6 Fremdes Terrain

Oh, schau nicht an den Goblin-Mann und kauf nicht seine Frucht,

wer weiß, wo ihre Wurzeln einst

die Nahrung sich gesucht?

Christina Rossetti, »Goblin-Markt«

»Ehrlich gesagt, entspricht diese Lokalität so gar nicht meiner Vorstellung von einem Freudenhaus«, wandte Jem sich an Will.

Die beiden Jungen standen in einer Nebenstraße der Whitechapel High Street, vor dem Eingang des Gebäudes, das Tessa als das Dunkle Haus bezeichnet hatte. Es wirkte schäbiger und trüber, als Will es in Erinnerung hatte — so als hätte jemand es mit einer zusätzlichen Lage Staub und Schmutz versehen.

»Was genau hattest du dir denn vorgestellt, James? Liebesdienerinnen, die dir vom Balkon aus zuwinken? Nackte Statuen in der Toreinfahrt?«

»Ich vermute, dass ich ein weniger trist wirkendes Etablissement erwartet habe«, sagte Jem sanft. Auch Will hatte bei seinem ersten Besuch des Dunklen Hauses etwas Ähnliches gedacht. Außen wie innen vermittelte das gesamte Gebäude den überwältigenden Eindruck, dass es nie als richtiges Zuhause gedient hatte. Die verriegelten Fenster wirkten schmutzig und die zugezogenen Vorhänge schmuddelig und fadenscheinig.

Will krempelte die Ärmel hoch. »Wahrscheinlich werden wir die Tür eintreten müssen ...«

»Oder auch nicht«, erwiderte Jem, griff nach dem Türknauf und drehte ihn.

Die Tür schwang auf und dahinter kam gähnende Dunkelheit zum Vorschein.

»Also, das nenne ich nun schlichtweg Faulheit«, kommentierte Will, zog einen Jagddolch aus dem Gürtel und trat vorsichtig ein, dicht gefolgt von Jem, der seinen Spazierstock mit dem Jadeknauf fest in der Hand hielt. In der Regel wechselten sie sich beim Betreten gefährlichen Geländes ab, obwohl Jem eigentlich lieber die Nachhut bildete — Will vergaß stets, sich umzuschauen.

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sperrte sie in der zwielichtigen Dunkelheit ein. Der Eingangsbereich sah fast noch genauso aus wie bei seinem ersten Besuch, überlegte Will — dieselbe hölzerne Treppe hinauf in die oberen Stockwerke, derselbe brüchige Marmorboden, dieselbe stauberfüllte Luft.

Jem hob die Hand, worauf sein Elbenlicht strahlend aufleuchtete und eine Gruppe schwarzer Käfer in die Flucht schlug. Hastig huschten sie über den Boden.

»Ein hübsches Plätzchen, nicht wahr?«, bemerkte Will spöttisch und verzog das Gesicht. »Hoffentlich haben die Bewohner noch etwas anderes hinterlassen als nur Dreck. Eine Nachsendeadresse, ein paar abgetrennte Gliedmaßen, eine Prostituierte oder zwei ...«

»In der Tat. Wenn wir Glück haben, können wir uns vielleicht doch noch eine Syphiliserkrankung einfangen.«

»Oder Dämonenpocken«, schlug Will heiter vor und rüttelte an der Tür unter der Treppe, die daraufhin aufschwang. Genau wie die Haustür war auch sie nicht verriegelt. »Uns bleiben immer noch Dämonenpocken.«

»Es gibt keine Dämonenpocken.«

»Oh du Kleingläubiger«, spottete Will und verschwand in der Dunkelheit unter der Treppe.

Gemeinsam durchkämmten die beiden Schattenjäger sämtliche Bereiche im Keller und Erdgeschoss, fanden aber nichts außer Unrat und Staub. Der Raum, in dem Tessa und Will gegen die Dunklen Schwestern gekämpft hatten, war vollkommen ausgeräumt worden und erst nach langem Suchen entdeckte Will einen Fleck an einer Wand, der nach verschmiertem Blut aussah. Aber nichts deutete darauf, woher dieses Blut stammte, und Jem wandte ein, es könne sich auch ebenso gut um einen Farbklecks handeln.

Schließlich stiegen die beiden die Treppe hinauf und stießen auf einen langen Gang mit zahlreichen Türen, der Will bekannt vorkam: Er war an jenem Abend durch diesen Flur gestürmt, mit Tessa im Schlepptau. Sofort betrat er das erste Zimmer auf der rechten Seite, in dem er Tessa gefunden hatte. Nichts erinnerte mehr an die ehemalige Bewohnerin — das verängstigte Mädchen mit den weit aufgerissenen Augen, das ihn mit einem Krug an der Hand verletzt hatte. Das Zimmer war leer, die Möbel zur Stadt der Stille abtransportiert, wo sie sorgfältig untersucht werden sollten. Vier dunkle Dellen im Boden deuteten die Stelle an, an der einst das Bett gestanden hatte. In den übrigen Räumen sah es auch nicht anders aus. Will versuchte gerade, das Fenster in einem der Zimmer zu öffnen, als er Jem hörte, der ihm aus dem letzten Raum auf der linken Seite des Ganges etwas zurief. Hastig lief Will zu seinem Freund und fand ihn in einem großen, quadratischen Zimmer, das Elbenlicht in der hoch erhobenen Hand. Und er war nicht allein: Ein einziges Möbelstück stand in der Raummitte — ein Polstersessel. Und in dem Sessel saß eine Frau. Sie war jung, vermutlich kaum älter als Jessamine, und trug ein schäbiges Kattunkleid. Ihre mattbraunen Haare waren im Nacken zu einem Knoten gesteckt, ihre Hände rau und gerötet und ihre Augen weit aufgerissen.

»Ach herrje«, murmelte Will, zu überrascht für einen wortgewandteren Kommentar. »Ist sie ...«

»Ja, sie ist tot«, bestätigte Jem.

»Bist du ganz sicher?« Will konnte den Blick einfach nicht vom Gesicht der jungen Frau abwenden. Sie war bleich, aber nicht leichenblass und die im Schoß gefalteten Hände wirkten fast lebendig und nicht wie von Totenstarre erfasst. Vorsichtig trat Will an das Mädchen heran und legte ihr eine Hand auf den Arm, der sich unter seinen Fingern kalt und steif anfühlte. »Nun ja, sie reagiert nicht auf meine Annäherungsversuche, daher muss sie tot sein«, bemerkte er munterer, als ihm eigentlich zumute war.

»Oder sie ist eine Frau mit Geschmack und Verstand.« Jem kniete sich vor den Sessel und schaute dem Mädchen ins Gesicht. Ihre blassblauen, hervorstehenden Augen starrten an ihm vorbei und wirkten vollkommen tot, wie aufgemalt. »Miss«, sagte Jem und griff nach ihrem Handgelenk, um ihren Puls zu überprüfen.

Im selben Moment bewegte sie sich, zuckte unter seiner Berührung zusammen und stieß ein tiefes, unmenschliches Stöhnen aus. Hastig richtete Jem sich auf. »Was in aller Welt ...«

Die Frau hob den Kopf und starrte weiterhin mit leerem Blick geradeaus, doch ihre Lippen bewegten sich mit einem knirschenden Geräusch. Plötzlich schrie sie laut »Hütet euch!«, was Will dazu veranlasste, erschrocken einen Schritt zurückzuweichen. Die Stimme der Frau klang wie ein knirschendes Getriebe, als sie fortfuhr: »Hütet euch, Nephilim! So wie ihr andere richtet, so werdet auch ihr gerichtet werden. Euer Engel kann euch nicht vor dem schützen, das weder Gott noch der Teufel schuf, ein Heer, das weder im Himmel noch in der Hölle erwuchs. Hütet euch vor der menschlichen Hand. Hütet euch!« Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme immer schriller und sie zuckte im Sessel hin und her wie eine Marionette, die von unsichtbaren Fäden dirigiert wurde.

»HÜTET EUCH ... HÜTETEUCHHÜTETEUCHHÜTETEUCH ...«

»Gütiger Gott«, murmelte Jem.

»HÜTET EUCH!«, kreischte die Frau ein letztes Mal, stürzte dann aus dem Sessel und blieb reglos auf dem Boden liegen, alle Gliedmaßen von sich gestreckt.

Mit offenem Mund starrte Will auf die leblose Gestalt. »Ist sie ...?«, setzte er an.

