Plötzlich drehte sich Prinzessin Violet um und schlug Rachel ins Gesicht. Natürlich hatte Rachel nichts falsch gemacht. Es gefiel der Prinzessin einfach, sie zu schlagen, wenn sie es am wenigsten erwartete. Sie fand das komisch. Rachel versuchte nicht zu verbergen, wie weh es tat; war der Schmerz nicht groß genug, würde die Prinzessin noch einmal zuschlagen. Rachel legte die Hand auf die brennende Stelle, ihre Oberlippe zitterte, Tränen traten ihr in die Augen. Doch sie sagte nichts.
Prinzessin Violet wandte sich wieder der glänzenden, polierten Wand aus winzigen Holzschubladen zu, schob ihren dicklichen Finger durch einen Goldring, riß die nächste Lade auf und zog ein funkelndes, mit großen, blauen Steinen besetztes Silbergeschmeide hervor.
»Das hier ist hübsch. Halte mir die Haare hoch.«
Sie stellte sich vor den hohen, holzgerahmten Spiegel und bewunderte sich, während sie den Verschluß hinter ihrem feisten Hals einhakte und Rachel ihr stumpfes, langes, braunes Haar zur Seite hielt. Rachel betrachtete sich im Spiegel und untersuchte den roten Fleck auf ihrem Gesicht. Sie fand ihr Bild im Spiegel widerwärtig, haßte ihr Haar, das die Prinzessin ständig stutzte. Natürlich war ihr nicht gestattet, die Haare wachsen zu lassen, sie war schließlich ein Niemand. Doch wie gerne hätte sie es sich wenigstens gleichmäßig geschnitten. Zwar trug fast jeder das Haar kurz geschoren, aber wenigstens gleichmäßig. Die Prinzessin liebte es, ihr die Haare zu schneiden und sie völlig zu verfransen. Prinzessin Violet fand es schön, wenn andere Rachel häßlich fanden.
Rachel verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß und bewegte den Knöchel, um die Steifheit zu vertreiben. Sie hatten den gesamten Nachmittag im Juwelenzimmer der Königin verbracht. Die Prinzessin hatte ein Schmuckstück nach dem anderen anprobiert und sich dann vor dem großen Spiegel geziert hin und her gedreht. Es war ihre Lieblingsbeschäftigung, den Schmuck der Königin anzuprobieren und sich dann im Spiegel zu bewundern. Als ihre Gespielin war Rachel gezwungen, ihr Gesellschaft zu leisten, damit sich die Prinzessin auch ganz bestimmt amüsierte. Dutzende winziger Laden standen offen, einige mehr, andere weniger. Halsketten und Armreifen hingen halb heraus wie glitzernde Zungen. Weitere lagen auf dem Boden zwischen Broschen, Diademen und Ringen verstreut.
Die Prinzessin rümpfte die Nase und zeigte auf einen Ring mit einem blauen Stein, der auf dem Boden lag. »Gib mir den da.«
Rachel schob ihn über den Finger, den sie ihr vors Gesicht hielt, anschließend betrachtete sich die Prinzessin im Spiegel und drehte die Hand mal hier-, mal dorthin. Sie strich mit der Hand über das hübsche hellblaue Seidenkleid und bewunderte den Ring. Mit einem langen, gelangweilten Seufzer schritt sie hinüber zu dem ausgefallenen weißen Marmorpodest, das allein in der gegenüberliegenden Ecke des Juwelenzimmers stand, und betrachtete das Lieblingsobjekt ihrer Mutter, um das sie zu jeder Gelegenheit herumscharwenzelte.
Prinzessin Violet streckte die dicklichen Finger aus und nahm das mit Gold und Juwelen überzogene Kästchen von seinem Ehrenplatz.
»Prinzessin Violet!« platzte Rachel heraus, bevor sie Zeit hatte, nachzudenken. »Eure Mutter hat gesagt, das dürft Ihr auf keinen Fall anfassen!«
Die Prinzessin setzte eine Unschuldsmiene auf, drehte sich um und schmiß ihr das Kästchen zu. Rachel stockte der Atem. Sie fing das Kästchen, aus Angst, es könnte gegen die Wand prallen. Entsetzt hielt sie es in den Händen und setzte es ab wie ein glühendes Stück Kohle. Sie wich zurück, aus Angst, man könnte sie allein deswegen züchtigen, weil sie in der Nähe des Schatzkästchens der Königin gesehen worden war.
»Was soll die Aufregung?« fuhr Prinzessin Violet sie an. »Magie verhindert, daß es aus diesem Raum entfernt werden kann. Das klaut doch keiner.«
Von der Magie wußte Rachel nichts, sie wußte nur, daß sie nicht in der Nähe des Kästchens der Königin erwischt werden wollte.
»Ich gehe runter in den Speisesaal«, sagte die Prinzessin und reckte die Nase in die Höhe. »Ich will sehen, wie die Gäste eintreffen und auf das Abendessen warten. Räum hier auf, und dann geh in die Küche und sag den Köchen, daß ich meinen Braten nicht zäh wie Leder wünsche wie beim letzten Mal, oder ich sage meiner Mutter, sie soll sie auspeitschen lassen.«
»Natürlich, Prinzessin Violet.« Rachel machte einen Knicks.
Die Prinzessin hielt die Nase in die Höhe gereckt. »Und weiter?«
»Und … vielen Dank, Prinzessin Violet, daß Ihr mich mitgenommen habt und ich sehen durfte, wie hübsch Ihr mit dem Schmuck ausschaut.«
»Nun, das ist das mindeste, was ich tun kann. Du mußt es doch leid sein, dein häßliches Gesicht im Spiegel anzustieren. Meine Mutter sagt immer, wir müssen nett sein zu den weniger Glücklichen.« Sie griff in ihre Tasche und holte etwas heraus. »Hier. Nimm den Schlüssel und schließ die Tür ab, wenn du mit dem Aufräumen fertig bist.«
Rachel machte wieder einen Knicks. »Ja, Prinzessin Violet.«
Während sich der Schlüssel noch in ihre ausgestreckte Hand senkte, flog die andere Hand der Prinzessin aus dem Nichts und schlug Rachel unerwartet hart ins Gesicht. Wie gelähmt stand sie da, während Prinzessin Violet das Zimmer verließ und dabei schrill und verächtlich lachte. Prinzessin Violets Lachen schmerzte fast so wie die Ohrfeige.
