18 Dreissig Silberlinge

Löscht seinen Namen und schreibt eine weitre Seel’ verloren,

Eine weitre Pflicht versäumt, ein Pfad unbeschritten,

Ein weitrer Triumph des Bösen und Leid der Himmelsgeboren’,

Ein weitres Fehl gen Menschen, ein Schimpf wider den Herrn!

Robert Browning, »The Lost Leader«

Entgeistert krabbelte Tessa rückwärts. Sophie kniete noch immer bei Agatha, die Hände auf die Brust der alten Frau gepresst. Blut sickerte durch den dünnen Stoffverband unter ihren Fingern. Agathas Gesicht war inzwischen weiß wie eine Wand und sie röchelte und gurgelte erbärmlich. Als sie die KlockwerkAutomaten erblickte, riss sie entsetzt die Augen auf und versuchte, Sophie von sich fortzuschieben, doch das noch immer schluchzende Dienstmädchen klammerte sich hartnäckig an die Köchin und weigerte sich, sie loszulassen.

»Sophie!«, brüllte eine Stimme von der Wendeltreppe, begleitet von dröhnenden Schritten auf den Steinstufen. Eine Sekunde später stürmte Thomas durch die Eingangshalle, in der Hand das massive Schwert, das Tessa kurz zuvor in seinem Besitz gesehen hatte. Hinter ihm lief Jessamine, ihren Sonnenschirm fest im Griff und dicht gefolgt von Nathaniel, der zu Tode verängstigt wirkte. »Was um Himmels willen ...?«, stieß Thomas hervor, verstummte dann und schaute von Sophie, Tessa und Agatha zur Tür und wieder zurück.

Die Automaten hatten inzwischen innegehalten und sich direkt hinter der Türschwelle in einer Reihe aufgestellt — so reglos wie Marionetten, deren Fäden nicht länger bewegt wurden. Ihre ausdruckslosen Gesichter blickten stur geradeaus.

»Agatha!« Sophies Schluchzen steigerte sich zu einem Heulen. Die alte Frau lag nun still da, mit weit aufgerissenen, starren Augen und schlaff herabhängenden Armen.

Obwohl der Gedanke, den Kreaturen den Rücken zuzukehren, Tessa eine Gänsehaut bereitete, beugte sie sich zu Sophie hinab und berührte sie behutsam an der Schulter. Doch das Mädchen schüttelte ihre Hand ab und stieß kleine wimmernde Töne aus, wie ein gequälter Welpe. Hastig warf Tessa einen Blick in Richtung der Automaten. Sie verharrten weiterhin reglos wie Schachfiguren in der Türöffnung — doch wie lange mochte dieser Zustand noch anhalten? »Sophie, bitte!«, flehte Tessa.

Hinter ihr schnappte Nate keuchend nach Luft, die Augen auf den Boden geheftet. Er war totenbleich und sah aus, als würde er am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen und die Flucht ergreifen. Jessamine warf ihm einen einzigen Blick zu — eine Mischung aus Überraschung und Abscheu — und wandte sich dann an Thomas: »Sieh zu, dass sie auf die Beine kommt! Du bist der Einzige, auf den sie hört.«

Einen Moment lang musterte Thomas die junge Schattenjägerin verwundert, dann beugte er sich zu Sophie hinab, löste sanft, aber entschlossen ihre Finger von Agathas Arm und zog sie auf die Füße. Sofort klammerte sich das Mädchen an den jungen Dienstboten. Ihre Hände und Arme leuchteten hellrot, als käme sie gerade von der Schlachtbank; ihre Schürze war zerrissen und mit blutigen Fingerabdrücken übersät.

»Miss Lovelace«, raunte Thomas Jessamine leise zu, während er Sophie mit der unbewaffneten Hand fest an sich drückte. »Miss Lovelace, bitte bringen Sie Sophie und Miss Gray in das Sanktuarium ...«

»Nein!«, verkündete in dem Moment eine schleppende Stimme hinter Tessa. »Das sehe ich anders. Oder sagen wir mal so: Von mir aus können Sie das Dienstmädchen nehmen und fortbringen, wohin auch immer. Aber Miss Gray bleibt hier. Und das Gleiche gilt für ihren Bruder.«

Die Stimme klang vertraut, erschreckend vertraut. Langsam drehte Tessa sich um.

