3 Das Institut

Liebe, Hoffnung, Furcht, Glaube machen die Menschheit aus;

dies sind ihre Zeichen, ihr Klang und ihr Charakter.

Robert Browning, »Paracelsus«

In ihrem Traum war Tessa erneut an das schmale Messingbett im Dunklen Haus gefesselt. Die Schwestern beugten sich über sie, klapperten mit langen Stricknadeln und lachten mit hoher, schriller Stimme.

Dann verwandelten sie vor Tessas Augen ihre Gestalt:

Die Augen verschwanden in den Höhlen, die Haare fielen aus und über den Mündern erschienen schwarze Kreuzstiche, die die Lippen zusammennähten. Tessa schrie auf doch sie schienen sie nicht zu hören.

Danach verschwanden die Schwestern und Tante Harriet beugte sich über Tessa. Ihr Gesicht wirkte fiebrig rot, so wie während ihrer schrecklichen Krankheit, die sie schließlich das Leben gekostet hatte. Mit einem Ausdruck großer Trauer betrachtete sie Tessa. »Ich habe es versucht«, sagte sie. »Ich habe wirklich versucht, dich zu lieben. Aber es ist nicht einfach, ein Kind zu lieben, das nichts Menschliches an sich hat ...«

»Nichts Menschliches?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. »Aber wenn sie kein Mensch ist, Enoch, was ist sie dann?« Im nächsten Moment schlich sich Ungeduld in die Stimme. »Was soll das heißen, du weißt es nicht? jeder ist doch irgendetwas.

Dieses Mädchen kann doch nicht nichts sein ...«

Tessa erwachte mit einem Schrei. Sie riss die Augen auf und musste feststellen, dass um sie herum tiefe Dunkelheit herrschte. In ihrer Panik nahm sie nur ein leises Stimmengewirr wahr, das aus den Schatten zu ihr drang. Fieberhaft strampelte sie sich frei, stieß Decken und Kissen von sich und setzte sich auf, wobei ihr Unterbewusstsein nur halb registrierte, dass die Decke dick und schwer war — ganz im Gegensatz zu der dünnen, mit Litze besetzten Bettdecke im Dunklen Haus.

Angestrengt blinzelte Tessa in die Dunkelheit: Sie befand sich in einem Bett, genau wie sie geträumt hatte. Und der große Raum mit den Steinmauern, in dem das Bett stand, war kaum beleuchtet. Sie konnte das Rasseln ihres eigenen Atems hören, als sie sich umdrehte, doch im nächsten Moment entfuhr ihrer Kehle ein Schrei: Ein Gesicht wie aus ihrem Albtraum schwebte in der Dunkelheit direkt vor ihr — ein großes weißes Mondgesicht, mit kahl geschorenem Schädel, der wie Marmor glänzte. An der Stelle, wo sich die Augäpfel hätten befinden müssen, waren nur Höhlen zu erkennen — allerdings erweckten sie nicht den Eindruck, als wären die Augen aus dem Schädel herausgerissen worden. Es hatte vielmehr den Anschein, als hätten sie sich erst gar nicht entwickelt. Die Lippen des Mondgesichts waren mit schwarzen Nähten verschlossen und die gesamte Haut schien mit schwarzen Zeichnungen übersät zu sein, vergleichbar denen auf Wills Armen und Brust. Im Gegensatz zu dessen Malen wirkten sie jedoch, als wären sie mit einer Klinge in die Gesichtszüge geritzt worden. Tessa schrie erneut auf und krabbelte hastig rückwärts, bis sie vom Bett rutschte. Als sie auf den kalten Steinboden auftraf und sich aufzurappeln versuchte, riss der Saum des Nachthemds, das ihr jemand übergestreift haben musste, während sie bewusstlos war.

»Miss Gray.« Jemand rief ihren Namen, doch in ihrer Panik registrierte sie lediglich, dass ihr die Stimme unbekannt war — und dass sie nicht von der monströsen Gestalt stammte, die sie von der Bettstatt aus mit reglosem Narbengesicht musterte. Das Monster hatte sich noch keinen Millimeter bewegt, aber obwohl es nicht den Anschein erweckte, als wolle es ihr nachsetzen, wich Tessa weiter vorsichtig zurück und tastete suchend nach einer Tür. Das Zimmer war so dunkel, dass sie nur eine ovale Raumform ausmachen konnte, mit Wänden aus Stein. Die Zimmerdecke lag in tiefen Schatten und an der gegenüberliegenden Wand befanden sich hohe, schmale Fenster, deren Umrisse an gotische Kirchenfenster erinnerten. Durch die Spitzbogenscheiben fiel kaum Licht; es schien, als wäre die Nacht bereits hereingebrochen.

»Theresa Gray ...«

Endlich fand Tessa die Tür, griff dankbar nach dem Knauf, wirbelte herum und zog daran. Doch nichts geschah. Die Erkenntnis, dass sie wieder eingesperrt war, ließ einen Schluchzer in ihrer Kehle aufsteigen.

»Miss Gray!«, wiederholte die Stimme und plötzlich wurde der Raum in helles Licht getaucht — ein grelles silbrig weißes Licht, das Tessa sofort wiedererkannte. »Miss Gray, bitte entschuldigen Sie. Es war nicht unsere Absicht, Ihnen Angst einzujagen.« Die Stimme stammte von einer Frau, die Tessa zwar noch immer unbekannt war, dafür aber jugendlich und besorgt klang. »Miss Gray, bitte.«

Langsam drehte Tessa sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schaute sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, wurde von einem großen Himmelbett beherrscht, dessen Samtüberwurf nun zerknautscht war und halb auf dem Boden hing. Die Vorhänge des Betts waren zurückgezogen und auf dem ansonsten nackten Steinboden lag ein schmaler, eleganter Bettvorleger. Im Grunde wirkte der gesamte Raum ziemlich kahl. An den Wänden hingen weder Gemälde noch Fotografien und auch die dunklen Holzmöbel waren schlicht und elegant gehalten. Zwei Sessel und ein kleiner Tisch luden neben dem Bett zum Sitzen ein und ein Paravent in einer Ecke des Raums schirmte den dahinter befindlichen Badezuber und Waschtisch ab.

Vor dem Bett ragte ein großer Mann in einer Art bodenlanger Mönchskutte auf, die aus einem groben pergamentfarbenen Stoff geschneidert war und an den Ärmeln und am Saum blutrote Runen aufwies. Der Mann hielt einen silbernen Stab in der Hand, dessen Kopf eine Engelsgestalt zierte und dessen Schaft über und über mit weiteren Runen dekoriert war. Da der Mann die Kapuze seiner Robe nach hinten geschlagen hatte, konnte Tessa sein weißes, von Narben übersätes Gesicht mit den blinden Augenhöhlen sehen.

Neben ihm stand eine sehr kleine, fast kindlich wirkende Frau mit dichtem braunem Haar, welches im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war, und einem netten, klugen Gesichtchen, in dem dunkle, intelligente Augen funkelten. Sie war zwar keine erklärte Schönheit, aber auf ihrem Antlitz lag ein ruhiger, freundlicher Ausdruck, der das panische Gefühl in Tessas Magen ein wenig besänftigte — obwohl sie nicht genau sagen konnte, wieso. In der Hand der Frau leuchtete einer jener weiß glühenden Steine, die Tessa bereits bei Will gesehen hatte. Helle Lichtstrahlen bahnten sich einen Weg zwischen ihren Fingern hindurch und beleuchteten den Raum.