Tränen kullerten ihr aus den Augen, während sie auf Händen und Knien über den Boden kroch und ganze Hände voller Ringe vom Teppich klaubte. Sie hielt kurz inne, setzte sich auf und berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig die Stelle, wo sie geschlagen worden war. Es tat höllisch weh.
Rachel vermied es, in der Nähe des Kästchens der Königin zu arbeiten, betrachtete es aus den Augenwinkeln, hatte Angst, es zu berühren und wußte doch, daß sie es mußte. Sie mußte es zurückstellen. Sie ließ sich Zeit, legte den Schmuck sorgfältig an seinen Platz zurück, drückte die Laden bedachtsam zu und hoffte, nie zum Ende zu kommen, damit sie das Kästchen nicht aufzuheben brauchte, der Königin ein und alles in dieser Welt. Die Königin wäre alles andere als amüsiert, wenn sie erfuhr, daß irgendein Niemand es berührt hatte. Rachel wußte, die Königin ließ ständig jemandem den Kopf abschlagen. Manchmal zwang die Prinzessin Rachel mitzugehen und zuzuschauen, doch Rachel schloß immer die Augen. Die Prinzessin nicht.
Als aller Schmuck verstaut war, die letzte Lade geschlossen, riskierte sie aus den Augenwinkeln einen Blick auf das am Boden liegende Kästchen. Sie fühlte sich von ihm beobachtet, so als könne es sie bei der Königin verpetzen. Schließlich hockte sie nieder und packte es mit aufgerissenen Augen. Die Arme von sich gestreckt, schob sie die Füße vorsichtig über die Teppichkanten, aus Angst, sie könnte es irgendwie fallen lassen. Sie stellte das Kästchen so langsam es ging an seinen Ort zurück, vorsichtig, ganz vorsichtig, so als fürchtete sie, ein Stein oder sonst was könnte herausfallen. Dann zog sie schnell die Finger zurück und war erleichtert.
Das erste was sie sah, als sie sich umdrehte, war der Saum eines silbernen Umhanges, der den Boden berührte. Die Luft blieb ihr weg. Sie hatte keine Schritte gehört. Langsam, fast widerwillig, hob sie den Blick bis zu den Händen, dann weiter bis zu dem langen, weißen, spitzen Bart, dem knochigen Gesicht, der Hakennase, dem kahlen Schädel und den finsteren Augen, die auf ihr entsetztes Gesicht herabblickten.
Der Zauberer.
»Zauberer Giller«, greinte sie in der sicheren Erwartung, jeden Augenblick totgeschlagen zu werden. »Ich wollte es nur zurückstellen. Ich schwöre es. Bitte, bitte, töte mich nicht.« Sie verzog vor Anstrengung das Gesicht, wollte zurückweichen, doch ihre Füße weigerten sich. »Bitte.« Sie stopfte sich den Saum ihres Kleides in den Mund und kaute jammernd darauf herum.
Rachel kniff die Augen zusammen und schüttelte sich, als der Zauberer sich auf den Boden herabließ.
»Kind«, meinte er mit sanfter Stimme. Rachel öffnete vorsichtig ein Auge, und stellte überrascht fest, daß er auf dem Boden hockte, sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihrem. »Ich werde dir nichts tun.«
Sie öffnete das andere Auge, genauso vorsichtig. »Wirklich nicht?« Sie glaubte ihm nicht. Mit Schrecken stellte sie fest, daß die große, schwere Tür verschlossen, ihr einziger Fluchtweg versperrt war.
»Nein«, lächelte er. »Wer hat das Kästchen heruntergenommen?«
»Wir haben gespielt. Das ist alles. Einfach nur gespielt. Ich habe es für die Prinzessin zurückgestellt. Sie ist so gut zu mir, so gut, ich wollte ihr helfen, sie ist ein wunderbarer Mensch, ich liebe sie, sie ist so gut zu mir…«
Er legte ihr seinen langen Finger auf die Lippen, um sie sachte zum Schweigen zu bringen. »Ich habe verstanden, mein Kind. Du bist also die Gespielin der Prinzessin?«
Sie nickte ernst. »Rachel.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ein hübscher Name. Freut mich, dich kennenzulernen, Rachel. Tut mir leid, daß ich dir einen Schrecken eingejagt habe. Ich wollte nur nach dem Kästchen der Königin sehen.«
Noch nie hatte ihr jemand gesagt, ihr Name sei hübsch. Andererseits hatte er die große Tür zugemacht. »Du wirst mich nicht totschlagen? Oder mich in irgend etwas Schreckliches verwandeln?«
»Lieber Himmel, nein«, er lachte. Er drehte den Kopf und linste sie aus einem Auge an. »Wieso hast du diese roten Flecken auf deinen Wangen?«
Sie antwortete nicht, hatte zuviel Angst. Langsam, behutsam, streckte er die Hand aus, berührte mit den Fingern erst die eine, dann die andere Wange. Sie riß die Augen auf. Das Brennen war verschwunden.
»Besser?«
Sie nickte. Er hatte so gute Augen, als er sie jetzt von ganz nah ansah. Deswegen glaubte sie, es ihm erzählen zu können. Sie tat es. »Die Prinzessin schlägt mich immer«, gestand sie verschämt.
»So? Sie ist also doch nicht nett zu dir?«
Sie schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Dann tat der Zauberer etwas, das sie verblüffte. Er legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie sacht. Einen Augenblick lang stand sie wie angewurzelt da, dann schlang sie ihm die Arme um den Hals und erwiderte die Umarmung. Seine Barthaare kribbelten ihr auf Wange und Hals, es gefiel ihr trotzdem.