Zwischen den reglosen Automaten war wie von Zauberhand ein Mann aufgetaucht. Ein Mann, der noch genauso herkömmlich und durchschnittlich wirkte wie bei seinem ersten Besuch — nur dass er dieses Mal keinen Hut trug, sodass sein schütteres Haar im Elbenlicht grau schimmerte.

Mortmain.

Und er lächelte — allerdings kein umgängliches, freundliches Lächeln, sondern eines, aus dem Häme und Schadenfreude sprach. »Nathaniel Gray«, grinste er breit. »Hervorragende Arbeit! Ich muss gestehen, dass mein Vertrauen in dich auf eine harte — eine sehr harte — Probe gestellt wurde, doch du hast deine vergangenen Fehltritte auf vortreffliche Weise wiedergutgemacht. Ich bin stolz auf dich.«

Tessa wirbelte zu ihrem Bruder herum, aber Nate schien ihre Anwesenheit vollkommen vergessen zu habe — ihre und die aller anderen.

Er starrte Mortmain unverwandt an, mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht, einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht. Dann setzte er sich in Bewegung und drängte sich an Tessa vorbei, die ihn zurückzuhalten versuchte. Doch mit einer gereizten Geste schob er ihre ausgestreckte Hand fort. Als er schließlich direkt vor Mortmain stand, fiel er mit einem unterdrückten Aufschrei auf die Knie, die Hände wie zum Gebet erhoben, und stieß hervor: »Es war stets mein innigster Wunsch, nur Ihnen zu dienen, Magister.«

Mrs Dark lachte noch immer.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Jem verwirrt und mit lauter Stimme, um sich über ihr schallendes Gelächter hinweg verständlich zu machen.

»Wie meinen Sie das?«

Trotz ihres zerlumpten Erscheinungsbildes wirkte Mrs Dark fast schön königlich in ihrem Triumphgefühl. »De Quincey ist nicht der Magister«, höhnte sie.

»Er ist nur ein lächerlicher Blutsauger, keinen Deut besser als all die anderen. Dass ihr euch so leicht in die Irre habt führen lassen, beweist nur, dass ihr nicht einmal ahnt, wer der Magister tatsächlich ist — oder was euch bevorsteht. Ihr seid so gut wie tot, meine kleinen Schattenjäger. Kleine wandelnde Todgeweihte.«

Ihre letzte Bemerkung war zu viel für Wills hitziges Temperament. Mit einem wütenden Knurren stürmte er die Treppe hinauf, die Seraphklinge in der ausgestreckten Hand. Jem versuchte noch, ihn aufzuhalten, doch es war bereits zu spät: Mrs Dark fletschte die Zähne wie eine zischende Kobra, schwang den Arm hoch über den Kopf und schleuderte Will das abgetrennte Haupt ihrer Schwester entgegen. Der Schattenjäger stieß einen angeekelten Schrei aus und wich zur Seite aus, was die Hexe sofort ausnutzte: Sie flog die Treppe hinunter, an Will vorbei und durch den westlichen Torbogen der Eingangshalle, wo sie in den dahinterliegenden Schatten verschwand.

In der Zwischenzeit polterte Mrs Blacks Kopf die Stufen herab und kam erst vor Wills Stiefelspitzen zur Ruhe. Betreten schaute er nach unten und zuckte zurück. Eines von Mrs Blacks Lidern war zugefallen und ihre graue, ledrige Zunge hing schlaff aus dem Mund, so als würde sie ihn anzüglich angrinsen.

»Ich glaube, mir wird gleich schlecht«, verkündete Will angewidert.

»Dafür ist jetzt keine Zeit! Los, komm schon ...!«, rief Jem, bereits auf dem Weg zum Torbogen, um Mrs Dark nachzusetzen.