»Miss Gray«, sagte die Frau nun. »Ich bin Charlotte Branwell, Leiterin des Londoner Instituts, und dies hier ist Bruder Enoch ...«

»Was für eine Art Monster ist er?«, wisperte Tessa. Bruder Enoch schwieg und zeigte nicht die geringste Gefühlsregung.

»Ich weiß, dass es auf der Erde Monster gibt«, fuhr Tessa stockend fort. »Versuchen Sie nicht, mir etwas anderes zu erzählen. Denn ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Es käme mir gar nicht in den Sinn, Ihnen etwas anderes erzählen zu wollen«, erwiderte Mrs Branwell.

»Wenn es auf der Welt nicht vor Monstern wimmeln würde, bestünde überhaupt kein Bedarf nach Schattenjägern.«

Schattenjäger. Mit genau diesem Begriff hatten die Dunklen Schwestern Will Herondale bezeichnet.

Will. »Ich war ... Will war bei mir«, stammelte Tessa mit zittriger Stimme. »In diesem Keller. Will meinte ...« Abrupt hielt sie inne und zuckte innerlich zusammen. Sie hätte Will nicht bei seinem Vornamen nennen dürfen — es implizierte eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden, die es in Wahrheit nicht gab. »Wo ist Mr Herondale?«

»Er ist hier«, erklärte Mrs Branwell ruhig. »Hier im Institut.«

»Hat er mich hierher gebracht?«, flüsterte Tessa enttäuscht.

»Ja, aber es besteht überhaupt kein Grund, sich hintergangen zu fühlen, Miss Gray. Sie hatten einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen und Will war um Ihre Gesundheit besorgt. Bruder Enoch hier, dessen Erscheinungsbild Sie erschrecken mag, ist ein erfahrener Heiler. Er hat festgestellt, dass Ihre Kopfverletzung glücklicherweise nur geringfügiger Natur ist und dass Sie in erster Linie unter Schock stehen und von einer nervösen Unruhe ergriffen sind. Tatsächlich wäre es vermutlich das Beste, wenn Sie sich wieder setzen würden. Wenn Sie weiterhin mit bloßen Füßen an der Tür herumstehen, holen Sie sich letztendlich nur eine Verkühlung.«

»Sie meinen: Weil ich sowieso nicht fliehen kann«, sagte Tessa und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich kann nicht entkommen.«

»Wenn Sie darauf bestehen zu entkommen — wie Sie es formulieren —, werde ich Sie selbstverständlich gehen lassen, sobald wir uns unterhalten haben«, erklärte Mrs Branwell. »Die Nephilim halten Schattenweltler nicht gegen ihren Willen fest. Das untersagt das Abkommen.«

»Das Abkommen?«

Mrs Branwell zögerte einen Augenblick, wandte sich dann an Bruder Enoch und flüsterte ihm mit leiser Stimme etwas zu. Zu Tessas großer Erleichterung zog sich der Mann daraufhin die Kapuze seiner pergamentfarbenen Robe über den Kopf, sodass sein Gesicht verborgen wurde. Doch dann trat er auf Tessa zu, die sich hastig entfernte. Der Mann öffnete die Tür und hielt einen kurzen Moment inne — und während dieses winzigen Augenblicks sprach er zu Tessa. Oder vielleicht war sprechen nicht der richtige Ausdruck dafür: Tessa hörte seine Stimme in ihrem Kopf. »Sie sind ein Eidolon, Theresa Gray. Eine Gestaltwandlerin. Aber keine von der Sorte, die ich kenne. Denn Sie tragen kein Dämonenmal.«

Gestaltwandler. Er wusste, was sie war. Sprachlos und mit rasendem Pulsschlag sah sie ihm nach, während er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog. Tessa spürte instinktiv, dass sie die Tür erneut verriegelt vorfinden würde, falls sie sie zu öffnen versuchte. Aber der Drang zur Flucht hatte sie verlassen. Ihre Knie fühlten sich an wie aus Gummi und sie ließ sich in einen der ausladenden Sessel neben dem Bett sinken.

»Was ist passiert?«, fragte Mrs Branwell und nahm im Sessel gegenüber Platz. Ihr Kleid fiel sehr weit, sodass sich nicht sagen ließ, ob sie ein Korsett darunter trug, und ihre Handgelenke waren kaum dicker als die eines Kindes. »Was hat er gesagt?«

Tessa schüttelte den Kopf und verschränkte die Hände im Schoß, damit Mrs Branwell nicht bemerkte, wie sehr ihre Finger zitterten.

Mrs Branwell musterte sie aufmerksam. »Zunächst einmal nennen Sie mich bitte ›Charlotte‹, Miss Gray. Alle im Institut nennen mich so. Wir Schattenjäger sind weniger förmlich als die meisten Menschen«, sagte sie.

Tessa nickte und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Es fiel ihr schwer, Charlottes Alter einzuschätzen — sie war so klein, dass sie einerseits sehr jung aussah. Aber andererseits verströmte sie so viel Autorität, dass sie wiederum älter wirkte — und zwar so viel älter, dass es Tessa recht merkwürdig erschien, sie bei ihrem Vornamen anzureden. Aber wie hatte Tante Harriet immer zu sagen gepflegt: Andere Länder, andere Sitten ... »Charlotte«, murmelte Tessa versuchsweise.

Als Mrs Branwell — Charlotte — sich lächelnd im Sessel zurücklehnte, entdeckte Tessa überrascht, dass sie dunkle Tätowierungen besaß — eine Frau mit Tätowierungen! Die Zeichnungen ähnelten den Abbildungen auf Wills Haut: schwarze Tuschemale, die unter den eng anliegenden Ärmelenden des Kleides herausschauten, sowie eine augenähnliche Tätowierung auf dem linken Handrücken. »Als Nächstes lassen Sie mich Ihnen bitte erzählen, was ich bereits über Sie weiß, Theresa Gray.« Charlotte sprach weiterhin in ruhigem, freundlichem Ton, doch ihre Augen musterten Tessa eindringlich. »Sie sind Amerikanerin und Sie sind von New York nach London gekommen, um Ihrem Bruder zu folgen. Ihrem Bruder Nathaniel, der Ihnen einen Fahrschein für die Überfahrt auf einem Ozeandampfer geschickt hat.«

Tessa saß wie erstarrt. »Woher wissen Sie das alles?«

»Ich weiß weiterhin, dass Will Sie im Haus der Dunklen Schwestern gefunden hat«, fuhr Charlotte fort. »Ich weiß, dass Sie Will gegenüber erklärt haben, ein sogenannter ›Magister‹ wolle Sie abholen. Ich weiß, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, wer dieser Magister ist. Und ich weiß, dass Sie während des Kampfes mit den Dunklen Schwestern das Bewusstsein verloren haben und hierher gebracht wurden.«

Charlottes Worte wirkten auf Tessa wie ein Schlüssel zu einer verschlossenen Tür: Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Abend ... an die Flucht durch den Korridor, an die Metalltüren und den dahinterliegenden, blutgetränkten Raum, an Will, der seine Klinge schwang, an Mrs Black und ihren abgetrennten Kopf ... »Mrs Black«, wisperte Tessa.

»... ist tot«, bestätigte Charlotte. »Ganz ohne Zweifel.« Sie lehnte sich mit den Schultern an die Rückenlehne des Sessels, die hinter ihr so hoch aufragte, dass sie wie ein Kind auf einem Stuhl für Erwachsene wirkte.