»Ja«, bestätigte Jem. »Ich denke, dieses Mal ist sie ziemlich tot.« Doch Will schüttelte den Kopf. »Tot? Nein, da bin ich anderer Ansicht, Jem.«

»Wieso? Was meinst du denn dann?«

Statt einer Antwort kniete Will sich neben die Frau, legte ihr zwei Finger auf die Wange und drehte ihren Kopf behutsam, bis er ihr Gesicht sehen konnte. Ihr Mund war weit aufgerissen, das rechte Auge starrte an die Decke. Aber das linke Auge baumelte etwa auf Höhe ihres Wangenknochens — es war mit einem spiralförmigen Kupferdraht in der Augenhöhle befestigt und hatte sich aus der Halterung gelöst.

»Sie lebt nicht mehr, ist aber auch nicht tot«, sagte er. »Ich glaube, sie ist so etwas wie ... wie eine von Henrys technischen Spielereien.« Vorsichtig berührte er ihr Gesicht. »Wer kann ihr so etwas angetan haben?«

»Ich kann nur Vermutungen anstellen. Aber sie hat uns Nephilim genannt. Sie wusste also, wer wir sind.«

»Oder jemand anderes wusste es«, erwiderte Will.

»Ich vermute einmal, dass sie gar nichts weiß. Meines Erachtens haben wir es hier mit einer Maschine, einer Art Uhrwerk zu tun — und ihre Zeit ist abgelaufen.«

Langsam richtete er sich auf. »Nichtsdestoweniger sollten wir sie ins Institut schaffen; ich könnte mir vorstellen, dass Henry sie gern gründlich inspizieren würde.«

Jem schwieg, den Blick auf die reglos daliegende Frau geheftet. Ihre Füße, die unter dem Rocksaum herausragten, waren nackt und schmutzig; ihr Mund stand weit auf, sodass man das glänzende Metall in ihrer Kehle erkennen konnte; und ihr linkes Auge baumelte unheimlich an seinem Kupferdraht, während in der Ferne eine Kirchenglocke zwölf Uhr Mittag schlug.

Als sie den Hydepark betraten, spürte Tessa, wie die Anspannung allmählich von ihr abfiel. Seit ihrer Ankunft in London hatte sie kein ruhiges grünes Fleckchen mehr zu sehen bekommen und fast widerstrebend musste sie sich eingestehen, dass sie der Anblick der Bäume und Wiesen sehr erfreute, obwohl es ihrer Meinung nach keine Grünanlage der Welt mit dem Central Park in New York aufnehmen konnte. Im Hydepark war die Luft weniger diesig als in den anderen Teilen der Stadt und der Himmel über ihrem Kopf besaß eine Farbe, die man fast schon als Blau bezeichnen konnte.

Thomas blieb bei der Kutsche zurück, als die beiden Mädchen zu ihrem Spaziergang aufbrachen. Während Tessa neben Jessamine einherschlenderte, plapperte diese ununterbrochen und erklärte ihr, dass die breite, sandbedeckte Allee, in die sie eingebogen waren, zwar unverständlicherweise Rotten Row hieß, aber trotz ihres nicht gerade vielversprechenden Namens der Ort zum Sehen und Gesehenwerden sei. In der Mitte der Allee paradierten exquisit gekleidete Männer und Frauen auf prächtigen Pferden. Ihr vergnügtes Lachen erfüllte die sommerliche Brise, die die Schleier der Damenhüte flattern ließ. Entlang des Wegs flanierten zahlreiche Spaziergänger und unter vielen Bäumen standen Stühle und Bänke, auf denen Damen jeden Alters mit wirbelnden bunten Sonnenschirmen weilten und an ihrem Pfefferminzwasser nippten. Neben ihnen saßen schnurrbärtige Herren und schwängerten die Luft mit Tabakrauch, der sich mit dem Geruch von frisch gemähtem Gras und Pferdedung mischte.

Obwohl keiner der Passanten stehen blieb, um mit ihnen ein paar Worte zu wechseln, schien Jessamine jedermann zu kennen — sie wusste zu berichten, wer demnächst heiratete, welche Damen auf der Suche nach einem Ehemann waren, welche Herren eine Affäre hatten, wer die betreffenden Damen waren und wer noch alles davon wusste. Das Ganze erschien Tessa ziemlich verwirrend und sie war froh, als sie schließlich die breite Allee verließen und einen schmaleren Weg einschlugen, der in den Park hineinführte.

Jessamine hakte sich bei Tessa unter und drückte freundschaftlich ihre Hand. »Sie ahnen ja gar nicht, welche Erleichterung es ist, endlich die Gesellschaft einer anderen Frau im Haus genießen zu können«, verkündete sie heiter. »Ich will damit natürlich nicht sagen, dass Charlotte nicht in Ordnung wäre, aber sie ist langweilig und außerdem verheiratet.«

»Was ist mit Sophie?«

Jessamine schnaubte. »Sophie ist ein Dienstmädchen.«

»Ich kenne ein paar Damen, die einen recht freundschaftlichen Umgang mit ihren Zofen pflegen«, protestierte Tessa. Genau genommen entsprach dies nicht ganz der Wahrheit: Sie hatte von solchen Frauen zwar gelesen, aber keine persönlich kennengelernt. Trotzdem: Wenn man nach den Romanen ging, die sie verschlungen hatte, dann bestand der Daseinszweck einer Zofe darin, ihrer Ladyschaft zuzuhören, während diese ihr Herz ausschüttete und über ihr tragisches Liebesleben klagte. Und gelegentlich musste die Zofe in die Kleider ihrer Dienstherrin schlüpfen und vorgeben, sie zu sein, damit diese nicht in die Hände eines Schurken fiel. Allerdings konnte Tessa sich auch nicht vorstellen, dass Sophie irgendetwas Derartiges für Jessamine auf sich nehmen würde.

»Sie haben doch gesehen, wie ihr Gesicht aussieht. Ihre verunstaltete Wange hat sie verbittert werden lassen. Eine Zofe sollte hübsch sein und Französisch sprechen, aber Sophie gelingt weder das eine noch das andere. Natürlich habe ich Charlotte diesbezüglich in Kenntnis gesetzt, als sie das Mädchen ins Haus holte. Aber Charlotte wollte nicht auf mich hören. Wie üblich.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso«, erwiderte Tessa. Inzwischen hatten sie einen noch schmaleren Pfad betreten, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand. Durch die Äste erkannte man das Glitzern von Wasser und die Zweige über ihren Köpfen bildeten ein dichtes Blätterdach, das das Sonnenlicht filterte.

»Genau — ich verstehe es auch nicht!« Jessamine hob ihr Gesicht und ließ die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die Blätter drangen, auf ihrer Haut tanzen. »Charlotte will auf niemanden hören. Der arme Henry steht auch völlig unter ihrem Pantoffel. Ich weiß wirklich nicht, wieso er sie überhaupt geheiratet hat.«

»Vielleicht weil er sie liebt?«

Jessamine schnaubte verächtlich. »Das glaubt doch kein Mensch! Henry wollte sich einen Zugang zum Institut verschaffen, damit er im Keller seine lächerlichen Experimente durchführen kann und nicht zu kämpfen braucht. Ich glaube zwar nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hat, Charlotte zur Frau zu nehmen — meines Wissens gab es keine andere, die er hätte heiraten wollen —, aber wenn eine andere Person das Institut geleitet hätte, dann hätte er eben diese geehelicht.« Sie rümpfte die Nase. »Und dann sind da die beiden Jungen, Will und Jem. Jem ist ja ganz nett, aber Sie wissen ja, wie Ausländer so sind. Nicht wirklich vertrauenswürdig und im Grunde selbstsüchtig und träge. Ständig hält er sich in seinem Zimmer auf, angeblich unpässlich und nicht willens, irgendetwas zur Arbeit des Instituts beizutragen«, fuhr Jessamine unbekümmert fort, wobei sie die Tatsache geflissentlich ignorierte, dass Jem und Will in diesem Moment das Dunkle Haus durchsuchten, während sie selbst mit Tessa durch den Hydepark flanierte. »Und dann erst Will. Es sieht so aus, als sei er von Wilden aufgezogen worden. Er bringt nicht den geringsten Respekt auf, für nichts und niemanden, und hat nicht den blassesten Schimmer, wie ein echter Gentleman sich verhalten sollte. Ich vermute, es liegt daran, dass er Waliser ist.«

Tessa starrte sie verblüfft an. Waliser? Ist das etwas Schlechtes?, wollte sie gerade hinzufügen, doch Jessamine, die glaubte, Tessa würde Wills Herkunft infrage stellen, fuhr bereits mit großem Genuss fort:

»Aber ja. Bei seiner Fülle pechschwarzer Haare besteht daran nicht der geringste Zweifel. Seine Mutter war eine Waliserin. Sein Vater hat sich in sie verliebt und das war’s dann. Er hat die Reihen der Nephilim verlassen. Vielleicht hat sie ihn ja verhext.« Jessamine lachte. »Sie wissen ja, dass es in Wales alle möglichen Arten von Magie und Seltsamkeiten gibt.«

Doch Tessa hatte noch nie etwas Derartiges gehört.

