommen, redete er sich ein. Er war der Anführer der Grenzposten und kein Narr, außerdem würde er sich auf nichts einlassen, das ihn überforderte. Er fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, mit dem Chase nicht zurechtkam. Er fragte sich, ob er es fertigbrachte, Emma zu sagen, ihrem Mann sei etwas zugestoßen.
Er ließ seine Phantasie mit sich durchgehen. Chase ging es gut. Es ging ihm nicht nur gut, sondern er wäre sogar wütend auf Richard, weil er diese Gedanken dachte, ihn anzweifelte.
Der Nachmittag ging zur Neige. Hoffentlich kehrte Chase bald zurück. Richard fragte sich, ob er noch vor Einbruch der Dunkelheit eintreffen würde. Sollten sie ein Nachtlager aufschlagen, wenn nicht? Nein. Chase hatte ihnen verboten, Halt zu machen. Sie mußten weiterreiten, wenn nötig die ganze Nacht, bis er wieder zu ihnen stieß. Es schien, als beugten sich die Berge über sie, bereit, über sie herzufallen. So nahe war er der Grenze noch nie gewesen.
Trotz seiner Sorge um Chase verflog sein Ärger allmählich. Richard drehte sich um und sah zu Kahlan. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. Er fühlte sich besser und lächelte zurück. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Wälder hier vor dem großen Waldsterben ausgesehen haben mochten. Möglicherweise war es ein wunderbarer Ort gewesen, grün, traulich, sicher. Vielleicht war sein Vater hier auf seinem Weg über die Grenze vorbeigekommen, war mit dem Buch im Gepäck über genau diese Straße zurückgekehrt.
Er fragte sich, ob alle Bäume in der Nähe der anderen Grenze sterben mußten, bevor sie fiel. Vielleicht konnten sie einfach abwarten, bis auch diese fiel, um sie dann einfach zu überqueren. Vielleicht brauchten sie keinen so großen Umweg nach Süden zu machen, zur Königspforte. Aber wie kam er auf den Gedanken, der Weg nach Süden sei ein Umweg? Er kannte sich in den Midlands nicht aus. Warum sollte ein Ort dann besser sein als ein anderer? Das gesuchte Kästchen konnte sich ebensogut im Süden wie auch weiter im Norden befinden.
Der Wald wurde dunkler. Richard hatte die Sonne schon seit ein paar Stunden nicht mehr gesehen, doch bestand kein Zweifel daran, daß sie unterging. Der Gedanke, nachts durch diesen Wald zu reiten, behagte ihm überhaupt nicht, aber hier zu übernachten schien noch übler. Er vergewisserte sich, daß die beiden anderen dicht auf seinen Fersen blieben.
Das Geräusch fließenden Wassers drang schwach durch die Stille des Abends, und ein kurzes Stück später stießen sie auf einen kleinen Fluß, über den eine Holzbrücke führte. Sie wollten gerade hinüber, als Richard hielt. Die Brücke gefiel ihm nicht. Irgend etwas stimmte da nicht. Er führte sein Pferd die Böschung hinab und warf einen Blick darunter. Die Stützbalken waren mit Hilfe von Eisenringen in Granitblöcken verankert. Die Bolzen fehlten.
»Jemand hat sich an der Brücke zu schaffen gemacht. Sie trägt einen Mann, aber kein Pferd. Sieht aus, als würden wir naß werden.«
Zedd zog ein mürrisches Gesicht. »Will ich aber nicht.«
»Na schön. Hast du eine bessere Idee?« wollte Richard wissen.
»Ja«, verkündete Zedd. »Ihr zwei geht hinüber, während ich die Brücke stütze.« Richard sah ihn an, als hätte der Zauberer den Verstand verloren. »Macht schon, es wird gehen.«
Zedd richtete sich im Sattel auf, streckte die Arme mit den Handflächen nach oben zur Seite, warf den Kopf zurück, holte tief Luft und schloß die Augen. Widerstrebend und vorsichtig überquerten die beiden die Brücke. Auf der anderen Seite wendeten sie ihre Pferde und sahen sich um. Das Pferd des Zauberers trat freiwillig auf die Brücke, während Zedd weiter die Arme ausstreckte, den Kopf in den Nacken warf und die Augen geschlossen hielt. Als er bei den beiden angekommen war, senkte er die Arme und sah sie an. Richard und Kahlan waren verblüfft.