»Und Mrs Dark?«

»Hat sich in Luft aufgelöst. Wir haben das ganze Haus durchsucht und anschließend die umliegenden Straßen, aber sie blieb spurlos verschwunden.«

»Das ganze Haus?«, wiederholte Tessa mit leicht brüchiger Stimme. »Und es war niemand dort? Niemand sonst ...? Auch kein Toter ...?«

»Wir haben Ihren Bruder nicht finden können, Miss Gray«, erklärte Charlotte sanft. »Weder im Haus noch in den umliegenden Gebäuden.«

»Sie ... Sie haben nach ihm gesucht?«, fragte Tessa verwirrt.

»Wir haben ihn nicht finden können«, sagte Charlotte erneut. »Aber dafür haben wir Ihre Briefe entdeckt.«

»Meine Briefe?«

»Die Briefe, die Sie an Ihren Bruder verfasst, aber nie gesendet haben«, erklärte Charlotte. »Diejenigen, die unter Ihrer Matratze versteckt lagen.«

»Sie haben sie gelesen?«

»Es blieb uns nichts anderes übrig«, erwiderte Charlotte weiterhin freundlich. »Ich bitte aufrichtig um Verzeihung, aber es kommt nicht oft vor, dass wir ein Schattenwesen ins Institut bringen oder irgendjemanden, der kein Schattenjäger ist. Denn dies birgt für uns ein großes Risiko. Wir mussten uns einfach vergewissern, dass Sie keine Gefahr darstellen.«

Tessa wandte den Kopf ab. Dieser Eingriff in ihre Privatsphäre hatte etwas zutiefst Verletzendes an sich — die Vorstellung, dass diese Fremde ihre geheimsten Gedanken gelesen hatte, all ihre Träume, Hoffnungen und Ängste, die sie niedergeschrieben hatte, ohne damit zu rechnen, dass irgendjemand sie je zu Gesicht bekommen würde. Heiße Tränen brannten in Tessas Augen, doch sie unterdrückte sie eisern, wütend auf sich selbst, wütend auf die ganze Welt.

»Sie versuchen, nicht zu weinen«, konstatierte Charlotte. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es in solchen Situationen helfen kann, direkt in helles Licht zu schauen. Versuchen Sie es doch einmal mit dem Elbenlicht.«

Tessa schaute zu dem Stein in Charlottes Hand und starrte in das Licht, das sich vor ihren Augen wie eine anschwellende Sonne auszudehnen schien. »Nun gut«, sagte sie schließlich, um den Kloß im Hals zu bekämpfen, »Sie sind also zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Gefahr darstelle?«

»Möglicherweise nur für sich selbst«, erwiderte Charlotte. »Eine Kraft wie die Ihre ... die Kraft zur Gestaltwandlung ... es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Dunklen Schwestern Sie in ihre Gewalt bekommen wollten. Und andere werden folgen.«

»Wie Sie beispielsweise?«, sagte Tessa. »Oder wollen Sie mir weismachen, dass Sie mich aus reiner Nächstenliebe in Ihr geheiligtes Institut gebracht haben?«

Ein tiefverletzter Ausdruck huschte über Charlottes Gesicht, zwar nur kurz, aber er wirkte aufrichtig. Und dies überzeugte Tessa mehr als jede mögliche Beteuerung der jungen Frau davon, dass sie sich in ihr vielleicht doch getäuscht hatte. »Nicht aus Nächstenliebe«, widersprach Charlotte. »Es ist vielmehr meine Berufung. Unsere Berufung.«

Tessa schaute sie verständnislos an.

»Vielleicht wäre es besser, wenn ich Ihnen einfach erklären würde, wer wir sind — und was wir tun«, meinte Charlotte.

»Nephilim«, sagte Tessa. »Mit diesem Begriff haben die Dunklen Schwestern Mr Herondale bezeichnet.« Dann zeigte sie auf die dunklen Male auf Charlottes Hand. »Und Sie sind ebenfalls eine Nephilim, stimmt’s? Ist das der Grund, weshalb Sie diese ... diese Male tragen?«

Charlotte nickte. »Ja, ich bin eine der Nephilim, der Schattenjäger. Wir sind ... eine Gruppe von Leuten ... eine Gruppe von Leuten mit besonderen Fähigkeiten, wenn Sie so wollen. Wir sind stärker und schneller als die meisten Menschen. Wir sind in der Lage, uns unsichtbar zu machen, mithilfe einer besonderen Form der Magie namens Zauberglanz. Und wir wurden speziell dafür ausgebildet, Dämonen zu töten.«

»Dämonen? Sie meinen so wie der Teufel?«

»Dämonen sind bösartige Kreaturen. Und sie überwinden gewaltige Entfernungen, um in unsere Welt zu gelangen und sie zu verschlingen. Wenn es uns nicht gäbe, würden sie die Erde in Schutt und Asche legen und sämtliche Bewohner vernichten.« Charlottes Stimme klang fest und entschlossen. »So wie es die Aufgabe der menschlichen Polizei ist, die Bürger dieser Stadt voreinander zu schützen, ist es unsere Aufgabe, sie vor Dämonen und anderen übernatürlichen Gefahren zu bewahren. Wenn ein Verbrechen begangen wurde, das die Verborgene Welt betrifft ... wenn gegen die Gesetze unserer Welt verstoßen wurde, müssen wir ermitteln. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet. Wir müssen sogar dann Nachforschungen anstellen, wenn nur der Verdacht besteht, dass der Bündnisvertrag gebrochen wurde. Will hat Ihnen ja bereits von dem jungen Mädchen erzählt, das er in dieser Gasse gefunden hat. Sie war zwar die einzige Tote, deren Leichnam tatsächlich gefunden wurde, doch es gehen düstere Gerüchte um, dass irdische Jungen und Mädchen aus den Straßen von Londons ärmeren Vierteln über Nacht spurlos verschwinden. Die Verwendung von Magie zum Töten von Menschen verstößt gegen das Gesetz und fällt daher in unseren Zuständigkeitsbereich.«

»Mr Herondale erscheint mir erstaunlich jung für einen Polizeibeamten.«

»Schattenjäger werden schnell erwachsen und Will hat seine Ermittlungstätigkeit nicht allein durchgeführt.« Charlotte klang, als wollte sie diese Erklärung nicht vertiefen. »Aber das ist längst nicht alles, was zu unserem Aufgabenbereich gehört. Wir schützen außerdem den Bündnisvertrag und wahren das Abkommen — jene Gesetze, die den Frieden zwischen den Schattenweltlern sichern.«

Auch dieses Wort hatte Will verwendet, erinnerte Tessa sich. »Schattenwelt? Ist das ein Ort?«

»Ein Schattenweltler ist ein Lebewesen — eine Person, die teilweise übernatürlicher Herkunft ist. Vampire, Werwölfe, Feenwesen, Hexenmeister — das alles sind Schattenweltler.«

Tessa starrte Charlotte verständnislos an. Feen waren Wesen aus Kindermärchen und Vampire zählten zu den Figuren aus Groschenromanen. »Diese Kreaturen gibt es wirklich?«