»Wissen Sie, was mit Wills Eltern passiert ist? Sind sie tot?«, fragte sie stattdessen.

»Ich gehe davon aus, dass sie tot sein müssen, denn sonst hätten sie doch gewiss nach ihm gesucht, oder nicht?« Jessamine runzelte die Stirn. »Aber genug davon. Ich habe keine Lust mehr, mich über das Institut zu unterhalten.« Sie wirbelte zu Tessa herum. »Sicherlich fragen Sie sich, warum ich so nett zu Ihnen bin.«

»Äh ...« Tessa hatte sich in der Tat gewundert. In Romanen wurden Mädchen wie sie — Mädchen, deren Familien einst vermögend gewesen, dann aber in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren — häufig von wohlwollenden, begüterten Gönnern aufgenommen und mit neuer Kleidung und einer guten Erziehung versehen. (Nicht dass an ihrer Erziehung irgendetwas auszusetzen wäre, überlegte Tessa. Tante Harriet war so gelehrt gewesen wie jede Gouvernante.)

Aber Jessamine besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit den frommen älteren Damen dieser Romane, deren Großzügigkeit vollkommen selbstlos war. »Jessamine, haben Sie schon einmal Der Laternenanzünder gelesen?«

»Ganz gewiss nicht. Mädchen und Frauen sollten keine Romane lesen«, entgegnete Jessamine in einem Ton, als zitiere sie jemand anderen. »Nun, wie dem auch sei: Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten, Miss Gray.«

»Tessa«, berichtigte Tessa automatisch.

»Natürlich, denn wir sind ja bereits die besten Freundinnen und werden bald noch enger befreundet sein«, flötete Jessamine.

Verblüfft musterte Tessa ihr Gegenüber. »Ich verstehe nicht ganz ...«

»Zweifellos hat der abscheuliche Will dir erzählt, dass meine Eltern, mein geliebter Papa und meine liebe Mama, tot sind. Aber sie haben mir eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes vermacht. Geld, das treuhänderisch verwaltet wird, und zwar bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Das Ganze ist also nur noch eine Frage weniger Monate. Aber natürlich erkennst du das Problem.«

Tessa, die das Problem nicht erkannte, fragte vage:

»Tu ich das?«

»Ich bin keine Schattenjägerin, Tessa. Ich verabscheue alles an den Nephilim und habe nie eine von ihnen sein wollen. Daher ist es mein innigster Wunsch, das Institut zu verlassen und nie wieder mit einem seiner Bewohner auch nur ein Wort zu wechseln.«

»Aber ich dachte, deine Eltern wären Schattenjäger gewesen ...«

»Man muss kein Schattenjäger sein, wenn man es nicht will«, schnappte Jessamine. »Und meine Eltern hegten diesen Wunsch nicht. Sie hatten die Gemeinschaft der Nephilim bereits verlassen, als sie noch jung waren. Mama hat nie einen Zweifel daran aufkommen lassen und dafür gesorgt, dass keine Schattenjäger in meine Nähe kamen. Sie meinte, sie würde nicht wollen, dass ihr kleines Mädchen ein solches Leben führen müsse. Stattdessen wünschte sie sich andere Dinge für mich: dass ich in die Gesellschaft eingeführt werden würde, der Königin vorgestellt, einen guten Ehemann finden und viele zauberhafte kleine Babys bekommen würde. Sie hatte sich ein ganz normales Leben für mich gewünscht!«, fügte Jessamine mit heftiger Begierde in der Stimme hinzu. »In dieser Stadt gibt es eine Fülle anderer Mädchen, Tessa, andere Mädchen meines Alters, die nicht annähernd so hübsch sind wie ich, die aber in diesem Moment tanzen und flirten und lachen und sich einen Ehemann angeln. Und sie erhalten Französischunterricht, während ich diese schrecklichen Dämonensprachen lernen muss. Es ist einfach nicht fair.«

»Aber du kannst doch immer noch heiraten«, warf Tessa verwirrt ein. »Jeder Mann wäre nur zu ...«

»Ich könnte einen Schattenjäger heiraten«, unterbrach Jessamine sie verächtlich. »Und ein Leben führen, wie Charlotte es führt — gezwungen, sich als Mann zu kleiden und wie ein Mann zu kämpfen. Einfach abscheulich. Frauen sind nicht dazu geschaffen, sich so zu verhalten. Wir sind dazu geschaffen, liebenswürdig über unser entzückendes Heim zu wachen. Es auf eine Weise zu dekorieren, die unserem Ehemann gefällt. Ihn mit unserer sanften und engelsgleichen Anwesenheit zu erfreuen und zu erquicken.«

Jessamine klang weder sanft noch engelsgleich, doch Tessa enthielt sich jeden Kommentars. »Ich verstehe nicht ganz, was das mit mir ...«, setzte sie an. Jessamine packte Tessa fest am Arm. »Begreifst du es denn immer noch nicht? Ich kann das Institut verlassen, aber ich kann nicht allein leben. Das wäre nicht schicklich. Wenn ich eine Witwe wäre, würde man es vielleicht noch durchgehen lassen, aber ich bin nur eine junge Frau. So etwas gehört sich nicht. Wenn ich jedoch eine Gefährtin hätte — eine Schwester ...«

»Du willst, dass ich mich als deine Schwester ausgebe?«, quietschte Tessa.

»Warum nicht?«, erwiderte Jessamine, als wäre dies der vernünftigste Vorschlag der Welt. »Oder du könntest meine Cousine aus Amerika sein. Ja, das würde funktionieren. Schließlich ist es ja nicht so, als hättest du viele Alternativen und könntest dir aussuchen, zu wem du ziehst«, fügte sie nun pragmatischer hinzu. »Ich bin mir ziemlich sicher, wir würden uns innerhalb kürzester Zeit einen Ehemann angeln.«

Tessa, die allmählich Kopfschmerzen bekam, wünschte, Jessamine würde endlich aufhören, vom »Angeln« eines Ehemanns zu sprechen — so als würde man einen Fisch fangen.

»Ich könnte dich allen angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft vorstellen«, fuhr Jessamine fort. »Wir würden Bälle geben und Abendgesellschaften und ...«

Sie verstummte und sah sich verwirrt um. »Wo ... wo sind wir?«

Tessa musterte ihre Umgebung. Der Pfad war noch schmaler und dämmriger geworden und führte zwischen hohen, dicht geschlossenen Bäumen und Hecken hindurch. Von ihrem Standort aus waren weder der Himmel zu sehen noch irgendwelche Stimmen zu hören.

Jessamine blieb abrupt stehen und auf ihrem Gesicht zeichnete sich plötzlich Furcht ab. »Wir sind vom Weg abgekommen«, wisperte sie.

»Nun ja, wir können doch einfach zurückgehen, oder nicht?« Tessa schaute sich um und suchte nach einer Lücke in den Bäumen, einem zarten Sonnenstrahl.

»Ich glaube, wir sind von dort gekommen ...«

Plötzlich umklammerte Jessamine Tessas Arm. Auf dem Pfad vor ihnen war wie aus dem Nichts irgendetwas, nein, irgendjemand aufgetaucht:

Eine dunkle Gestalt, die so klein war, dass Tessa sie einen Moment lang für ein Kind hielt. Doch als die Gestalt näher kam, erkannte sie, dass es sich um einen Mann handelte — ein buckliger, hutzliger Mann, der wie ein Hausierer in Lumpen gekleidet war und seinen abgewetzten Hut weit aus der Stirn geschoben hatte. Seine runzlige Haut schimmerte weiß wie ein alter, verschimmelter Apfel und in seinen kleinen Augen glitzerten schwarze Pupillen.