Er sah sie traurig an. »Tut mir leid, mein Kind. Die Prinzessin und die Königin können recht grausam sein.«
Seine Stimme klang so freundlich, wie die von Brophy. Unter seiner Hakennase zeigte sich ein breites Grinsen.
»Weißt du was? Ich habe hier etwas, das dir vielleicht hilft.« Er griff mit seiner dürren Hand unter sein Gewand und sah in die Luft, während er herumsuchte. Dann hatte er das Gesuchte gefunden. Mit großen Augen verfolgte sie, wie er eine Puppe hervorholte, eine Puppe mit blonden, kurzen Haaren wie sie. Er tätschelte den Bauch der Puppe. »Hier, eine Kummerpuppe.«
»Eine Kummerpuppe?« hauchte sie.
»Ja.« Er nickte. In seinen Wangen bildeten sich tiefe Lachfalten. »Wenn du Kummer hast, erzählst du ihn der Puppe, und sie nimmt ihn dir ab. Sie verfügt über Magie. Hier. Versuch es mal.«
Rachel verschlug es fast den Atem, als sie beide Hände ausstreckte und die Finger vorsichtig um die Puppe schloß. Sie drückte sie vorsichtig an sich. Dann hielt sie sie langsam, zaghaft von sich und betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen wurden ganz feucht.
»Prinzessin Violet meint, ich sei häßlich«, vertraute sie der Puppe an.
Das Gesicht der Puppe lächelte. Rachels Unterkiefer klappte herunter.
»Ich liebe dich, Rachel«, sagte sie mit ihrem winzigen Stimmchen.
Rachel stockte überrascht der Atem. Sie strahlte vor Freude und drückte die Puppe so fest sie konnte. Lachend drückte sie die Puppe an sich und schaukelte hin und her.
Dann fiel es ihr wieder ein. Sie schob die Puppe dem Zauberer hin und wandte das Gesicht ab.
»Ich darf keine Puppe haben. Das hat die Prinzessin gesagt. Sie schmeißt sie ins Feuer, hat sie gesagt. Wenn ich eine Puppe hätte, würde sie sie ins Feuer schmeißen.« Sie konnte kaum sprechen, so groß war der Klumpen in ihrer Kehle.
»Nun, laß mich nachdenken«, sagte der Zauberer und rieb sich das Kinn. »Wo schläfst du?«
»Meistens schlafe ich im Schlafzimmer der Prinzessin. Nachts schließt sie mich im Kasten ein. Ich finde das gemein. Manchmal, wenn sie sagt, ich sei böse gewesen, zwingt sie mich, die Nacht über das Schloß zu verlassen. Dann muß ich draußen schlafen. Sie glaubt, das sei noch gemeiner, aber mir gefällt es eigentlich, denn ich habe einen geheimen Platz in einer Launenfichte, wo ich schlafen kann. Launenfichten haben keine Schlösser. Ich kann auf den Topf, wann immer ich muß. Manchmal ist es ziemlich kalt, aber ich habe einen Strohhaufen, unter den ich krieche, um mich warm zu halten. Morgens muß ich zurück, bevor sie Wachen schickt, um mich zu suchen. Ich will nicht, daß sie meinen Platz finden. Sie würden ihn der Prinzessin verraten, und sie würde mich nicht mehr nach draußen schicken.«
Der Zauberer legte ihr zärtlich die Hand auf den Mund. Sie kam sich vor wie etwas Besonderes. »Mein liebes Kind«, flüsterte er, »daß ich das erfahren durfte.« Seine Augen waren feucht. Rachel wußte nicht, daß Zauberer weinen konnten. Dann war sein breites Schmunzeln wieder da. Er hielt einen Finger in die Höhe. »Ich habe eine Idee. Kennst du die Gärten? Die Ziergärten?«
Rachel nickte. »Dort komme ich auf dem Weg zu meinem Platz durch, wenn ich nachts ausgesetzt werde. Die Prinzessin zwingt mich, durch das Gartentor in der Außenmauer zu gehen. Sie will nicht, daß ich vorne rausgehe, an den Läden und den Menschen vorbei. Sie hat Angst, jemand könnte mich für die Nacht aufnehmen. Sie hat mir eingebleut, ich dürfte nicht in den Ort oder auf das Bauernland gehen. Als Strafe muß ich in die Wälder.«
»Nun, wenn du über den Mittelweg des Gartens gehst, dann stehen dort auf beiden Seiten kleine, gelbe Vasen mit gelben Blumen.« Rachel nickte, sie wußte, wo sie standen. »Ich werde deine Puppe rechts in der dritten Vase verstecken. Ich werde ein magisches Netz darüberwerfen, das ist Zauberei, damit niemand außer dir sie findet.« Er nahm die Puppe und versteckte sie vorsichtig unter seinem Gewand. Sie folgte ihr mit den Augen. »Wenn du das nächste Mal des Nachts ausgesetzt wirst, dann gehst du dorthin. Du wirst deine Puppe finden und kannst sie an deinem Platz, in deiner Launenfichte, aufbewahren, wo niemand sie finden oder dir wegnehmen wird. Ich werde dir außerdem einen magischen Feuerstab dortlassen. Stell einfach einen kleinen Haufen Äste zusammen, nicht zu groß, lege Steine darum und halte den magischen Feuerstab darunter und sage: ›Brenne für mich!‹, und er wird brennen, und du kannst dich wärmen.«
Rachel warf die Arme um ihn und drückte ihn immer wieder, während er ihr den Rücken tätschelte. »Vielen Dank, Zauberer Giller.«
»Du kannst mich Giller nennen, wenn wir allein sind, Kind. Einfach nur Giller. So nennen mich alle meine Freunde.«
»Vielen Dank für die Puppe, Giller. Mir hat noch nie jemand etwas so Schönes geschenkt. Ich werde sie hüten wie meinen Augapfel. Ich muß jetzt gehen. Die Prinzessin hat mir aufgetragen, die Köche zu schelten. Anschließend muß ich ihr beim Essen zusehen.« Sie grinste. »Und dann muß ich mir etwas Schlimmes ausdenken, damit sie mich heute nacht aussetzt.«
Der Zauberer lachte dröhnend. Seine Augen funkelten. Er fuhr ihr mit seiner großen Hand durchs Haar und erhob sich. Giller half ihr mit der schweren Tür und verschloß sie für sie, dann gab er ihr den Schlüssel zurück.