»Sie selbst sind ein Schattenwesen«, erwiderte Charlotte. »Das hat Bruder Enoch bestätigt. Wir wissen nur noch nicht, zu welcher Sorte Sie gehören. Denn eines müssen Sie wissen: Die Art von Magie, zu der Sie in der Lage sind — Ihre Fähigkeit —, zählt nicht zu den Dingen, die normale Menschen vollbringen könnten. Und auch wir Schattenjäger sind dessen nicht mächtig. Will vermutete, dass Sie sehr wahrscheinlich eine Hexe sind — eine Annahme, zu der auch ich tendiert hätte. Aber alle Hexenwesen besitzen besondere Körpermerkmale, die sie als eben diese Wesen kennzeichnen: Flügel, Hufe, Schwimmhäute oder, wie Sie in Mrs Blacks Fall gesehen haben, Krallen oder Klauen an den Fingern. Doch Sie sind in Ihrem Äußeren durch und durch menschlich. Und aus Ihren Briefen geht hervor, dass Sie der Überzeugung sind, Ihre beiden Eltern wären ebenfalls rein menschlicher Natur gewesen.«

»Menschlich?« Tessa starrte Charlotte an. »Warum sollten sie etwas anderes als Menschen gewesen sein?«

Doch ehe Charlotte antworten konnte, wurde die Tür geöffnet und ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einer weißen Haube und einer adretten Schürze kam herein. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Tee, das sie auf dem Tisch zwischen Charlotte und Tessa abstellte.

»Danke, Sophie«, sagte Charlotte, offensichtlich erleichtert, das Mädchen zu sehen. »Dies hier ist Miss Gray. Sie wird heute Abend unser Gast sein.«

Sophie richtete sich auf, wandte sich Tessa zu, machte einen raschen Knicks und murmelte: »Miss.«

Doch Tessa registrierte gar nicht, dass das Dienstmädchen vor ihr geknickst hatte, denn im selben Moment hob Sophie den Kopf und Tessa konnte einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Das Mädchen musste einst sehr hübsch gewesen sein — mit leuchtend haselnussbraunen Augen, glatter Haut, weichen Lippen und einer feinen Gesichtsform. Doch nun erstreckte sich von der Schläfe bis zum linken Mundwinkel eine wulstige, silbern schimmernde Narbe, die das Gesicht zur Seite zog und die Züge des Mädchens zu einer grotesken Maske verzerrte. Tessa versuchte, ihr Entsetzen zu kaschieren, aber als sie sah, wie sich Sophies Augen verdüsterten, wusste sie, dass ihr dies nicht gelungen war.

»Sophie«, fuhr Charlotte nun fort, »hast du das dunkelrote Kleid schon heraufgebracht, so wie ich es dir aufgetragen habe? Kannst du es bitte aufbürsten und für Miss Gray bereitlegen?« Als das Dienstmädchen nickte und zum Kleiderschrank ging, wandte sie sich wieder an Tessa. »Ich habe mir erlaubt, eines von Jessamines alten Kleidern für Sie umarbeiten zu lassen. Die Kleidung, die Sie am Körper trugen, war vollkommen ruiniert.«

»Verbindlichsten Dank«, erwiderte Tessa förmlich. Sie hasste es, jemandem zu Dank verpflichtet zu sein. Die Dunklen Schwestern hatten ständig vorgegeben, ihr einen Gefallen zu erweisen — und nun sah man ja, wozu das geführt hatte.

»Miss Gray.« Charlotte musterte Tessa ernst.

»Schattenjäger und Schattenweltler sind keine Feinde. Unser Abkommen mag zwar unter einem schwierigen Stern stehen, aber es ist meine feste Überzeugung, dass Schattenwesen vertrauenswürdig sind ... und dass sie sogar den Schlüssel zu unserem letztendlichen Sieg über das Dämonenreich in der Hand halten. Gibt es irgendetwas, das ich tun könnte, um Ihnen zu beweisen, dass wir Sie nicht ausnutzen wollen?«

»Ich ...« Tessa holte tief Luft. »Als die Dunklen Schwestern mir erstmals von meinen Fähigkeiten erzählten, dachte ich, sie wären vollkommen verrückt«, setzte sie schließlich an. »Ich habe ihnen gesagt, dass es derartige Dinge nicht gibt. Aber kurz darauf hatte ich das Gefühl, in einer Art Albtraum gefangen zu sein, in dem das alles tatsächlich existierte. Und dann erschien Mr Herondale — er kannte sich mit Magie aus und er besaß diesen glühenden Stein und ich dachte, hier ist endlich mal jemand, der mir vielleicht helfen kann.« Tessa schaute Charlotte an. »Doch Sie scheinen nicht zu wissen, warum ich so bin, wie ich bin, oder was ich überhaupt bin. Und wenn nicht einmal Sie es wissen ...«

»Es kann ... sehr schwierig sein, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, ihre wahre Gestalt und Form zu erkennen«, erwiderte Charlotte bedächtig. »Nur die wenigsten Menschen sind dazu in der Lage. Die meisten könnten den Anblick nicht ertragen. Aber ich habe Ihre Briefe gelesen und weiß, dass Sie stark sind, Miss Gray. Sie haben etwas durchgestanden, das anderen jungen Frauen vermutlich das Leben gekostet hätte —

Schattenweltler oder nicht.«

»Ich hatte keine Wahl — ich habe es für meinen Bruder getan. Die Schwestern hätten ihn sonst umgebracht.«

»Manche Menschen hätten das zugelassen«, erwiderte Charlotte. »Aber ich weiß aus Ihren Briefen, dass Sie diesen Gedanken keinen Moment in Erwägung gezogen haben.« Sie beugte sich vor. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Ihr Bruder stecken könnte? Oder glauben Sie, dass er sehr wahrscheinlich tot ist?«

Tessa schnappte bestürzt nach Luft.

»Mrs Branwell!« Sophie, die den Saum des bordeauxroten Kleides mit einer Bürste bearbeitet hatte, hob den Kopf und musterte Charlotte vorwurfsvoll. Der Ton in ihrer Stimme überraschte Tessa: Es stand Dienstboten nicht zu, ihre Dienstherren zu berichtigen. In diesem Punkt hatten die Bücher, die Tessa gelesen hatte, keinen Zweifel gelassen.

Doch Charlotte zog nur ein reumütiges Gesicht.

»Sophie ist mein rettender Engel. Ich neige dazu, mich manchmal zu unverblümt zu äußern«, räumte sie ein. »Ich dachte, dass Sie vielleicht etwas wüssten, was nicht in Ihren Briefen stand und das uns einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort geben könnte.«

Tessa schüttelte den Kopf. »Die Dunklen Schwestern haben mir gesagt, dass er an einem geheimen Ort gefangen gehalten würde. Und ich vermute, er ist noch immer dort. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihn finden soll.«

»Dann wäre es am besten, Sie bleiben hier im Institut, bis Sie etwas Genaueres über seinen Aufenthaltsort wissen.«

»Ich brauche Ihre Mildtätigkeit nicht. Ich kann mir jederzeit eine andere Unterkunft suchen«, erwiderte Tessa störrisch.