Im nächsten Moment breitete sich ein boshaftes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Hübsche Mädchen«, schnurrte er und bleckte seine messerscharfen Zähne. Tessa warf Jessamine einen Blick zu, die jedoch vor Angst vollkommen steif dastand, die Lippen zu einer dünnen weißen Linie zusammengepresst. »Wir sollten besser gehen«, flüsterte Tessa ihr zu und zog Jessamine am Arm mit sich. Langsam und wie in Trance ließ die Schattenjägerin sich umdrehen, bis die Mädchen in die Richtung schauten, aus der sie gekommen waren.

Doch der Mann stand bereits wieder vor ihnen und versperrte ihnen den Rückweg in den Park, den Tessa in großer Entfernung zu erspähen glaubte — eine Art Lichtung im Dunkel der Bäume, die jedoch erschreckend weit entfernt erschien.

»Ihr seid vom Weg abgekommen«, säuselte der Fremde in einem seltsamen, rhythmischen Singsang.

»Hübsche Mädchen, vom Weg abgekommen. Und ihr wisst ja, was mit solchen Mädchen wie euch geschieht«, fuhr er fort und trat einen Schritt auf sie zu. Noch immer starr vor Angst, umklammerte Jessamine ihren Sonnenschirm wie eine Rettungsleine.

»Kobold«, stieß sie hervor, »oder Gnom oder was immer du bist — wir haben nichts gegen das Lichte Volk. Aber wenn du es wagst, uns anzurühren ...«

»Ihr seid vom Weg abgekommen«, sang der kleine Mann und kam näher. In dem Moment konnte Tessa erkennen, dass es sich bei seinen glänzenden Schuhen gar nicht um Schuhwerk, sondern um schimmernde Hufe handelte. »Närrische Nephilim ... wie töricht, diesen Ort ohne Schutzrunen zu betreten! Dieses Land ist älter als jedes Abkommen — dies hier ist fremdes Terrain. Falls dein Engelsblut auf diese Erde tropft, werden an derselben Stelle goldene Ranken sprießen, mit Diamanten an den Spitzen. Und genau das fordere ich ein. Ich fordere dein Blut.«

Tessa zupfte Jessamine am Ärmel. »Jessamine, wir sollten besser ...«

»Tessa, sei still.« Jessamine riss ihren Arm los und zeigte mit der Spitze ihres Sonnenschirms auf den Kobold. »Das willst du nicht. Das willst du ganz gewiss nicht ...«

Doch in dem Moment machte der Gnom einen Satz:

Er sprang auf sie zu und riss den Mund so weit auf, dass die Haut aufplatzte. Darunter kam ein Gesicht zum Vorschein — mit Reißzähnen und einem teuflischen Ausdruck in den Augen.

Entsetzt wich Tessa zurück und taumelte rückwärts, wobei ihr Schuh sich in einer Baumwurzel verfing und sie das Gleichgewicht verlor. Als sie auf dem Boden aufschlug, sah sie, wie Jessamine den Sonnenschirm mit einer kurzen Drehung ihres Handgelenks betätigte und dieser sich ruckartig wie eine Blüte öffnete.

Einen Sekundenbruchteil später gab der Gnom einen spitzen Schrei von sich. Er kreischte, stürzte rücklings zu Boden, wälzte sich hin und her und schrie wie am Spieß. Blut schoss aus einer Wunde in seiner Wange und verfärbte seine zerlumpte graue Jacke.

»Ich hab dich gewarnt«, stieß Jessamine hervor. Ihre Atmung ging schnell und ihre Brust hob und senkte sich, als wäre sie durch den Park gerannt. »Ich hab dir gesagt, du sollst uns in Ruhe lassen, du dreckige kleine Kreatur ...« Erneut stieß sie ihren Sonnenschirm in Richtung des Kobolds und dieses Mal sah Tessa, dass die Kanten des Schirms messerscharf waren und in einem seltsamen Goldweiß aufblitzten. Hellrote Bluttropfen spritzten über das geblümte Schirmgewebe. Der Gnom heulte und riss schützend die Arme über den Kopf. In diesem Moment wirkte er wie ein kleiner, alter, buckliger Mann, und obwohl Tessa wusste, dass es sich nur um eine Illusion handelte, verspürte sie einen Anflug von Mitleid. »Gnade, Herrin, Gnade ...«, winselte der Gnom.

»Gnade?«, fauchte Jessamine. »Du wolltest Blumen aus meinem Blut wachsen lassen! Du dreckiger Mistkerl! Du widerwärtige Kreatur!« Dann holte sie erneut mit ihrem Schirm aus und stach zu, wieder und wieder, während der Gnom ohrenbetäubend kreischte und sich wand.

Tessa setzte sich auf, schüttelte ein paar Blätter aus den Haaren und rappelte sich auf.

Jessamine schrie auf den Kobold ein, der Sonnenschirm wirbelte durch die Luft und die Kreatur auf dem Boden zuckte und zappelte bei jedem Schlag.

»Ich hasse dich!«, kreischte Jessamine mit überschlagender Stimme. »Ich hasse dich und alle anderen deiner Art - Schattenwesen, widerwärtig, widerwärtig ...«

»Jessamine!« Tessa lief zu dem anderen Mädchen und umklammerte ihre Arme. Als das Mädchen sich einen Moment lang wehrte, erkannte Tessa, dass es ihr nicht gelingen würde, sie zurückzuhalten. Die Schattenjägerin war stark; ihre kräftigen Muskeln zuckten unter der weichen Haut wie eine Peitsche. Doch plötzlich erschlaffte Jessamine in Tessas Armen und sackte gegen sie; ihr Atem ging stockend, während ihr der Schirm langsam aus der Hand glitt.

»Nein«, wimmerte sie. »Nein, das habe ich nicht gewollt. Ich wollte doch nicht ... Nein ...«

Tessa schaute an ihr vorbei auf den Boden. Der bucklige Körper des Gnoms lag reglos vor ihren Füßen. Blut strömte aus seinen klaffenden Wunden, ergoss sich wie dunkle Ranken über die Erde. Während Tessa die schluchzende Jessamine in den Armen hielt, konnte sie nicht umhin, sich zu fragen, was an dieser Stelle wohl wachsen würde.

Wie zu erwarten, erholte Charlotte sich als Erste von ihrer Überraschung. »Mr Mortmain, ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen ...«

»Natürlich wissen Sie das«, erwiderte er, während sich ein schelmisches Lächeln auf sein hageres Gesicht stahl. »Schattenjäger. Nephilim. So nennen Sie sich doch, oder nicht? Die Sprösslinge von Menschen und Engeln. Seltsam, wenn man bedenkt, dass die Nephilim in der Bibel scheußliche Monstren waren, finden Sie nicht auch?«

»Das entspricht nicht notwendigerweise der Wahrheit«, wandte Henry ein, unfähig, seinen inneren Schulmeister im Zaum zu halten. »Es gibt da eine strittige Frage zur Übersetzung aus dem aramäischen Urtext ...«

»Henry«, sagte Charlotte warnend.

»Fangen Sie die Seelen der von Ihnen getöteten Dämonen wirklich in einem riesigen Kristall ein?«, fuhr Mortmain mit großen Augen fort. »Wie faszinierend!«

»Meinen Sie etwa die Pyxis?«, fragte Henry verblüfft. »Das ist kein Kristall, sondern eine Art Holzbehältnis. Und es handelt sich auch nicht um Seelen im eigentlichen Sinne — Dämonen besitzen nämlich keine Seele, sondern eine Form der Energie ...«

»Halt den Mund, Henry«, schnappte Charlotte.