»Ich wünschte, wir könnten uns bald mal wieder unterhalten«, sagte sie und sah ihn an.
Er lächelte. »Das werden wir, Rachel. Ganz bestimmt. Ich bin ganz sicher.«
Sie winkte ihm nach und rannte den langen, leeren Flur entlang — glücklicher, als sie je seit ihrer Ankunft im Schloß gewesen war. Der Weg war weit. Durch das Schloß hindurch, hinunter zur Küche, durch die riesigen Räume mit den hohen, von goldenen und roten Vorhängen verhangenen Fenstern und Stühlen aus rotem Samt mit goldenen Füßen, mit langen Teppichen, auf denen kämpfende Männer auf Pferden abgebildet waren, vorbei an Wachen, die regungslos wie aus Stein vor reichverzierten Türen standen oder zu zweit einhermarschierten, vorbei an eiligen Dienern, mit Leinen beladen, Tabletts oder Besen und Eimern voller Seifenwasser. Obwohl sie rannte, schenkte ihr keiner der Diener oder Wachen einen zweiten Blick; sie wußten, daß sie die Gespielin von Prinzessin Violet war, und hatten sie schon viele Male im Auftrag der Prinzessin durch das Schloß laufen sehen.
Außer Atem erreichte sie schließlich die Küche. Dort war es voller Dampf, rauchig und laut. Helfer schleppten hastig schwere Säcke, große Töpfe oder heiße Pfannen, und jeder war bestrebt, dem anderen auszuweichen. Andere zerhackten auf den hohen Tischen oder Hackklötzen Dinge, die sie nicht erkennen konnte. Töpfe schepperten, Köche brüllte Befehle, Helfer rissen Töpfe und Schalen aus Metall von den hoch hängenden Haken und hängten andere zurück, überall klapperten rührende, schlagende Löffel, zischten Öl, Knoblauch, Butter, Zwiebeln und Gewürz in heißen Pfannen, und alles schien durcheinanderzuschreien. Es roch so gut, daß ihr fast schwindelig wurde.
Sie zupfte einen der Chefköche am Ärmel, um ihm zu sagen, sie hätte eine Nachricht von der Prinzessin, doch er stritt sich gerade mit einem anderen Koch und meinte, sie solle sich setzen und warten, bis er fertig wäre. Sie setzte sich auf einen kleinen Hocker neben den Herden und lehnte sich an die warmen Ziegel. In der Küche duftete es so gut, und sie hatte solchen Hunger. Aber sie wußte, wenn sie um etwas zu essen bat, würde sie Ärger bekommen.
Die beiden Köche arbeiteten über einem großen Steintopf und schrien sich, mit den Armen herumfuchtelnd, an. Schließlich fiel der Steintopf mit einem dumpfen Knall zu Boden, zerbrach in zwei Teile und verteilte überall seine hellbraune Flüssigkeit. Rachel sprang auf den Hocker, damit sie es nicht über ihre nackten Füße bekam. Die Köche standen wie versteinert da, ihre Gesichter so weiß wie ihre Jacken.
»Was machen wir jetzt?« fragte der Kleine. »Wir haben nichts mehr von den Zutaten, die Vater Rahl geschickt hat.«
»Augenblick mal«, sagte der Große und legte sich die Hand auf die Stirn. »Laß mich nachdenken.«
Er schlug beide Hände vors Gesicht, als wollte er es zerdrücken. Dann warf er beide Arme in die Luft.
»Also schön. Also schön. Ich habe eine Idee. Hol mir einen anderen Steintopf und halt vor allen Dingen die Klappe. Vielleicht können wir unseren Kopf behalten. Hol mir irgendwelche anderen Zutaten.«
»Was für Zutaten!« kreischte der Kleine mit rotem Gesicht.
Der große Koch beugte sich über ihn. »Braune Zutaten!«
Rachel verfolgte, wie die beiden herumhasteten, irgendwelche Dinge griffen, Flaschen in den Topf leerten, Zutaten hinzugaben, rührten, kosteten. Zu guter Letzt lächelten beide.
»Schön, schön. Es wird schon klappen, denke ich. Überlaß das Reden bloß mir«, meinte der Große.
Rachel stakste auf Zehenspitzen über den nassen Boden und zupfte ihn erneut am Ärmel.
»Du? Bist du immer noch da! Was willst du?« fuhr er sie an.
»Prinzessin Violet hat gesagt, ihr sollt ihren Braten nicht wieder so trocken werden lassen, oder sie sagt der Königin, daß sie euch von den Männern schlagen lassen soll.« Sie blickte zum Boden. »Das hat sie mir aufgetragen.«
Er betrachtete sie einen Moment lang, dann wandte er sich an den kleinen Koch und drohte ihm. »Ich hab's dir doch gesagt. Hab' ich dir's nicht gesagt? Schneide ihr Stück aus der Mitte, und vertausche nicht die Teller, sonst kostet uns beide das noch den Kopf!« Er starrte auf sie hinunter. »Und du hast nichts gesehen«, sagte er und deutete mit einer kreisenden Handbewegung auf den Topf.