»Das wäre keine Mildtätigkeit. Wir sind durch unsere eigenen Gesetze dazu verpflichtet, Schattenwesen zu helfen. Wenn wir Sie fortschicken und einfach Ihrem Schicksal überlassen würden, wäre das ein Verstoß gegen das Abkommen, an dessen Wahrung wir rechtlich gebunden sind.«

»Und Sie würden von mir keinerlei Gegengefallen erwarten?« Tessas Stimme klang bitter. »Sie werden mich nicht bitten, meine ... meine Fähigkeit zu nutzen? Sie werden nicht von mir verlangen, dass ich mich verwandle?«

»Falls Sie Ihre wahre Kraft nicht zu nutzen wünschen, dann werden wir Sie unter keinen Umständen dazu zwingen«, erklärte Charlotte. »Obwohl ich jedoch der Ansicht bin, dass Sie selbst davon profitieren könnten, wenn Sie lernen würden, diese Fähigkeit zu beherrschen und zu nutzen ...«

»Nein!«, stieß Tessa so laut hervor, dass Sophie vor Schreck zusammenzuckte und die Bürste fallen ließ. Charlotte warf ihr einen Blick zu und wandte sich dann wieder an Tessa. »Wie Sie wünschen, Miss Gray. Es gibt bestimmt noch andere Möglichkeiten, wie Sie uns unterstützen könnten. Ich bin mir sicher, dass Sie so manches wissen, was Sie nicht in Ihren Briefen erwähnt haben. Und wir könnten Ihnen im Gegenzug dabei helfen, Ihren Bruder zu finden.«

Tessa hob ruckartig den Kopf. »Das würden Sie tun?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« Charlotte erhob sich. Weder sie noch Tessa hatten den Tee angerührt, der auf dem Tablett zwischen ihnen stand. »Sophie, wenn du Miss Gray bitte beim Ankleiden helfen und sie dann pünktlich zum Dinner ins Speisezimmer führen könntest ...«

»Dinner?« Nach diesen Informationen über Nephilim, Feenwesen, Vampire und Dämonen erschien Tessa die Aussicht auf ein Abendessen fast schon erschreckend normal.

»Natürlich. Es ist beinahe sieben Uhr. Will kennen Sie ja bereits. Dann können Sie sich auch mit allen anderen bekannt machen. Vielleicht erkennen Sie ja dann, dass wir durchaus vertrauenswürdig sind.« Mit einem kurzen Nicken verließ Charlotte das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schüttelte Tessa stumm den Kopf. Ihre Tante Harriet war ziemlich herrisch gewesen, aber im Vergleich zu Charlotte Branwell erschien sie ihr nun wie ein Lamm.

»Sie wirkt manchmal etwas schroff, aber im Grunde ist sie eine gute Seele«, bemerkte Sophie und legte das Kleid auf das Bett, das Tessa an diesem Abend tragen sollte. »Ich kenne niemanden mit einem größeren Herzen.«

Vorsichtig berührte Tessa den Ärmel des Kleides. Wie Charlotte gesagt hatte, war es aus dunkelrotem Satin geschneidert und an Taille und Saum mit schwarzem Moireband versehen. Nie zuvor hatte sie etwas derart Hübsches getragen.

»Soll ich Ihnen beim Ankleiden helfen, Miss?«, fragte Sophie.

Plötzlich erinnerte Tessa sich wieder an etwas, das ihre Tante Harriet immer zu sagen gepflegt hatte: Einen guten Menschen erkennt man nicht daran, was seine Freunde über ihn sagen, sondern daran, wie er seine Dienstboten behandelt. Wenn Sophie der Ansicht war, dass Charlotte ein großes Herz besaß, dann traf das ja vielleicht tatsächlich zu. Tessa hob den Kopf und wandte sich an das Mädchen. »Vielen Dank, Sophie. Ich denke, ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen.«

Von ihrer Tante einmal abgesehen, hatte Tessa sich noch nie beim Ankleiden helfen lassen — das Kleid war eindeutig für ein kleineres Mädchen geschneidert worden, sodass Sophie die Schnüre von Tessas Korsett fest zuziehen musste, damit sie trotz ihrer schlanken Figur hineinpasste. Dabei lachte das Dienstmädchen die ganze Zeit leise in sich hinein.

»Mrs Branwell hält nichts von eng geschnürten Miedern«, erklärte sie. »Sie meint, das verursacht nur Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, und ein Schattenjäger kann sich keine Schwäche erlauben. Aber Miss Jessamine trägt ihre Kleider gern figurbetont und besteht auf einer schmal geschnittenen Taille.«

»Nun ja«, stieß Tessa leicht atemlos hervor, »ich bin ja auch keine Schattenjägerin.«

»Daran besteht kein Zweifel«, pflichtete Sophie ihr bei und schloss die zahlreichen Knöpfe im Rücken des Kleids mithilfe eines kleinen Stiefelknöpfers. »So, fertig. Wie gefallen Sie sich?«

Als Tessa sich im Spiegel betrachtete, riss sie erstaunt die Augen auf: Das taillierte Kleid war viel zu klein für sie und schmiegte sich fast hauteng um ihren Körper bis hinunter zu den Hüften, wo eine Fülle von Stoff gerafft, nach hinten geführt und in einer dezenten Turnüre über ihrem Gesäß zusammengefasst wurde. Unter den zurückgeschlagenen Ärmeln kamen gekräuselte champagnerfarbene Spitzenmanschetten zum Vorschein. Irgendwie wirkte sie ... älter, überlegte Tessa — nicht mehr wie diese tragische Vogelscheuche im Dunklen Haus, andererseits aber auch nicht wie sie selbst. Was wäre, wenn ich bei einer der Verwandlungen einen Fehler gemacht und mich nicht in mich selbst zurückverwandelt habe? Was wäre, wenn das hier nicht einmal mein wahres Gesicht ist?

Der Gedanke versetzte sie derart in Panik, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

»Sie sehen ein wenig blass aus«, bemerkte Sophie, die Tessas Gesicht besonnen musterte, an dem eng sitzenden Kleid jedoch keinen Anstoß zu nehmen schien. »Versuchen Sie doch einmal, sich in die Wangen zu kneifen, um ihnen etwas mehr Farbe zu verleihen. Das macht Miss Jessamine jedenfalls immer.«

»Das ist wirklich nett von ihr — Miss Jessamine, meine ich —, mir dieses Kleid zu borgen.«

Sophie lachte leise in sich hinein. »Miss Jessamine hat dieses Kleid noch nie getragen. Es ist ein Geschenk von Mrs Branwell, aber Miss Jessamine meinte, sie würde darin farblos aussehen, und dann hat sie es in die hinterste Ecke ihres Kleiderschranks geworfen. Ziemlich undankbar, wenn Sie mich fragen ... aber jetzt sollten Sie sich wirklich kurz in die Wangen kneifen, Miss Gray — Sie wirken so bleich wie der Mond.«

Tessa folgte Sophies Rat, dankte ihr anschließend und trat aus dem Zimmer in einen langen, steinernen Korridor, wo Charlotte sie bereits erwartete und sich sofort in Bewegung setzte, als Tessa die Tür hinter sich geschlossen hatte. Leicht humpelnd versuchte Tessa, mit ihr Schritt zu halten — die schwarzen Seidenschuhe waren keine Wohltat für ihre geschundenen Füße.

Während sie Charlotte durch die Gänge folgte, kam sie sich vor wie in einer Burg: Die Decken waren so hoch, dass sie in den Schatten verschwanden, und an den Mauern hingen schwere Gobelins. Oder zumindest stellte Tessa sich das Innere einer Burg so vor. Verschiedene wiederkehrende Motive schmückten die Wandteppiche — Sterne, Schwerter und dieselben schwarzen Muster, die sie auf Wills und Charlottes Haut gesehen hatte. Außerdem tauchte ein Bild immer wieder auf: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand.