»Bitte, Mrs Branwell«, wandte Mortmain sich gut gelaunt an die Schattenjägerin, »machen Sie sich doch deswegen keine Sorgen. Ich weiß ohnehin schon alles über Sie und Ihresgleichen. Sie sind Charlotte Branwell, nicht wahr? Und dies ist Ihr Gatte, Henry Branwell. Sie führen das Londoner Schattenjäger-Institut, das sich auf einem Gelände befindet, auf dem früher einmal die Kirche ›All-Hallows-the-Less‹ stand. Haben Sie ernsthaft geglaubt, ich wüsste nicht, wer Sie sind? Zumal Sie versucht haben, meinen Diener mit Zauberglanz zu verwirren? Er kann es nicht ausstehen, wenn man ihn bezaubert, müssen Sie wissen. Davon bekommt er Ausschlag.«

Charlotte kniff die Augen zusammen. »Und woher haben Sie all diese Informationen?«

Begierig beugte Mortmain sich vor, verschränkte die Hände und stützte das Kinn darauf. »Ich bin ein eifriger Student der okkulten Wissenschaften. Seit meiner Zeit in Indien, wo ich als junger Mann zum ersten Mal damit in Berührung kam, hat mich das Reich der Schatten fasziniert. Und einem Mann in meiner Position, mit genügend finanziellen Mitteln und mehr als genügend Zeit, stehen viele Türen offen — von frei verkäuflichen Büchern bis hin zu gezielt erworbenen Informationen. Ihr Wissen ist keineswegs so geheim, wie Sie vielleicht denken.«

»Das mag sein«, erwiderte Henry, der zutiefst unglücklich wirkte, »aber Sie müssen wissen, das Ganze ist sehr gefährlich ... das Töten von Dämonen. So etwas lässt sich nicht mit dem Niederstrecken von Tigern vergleichen. Dämonen können ebenso gut Jagd auf Sie machen, wie Sie ihnen aufzulauern versuchen.«

Mortmain lachte in sich hinein. »Ich habe keineswegs die Absicht, loszustürmen und mit bloßen Händen gegen Dämonen zu kämpfen. Natürlich ist diese Sorte von Informationen in den Händen von Leichtsinnigen und Hitzköpfen gefährlich, aber ich darf mich wohl eines wachen und verantwortungsvollen Verstandes rühmen. Ich strebe lediglich eine Erweiterung meines Wissens an, mehr aber auch nicht.« Er warf einen Blick in die Runde. »Ich muss schon sagen: Noch nie zuvor hatte ich die Ehre, mich mit den Nephilim zu unterhalten. Natürlich werden Sie in der einschlägigen Literatur häufig erwähnt, aber Sie werden mir sicherlich zustimmen, wenn ich sage, dass zwischen der Lektüre und dem tatsächlichen Erleben eines Phänomens ein gewaltiger Unterschied besteht. Es gibt so vieles, das Sie mich lehren könnten ...«

»Das reicht jetzt«, sagte Charlotte in eisigem Ton. Verwirrt schaute Mortmain sie an. »Wie bitte?«

»Da Sie ja offensichtlich so gut über die Nephilim informiert sind, Mr Mortmain, darf ich Ihnen wohl die Frage stellen, ob Sie über unseren Auftrag Bescheid wissen?«

Ein selbstgefälliger Ausdruck breitete sich auf Mortmains Gesicht aus. »Ihr Auftrag besteht darin, Dämonen zu töten. Und Menschen zu schützen — Irdische, wie Sie uns nennen, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ja«, bestätigte Charlotte. »Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir damit, Menschen vor ihren eigenen törichten Taten zu schützen. Und wie ich sehe, bilden auch Sie diesbezüglich keine Ausnahme.«

Bei diesen Worten zog Mortmain eine erstaunte Miene und sein Blick wanderte zu Henry. Charlotte kannte diesen Blick — ein Blick, der nur zwischen Männern getauscht wurde, ein Blick, der besagte: Sind Sie nicht in der Lage, Ihre Frau im Zaum zu halten, Sir? Und ein Blick, von dem Charlotte wusste, dass er Henry gegenüber ziemlich vergeudet war. Denn dieser schenkte dem Gespräch nur wenig Beachtung und war eindeutig stärker daran interessiert, die auf dem Kopf stehenden Entwurfspläne auf Mortmains Schreibtisch zu entziffern.

»Sie glauben, das okkulte Wissen, das Sie sich angeeignet haben, mache Sie besonders gescheit«, sagte Charlotte. »Aber ich habe schon mehr als genug tote Irdische gesehen, Mr Mortmain. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir schon zu den traurigen Überresten eines Menschen gerufen wurden, der sich in der Kunst der Magie für sehr bewandert gehalten hatte. Als junges Mädchen war ich einmal bei einem Einsatz im Haus eines Advokaten zugegen: Er hatte irgendeinem lächerlichen Zirkel von Männern angehört, die sich selbst als Magier bezeichneten und ihre Zeit damit verbrachten, sich in alberne Roben zu kleiden, irgendwelche Sprechgesänge zu psalmodieren und Pentagramme auf den Boden zu malen. Und eines Tages war er zu dem Schluss gekommen, seine Fähigkeiten reichten aus, um einen Dämon heraufzubeschwören.«

»Und, ist es ihm gelungen?«

»In der Tat«, bestätigte Charlotte. »Er beschwor den Dämon Marax herauf. Und dieser hatte nichts Besseres zu tun, als den Advokaten niederzumetzeln ... ihn und seine gesamte Familie«, erzählte sie nüchtern. »Die meisten fanden wir im Kutschhaus, ohne Kopf und an den Füßen aufgehängt. Nur der jüngste Sohn steckte auf einem Spieß und röstete in der Küche über dem offenen Herd. Es ist uns nicht gelungen, Marax aufzuspüren.«

Mortmain war bleich geworden, bewahrte aber Haltung. »Natürlich gibt es immer Menschen, die ihre Fähigkeiten überschätzen«, räumte er ein. »Aber ich ...«

»Aber Sie wären niemals so töricht«, unterbrach Charlotte ihn. »Nur mit dem Unterschied, dass Sie sich so verhalten — und zwar genau in diesem Augenblick. Sie sehen Henry und mich und Sie fürchten sich kein bisschen vor uns. Im Gegenteil: Sie sind amüsiert! Ein Märchen, das Wirklichkeit geworden ist!« Im nächsten Moment schlug Charlotte mit der flachen Hand so hart auf Mortmains Tischplatte, dass dieser erschrocken zusammenzuckte. »Aber Sie vergessen dabei eines: Hinter uns steht die geballte Macht des Rates«, fuhr sie eisig fort. »Unser Auftrag ist der Schutz von Menschen. Menschen wie Nathaniel Gray. Mr Gray ist spurlos verschwunden und hinter seinem Verschwinden steckt irgendeine okkulte Geschichte. Und nun treffen wir hier auf seinen ehemaligen Arbeitgeber, der bis über beide Ohren in okkulte Machenschaften verstrickt ist. Da drängt sich doch der Eindruck auf, dass diese beiden Tatsachen in gewisser Weise zusammenhängen, finden Sie nicht auch?«

»Ich ... äh ... Mr ... Mr Gray ist verschwunden?«, stammelte Mortmain.

»In der Tat. Seine Schwester forscht nach seinem Verbleib und hat sich Hilfe suchend an uns gewandt. Von zwei Hexen erfuhr sie, dass er in großer Gefahr schwebt. Während Sie sich hier prächtig amüsieren, könnte Nathaniel Gray in diesem Moment im Sterben liegen. Und glauben Sie mir: Der Rat ist denjenigen, die sich ihm bei der Erfüllung seines Auftrags in den Weg stellen, nicht gerade wohlgesinnt.«

Mortmain fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, das plötzlich sehr grau wirkte. »Natürlich werde ich all Ihre Fragen beantworten«, beeilte er sich zu versichern.

»Ausgezeichnet.« Charlottes Herz schlug wie wild, aber ihrer Stimme war keinerlei Anspannung anzumerken.

»Ich habe seinen Vater gekannt. Nathaniel Grays Vater. Er war bei mir angestellt ... vor etwa zwanzig Jahren, als ich noch ausschließlich im Reedereigeschäft tätig war. Damals hatte ich Niederlassungen in Hongkong, Shanghai, Tianjin ...« Er verstummte, als Charlotte ungeduldig mit den Fingern auf der Schreibtischplatte trommelte. »Richard Gray hat hier in London für mich gearbeitet. Er war mein Bürovorsteher, ein freundlicher und kluger Mann. Ich habe es sehr bedauert, als er kündigte, um mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern. Und als Nathaniel mir schrieb und erklärte, wer er sei, habe ich ihm sofort eine Stelle angeboten.«

»Mr Mortmain.« Charlottes Stimme klang stahlhart.