»Kochen? Ich soll also niemandem erzählen, daß ich euch kochen gesehen habe? Also gut«, sagte sie ein wenig verwirrt und wollte wieder auf Zehenspitzen über den nassen Boden zurückschleichen. »Ich werde es niemandem erzählen, das verspreche ich. Ich finde es scheußlich, wenn Leute von den Männern mit den Peitschen geschlagen werden. Ich verrate nichts.«
»Warte mal!« rief er ihr hinterher. »Rachel, richtig?«
Sie drehte sich um und nickte.
»Komm mal her.«
Sie wollte nicht, trotzdem schlich sie zurück. Er holte ein großes Messer heraus, das ihr erst mal einen Schrecken einjagte, dann machte er sich an einer Platte auf dem Tisch hinter sich zu schaffen und schnitt ihr ein großes, saftiges Stück Fleisch ab. Ein solches Stück Fleisch, ganz ohne Fett und Sehnen, hatte sie noch nie gesehen, jedenfalls nicht aus der Nähe. Es war ein Stück Fleisch, wie es die Königin oder die Prinzessin aßen. Er gab es ihr. Legte es ihr einfach in die Hand.
»Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Rachel. Setz dich auf den Hocker da drüben und laß es dir schmecken, und dann sorgen wir dafür, daß du wieder sauber wirst, damit keiner was merkt. Einverstanden?«
Sie nickte und rannte mit ihrer Beute zum Hocker. Diesmal vergaß sie, auf Zehenspitzen zu gehen. Es war das Beste und Köstlichste, was sie je gegessen hatte. Sie versuchte, sich Zeit zu lassen und beim Essen die Leute zu beobachten, die herumliefen, mit Töpfen schepperten und Gegenstände herumtrugen, aber es gelang ihr nicht. Der Saft lief ihr die Arme herunter und tropfte ihr von den Ellenbogen. Als sie fertig war, kam der kleine Koch und wischte ihr Hände, Arme und Gesicht mit einem Handtuch ab. Dann schenkte er ihr ein Stück Zitronenkuchen, drückte es ihr einfach in die Hand, wie es der große Koch mit dem Fleisch getan hatte. Er meinte, er hätte ihn selbst gebacken und wollte gerne wissen, ob er gut sei. Sie sagte, ganz der Wahrheit entsprechend, daß es so ziemlich das Allerbeste sei, was sie je gegessen hatte. Er grinste.
Dies war ungefähr der schönste Tag gewesen, soweit sie zurückdenken konnte. Zwei schöne Erlebnisse am selben Tag, erst die Kummerpuppe und jetzt das Essen. Sie fühlte sich wie die Königin höchstpersönlich.
Als sie später im großen Speisesaal auf ihrem kleinen Stuhl hinter der Prinzessin saß, war sie zum allerersten Mal nicht ausgehungert, und deshalb knurrte auch ihr Magen nicht, während all die wichtigen Leute speisten. Die Haupttafel, an der sie saßen, stand drei Stufen höher als alle anderen Tische, daher konnte sie den ganzen Raum sogar von ihrem niedrigen Stuhl aus überblicken, wenn sie sich aufrecht hinsetzte. Tischdiener eilten überall durch den Saal, schleppten Speisen heran, räumten Teller ab, auf denen noch Essen lag, schenkten Wein ein und tauschten halbvolle Platten auf den Tischen gegen volle aus. Sie beobachtete die feinen Damen und Herren in hübschen Kleidern und bunt verzierten Jacken, die an den langen Tischen saßen und von den überladenen Tellern speisten, und zum ersten Mal wußte sie, wie das Essen schmeckte. Allerdings verstand sie nicht, warum sie so viele Gabeln und Löffel zum Essen brauchten. Als sie die Prinzessin einmal gefragt hatte, warum es so viele Gabeln, Löffel und dergleichen gab, hatte die Prinzessin geantwortet, ein Niemand wie sie brauche so etwas nicht zu wissen.
Beim Bankett wurde Rachel meist nicht beachtet. Nur die Prinzessin drehte sich gelegentlich zu ihr um, sie war nur dort, weil sie die Gespielin der Prinzessin war, zur Dekoration, wie sie vermutete. Auch die Königin hatte Leute, die beim Essen hinter ihr standen oder saßen. Sie meinte, Rachel sei für die Prinzessin zum Üben, zum Üben von Herrschaft, da.
Prinzessin Violet warf einen Blick über die Schulter; Soße troff ihr vom Kinn. »Es ist gerade gut genug, um sie nicht auspeitschen zu müssen. Und du hattest recht, sie sollten nicht so gemein zu mir sein. Wird Zeit, daß sie das begreifen.«
Die Königin saß, wie immer mit ihrem kleinen Hund im Arm, am Tisch. Ständig bohrte er zappelnd seine dürren, kleinen Streichholzbeine in ihre feisten Arme und hinterließ mit seinen Pfoten kleine Dellen. Die Königin fütterte ihn mit Fleischstückchen, die besser waren als alles, was man Rachel je gegeben hatte. Bis zum heutigen Tag jedenfalls, wie Rachel mit einem Lächeln überlegte. Rachel mochte den kleinen Köter nicht. Er kläffte viel, und manchmal, wenn die Königin ihn auf den Boden ließ, rannte er zu ihr und verbiß sich mit seinen winzigen, scharfen Zähnen in ihrem Bein, und sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Wenn der Hund sie biß, meinte die Königin immer, er solle vorsichtig sein und sich nicht verletzen. Mit dem Hund redete sie immer in einer komisch hohen, süßlichen Stimme.