»Dieses Gebäude war früher einmal eine Kirche«, beantwortete Charlotte Tessas unausgesprochene Frage. »Eine Kirche namens ›All-Hallows-the-Less‹. Während des Großen Brands im Jahr 1666 brannte sie bis auf die Grundmauern nieder. Wir übernahmen das Grundstück und errichteten das Institut auf den Ruinen des alten Gotteshauses. Für unsere Zwecke ist ein Standort auf geweihtem Boden sehr nützlich.«

»Finden die Menschen es denn nicht merkwürdig, dass Sie Ihr Institut auf den Mauern einer alten Kirche gebaut haben?«, fragte Tessa.

»Sie wissen nichts davon. Irdische — so bezeichnen wir herkömmliche Bürger — nehmen uns gar nicht wahr«, erklärte Charlotte. »Für sie sieht das Gelände nach wie vor wie ein leeres Grundstück aus. Darüber hinaus interessieren sich Irdische nicht sonderlich für Dinge, die sie nicht direkt betreffen.« Sie drehte sich um und komplimentierte Tessa durch eine Tür in einen großen, hell erleuchteten Speisesaal. »Da wären wir.«

Tessa musste einen Moment blinzeln, um ihre Augen an das helle Licht zu gewöhnen. Dann sah sie sich um. Im Zentrum des riesigen Raums stand ein großer Tisch, der bis zu zwanzig Gästen Platz bot und in dessen Mitte eine flache Glasschale mit weißen Blüten thronte. Von der Decke hing ein gewaltiger Gaslüster, der den Saal mit einem gelblichen Schein erfüllte. Oberhalb eines Sideboards, auf dem sich teures Porzellan stapelte, erstreckte sich ein goldgerahmter Spiegel über die gesamte Breite der Wand. Alles wirkte sehr geschmackvoll — und sehr normal. Der Raum hatte nichts Ungewöhnliches an sich, nichts, das auch nur einen vagen Hinweis auf die wahre Natur der Hausbewohner bot.

Obwohl der gesamte Tisch mit weißen Damasttüchern drapiert war, hatten die Dienstboten lediglich das hintere Ende der Tafel für fünf Personen eingedeckt. Und nur zwei Personen hatten bereits Platz genommen: Will und ein blondes Mädchen, das etwa in Tessas Alter war und ein schimmerndes, tief ausgeschnittenes Kleid trug. Die beiden schienen einander geflissentlich zu ignorieren, und als Charlotte und Tessa den Raum betraten, schaute Will sichtlich erleichtert auf.

»Will«, wandte Charlotte sich an den jungen Mann.

»Du erinnerst dich doch gewiss noch an Miss Gray?«

»Meine Erinnerungen an Miss Gray sind in der Tat höchst lebendig«, bestätigte Will. Statt der seltsamen schwarzen Kleidung vom Vortag trug er nun eine herkömmliche Stoffhose und einen grauen Gehrock mit schwarzem Samtkragen. Das Grau ließ seine Augen noch blauer leuchten als zuvor. Er betrachtete Tessa mit einem belustigten Lächeln, woraufhin diese errötete und rasch den Blick abwandte.

»Und Jessamine — Jessie, nun schau doch mal her! Jessie, das ist Miss Theresa Gray; Miss Gray, das ist Miss Jessamine Lovelace.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Jessamine. Tessa starrte das Mädchen mit großen Augen an: Jessamine war fast unanständig hübsch — eine englische Schönheit, wie sie sonst nur in Tessas Büchern vorkam, mit weizenblonden Haaren, hellbraunen Augen und einem cremeweißen Teint. Sie trug ein leuchtend blaues Kleid und an fast jedem Finger Ringe. Falls sie dieselben schwarzen Zeichnungen wie Will und Charlotte besaß, waren sie jedenfalls nicht zu sehen, überlegte Tessa.

Will bedachte Jessamine mit einem Ausdruck unverhohlener Abscheu in den Augen und drehte sich dann wieder zu Charlotte um. »Und wo ist dein geistig unbedarfter Gatte?«

Charlotte ließ sich auf ihren Stuhl sinken und bedeutete Tessa, ihr gegenüber auf dem Stuhl neben Will Platz zu nehmen. »Henry ist in seiner Werkstatt. Ich habe Thomas aufgetragen, ihn zu holen. Er müsste jeden Moment hier sein.«

»Und Jem?«

Charlotte schoss ihm einen warnenden Blick zu, erklärte aber nur: »Jem ist unpässlich. Er fühlt sich nicht wohl.«

»Er fühlt sich nie wohl.« Jessamine klang angewidert.

Tessa wollte gerade nachhaken, wer dieser Jem sei, als Sophie den Raum betrat, dicht gefolgt von einer molligen Frau mittleren Alters, aus deren Haarknoten sich ein paar graue Strähnen gelöst hatten. Die beiden begannen sofort mit dem Servieren der Speisen. Beim Anblick von dampfender Suppe, saftigem Schweinebraten, knusprigen Kartoffeln und frischen Brötchen mit cremegelber Butter wurde Tessa plötzlich ganz schwindelig im Kopf — sie hatte völlig vergessen, wie hungrig sie war. Herzhaft biss sie in ein Brötchen, beherrschte sich aber im nächsten Moment, da sie sah, wie Jessamine sie anstarrte.

»Wissen Sie, ich glaube, ich habe noch nie zuvor eine Hexe essen gesehen«, sagte Jessamine blasiert.

»Ich darf wohl annehmen, dass Sie sich niemals einer Abmagerungskur zu unterziehen brauchen, oder? Schließlich können Sie sich ja mithilfe der Magie schlank zaubern.«

»Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie überhaupt eine Hexe ist, Jessie«, warf Will ein. Jessamine ignorierte ihn. »Ist es schrecklich, durch und durch böse zu sein? Machen Sie sich Sorgen, dass Sie eines Tages in die Hölle kommen?« Sie beugte sich zu Tessa hinüber. »Wie mag der Teufel wohl sein? Hm? Was denken Sie?«

Tessa legte ihre Gabel zur Seite. »Würden Sie ihn gern kennenlernen? Ich könnte ihn im Nu heraufbeschwören, falls Sie es wünschen. Wo ich doch eine Hexe bin.«

Will brach in schallendes Gelächter aus, während Jessamine die Augen zu Schlitzen zusammenkniff.

»Es besteht kein Grund, unhöflich zu sein ...«, hob sie an, brach dann aber ab, als Charlotte sich mit einem erstaunten Aufschrei kerzengerade aufsetzte.

»Henry!«

Ein Mann stand in der Bogentür des Speisesaals — eine vertraut wirkende, große Gestalt mit einem wirren kupferroten Haarschopf und haselnussbraunen Augen. Er trug eine verschlissen wirkende Norfolkjacke aus Tweed über einer fürchterlichen, leuchtend gestreiften Weste und seine Hose war über und über mit Dreck bedeckt, der verdächtig nach Kohlenstaub aussah. Aber nicht dieser Anblick hatte Charlotte aufschreien lassen, sondern die Tatsache, dass sein linker Arm offensichtlich Feuer gefangen hatte. Kleine Flammen züngelten oberhalb seines Ellbogens und sandten dünne schwarze Rauchkringel in die Luft.