»Vielleicht habe ich mich geirrt«, meinte Richard. »Vielleicht trägt die Brücke doch das Gewicht.«
Zedd grinste. »Vielleicht.« Er schnippte mit den Fingern, ohne sich umzusehen. Die Brücke stürzte krachend ins Wasser. Die Balken ächzten, als sie von der Strömung auseinandergezerrt und den reißenden Sturzbach hinuntergespült wurden. »Vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall konnte ich sie nicht so lassen. Jemand hätte kommen und sich verletzen können.«
Richard schüttelte den Kopf. »Eines Tages, mein Freund, werden wir uns zusammensetzen und lange miteinander reden.« Er riß sein Pferd herum und ritt weiter. Zedd warf Kahlan achselzuckend einen Blick zu. Sie zwinkerte ihm mit einem Lächeln zu, machte kehrt und folgte Richard.
Sie folgten weiter dem unheimlichen Pfad und behielten den Wald im Auge. Richard fragte sich, was Zedd sonst noch alles konnte. Mit zunehmender Dunkelheit überließ er seinem Pferd die Führung und fragte sich, wie lange diese tote Welt noch weitergehen mochte, oder ob die Straße sie je wieder hinausführen würde. Nachts erwachte die Gegend zum Leben. Seltsame Rufe und scharrende Geräusche. Sein Pferd scheute vor Dingen, die niemand sah. Er tätschelte ihm beruhigend den Hals und suchte den Himmel nach Gars ab. Es war aussichtslos. Der Himmel war nirgends zu erkennen. Sollten tatsächlich Gars auftauchen, es würde ihnen schwerfallen, sie zu überraschen. Der Baldachin aus toten Zweigen und Geäst verhinderte jede geräuschlose Annäherung. Vielleicht stellten die Wesen in den Bäumen eine noch größere Bedrohung als die Gars dar. Er wußte nichts über sie und war nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Sein Herz klopfte heftig.
Nach ungefähr einer Stunde hörte er weit links von ihnen, wie etwas durchs Unterholz brach. Er spornte sein Pferd zu einem leichten Trab an und vergewisserte sich, daß Kahlan und Zedd hinter ihm blieben. Was es auch war, es blieb auf gleicher Höhe. Jemand wollte ihnen den Weg abschneiden. Vielleicht war es Chase. Vielleicht aber auch nicht.
Richard zog das Schwert der Wahrheit, preßte seine Schenkel um den Leib des Pferdes und trieb es zum Galopp an. Seine Muskeln spannten sich. Das Pferd raste die Straße entlang. Er wußte nicht, ob Kahlan oder Zedd ihm folgten. Im Grunde dachte er nicht einmal daran. Er versuchte, die Dunkelheit vor ihm zu durchdringen und zu erkennen, was ihn anfallen könnte. Sein Zorn schwappte über, Ungestüm und Gier brachen vor. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er in tödlicher Absicht zum Angriff über. Wegen des Lärms der Hufe seines Pferdes hörte er das Wesen aus dem Wald nicht, aber er wußte, es war da und kam näher.
Dann erblickte er die dunklen Umrisse vor den kaum erkennbaren Schatten der Bäume. Ein Dutzend Meter vor ihm brach es aus dem Wald hinaus auf den Weg. Er hob das Schwert und griff an. In Gedanken malte er sich aus, wie es reagieren würde. Es wartete regungslos.
Im letzten Augenblick erkannte er Chase, der ihn mit erhobenem Arm stoppte, in der Faust die Umrisse einer Keule.
»Freut mich, zu sehen, daß du auf der Hut bist«, meinte der Grenzposten.
»Chase! Du hast mich fast um den Verstand gebracht.«
»Ich hatte mir einen Augenblick lang auch Sorgen gemacht.« Kahlan und Zedd schlossen auf. »Folgt mir, bleibt dicht hinter mir. Richard, du bildest den Schluß. Laß dein Schwert draußen.«
Chase wendete sein Pferd und stob im Galopp davon. Die anderen folgten. Richard wußte nicht, ob sie verfolgt wurden. Chase erweckte nicht den Anschein, als stünde ihnen ein Kampf bevor, andererseits hatte er ihm geraten, sein Schwert gezückt zu lassen. Alle hielten den Kopf gesenkt, für den Fall, daß niedrige Äste in den Weg hingen. Es war gefährlich, die Pferde in der Dunkelheit so rennen zu lassen. Doch das wußte Chase.