»Das ist hier nicht von Belang ...«

»Oh doch, das ist es sehr wohl«, beharrte der kleine Mann. »Sie müssen wissen, dass meine Kenntnisse des Okkulten mir auch in geschäftlichen Angelegenheiten immer nützlich gewesen sind. Vor ein paar Jahren ging beispielsweise ein renommiertes Bankhaus in der Lombard Street bankrott und riss Dutzende großer Unternehmen mit sich in den Ruin. Doch meine Bekanntschaft mit einem Hexenmeister half mir dabei, diese Katastrophe für mich abzuwenden: Ich war in der Lage, meine Geldmittel rechtzeitig abzuziehen, bevor die Bank zusammenbrach, und somit mein Geschäft zu retten. Allerdings weckte dies auch Richards Misstrauen. Er muss wohl Nachforschungen angestellt haben, denn irgendwann konfrontierte er mich mit seinem Wissen über den Pandemonium Club.«

»Dann sind Sie ein Mitglied des Clubs«, murmelte Charlotte. »Natürlich.«

»Ich bot Richard an, dem Club ebenfalls beizutreten, nahm ihn sogar ein- oder zweimal zu einer Zusammenkunft mit, doch er war nicht daran interessiert. Kurz darauf brachte er seine Familie nach Amerika.«

Mortmain spreizte die Hände. »Der Pandemonium Club ist nichts für jedermann. Als weit gereister Mann habe ich Geschichten von ähnlichen Organisationen in anderen Großstädten gehört — Gruppen von Männern, die von der Verborgenen Welt Kenntnis haben und ihr Wissen und den damit verbundenen Nutzen mit anderen teilen wollen. Allerdings zahlt man für die Mitgliedschaft einen hohen Preis: absolute Verschwiegenheit.«

»Der wahre Preis ist wesentlich höher«, bemerkte Charlotte kühl.

»Der Club ist keine verbrecherische Organisation«, warf Mortmain ein und klang dabei fast gekränkt. »Im Laufe der Jahre wurden großartige Fortschritte erzielt, viele fantastische Errungenschaften erlangt. Ich habe beispielsweise erlebt, wie ein Hexenmeister einen Silberring erschuf, der seinen Träger sofort an einen anderen Ort brachte, sobald er ihn drehte. Oder eine Art Portal, das den Nutzer an jeden gewünschten Ort der Welt transportierte. Ich habe gesehen, wie sich Männer vom Totenbett erhoben ...«

»Ich bin über die Magie und ihre Möglichkeiten durchaus im Bilde, Mr Mortmain.« Charlotte schaute kurz zu Henry, der eine an der Wand befestigte Entwurfszeichnung für irgendein mechanisches Gerät studierte. »Mich beschäftigt nur eine Frage: Die beiden Hexen, die Mr Gray offensichtlich entführt haben, stehen auf irgendeine Weise mit dem Pandemonium Club in Verbindung. Bisher hieß es immer, es handele sich um einen Klub für Irdische. Warum sollten nun Schattenweltler zu seinen Mitgliedern zählen?«

Mortmain runzelte die Stirn. »Schattenweltler? Sie meinen diese übernatürlichen Wesen, Hexenmeister und Lykanthropen und dergleichen? Es gibt verschiedene Formen der Mitgliedschaft im Pandemonium Club, Mrs Branwell. Ein Irdischer wie ich kann durchaus Mitglied werden, doch der Vorstand — also jene, die den Club führen — besteht ausschließlich aus Schattenweltlern. Hexenwesen, Werwölfe und Vampire. Das Lichte Volk meidet uns allerdings. Für den Geschmack der Feenwesen hat unser Club zu viele Wirtschaftskapitäne in seinen Reihen: Eisenbahnbarone, Fabrikbesitzer und dergleichen. Und so etwas mögen sie nicht.« Mortmain schüttelte den Kopf.

»Reizende Kreaturen, diese Feenwesen, aber ich fürchte ernsthaft, dass der Fortschritt eines Tages ihr Untergang sein wird.«

Charlotte interessierte sich nicht für Mortmains Ansichten über das Lichte Volk und überlegte stattdessen fieberhaft. »Lassen Sie mich raten. Sie haben Nathaniel Gray in den Club eingeführt, genau wie Sie seinen Vater damals mitgenommen haben.«

Mortmain, der gerade wieder zu seinem alten Selbstvertrauen zurückgefunden hatte, ließ erneut die Schultern hängen. »Nathaniel war kaum ein paar Tage in meinem Londoner Büro tätig, als er mich auch schon damit konfrontierte. Offenbar hatte er durch seinen Vater von dem Club gehört und verlangte nun, mehr darüber zu erfahren. Ich konnte ihm seinen brennenden Wunsch nicht abschlagen und nahm ihn zu einer der Zusammenkünfte mit, in der Annahme, dass die Angelegenheit damit erledigt sei. Doch das war nicht der Fall.« Erneut schüttelte Mortmain den Kopf. »Nathaniel fühlte sich im Club so wohl wie ein Fisch im Wasser. Wenige Wochen nach jenem ersten Treffen zog er aus seiner Pension aus und sandte mir ein Schreiben, in dem er seine Stelle kündigte und mir mitteilte, dass er in Zukunft für ein anderes Clubmitglied arbeiten werde. Für jemanden, der offenbar bereit war, ihm einen solch hohen Lohn zu zahlen, dass er seiner Spielleidenschaft nachgehen konnte«, fügte Mortmain seufzend hinzu. »Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, dass er keine Nachsendeadresse hinterließ.«

»Und damit hatte sich die Angelegenheit für Sie erledigt?«, fragte Charlotte fassungslos. »Sie haben nicht einmal versucht, ihn aufzuspüren? Herauszufinden, wohin er gegangen war? Wer sein neuer Arbeitgeber war?«

»Jedermann hat das Recht, seine Stelle zu wechseln, wie es ihm beliebt!«, brauste Mortmain auf. »Es bestand nicht der geringste Grund zur Annahme, dass ...«

»Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«, fiel Charlotte ihm eisig ins Wort.

»Nein. Ich sagte ja bereits ...«

»Sie sagten, er habe sich im Pandemonium Club wie ein Fisch im Wasser gefühlt«, unterbrach sie ihn erneut, »und dennoch haben Sie ihn seit seiner Kündigung nicht ein einziges Mal mehr dort getroffen?«

Ein Ausdruck von Panik flackerte in Mortmains Augen auf. »Ich ... ich bin seitdem selbst nicht mehr im Club gewesen. Die Geschäfte ließen mir keine Zeit dazu.«

Charlotte warf Axel Mortmain über seinen wuchtigen Schreibtisch einen skeptischen Blick zu. Sie hatte sich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten und Männer wie Mortmain waren ihr schon viele begegnet. Raubeinige, brillante, selbstsichere Männer, die glaubten, ihr Erfolg in geschäftlichen Dingen oder anderen weltlichen Aktivitäten wäre der Garant für vergleichbare Erfolge in der Kunst der Magie. Erneut musste Charlotte an den Advokaten denken, an die Wände seines herrschaftlichen Hauses in Knightsbridge, beschmiert mit dem Blut seiner Familie. Ihre Gedanken wanderten zu den letzten Sekunden seines Lebens, zur abgrundtiefen Angst, die er in diesem Moment empfunden haben musste, und sie konnte eine ähnliche Furcht in Axel Mortmains Augen aufsteigen sehen.

»Mr Mortmain, Sie können mich nicht zum Narren halten. Ich weiß, dass Sie mir irgendetwas verheimlichen«, sagte sie. Dann nahm sie eines der Zahnräder, die Will aus dem Dunklen Haus mitgebracht hatte, aus ihrem Ridikül und legte es auf den Schreibtisch. »Dies hier sieht ganz so aus, als stammte es aus einer Ihrer Fabriken.«

Geistesabwesend warf Mortmain einen kurzen Blick auf das kleine Metallobjekt auf seinem Schreibtisch. »Ja ... ja, das ist eines meiner Zahnräder. Was soll damit sein?«

»Zwei Hexen, die sich als die ›Dunklen Schwestern‹ bezeichnen — übrigens beide Mitglieder im Pandemonium Club —, haben mehrere Menschen umgebracht. Junge Mädchen. Kaum den Kinderschuhen entwachsen. Und bei unseren Ermittlungen haben wir dies im Keller der Schwestern gefunden.«

»Mit Mord habe ich nichts zu tun!«, rief Mortmain.

»Ich habe nie ... Ich dachte ...«, stammelte er, während ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

»Was haben Sie gedacht?«, fragte Charlotte mit sanfter Stimme.

Mortmain nahm das Zahnrad und hielt es in der zitternden Hand. »Sie können sich nicht vorstellen ...«, setzte er an und brach dann ab. Schließlich fasste er sich. »Vor ein paar Monaten ist ein Vorstandsmitglied — ein Schattenweltler, eine sehr alte und mächtige Persönlichkeit — an mich herangetreten und hat mich gebeten, ihm Maschinenteile zu einem günstigen Preis zu verkaufen. Zahnräder, Getriebe und dergleichen. Ich habe ihn nicht gefragt, wozu er diese benötigte — warum sollte ich auch? An seiner Anfrage erschien mir nichts ungewöhnlich.«

»War dies zufälligerweise derselbe Mann, in dessen Dienste Nathaniel sich nach dem Ausscheiden aus Ihrem Unternehmen begeben hat?«, hakte Charlotte nach.