»Charlotte, meine Liebe«, wandte Henry sich an seine Frau, die ihn entsetzt und mit offenem Mund anstarrte. Auch Jessamine neben ihr hatte die Augen weit aufgerissen. »Entschuldige bitte meine Verspätung. Aber ich glaube, ich bin nicht mehr weit von der Vollendung des Sensors entfernt ...«

»Henry«, unterbrach Will ihn, »du brennst. Aber das weißt du ja sicherlich, oder?«

»Oh, ja«, bestätigte Henry eifrig. Die Flammen hatten inzwischen seine Schulter erreicht. »Ich habe den ganzen Tag wie ein Besessener gearbeitet. Charlotte, hast du gehört, was ich bezüglich des Sensors gesagt habe?«

Charlotte ließ die Hand sinken, die sie in ihrer Bestürzung vor den Mund geschlagen hatte. »Henry!«, quietschte sie. »Dein Arm!«

Henry schaute kurz auf seinen Arm und riss erstaunt den Mund auf. »Teufel auch!«, konnte er gerade noch hervorstoßen, bevor Will geistesgegenwärtig aufsprang, sich die Blumenvase auf dem Tisch schnappte und ihren Inhalt über Henry goss. Mit einem protestierenden Zischen erloschen die Flammen und ließen Henry triefend nass im Türrahmen zurück, einen Ärmel angesengt und ein Dutzend feuchter weißer Blüten zu seinen Füßen.

Doch Henry strahlte und tätschelte den brandig schwarzen Stoff mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »Wisst ihr, was das bedeutet?«

Will stellte die Vase wieder auf den Tisch. »Dass du deinen Ärmel angezündet, es aber nicht einmal bemerkt hast?«

»Nein. Es bedeutet, dass die feuerhemmende Mischung, die ich letzte Woche entwickelt habe, tatsächlich funktioniert!«, erwiderte Henry stolz. »Dieses Material muss bereits gut zehn Minuten in Flammen gestanden haben und ist dabei nicht einmal zur Hälfte durchgebrannt!« Interessiert betrachtete er seinen Arm. »Vielleicht sollte ich den anderen Ärmel auch anzünden, um zu überprüfen, wie lange ...«

»Henry«, fiel Charlotte ihm ins Wort, die sich offensichtlich von ihrem Schock erholt hatte. »Henry, wenn du dich absichtlich in Brand steckst, werde ich umgehend die Scheidung beantragen. Jetzt setz dich endlich und iss etwas. Und sag unserem Gast Guten Abend.«

Henry tat, wie ihm geheißen, schaute kurz über den Tisch zu Tessa und blinzelte überrascht. »Ich kenne Sie. Sie haben mich gebissen!«, konstatierte er erfreut, als riefe er sich eine angenehme Erinnerung ins Gedächtnis, die sie beide miteinander verband. Charlotte schüttelte den Kopf und warf ihrem Mann einen verzweifelten Blick zu.

»Hast du Miss Gray bereits nach dem Pandemonium Club befragt?«, wandte Will sich an Charlotte.

Pandemonium Club. »Ich kenne diesen Namen. Er stand auf dem Schlag von Mrs Darks Kutsche«, warf Tessa ein.

»Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Organisation«, erklärte Charlotte. »Eine ziemlich alte Organisation von Irdischen, deren Mitglieder sich für die Kunst der Magie interessieren. Bei ihren Zusammenkünften versuchen sie, Zaubersprüche anzuwenden und Dämonen und Geister heraufzubeschwören.« Sie seufzte.

Jessamine schnaubte verächtlich. »Ich verstehe nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe machen«, sagte sie. »Zauberformeln sprechen ... in Kapuzenroben herumlaufen ... und kleine Brände legen ... Einfach lächerlich!«

»Das ist längst nicht alles, was sie so treiben«, widersprach Will. »Zudem besitzen sie in der Schattenwelt wesentlich mehr Einfluss, als man annehmen sollte. Viele wohlhabende und bedeutende Personen der irdischen Gesellschaft zählen zu ihren Mitgliedern ...«

»Das macht die Angelegenheit umso lächerlicher.«

Jessamine warf ihre Haare über die Schulter. »Diese Leute haben Geld und Macht. Warum spielen sie dann mit Magie herum?«

»Eine gute Frage«, sagte Charlotte. »Irdische, die sich in Dinge mischen, von denen sie nichts verstehen, nehmen oft ein schlimmes Ende.«

Will zuckte die Achseln. »Als ich Näheres über das Symbol auf dem Dolch in Erfahrung bringen wollte, den Jem und ich in jener Gasse gefunden hatten, führten mich meine Nachforschungen zum Pandemonium Club. Und die dortigen Mitglieder verwiesen mich an die Dunklen Schwestern. Es ist ihr Symbol — die beiden Schlangen. Die Schwestern kontrollierten eine Reihe geheimer Spielhöllen, die regelmäßig von Schattenweltlern aufgesucht wurden. Ihr einziger Zweck bestand darin, Irdische anzulocken, diese beim Spielen magischer Spiele auszutricksen und ihnen ihr gesamtes Geld abzuknöpfen. Und wenn die Irdischen dann hoch verschuldet waren, haben die Dunklen Schwestern sich das Geld zurückgeholt — inklusive enorm hoher Zinsen.« Will schaute zu Charlotte.

»Außerdem haben die Schwestern noch einige andere Etablissements geführt, und zwar solche höchst fragwürdiger Natur. Man hat mir berichtet, dass das Anwesen, in dem Tessa gefangen gehalten wurde, ein Schattenwelt-Freudenhaus war, das auf die Wünsche bestimmter Irdischer mit etwas ungewöhnlichem Geschmack spezialisiert war.«

»Will, ich bin mir nicht sicher, ob das ...«, setzte Charlotte zweifelnd an.

»Pah!«, unterbrach Jessamine sie. »Kein Wunder, dass du so erpicht darauf warst, dem Haus einen Besuch abzustatten, William.«

Falls sie gehofft hatte, Will damit zu verärgern, war ihr dies gründlich misslungen. Er schenkte ihr so wenig Beachtung, als hätte sie überhaupt nichts gesagt. Stattdessen schaute er zu Tessa auf der gegenüberliegenden Tischseite und musterte sie mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. »Habe ich Ihr Zartgefühl verletzt, Miss Gray? Ich war davon ausgegangen, dass Sie, nach allem, was Sie gesehen haben, nicht mehr so leicht zu schockieren sind.«

»Ich fühle mich nicht gekränkt, Mr Herondale.«

Doch ihren Worten zum Trotz spürte Tessa, wie ihre Wangen feuerrot anliefen. Wohlerzogene junge Damen wussten nicht, was ein Freudenhaus war, und würden diesen Ausdruck ganz gewiss nicht in Gesellschaft von Fremden in den Mund nehmen. Mord war eine Sache, aber dies hier ... »Ich, äh ... ich wüsste nicht, warum das Dunkle Haus ein ... ein solcher Ort gewesen sein sollte«, sagte sie schließlich mit möglichst fester Stimme. »Keine Menschenseele ist dort je ein- oder ausgegangen und bis auf das Dienstmädchen und den Kutscher habe ich während der ganzen Zeit niemanden dort gesehen.«

»Gut möglich, denn zu dem Zeitpunkt, als ich dort eintraf, war das Haus schon menschenleer«, pflichtete Will ihr bei. »Offensichtlich hatten die Schwestern beschlossen, den Betrieb eine Weile einzustellen, möglicherweise um Sie dort vollkommen isoliert zu halten.« Dann wandte er sich wieder an Charlotte.