Sie kamen zu einer Weggabelung, der ersten seit langer Zeit. Ohne Zögern hielt der Grenzposten nach rechts, fort von der Grenze. Kurz darauf hatten sie den Wald hinter sich, das Mondlicht beschien ein offenes Gelände aus rollenden Hügeln und vereinzelten Bäumen. Nach einer Weile verlangsamte Chase das Tempo und ließ die Pferde im Schritt gehen.
Richard schob das Schwert in die Scheide und ritt zu den anderen. »Und was sollte das?«
Chase hakte die Keule zurück in den Gürtel. »Wesen aus dem Grenzgebiet verfolgen uns. Als sie euch angreifen wollten, bin ich dazwischengegangen und habe ihnen den Appetit verdorben. Einige sind zurück in das Grenzgebiet. Die übrigen verfolgen uns weiter innerhalb der Grenze, wo ich ihnen nicht nachsetzen kann. Deswegen wollte ich nicht, daß ihr zu schnell reitet. Ich hätte im Wald nicht mithalten können, sie hätten mich abgehängt und euch erwischt. Ich habe uns von der Grenze fortgeführt, weil ich ihnen für die Nacht unsere Witterung nehmen wollte. Es ist zu gefährlich, nachts derart dicht an der Grenze zu reiten. Wir werden auf einem der Hügel dort oben unser Lager aufschlagen.« Er sah Richard über die Schulter an. »Übrigens, wieso hast du da hinten angehalten? Ich hatte es euch doch verboten.«
»Ich habe das Geheul gehört und mir Sorgen um dich gemacht. Ich wollte kommen und dir helfen. Zedd und Kahlan haben es mir ausgeredet.« Richard hatte angenommen, Chase würde verärgert reagieren, aber das tat er nicht.
»Danke, aber mach das nicht noch mal. Während du dagestanden und nachgedacht hast, hätten sie dich fast erwischt. Zedd und Kahlan hatten recht. Beim nächsten Mal widersprich ihnen nicht.«
Richard spürte, wie seine Ohren brannten. Er wußte, sie hatten recht. Aber er fühlte sich trotzdem nicht besser, denn er hatte einem Freund nicht helfen dürfen.
»Chase«, fragte Kahlan. »Du hast gesagt, sie hätten einen erwischt. Stimmt das?«
Er betrachtete sie im Mondlicht. »Ja. Einen meiner Männer. Welchen, weiß ich nicht.« Er ritt schweigend weiter.
Sie schlugen ihr Nachtlager auf einem Hügel auf, von dem sie einen ungehinderten Blick auf alles hatten, was sich näherte. Chase und Zedd kümmerten sich um die Pferde, während Richard und Kahlan das Feuer anfachten, Brot, Käse und Trockenfrüchte auspackten und eine einfache Suppe kochten. Sie zog mit ihm los, machte sich zwischen den lichten Bäumen mit ihm auf die Suche nach Feuerholz und half ihm beim Tragen. Er meinte, sie beide wären ein gutes Team. Sie lächelte und wandte ihm dann den Rücken zu. Er faßte sie am Arm und drehte sie um.
»Kahlan, wärst du es gewesen, ich wäre losgeritten«, sagte er, und meinte mehr, als die Worte sagten.
Sie sah ihm in die Augen. »Bitte, Richard. Das darfst du nicht einmal denken.« Sachte zog sie ihren Arm zurück und ging zurück ins Lager.
Als die anderen nach der Versorgung der Pferde in den Feuerschein traten, sah Richard, daß die Scheide über Chases Schulter leer war und das Kurzschwert fehlte. Einige seiner Streitäxte und mehrere Langmesser fehlten ebenfalls. Dennoch war er jetzt keinesfalls hilflos, eher alles andere als das.
Die Keule an seinem Gürtel war von oben bis unten mit Blut verschmiert, seine Handschuhe damit durchtränkt, und er war überall damit bespritzt. Kommentarlos zog er ein Messer, hebelte einen zehn Zentimeter langen Zahn aus der Keule, der zwischen zwei der Klingen klemmte, und warf den Hauer über seine Schulter in die Dunkelheit. Nachdem er sich das Blut von Händen und Gesicht gewaschen hatte, setzte er sich zu den anderen ans Feuer.