Während die Königin und ihre Minister über irgendein Bündnis sprachen, saß Rachel zappelnd dabei, schlug die Knie zusammen und dachte an ihre Kummerpuppe. Der Zauberer stand ein Stück rechts hinter der Königin und erteilte Ratschläge, wenn man ihn darum bat. Er sah in seinem silbrigen Umhang großartig aus. Auf Giller hatte sie bislang nie besonders geachtet, er war einfach einer der wichtigsten Leute im Gefolge der Königin, immer dabei, genau wie ihr kleiner Köter. Die Leute fürchteten sich vor ihm ebenso wie sie vor dem Hund. Als sie ihn jetzt jedoch beobachtete, schien er ihr einer der nettesten Männer zu sein, denen sie je begegnet war. Er beachtete sie während des gesamten Abendessens nicht ein einziges Mal und sah nicht in ihre Richtung. Rachel nahm an, er wollte keine Aufmerksamkeit auf sie lenken, um die Prinzessin nicht zu verärgern. Eine gute Idee. Prinzessin Violet wäre böse, wenn sie wüßte, daß Giller gesagt hatte, er fände Rachels Namen hübsch. Der Königin langes Haar hing hinter ihrem reich geschnitzten Stuhl herab und wogte wellenförmig, wenn sie sich mit den wichtigen Leuten unterhielt und nickte.
Als das Mahl beendet war, rollten Tischdiener einen Wagen mit dem Steintopf herein, bei dessen Zubereitung sie die Köche beobachtet hatte. Mit einer Kelle wurden Kelche gefüllt und an alle Gäste verteilt. Jeder schien es ziemlich wichtig zu nehmen.
Die Königin erhob sich, reckte ihren Kelch in die Höhe, den kleinen Hund immer noch auf dem Arm. »Lords und Ladies, ich überreiche Euch nun den Trank der Erleuchtung, auf daß wir die Wahrheit erkennen. Dies ist ein sehr wertvoller Trank, nur wenige erhalten die Gelegenheit zur Erleuchtung. Ich persönlich habe selbstverständlich schon viele Male davon Gebrauch gemacht, um die Wahrheit und die Wege Vater Rahls zu erkennen und so mein Volk ins Wohl zu führen. Trinkt jetzt.«
Einige schienen nicht recht zu wollen, doch nur einen Augenblick lang. Dann tranken alle. Die Königin trank, nachdem sie gesehen hatte, daß alle anderen getrunken hatten, dann setzte sie sich wieder, mit einem komischen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie beugte sich zu einem Tischdiener, flüsterte ihm etwas zu. Rachel begann sich Sorgen zu machen. Die Königin legte die Stirn in Falten. Wenn die Königin die Stirn in Falten legte, rollten Köpfe.
Der große Koch erschien, ein Lächeln auf dem Gesicht. Mit dem gebogenen Finger gab sie ihm das Zeichen, sich weiter vorzubeugen.
Schweiß stand auf seiner Stirn. Weil es in der Küche so heiß war, wie Rachel annahm. Sie saß hinter der Prinzessin, die links neben der Königin saß, sie konnte also hören, was sie sagten.
»Er schmeckt nicht wie sonst«, sagte sie mit ihrer fiesen Stimme. Sie sprach nicht immer mit ihrer fiesen Stimme, doch wenn sie es tat, bekamen es die Leute mit der Angst.
»Nun ja, Eure Majestät, wißt Ihr, die Wahrheit ist die, äh, das ist er auch nicht. Wie sonst, meine ich.« Sie zog eine Braue hoch, und er begann, schneller zu reden. »Ihr müßt wissen, äh, die Wahrheit ist, ich wußte, wie wichtig dieses Abendessen ist. Ja, ich wußte, Ihr wolltet auf jeden Fall vermeiden, daß irgend etwas schiefgeht. Seht, ich wollte nicht, daß jemand vielleicht nicht aufgeklärt wird, jemand vielleicht Eure, äh, Brillanz in dieser Angelegenheit nicht erkennt. Also habe ich«, und damit beugte er sich ein Stück weiter vor, »also habe ich mir die Freiheit herausgenommen, den Trank der Erleuchtung stärker zu machen. Viel stärker, um genau zu sein. Ich versichere Euch, Majestät, er ist sehr stark, und somit muß es sich bei jedem, der nicht erleuchtet wird und sich Euch nach dem Trank widersetzt, nun, eigentlich um einen Verräter handeln.«
»Wirklich«, hauchte die Königin überrascht. »Ich dachte tatsächlich, er sei stärker.«
»Ausgezeichnet beobachtet, Eure Majestät, ausgezeichnet beobachtet. Ihr besitzt einen feinen Gaumen. Ich wußte, Euch würde ich unmöglich täuschen können.«
»Allerdings. Aber bist du sicher, daß er nicht zu stark ist? Ich spüre bereits jetzt, wie die Erleuchtung mich durchdringt.«
»Eure Majestät«, sein Blick huschte von Gast zu Gast. »Es ging um Euer Mandat, und ich hatte Angst, ihn schwächer zu machen.« Er zog eine Braue hoch. »Damit kein Verräter unentdeckt bleibt.«
Endlich lächelte sie und nickte. »Du bist ein kluger und loyaler Koch. Von nun an werde ich ausschließlich dich mit dem Trank der Erleuchtung beauftragen.«
»Vielen Dank, Eure Majestät.«
Er zog sich unter vielfachen Verbeugungen zurück. Rachel war froh, daß er keinen Ärger bekommen hatte.
»Lords und Ladies, eine besondere Überraschung. Ich habe meinen Koch angewiesen, den Trank der Erleuchtung heute abend besonders stark auszusetzen, damit jeder, der loyal zu seiner Königin steht, die Weisheit Vater Rahls erkennt.«
Alles gab nickend und lächelnd zu verstehen, wie erfreut man darüber war. Manche behaupteten bereits, die besonderen Einsichten zu spüren, die der Trank ihnen vermittelte.
»Und noch eine besondere Überraschung, Lords und Ladies, zu eurer Unterhaltung.« Sie schnippte mit den Fingern. »Bringt den Narren herein.«
Wachen schleppten einen Mann herein und zwangen ihn, sich in die Mitte des Raumes zu stellen, vor die Königin, umringt von sämtlichen Tischen. Er sah groß und kräftig aus, man hatte ihn jedoch in Ketten gelegt. Die Königin beugte sich vor.