Will stupste den abgetrennten Kopf der Hexe mit der Stiefelspitze aus dem Weg und folgte seinem Freund im Laufschritt.

»Magister?«, wiederholte Tessa verständnislos. Aber das kann nicht sein! De Quincey ist der Magister.

Auch die Kreaturen auf der Brücke haben gesagt, dass sie ihm dienen. Und Nate hat ... Bestürzt starrte Tessa ihren Bruder an. »Nate?«

Es war ein Fehler, den Namen ihres Bruders laut auszusprechen. Sofort heftete Mortmain seinen Blick auf Tessa und grinste breit. »Ergreift die Gestaltwandlerin!«, befahl er den Klockwerk-Kreaturen. »Lasst sie nicht entkommen!«

»Nate!«, schrie Tessa auf. Doch ihr Bruder schaute sich nicht einmal nach ihr um, als die Automaten, plötzlich zum Leben erweckt, sirrend und klickend auf sie zumarschierten und sie packten: Einer der Klockwerk-Männer legte seine Metallarme wie einen Schraubstock um ihren Brustkorb und schnürte ihr die Luft ab.

Mortmain musterte Tessa spöttisch. »Gehen Sie mit Ihrem Bruder nicht zu hart ins Gericht, Miss Gray. Er ist wirklich schlauer, als ich gedacht hatte. Immerhin war es seine Idee, die jungen Herren Carstairs und Herondale mit einer weit hergeholten Geschichte aus dem Haus zu locken, damit ich ungehindert zuschlagen konnte.«

»Was geht hier vor?« Jessamines Stimme zitterte, während sie von Nate zu Tessa, dann zu Mortmain und wieder zurückschaute. »Ich verstehe das alles nicht. Wer ist dieser Mann, Nate? Und warum kniest du vor ihm?«

»Er ist der Magister«, sagte Nate. »Und wenn du klug wärst, würdest auch du vor ihm niederknien.«

Jessamine starrte ihn ungläubig an. »Das ist de Quincey?«

Nates Augen blitzten auf. »De Quincey ist ein Handlanger, ein Leibeigener. Er gehorcht dem Magister. Kaum jemand kennt die wahre Identität des Magisters, aber ich bin einer der wenigen. Der Auserwählte.«

Jessamine schnaubte verächtlich. »Auserwählt, um auf dem Boden zu knien?«

Erneut funkelten Nates Augen wütend. Er rappelte sich auf und brüllte Jessamine an. Aber Tessa konnte ihn nicht verstehen: Die Schraubstockarme des Automaten hatten sich so fest um ihren Brustkorb geschlossen, dass sie kaum noch Luft bekam und bereits schwarze Flecken vor den Augen sah. Wie aus weiter Entfernung hörte sie, dass Mortmain dem KlockwerkMann befahl, seinen Griff etwas zu lockern, doch die Kreatur reagierte nicht. Am Rande der Ohnmacht schlug Tessa mit rasch schwindenden Kräften nach den Metallarmen und spürte nur vage ein Flattern an ihrer Kehle — ein Flattern wie von einem Kolibri oder Schmetterling, der unter dem Kragen ihres Kleides gefangen saß.

Die Kette um ihren Hals vibrierte und zuckte. Irgendwie gelang es Tessa, nach unten zu schauen: Mit verschwommenem Blick erkannte sie zu ihrer Verwunderung, dass der kleine Metallengel unter ihrem Kragen hervorgekommen war. Pfeilschnell stieg er auf und hob dabei die Kette über ihren Kopf. Seine Augen schienen zu glühen — und zum ersten Mal hatte er die Metallschwingen weit ausgebreitet, deren Ränder mit irgendeiner schimmernden Substanz versehen waren und rasiermesserscharf glitzerten. Während Tessa erstaunt zusah, begab sich der Engel wie eine Hornisse in den Sturzflug und attackierte den Kopf des Klockwerk-Mannes mit seinen scharfkantigen Schwingen, die durch die Kupfer- und Metallschichten der Kreatur schnitten und einen Sprühregen aus roten Funken erzeugten.