Mortmain ließ das Zahnrad fallen. Es rollte über seinen Schreibtisch, kam allerdings nicht sehr weit, da er mit der flachen Hand daraufschlug und es abbremste.

Obwohl er schwieg, konnte Charlotte an der aufflackernden Furcht in seinen Augen erkennen, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Ein Gefühl des Triumphes erfasste sie. »Sein Name«, forderte sie. »Nennen Sie mir seinen Namen.«

Mortmain starrte auf seinen Schreibtisch. »Wenn ich Ihnen seinen Namen gebe, setze ich damit mein Leben aufs Spiel.«

»Und was ist mit Nathaniel Grays Leben?«, fragte Charlotte.

Mortmain wich ihrem Blick aus und schüttelte den Kopf. »Sie haben keine Ahnung, wie mächtig dieser Mann ist. Wie gefährlich.«

Entschlossen richtete Charlotte sich auf. »Henry«, befahl sie. »Henry, bring mir den Zitierer.«

Henry wandte sich von der Wand ab und blinzelte verwirrt. »Aber, meine Liebe ...«

»Bring mir das Gerät!«, fauchte Charlotte. Sie hasste es, Henry anzufahren — es erschien ihr, als würde sie nach einem Welpen treten. Aber manchmal musste es einfach sein.

Mit einem verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht gesellte Henry sich zu seiner Frau und zog ein Gerät aus der Tasche — ein dunkles, rechteckiges Metallobjekt mit einer Reihe seltsamer Skalen und Wählscheiben auf der Oberfläche.

Charlotte griff nach dem Gerät und fuchtelte damit vor Mortmains Nase herum. »Das hier ist ein Zitierer«, erklärte sie ihm. »Ich brauche ihn nur zu betätigen, um die Schattenjägergemeinschaft im Nu herbeizuzitieren. Binnen drei Minuten wird Ihr Haus umstellt sein. Nephilim werden Sie an Händen und Füßen aus diesem Raum schleifen und Sie den unerträglichsten Folterungen unterziehen, bis sie gezwungen sind zu sprechen. Möchten Sie wissen, was passiert, wenn man einem Mann Dämonenblut in die Augen träufelt?«

Mortmain warf ihr einen entsetzten Blick zu, schwieg aber weiterhin.

»Bitte stellen Sie mich nicht auf die Probe, Mr Mortmain.« Das Gerät in Charlottes Hand war schweißfeucht, aber ihre Stimme klang vollkommen beherrscht. »Es würde mir gar nicht gefallen, mit ansehen zu müssen, wie Sie eines qualvollen Todes sterben.«

»Gütiger Gott, so reden Sie doch, Mann!«, platzte Henry hervor. »So weit muss es doch gar nicht kommen. Sie machen es sich selbst nur unnötig schwer.«

Mortmain stützte das Gesicht in die Hände. Er wollte schon immer einmal echte Schattenjäger kennenlernen, dachte Charlotte beim Anblick der zusammengekrümmten Gestalt. Und nun ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen.

»De Quincey«, murmelte Mortmain. »Seinen Vornamen kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass er de Quincey heißt.«

Beim Erzengel. Charlotte ließ langsam die Luft aus ihren Lungen entweichen, während sie den Arm herunternahm. »De Quincey? Das kann nicht sein ...«

»Dann kennen Sie ihn?« Mortmains Stimme klang matt. »Nun ja, davon war auszugehen.«

»De Quincey ist der Anführer eines mächtigen Londoner Vampirclans«, sagte Charlotte beinahe widerstrebend, »ein sehr einflussreicher Schattenweltler und ein Verbündeter des Rats. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ...«

»Er ist das Oberhaupt des Pandemonium Clubs«, warf Mortmain ein. Er wirkte erschöpft und grau im Gesicht. »Alle anderen haben sich ihm gegenüber zu verantworten.«

»Das Oberhaupt des Clubs. Trägt er auch einen Titel?«

Bei dieser Frage schaute Mortmain leicht überrascht. »Der ›Magister‹«, erklärte er schließlich. Rasch ließ Charlotte das Metallgerät in ihren Ärmel gleiten, wobei ihre Hand kaum merklich zitterte.

»Vielen Dank, Mr Mortmain. Sie waren uns sehr behilflich.«

Mortmain warf ihr einen kurzen Blick zu, eine Mischung aus Erschöpfung und Groll. »De Quincey wird herausfinden, dass ich Ihnen seinen Namen verraten habe. Und er wird mich dafür töten lassen.«

»Der Rat wird dafür sorgen, dass dies nicht geschieht. Außerdem werden wir Ihren Namen aus der Sache heraushalten. Er wird nie erfahren, dass Sie mit uns geredet haben.«

»Das würden Sie tun?«, fragte Mortmain leise. »Für einen ... wie sagten Sie noch mal? ... für einen törichten Irdischen?«

»Ich hege noch Hoffnung für Sie, Mr Mortmain. Sie scheinen sich Ihrer eigenen Torheit bewusst geworden zu sein. Der Rat wird Sie im Auge behalten — nicht nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, sondern auch, um sich zu vergewissern, dass Sie sich vom Pandemonium Club und ähnlichen Organisationen in Zukunft fernhalten. In Ihrem eigenen Interesse hoffe ich, dass Sie unser heutiges Treffen als eine Warnung betrachten.«

Mortmain nickte. Charlotte marschierte zur Tür, Henry im Kielsog. Die beiden standen bereits auf der Schwelle, als Mortmain sich räusperte. »Es waren doch nur Zahnräder«, sagte er zerknirscht. »Nur Zahnräder und Getriebe. Vollkommen harmlos.«

Zu Charlottes Überraschung reagierte Henry als Erster. »Unbelebte Gegenstände sind in der Tat harmlos, Mr Mortmain«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. »Aber das gilt leider nicht immer für diejenigen, die sie benutzen.«

Mortmain schwieg betreten, während die beiden Schattenjäger den Raum verließen. Wenige Momente später standen Charlotte und Henry wieder auf dem Platz vor dem Haus und ließen sich die frische Brise um die Nase wehen. Londons Luft mochte zwar von Staub und Kohlenqualm erfüllt sein, dachte Charlotte, aber wenigstens war sie frei von jener Mischung aus Angst und Verzweiflung, die wie ein dichter Dunst in Mortmains Arbeitszimmer gehangen hatte.

Vorsichtig zog Charlotte das rechteckige Metallobjekt aus ihrem Ärmel und reichte es ihrem Mann, der es mit ernster Miene entgegennahm. »Ich sollte dich wohl fragen, worum es sich bei diesem Gerät tatsächlich handelt, Henry.«

»Das ist etwas, an dem ich schon eine ganze Weile tüftle.« Henry betrachtete den Gegenstand liebevoll.

»Ein Apparat zum Aufspüren von Dämonenenergie. Ich werde ihn ›Sensor‹ nennen. Noch arbeitet er nicht hundertprozentig, aber wenn es mir erst einmal gelingt ...«

»Ich bin mir sicher, dass dies eine hervorragende Erfindung sein wird«, erklärte Charlotte zuversichtlich.

Henry bedachte sie mit einem mindestens so liebevollen Blick wie das Gerät, was nicht häufig vorkam.

»Welch ein genialer Geistesblitz, Charlotte. Vorzugeben, du könntest die Schattenjägergemeinschaft im Nu herbeizitieren, nur um diesem Mann Angst einzujagen! Aber woher wusstest du, dass ich ein Gerät bei mir tragen würde, das du für deine Zwecke verwenden konntest?«

»Nun ja, du trägst doch immer irgendeine Tüftelei mit dir herum, mein Lieber«, erklärte Charlotte. Henry zog eine verlegene Miene. »Du bist genauso Furcht einflößend wie wundervoll, meine Liebe.«

»Danke, Henry.«

Die Fahrt zurück zum Institut verlief in tiefem Schweigen. Jessamine starrte blind aus dem Kutschfenster und weigerte sich, auch nur ein Wort über das Erlebnis im Hydepark zu verlieren. Ihr Sonnenschirm lag quer über ihrem Schoß, doch es schien sie nicht zu stören, dass das Blut an seinen Rändern dunkle Flecken auf ihrer Taftjacke hinterließ. Nachdem die Kutsche in den Innenhof des Instituts gerollt war, ließ sie sich von Thomas beim Aussteigen helfen und griff dann nach Tessas Hand.