»Wir waren alle einer Meinung, daß ein Bündnis mit Darken Rahl für alle unsere Völker von großem Nutzen sein wird. Alle werden gemeinsam davon profitieren. Am meisten die kleinen Leute, die Arbeiter und Farmer. Sie sollen von der Unterdrückung durch jene befreit werden, die sie nur aus Gier nach Profit und Gold ausbeuten. Von nun an wollten wir für das Allgemeinwohl und nicht für die Ziele einzelner kämpfen.«
Die Königin runzelte die Stirn. »Bitte teile all diesen unwissenden Lords und Ladies mit«, mit einer Handbewegung erfaßte sie den ganzen Raum, »wie es kommt, daß du klüger bist als sie, und weshalb dir gestattet sei, nur für dich selbst zu arbeiten, statt für deine Mitmenschen.«
Das Gesicht des Mannes hatte einen irren Ausdruck angenommen. Rachel wünschte, sie könnte es ändern, bevor er Arger bekam.
»Das Allgemeinwohl«, fuhr er mit derselben Geste fort wie die Königin, nur daß seine Hände in Ketten lagen, »das nennt ihr das Allgemeinwohl? Ihr feinen Leute laßt es euch schmecken, ihr erfreut euch des warmen Feuers. Meine Kinder werden heute hungrig zu Bett gehen, weil uns der größte Teil unserer Ernte zum Wohle der Allgemeinheit genommen wurde, zum Wohle jener, die beschlossen haben, nicht zu arbeiten und statt dessen die Früchte meiner Arbeit zu verzehren.«
Alle lachten. »Und ihnen willst du die Nahrung vorenthalten, nur weil ihr Glück habt und eure Ernten besser geworden sind?« fragte die Königin. »Du denkst nur an dich selbst.«
»Ihre Ernten würden besser werden, wenn sie zuerst säen würden.«
»Und du hegst so wenig Mitgefühl für deine Mitmenschen, daß du sie deshalb zum Hungern verdammst?«
»Meine Familie verhungert! Weil sie andere ernähren muß, Darken Rahls Armee, Euch feine Herrschaften, die nichts anderes tun, als darüber zu reden, was sie mit meiner Ernte anfangen sollen, wie sie die Früchte meiner Arbeit an andere verteilen sollen.«
Rachel wünschte, der Mann würde den Mund halten. Er redete sich um Kopf und Kragen. Die Leute und die Königin schienen ihn jedoch komisch zu finden.
»Und meine Familie friert«, sagte er, wobei sein Gesicht noch wütender wurde, »weil wir kein Feuer haben dürfen.« Er zeigte auf einige der Kamine. »Hier jedoch gibt es Feuer, das all jene wärmt, die mir einreden, wir seien jetzt alle gleich, und niemand würde mehr dem anderen vorgezogen. Deshalb darf ich nichts mehr für mich behalten, was mir gehört. Ist das nicht seltsam, daß dieselben Leute, die mir einreden, wir seien im Bündnis mit Darken Rahl alle gleich — und doch nichts anderes tun, als die Früchte meiner Arbeit unter sich aufzuteilen –, alle wohlgenährt sind, es warm haben und feine Kleider tragen? Und meine Familie friert und hungert!«
Alle lachten. Rachel nicht. Sie wußte, was es hieß, zu frieren und zu hungern.
»Lords und Ladies«, die Königin kicherte, »hatte ich euch nicht königliches Amüsement versprochen? Der Trank der Erleuchtung ermöglicht es uns zu erkennen, welch selbstsüchtiger Narr dieser Mann in Wahrheit ist. Stellt euch nur vor, er glaubt, es sei in Ordnung, am Hunger anderer zu gewinnen. Er will seinen Nutzen über das Leben seiner Mitmenschen stellen. Aus Gier würde er die Hungernden ermorden.«
Alle lachten mit der Königin.
Die Königin schlug mit der Hand auf den Tisch. Teller hüpften und einige Gläser stürzten um, so daß sich rote Flecken auf der weißen Tischdecke ausbreiteten. Alle verstummten, nur der kleine Köter blaffte den Mann an. »Genau dieser Art von Gier wird mit Hilfe der Volksarmee des Friedens ein Ende bereitet werden, sobald sie einrückt, um uns von den Blutsaugern zu befreien, die uns allen das Blut aus den Adern saugen!« Das feiste Gesicht war so rot wie die Flecken auf dem Tischtuch.
Alle johlten und applaudierten lange. Die Königin lehnte sich zurück. Schließlich lächelte sie.
Das Gesicht des Mannes war so gerötet wie ihres. »Es ist doch seltsam. Jetzt, da alle Höfe und die Arbeiter in der Stadt für das Allgemeinwohl arbeiten, gibt es weder genügend Waren wie früher noch genug zu essen.«
Die Königin sprang auf. »Natürlich nicht!« kreischte sie. »Wegen dieses gierigen Packs wie dir!« Sie mußte ein paarmal tief durchatmen, bis ihr Gesicht nicht mehr ganz so rot war, dann wandte sie sich an die Prinzessin. »Violet, Liebes, früher oder später mußt du die Staatsgeschäfte lernen. Du mußt lernen, wie man dem Allgemeinwohl des ganzen Volkes dient, also werde ich diese Angelegenheit in deine Hände legen, damit du Erfahrungen sammeln kannst. Was würdest du mit diesem Verräter an seinen Mitbürgern machen? Entscheide du, Liebes, und es wird geschehen.«
Prinzessin Violet stand auf. Lächelnd sah sie sich um.
»Mein Urteil«, sagte sie, beugte sich ein wenig vor, über den Tisch und betrachtete den großen Mann in Ketten, »mein Urteil lautet, runter mit seinem Kopf!«
Wieder johlten und applaudierten alle. Wachen schleiften den Mann fort, der die Leute mit Beschimpfungen bedachte, die Rachel nicht verstand. Er tat ihr leid — und seine Familie auch.