Obwohl die Funken Tessas Hals wie glühende Eisenpartikel versengten, nahm sie die winzigen Verbrennungen kaum wahr. Denn der Automat lockerte seinen Griff, und während er unkoordiniert umhertorkelte und wild mit den Metallarmen um sich schlug, wand Tessa sich aus seiner Umklammerung. Sein Anblick erinnerte sie an eine Zeichnung, die sie einmal gesehen hatte: Er wirkte wie ein verärgerter Gentleman, der bei einem Gartenfest wütend ein paar Bienen verscheuchte.

Mortmain, der eine Spur zu spät begriff, was da vor sich ging, schrie den anderen Automaten einen Befehl zu, woraufhin diese sich in Bewegung setzten und auf Tessa zustürzten.

Verzweifelte schaute Tessa sich um, konnte den winzigen Engel jedoch nirgends mehr sehen. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Tessa! Aus dem Weg!« Eine kalte kleine Hand packte sie am Handgelenk: Jessamine riss sie zur Seite, während Thomas, der Sophie freigegeben hatte, nach vorn stürmte. Resolut schob Jessamine Tessa rückwärts in Richtung Treppe und rückte dann mit wirbelndem Sonnenschirm vor; aus ihrem Gesicht sprach eiserne Entschlossenheit.

Thomas ging als Erster zum Angriff über: Er schwang sein Schwert und schlitzte einer Kreatur, die mit ausgestreckten Metallgreifern auf ihn zukam, mit einem gewaltigen Schlag den Brustkorb auf. Laut sirrend taumelte der Automat rückwärts; rote Funken sprühten wie Blut aus seinem Rumpf. Der Anblick entlockte Jessamine ein harsches Lachen und sie schlug mit ihrem Schirm um sich. Die wirbelnde, scharfe Gewebekante durchtrennte die Beine von gleich zwei Klockwerk-Männern, die daraufhin nach vorn stürzten und wie Fische an Land hilflos über den Boden zappelten.

Mortmain zog eine verärgerte Miene. »Ach, Herrgott noch mal! Du ...« Ungeduldig schnippte er mit den Fingern und zeigte auf einen Automaten, an dessen rechtem Handgelenk eine Art Metallröhre angeschweißt zu sein schien. »Erledige sie ... die Schattenjägerin.«

Mit einer eckigen Bewegung riss die Kreatur den Arm hoch und eine grellrote Flamme schoss aus der Röhre. Der Kugelblitz traf Jessamine voll in die Brust und schleuderte sie rückwärts. Der Schirm entglitt ihrer Hand, als sie zu Boden ging und zuckend und mit weit geöffneten, glasigen Augen liegen blieb. Nathaniel, der sich neben Mortmain an den Rand des Kampfgetümmels verdrückt hatte, lachte spröde. In dem Moment verspürte Tessa einen heißen, unbändigen Hass, dessen Intensität sie selbst erschreckte. Am liebsten hätte sie sich auf Nate gestürzt und ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerfurcht oder ihn so lange getreten, bis er vor Schmerz geschrien hätte. Dazu hätte es nicht viel bedurft, wie Tessa genau wusste. Wenn es um das Erdulden von Schmerzen ging, war Nathaniel schon immer ein Feigling gewesen. Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, doch die Kreaturen, die Jessamine außer Gefecht gesetzt hatten, marschierten bereits wieder auf sie zu. Sofort schob Thomas sich vor Tessa. Seine schweißfeuchten Haare klebten ihm im Gesicht und quer über seine Hemdbrust verlief ein langer, blutiger Riss. Majestätisch schwang er das Schwert mit großen, weit ausholenden Bewegungen. Sicher war es nur eine Frage von Minuten, bis er die Kreaturen vollends in der Luft zerfetzt hatte. Doch die KlockwerkMänner erwiesen sich als überraschend geschickt. Immer wieder wichen sie seinen Hieben aus und strebten unbeirrt und mit starrem Blick in Tessas Richtung. Thomas wirbelte zu Tessa herum und brüllte panisch: »Miss Gray! Schnell! Bringen Sie Sophie fort!«

Tessa zögerte. Sie wollte nicht fliehen. Sie wollte ihren Mann stehen. Doch Sophie kauerte wie gelähmt hinter ihr, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

»Sophie!«, schrie Thomas, und als Tessa die Angst in seiner Stimme hörte, wusste sie, dass sie hinsichtlich seiner Gefühle für Sophie recht gehabt hatte.