Überrascht schaute Tessa auf. Jessamines Finger waren eiskalt.

»Nun komm schon«, fauchte Jessamine ungeduldig und zerrte ihre Begleiterin zur Institutstür, während Thomas ihnen erstaunt hinterherstarrte.

Tessa ließ sich die Stufen hinaufzerren, durch die Eingangstür und in einen langen Korridor, der dem vor ihrem eigenen Zimmer fast zum Verwechseln ähnelte. Schließlich blieb Jessamine vor einer Tür stehen, öffnete sie, schob Tessa ins Zimmer und schloss sie dann hinter ihnen. »Ich will dir etwas zeigen«, sagte sie.

Tessa schaute sich um. Sie befand sich in einem weiteren dieser großen Schlafzimmer, von denen das Institut offenbar unbegrenzt viele zu besitzen schien. Allerdings hatte Jessamine diesen Raum eher nach ihrem Geschmack einrichten lassen: Die Wände oberhalb der halbhohen Holzvertäfelung waren mit einer rosa Seidentapete versehen, auf dem Bett lag eine geblümte Tagesdecke und in einer Ecke stand eine weiße Frisierkommode, über dessen Ablagefläche exquisite Toilettenutensilien verstreut waren: ein Ringständer, ein Parfümzerstäuber sowie ein silberbeschlagener Frisierspiegel samt Haarbürste.

»Du hast ein hübsches Zimmer«, sagte Tessa, in der Hoffnung, damit Jessamines hysterischen Anfall etwas lindern zu können.

»Es ist viel zu klein«, entgegnete Jessamine. »Aber lassen wir das. Komm lieber hier herüber.« Achtlos warf sie den blutverschmierten Schirm auf das Bett und marschierte quer durch den Raum zum Fenster. Verwundert folgte Tessa ihr. In der Ecke neben dem Fenster stand ein hoher Tisch, auf dem ein Puppenhaus aufgebaut war.

Allerdings nicht die Sorte von schlichtem Pappkartonhaus, das Tessa als kleines Mädchen besessen hatte, sondern ein wunderschönes Miniaturmodell eines Londoner Stadthauses, dessen Front nach außen aufschwang, als Jessamine mit dem Finger dagegendrückte.

Tessa hielt den Atem an. Hinter der Giebelwand kamen wundervolle, winzige Räume zum Vorschein, die mit Miniaturmöbeln perfekt eingerichtet waren — jedes kleinste Detail war maßstabsgetreu gefertigt, von den winzigen Holzstühlen mit Stickkissen bis hin zum gusseisernen Herd in der Puppenküche. Außerdem entdeckte Tessa mehrere kleine Püppchen mit feinen Porzellanköpfen und sogar richtige Ölgemälde an den Wänden des Wohnzimmers.

»Dies war mein Haus«, sagte Jessamine tonlos, kniete sich vor den Tisch, sodass sie mit den Räumen des Puppenhauses auf Augenhöhe war, und winkte Tessa zu sich heran.

Unbehaglich ließ Tessa sich neben ihr nieder, wobei sie sich bemühte, nicht auf Jessamines Rocksaum zu knien. »Du meinst wohl, dies war dein Puppenhaus ... das, mit dem du als kleines Mädchen gespielt hast?«

»Nein.« Jessamine klang ungehalten. »Dies war mein Haus. Mein Vater hat es für mich anfertigen lassen, als ich sechs Jahre alt war. Es ist ein exaktes Modell des Hauses, in dem wir damals gewohnt haben ... in der Curzon Street. Hier siehst du die Tapete, die in unserem Speisezimmer hing ...« Sie zeigte auf eine der Wände. »Und das hier sind genaue Nachbildungen der Stühle im Arbeitszimmer meines Vaters. Siehst du?«

Jessamine schaute Tessa derart eindringlich an, dass ihr klar wurde, die junge Schattenjägerin erwartete eine besondere Reaktion von ihr. Doch Tessa sah in dem Puppenhaus nichts anderes als nur ein extrem teures Spielzeug aus einer Zeit, der das Mädchen eigentlich längst hätte entwachsen sein müssen — sie konnte einfach nicht erkennen, was Jessamine meinte.

»Wirklich sehr hübsch«, sagte sie schließlich.

»Siehst du, hier im Salon, das ist Mama«, fuhr Jessamine fort und berührte eine der winzigen Puppen vorsichtig mit dem Finger, woraufhin diese in ihrem Plüschsessel leicht wackelte. »Und hier im Arbeitszimmer sitzt Papa, mit einem Buch.« Ihr Finger streifte behutsam über eine andere Porzellanfigur. »Und ganz oben, im Kinderzimmer, liegt Klein Jessie in ihrem Bettchen.« Im Inneren der winzigen Wiege befand sich tatsächlich ein weiteres Püppchen, dessen Kopf kaum sichtbar unter dem Miniaturdeckchen hervorlugte. »Später werden alle gemeinsam zu Abend essen, hier im Speisezimmer. Und danach werden Mama und Papa im Salon am offenen Kamin sitzen. Manchmal gehen sie aber auch ins Theater oder in ein elegantes Restaurant oder auf einen Ball.« Jessamines Stimme klang nun gedämpft, als zitiere sie eine oft wiederholte Litanei. »Und dann wird Mama Papa einen Gutenachtkuss geben und sie werden auf ihre Zimmer gehen und die ganze Nacht schlafen ... bis zum Morgen. Sie werden nicht mitten in der Nacht vom Rat aus dem Schlaf gerissen, der von ihnen verlangt, hinaus in die Dunkelheit zu gehen und gegen Dämonen zu kämpfen. Sie werden kein Blut durchs ganze Haus verteilen. Und niemand wird beim Kampf gegen einen Werwolf einen Arm oder ein Auge verlieren oder Unmengen von Weihwasser in sich hineinschütten müssen, weil er von einem Vampir angegriffen wurde.«

Oh mein Gott, dachte Tessa bestürzt. Plötzlich verzog Jessamine das Gesicht, als könnte sie Tessas Gedanken lesen. »Nachdem unser Haus abgebrannt war, konnte ich nirgendwo anders hin. Es gab auch keine entfernten Familienangehörigen, die mich hätten aufnehmen können. Sämtliche Verwandten waren Schattenjäger, mit denen Mama und Papa seit dem Bruch mit dem Rat kein Wort mehr gewechselt hatten.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Henry hat diesen Sonnenschirm extra für mich angefertigt, hast du das gewusst? Anfangs fand ich den Schirm ganz entzückend, bis Henry mir erzählte, dass das Gewebe mit Elektrumdraht versehen und dadurch so scharf wie ein Messer ist. Der Schirm war nie etwas anderes als eine Waffe.«

»Du hast uns das Leben gerettet«, sagte Tessa.

»Vorhin im Park. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Wenn du nicht gewesen wärst ...«

»Ich hätte es nicht tun dürfen.« Jessamine starrte mit leerem Blick in das Puppenhaus. »Ich werde dieses Leben nicht führen, Tessa. Ich will so nicht leben.

Es ist mir egal, was ich dafür tun muss. Aber so will ich nicht leben — eher sterbe ich.«

Diese Worte beunruhigten Tessa und sie wollte Jessamine gerade erklären, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, als hinter ihnen die Tür geöffnet wurde und Sophie in ihrem adretten schwarzen Kleid und der weißen Haube ins Zimmer trat. Ihr Blick streifte über Jessamine und Tessa sah, dass ein misstrauischer Ausdruck in ihren Augen lag.

»Miss Tessa, Mr Branwell möchte Sie dringend in seinem Arbeitszimmer sprechen. Er sagt, es sei sehr wichtig«, wandte sie sich schließlich an Tessa. Als Tessa sich zu Jessamine umdrehte, um diese zu fragen, ob sie sie einen Moment allein lassen könne, hatte das Gesicht der Schattenjägerin wieder einen verschlossenen Ausdruck angenommen. Die Verwundbarkeit und der Zorn wirkten wie weggeblasen — die kalte Maske war zurückgekehrt.

»Na, geh schon, wenn Henry dich so dringend zu sprechen wünscht«, näselte sie. »Ich bin deiner Gesellschaft ohnehin müde. Außerdem fürchte ich, dass ich gleich Kopfschmerzen bekommen werde. Sophie, wenn du wieder zurück bist, musst du mir die Schläfen mit Eau de Cologne massieren.«

Sophies Blick traf sich quer durch den Raum mit Tessas und eine gewisse Belustigung sprach aus ihren Augen. »Wie Sie wünschen, Miss Jessamine.«

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