Richard warf einen Ast ins Feuer. »Chase, was waren das für Kreaturen, die hinter uns her waren? Und wie ist es möglich, daß irgend etwas die Grenze nach Belieben verlassen kann?«
Chase nahm einen Laib Brot und brach ein großes Stück ab. Er sah Richard in die Augen. »Man nennt sie Herzhunde. Sie sind etwa doppelt so groß wie Wölfe, haben eine riesige Brust, die Köpfe sind eher flach, ihre Schnauze ist voller scharfer Zähne. Ziemlich wild. Ich bin nicht sicher, welche Farbe sie haben. Sie gehen nur nachts auf Jagd, wenigstens bis heute. Aber im Wald war es zu dunkel, um etwas zu erkennen, außerdem war ich beschäftigt. Es waren mehr, als ich je zuvor gesehen habe.«
»Warum werden sie Herzhunde genannt?«
Chase kaute ein Stück Brot und warf ihm einen stechenden Blick zu. »Da gehen die Meinungen auseinander. Herzhunde haben große, runde Ohren, ein sehr gutes Gehör. Manche behaupten, sie könnten jemanden an seinem Herzschlag erkennen.« Richard riß die Augen auf. »Andere meinen, sie heißen so, weil sie auf diese Weise töten. Sie springen dir auf die Brust. Die meisten Raubtiere gehen einem an die Kehle, die Herzhunde nicht. Sie gehen dir direkt ans Herz, und ihre Zähne sind groß genug dafür. Es ist auch das erste, was sie fressen. Ist es mehr als einer, streiten sie sich darum.«
Zedd schöpfte sich einen Teller Suppe und reichte Kahlan die Kelle.
Richard war der Appetit vergangen, trotzdem mußte er fragen. »Und was meinst du?«
Chase zuckte mit den Achseln. »Na ja, ich habe in der Nähe der Grenze im Dunkeln nie solange still gesessen, bis ich wußte, ob sie meinen Herzschlag hören.« Er nahm noch einen Bissen von dem Brot und sah sich beim Kauen auf die Brust. Er zog den schweren Kettenpanzer aus. In den Ketten waren zwei lange, ausgefranste Risse. In den verdrehten Gliedern klemmten Splitter eines gelben Gebisses. Das Lederhemd darunter war mit Hundeblut durchtränkt. »Dem hier ist die Klinge meines Kurzschwerts in der Brust abgebrochen, und dabei saß ich immer noch auf meinem Pferd.« Er sah zu Richard hinüber und zog eine Augenbraue hoch. »Beantwortet das deine Frage?«
Richard bekam eine Gänsehaut. »Und wieso können sie nach Belieben die Grenze überschreiten?«
Chase nahm Kahlan den Teller Suppe aus der Hand. »Das hat etwas mit dem Zauber der Grenze zu tun. Sie wurden zusammen mit ihr geschaffen. Sie sind sozusagen die Wachhunde der Grenze. Sie können sie verlassen und wieder zurück. Die Grenze hat keinen Einfluß mehr auf sie. Trotzdem sind sie an sie gebunden, weit können sie sich nicht von ihr entfernen. Als die Grenze schwächer wurde, konnten sie in immer größerem Umkreis jagen. Das macht das Reisen auf dem Händlerpfad gefährlich, aber jeder andere Weg nach Kings' Port würde mindestens eine Woche länger dauern. Die Abkürzung, die wir genommen haben, ist die einzige, die sich von der Grenze entfernt, bis wir Southhaven erreichen. Ich wußte, daß ich zu euch stoßen mußte, bevor ihr sie passiert hattet, sonst hätten wir die Nacht dort verbringen müssen, zusammen mit den Hunden. Morgen, bei Tageslicht, wenn es sicherer ist, zeige ich euch, wie die Grenze immer schwächer wird.«
Richard nickte. Alle hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach.
»Sie sind hellbraun«, sagte Kahlan leise. Alles drehte sich zu ihr um. Sie saß da und starrte ins Feuer. »Die Herzhunde sind hellbraun, ihr Fell ist kurz, wie auf dem Rücken eines Rehs. Mittlerweile kann man sie überall in den Midlands sehen, da sie mit dem Fall der anderen Grenze aus ihrer Bindung entlassen worden sind. Das Fehlen einer Aufgabe macht sie völlig hemmungslos, jetzt kriechen sie schon bei Tag aus ihren Löchern hervor.«
Die drei Männer saßen regungslos und dachten über ihre Worte nach. Selbst Zedd hatte aufgehört zu essen.
»Großartig«, sagte Richard kaum hörbar. »Und was gibt es sonst noch in den Midlands? Womöglich noch Schlimmeres!«
Es war keine Frage, eher ein verzweifelter Fluch. Das Feuer knackte, wärmte ihre Gesichter.
Kahlans Blick war in die Ferne geschweift. »Darken Rahl«, flüsterte sie.