»Das Sanktuarium! Laufl«

»Nein!«, brüllte Mortmain und wandte sich an den Klockwerk-Mann, der Jessamine attackiert hatte. Als dieser den Arm hob, packte Tessa das Dienstmädchen am Handgelenk und zog sie in Richtung Treppe. Im nächsten Moment schlug ein roter Kugelblitz krachend in der Wand neben ihnen ein. Tessa schrie auf, verlangsamte ihre Schritte aber nicht und zerrte Sophie die Wendeltreppe hinauf, verfolgt vom Geruch des Schießpulvers und dem Gestank des Todes.

Will stürmte durch den Torbogen, der die Eingangshalle vom angrenzenden Raum trennte — und blieb abrupt stehen. Jem erwartete ihn bereits und schaute sich genau wie er verwundert um. Obwohl sie keine weiteren Ausgänge entdecken konnten, war Mrs Dark nirgends zu sehen.

Allerdings wirkte der große Raum keineswegs kahl und leer. Vermutlich hatte er einst als Speisesaal gedient — seine Wände wurden von riesigen Porträtgemälden geziert, die jedoch größtenteils zerschlitzt und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt waren. In der Saalmitte hing ein gewaltiger Kristalllüster, von dessen Armen lange graue Spinnweben herabbaumelten, welche sich in der aufgewirbelten Luft wie antike Spitzengardinen bauschten. Wahrscheinlich hatte der Leuchter einst über einem großen Esstisch gehangen, doch nun schaukelte er leise über dem nackten Marmorboden, der mit verschiedenen Symbolen zur Geisterbeschwörung versehen war — ein fünfzackiger Stern in einem Kreis, der sich in einem Quadrat befand. Im Inneren des Pentagramms stand eine abstoßende Steinstatue, das Abbild irgendeines hässlichen Dämons mit verwachsenen Gliedmaßen, klauenbewehrten Händen und Hörnern auf der Stirn.

Um die Statue herum zeugten diverse Utensilien von der Anwendung schwarzer Magie: Knochen, Federn, Fellstreifen und Schlangenhäute waren über den Raum verstreut und daneben erkannte man brodelnde Blutlachen, die wie dunkler Champagner schäumten. In einer Ecke lagen mehrere leere Käfige und auf einem niedrigen Beistelltisch stapelten sich blutbeschmierte Messer und steinerne Gefäße mit dubiosen dunklen Flüssigkeiten.

Sämtliche Zwischenräume zwischen den fünf Zacken des Pentagramms waren mit Runen und Kringeln ausgefüllt, die Will in den Augen brannten, als er sie betrachtete — allesamt das Gegenteil der Runenmale im Grauen Buch, die Ehre und Frieden verhießen, während diese nekromantischen Symbole nur von Ruin und Tod sprachen.

»Jem, das sind keine Vorbereitungen für eine Verquickungsformel«, wandte Will sich an seinen Freund.

»Dies hier dient alles der Geisterbeschwörung.«

»Hat Mrs Dark nicht gesagt, sie habe versucht, ihre Schwester wieder von den Toten zu erwecken?«, erwiderte Jem.

»Ja, schon, aber hier findet sich nichts, was auf irgendwelche anderen Tätigkeiten hindeutet.« Tief in Wills Innerem regte sich ein schrecklicher dunkler Verdacht.