»Glaubst du, Miss Grays Bruder besitzt dieselbe Fähigkeit wie sie? Ist das vielleicht der Grund, warum die Dunklen Schwestern ihn überhaupt erst entführt haben?«

Dankbar für den Wechsel des Gesprächsthemas warf Tessa ein: »Mein Bruder hat nie auch nur irgendein Anzeichen für diese Fähigkeit gezeigt!« Sie zögerte einen Moment und räumte dann ein: »Andererseits habe ich auch nichts davon gewusst, bis die Dunklen Schwestern es mir gezeigt haben.«

»Und was genau ist nun Ihre Fähigkeit?«, fragte Jessamine fordernd. »Charlotte wollte es uns nicht verraten.«

»Jessamine!«, rief Charlotte und warf ihr einen tadelnden Blick zu.

»Wenn ihr mich fragt: Ich glaube nicht, dass sie überhaupt irgendetwas kann«, fuhr Jessamine ungerührt fort. »Ich denke vielmehr, dass sie schlichtweg eine kleine Schmarotzerin ist, die weiß, dass wir sie wegen des Abkommens gut behandeln müssen.«

Tessa presste die Lippen aufeinander und dachte an ihre Tante Harriet, die sie immer ermahnt hatte:

»Contenance, meine Liebe!«, und: »Streite nicht mit deinem Bruder, nur weil er dich aufzieht.« Aber diese Ratschläge interessierten sie jetzt nicht. Inzwischen schauten alle sie an: Henry aus neugierigen haselnussbraunen Augen, Charlotte mit einem Blick so scharf wie Glas, Jessamine mit kaum verhohlener Verachtung und Will mit spöttischer Belustigung. Was wäre, wenn sie alle dasselbe dachten wie Jessamine? Wenn sie alle davon überzeugt wären, dass sie sich nur irgendwelche Almosen ergaunern wollte? Tante Harriet hätte es gehasst, Almosen anzunehmen — noch mehr, als sie Tessas Wutausbrüche missbilligt hätte. Will war derjenige, der sich als Erster zu Wort meldete. Er beugte sich vor und musterte Tessas Gesicht eingehend. »Sie können es natürlich als Ihr Geheimnis wahren«, sagte er sanft. »Aber Geheimnisse besitzen ihr eigenes Gewicht, das sich manchmal als schwere Last erweisen kann.«

Tessa hob den Kopf. »Es ist kein Geheimnis. Aber es wäre für mich viel leichter, es Ihnen zu demonstrieren, als Ihnen davon zu erzählen.«

»Ausgezeichnet!« Henry zog eine vergnügte Miene.

»Ich mag Demonstrationen. Benötigen Sie dafür irgendetwas, beispielsweise eine Petroleumlampe oder ...«

»Das ist keine Seance, Henry«, unterbrach Charlotte ihn müde und wandte sich dann an Tessa. »Sie müssen das nicht tun, Miss Gray.«

Tessa ignorierte sie. »Ehrlich gesagt, benötige ich tatsächlich etwas.« Sie drehte sich zu Jessamine um.

»Irgendetwas, das Ihnen gehört, bitte. Ein Ring oder ein Taschentuch ...«

Jessamine runzelte die Nase. »Du meine Güte, für mich klingt das eher so, als ob Taschendiebstahl zu Ihren besonderen Fähigkeiten zählt!«

Will warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Jetzt gib ihr schon einen Ring, Jessie. Du schleppst ja schließlich genügend mit dir herum.«

»Dann gib du ihr doch was von dir«, schmollte Jessamine.

»Nein«, widersprach Tessa mit fester Stimme. »Es muss etwas aus Ihrem Besitz sein.« Denn von allen Anwesenden hier bist du diejenige, die mir in Größe und Gestalt am meisten ähnelt. Wenn ich mich in Charlotte verwandele, würden mir sämtliche Kleider vom Körper fallen, dachte Tessa. Sie hatte überlegt, das Kleid selbst zu benutzen, aber da Jessamine es nie getragen hatte, war sie nicht sicher, ob die Verwandlung funktionieren würde.

»Also gut, wenn es unbedingt sein muss.« Widerstrebend zog Jessamine einen Ring mit einem roten Stein von ihrem kleinen Finger und reichte ihn Tessa quer über den Tisch. »Ich will nur hoffen, dass sich der ganze Aufwand auch lohnt.«

Oh, das wird er — ganz bestimmt. Mit ernstem Gesicht legte Tessa den Ring in ihre linke Handfläche und schloss die Finger darum. Dann presste sie die Augen fest zusammen.

Die Verwandlung verlief wie immer: Erst geschah nichts, dann das Flackern eines Gedankens in den Tiefen ihres Geistes, wie das Entzünden einer Kerze in einem dunklen Raum. Vorsichtig tastete sie sich darauf zu, so wie die Dunklen Schwestern es sie gelehrt hatten. Tessa fiel es nicht leicht, Furcht und Scheu abzulegen, aber sie hatte sich schon oft genug verwandelt, um zu wissen, was sie erwartete — das mühsame Herantasten an das Licht im Zentrum der Dunkelheit, das Gefühl von Licht und Wärme, als würde sie sich in eine dicke, schwere Decke hüllen und jeden Zentimeter ihrer eigenen Haut damit bedecken, und schließlich das Aufflammen des Lichts, das sie umfing und in sein Zentrum zog. Und im nächsten Moment war sie mittendrin. In der Haut einer anderen Person. In der Gedankenwelt dieses Menschen. In Jessamines Gedankenwelt.

Noch befand sie sich nur am Rand dieser Welt; ihre Gedanken streiften die Oberfläche von Jessamines Geist wie Fingerspitzen eine stille Wasserfläche. Trotzdem verschlug es Tessa den Atem: Plötzlich sah sie ein leuchtendes Bild vor sich, das Bild eines Honigbonbons mit einer dunklen Mitte, wie ein Wurm im Kerngehäuse eines Apfels. Und dann spürte sie es:

Groll, bitterer Hass, Wut, eine schreckliche Sehnsucht ...

Tessa riss die Augen auf. Sie saß noch immer am Tisch, Jessamines Ring in der Hand. Ihre Haut prickelte wie von spitzen Nadeln gestochen — die übliche Begleiterscheinung ihrer Verwandlungen. Und sie konnte das seltsame Gewicht eines fremden Körpers spüren, eines Körpers, der nicht ihr eigener war, konnte fühlen, wie Jessamines Haare leicht über ihre Schultern streiften. Die blonden Locken waren zu dick für Tessas Haarnadeln und hatten sich aus der Hochsteckfrisur gelöst.

»Beim Erzengel«, stieß Charlotte hervor.

Tessa schaute in die Runde. Alle Anwesenden starrten sie an: Charlotte und Henry mit offenem Mund, Will ausnahmsweise einmal sprachlos — das Glas Wasser, das er zum Mund hatte führen wollen, schwebte auf halber Strecke in der Luft. Und Jessamine ... Jessamine schaute sie kreidebleich an, wie jemand, dem sein eigener Geist begegnet ist. Einen kurzen Moment verspürte Tessa einen Hauch von Schuldgefühl.

Doch das verflog genauso schnell, wie es gekommen war. Denn Jessamine nahm langsam die Hand vom Mund, noch immer ziemlich blass im Gesicht. »Du meine Güte, meine Nase ist ja riesig«, stieß sie hervor. »Warum hat mir das denn niemand gesagt?«

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