Nachdem sich die Leute lange unterhalten hatten, beschlossen sie, sich gemeinsam die Enthauptung des Mannes anzusehen. Als die Königin aufbrach und Prinzessin Violet sich zu ihr umdrehte und meinte, es sei Zeit, zu gehen und zuzuschauen, baute Rachel sich mit geballten Fäusten an der Seite vor ihr auf.
»Ihr seid wirklich gemein. Das war wirklich gemein, den Mann köpfen zu lassen.«
Die Prinzessin stemmte die Hände in die Hüften. »Ach, wirklich? Na schön, dann kannst du die Nacht heute im Freien verbringen!«
»Aber Prinzessin Violet, heute nacht ist es draußen so kalt!«
»Während du frierst, kannst du darüber nachdenken, daß du es gewagt hast, mit mir in diesem Ton zu sprechen! Damit du beim nächsten Mal daran denkst, bleibst du auch noch morgen den ganzen Tag und die ganze Nacht draußen!« Ihr Gesicht war fies, genau wie manchmal das der Königin. »Das sollte dir etwas Respekt beibringen.«
Rachel wollte noch etwas sagen, aber dann fiel ihr die Kummerpuppe ein, und sie wollte gehen. Die Prinzessin zeigte auf den Bogen, der zur Tür führte.
»Geh schon. Sofort, ohne Abendessen.« Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Rachel sah zu Boden und tat, als wäre sie traurig. »Ja, Prinzessin Violet.« Sie machte einen Knicks.
Mit gesenktem Kopf ging sie durch den Bogen und den breiten Flur entlang mit all den Teppichen an den Wänden. Sie sah sich die Bilder auf den Teppichen gerne an, doch diesmal hielt sie den Kopf gesenkt, für den Fall, daß die Prinzessin sie beobachtete. Sie wollte ihr nicht zeigen, wie glücklich sie war, rausgeschmissen worden zu sein. Wachen in glänzenden Brustpanzern mit Schwertern und Lanzen öffneten die riesigen, hohen Eisentore ohne ein Wort. Sie sagten nie etwas zu ihr, wenn sie sie hinausoder hereinließen. Sie wußten, sie war die Gespielin der Prinzessin, ein Niemand.
Als sie draußen war, versuchte sie, nicht allzuschnell zu gehen — falls jemand sie beobachtete. Der Stein unter ihren nackten Füßen war kalt wie Eis. Vorsichtig, beide Hände unter die Achseln geklemmt, um die Finger warm zu halten, stieg sie die breiten Stufen und Terrassen hinab, eine nach der anderen, um nicht hinzufallen, und erreichte schließlich den gepflasterten Weg am unteren Ende. Draußen patrouillierten weitere Wachen, doch die beachteten sie nicht. Je näher sie den Gärten kam, desto schneller lief sie.
Auf dem Hauptweg im Garten wurde Rachel langsamer und wartete, bis die Wachen ihr den Rücken zukehrten. Die Kummerpuppe war genau da, wo Giller gesagt hatte. Sie steckte den Feuerstab ein und drückte die Puppe, so fest sie konnte, bevor sie sie hinter ihrem Rücken versteckte. Ganz leise sagte sie ihr, sie solle still sein. Sie konnte es nicht erwarten, zu ihrer Launenfichte zu kommen, damit sie der Puppe erzählen konnte, wie gemein Prinzessin Violet war, weil sie den Mann hatte enthaupten lassen. Sie sah sich in der Dunkelheit um. Niemand beobachtete sie, niemand war in Sicht, der ihr die Puppe wegnehmen wollte. An der Außenmauer patrouillierten weitere Männer auf den Wehrgängen, und am Tor standen die Wachen der Königin steif in ihren reich verzierten Uniformen, ärmellosen, roten Hemden über ihrem Panzer, mit einem schwarzen Wolfskopf, dem Wahrzeichen der Königin, in der Mitte. Sie interessierten sich nicht einmal für das, was sie hinter dem Rücken hatte, als sie den schweren Eisenriegel anhoben und zwei von ihnen die ächzende Tür für sie aufzogen. Als sie hörte, wie der Riegel wieder an seinen Platz fiel und sie sah, daß ihr die Wachen auf der Mauer den Rücken zukehrten, da endlich fing sie strahlend an zu rennen. Es war ein weiter Weg.
Aus einem hohen, finsteren Turm sah er zu, wie sie ging. Er sah, wie sie durch die schwere Bewachung gelangte, ohne auch nur den geringsten Verdacht, das geringste Interesse zu erwecken. Wie ein Atemzug zwischen Reíßzähnen. Hinaus durch das Gartentor der Außenmauer, die zu allem entschlossene Armeen draußen und Verräter drinnen hielt, weiter über die Brücke, auf der Hunderte von Feinden in der Schlacht gefallen waren, ohne sie einnehmen zu können, sah er zu, wie sie über die Felder lief, barfuß, unbewaffnet, unschuldig, hinein in den Wald. Zu ihrem Versteck.
Rasend vor Wut klatschte Zedd seine Hände gegen die kalte Metallplatte. Die massive Steintür schloß sich langsam mit einem Knirschen. Auf dem Weg zu der niedrigen Mauer mußte er über die Leichen der D'Haraposten steigen. Seine Finger legten sich auf den vertrauten, glatten Stein. Er beugte sich vor und blickte unten auf die schlafende Stadt.
Von dieser hohen Mauer an der Bergflanke aus betrachtet, sah die Stadt durchaus friedlich aus. Er war jedoch bereits durch die Straßen geschlichen und hatte überall die Truppen gesehen. Truppen, die um den Preis vieler Menschenleben hier waren, auf beiden Seiten.
Aber das war nicht das Schlimmste.
Darken Rahl mußte hier gewesen sein. Zedd trommelte mit der Faust auf den Stein. Darken Rahl muß es gewesen sein, der sie eingenommen hatte.
Das feine Netz aus Schutzschirmen hätte halten müssen, aber das hatte es nicht. Er war zu viele Jahre fort gewesen. Und ein Narr. »Nichts ist jemals einfach«, flüsterte der Zauberer.