Jem reagierte nicht; irgendetwas auf der anderen Seite des Saals schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln. »Dahinten ist eine Katze«, raunte er und zeigte quer durch den Raum. »In einem der Käfige dort drüben.«

Will schaute in die Richtung, in die sein Freund deutete. Tatsächlich kauerte in einem der Tierkäfige entlang der Wand eine graue Katze mit sichtbar gesträubtem Fell. »Na und?«, fragte Will.

»Sie lebt noch.«

»Das ist eine Katze, James. Wir haben definitiv größere Sorgen als ...«

Doch Jem hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Auf der anderen Seite des Saals angekommen, griff er nach dem Käfig und hob ihn hoch. Das darin eingesperrte Tier entpuppte sich als grauer Perserkater, mit typisch eingedrückter Gesichtspartie und gelben Augen, die Jem böse anfunkelten. Plötzlich machte der Kater einen Buckel und fauchte laut, den Blick auf das Pentagramm geheftet. Sofort schaute Jem sich um — und erstarrte. »Will«, rief er warnend. »Hinter dir!«

Die Statue in der Mitte des Pentagramms hatte sich offenbar bewegt: Die zuvor gekrümmte Gestalt stand nun aufrecht und ihre Augen glühten schwefelgelb. Doch erst als sie ihre drei Münder zu einem Grinsen verzog, erkannte Will, dass es sich keineswegs um eine Marmorstatue handelte, sondern um eine Kreatur mit harter, grauer, steinähnlicher Haut. Ein Dämon. Will duckte sich und schleuderte instinktiv sein Seraphschwert, obwohl er nicht erwartete, mit dieser Geste viel ausrichten zu können. Und er sollte recht behalten: Als die Klinge auf das Pentagramm zuflog, prallte sie plötzlich gegen eine unsichtbare Mauer und fiel krachend zu Boden.

Der Dämon im Pentagramm lachte meckernd. »Du versuchst, mich hier drin zu attackieren?«, fragte er höhnisch mit hoher, dünner Stimme. »Du könntest die himmlischen Heerscharen gegen mich einsetzen und würdest doch nichts erreichen! Keine Engelsmacht vermag, diesen Kreis zu durchdringen!«

»Mrs Dark«, stieß Will zwischen den Zähnen hervor.

»Ach, dann erkennst du mich jetzt also doch?! Andererseits wurde auch noch nie behauptet, ihr Nephilim wärt besonders clever.« Die Dämonin fletschte die grünlichen Reißzähne. »Dies hier ist meine wahre Gestalt — eine recht hässliche Überraschung, möchte ich vermuten.«

»Nicht doch: Ich wage zu behaupten, es ist eine deutliche Verbesserung«, spöttelte Will. »Sie waren zuvor schon kein liebreizender Anblick und die Hörner verleihen Ihnen zumindest eine dramatische Note.«

»Und wer genau sind Sie?«, wollte Jem wissen, während er den Käfig mit dem Kater vor sich auf den Boden stellte. »Ich dachte, Sie und Ihre Schwester wären Hexen.«

»Meine Schwester war eine Hexe«, zischte die Kreatur; die sich einst als Mrs Dark ausgegeben hatte.

»Aber ich bin eine reinrassige Dämonin — eine Eidolon. Oder Gestaltwandlerin. Genau wie eure heiß geliebte Tessa. Aber im Gegensatz zu ihr kann ich nicht zu der Person werden, deren äußere Hülle ich annehme. Ich kann ihren Geist, ihren Verstand nicht berühren — weder den der Lebenden noch den der Toten. Und deshalb wollte der Magister mich auch nicht«, stieß sie mit leicht gekränkter Stimme hervor. »Also hat er uns beauftragt, sie auszubilden ... seinen kostbaren kleinen Liebling. Mich und meine Schwester, denn wir wissen alles über die Kunst der Gestaltwandlung. Es ist uns gelungen, das Mädchen selbst gegen ihren Willen darin zu unterrichten, aber sie war uns für diesen Dienst keineswegs dankbar.«

»Das muss Sie sehr verletzt haben«, bestätigte Jem mit sanfter Stimme. Will öffnete den Mund, doch als er Jems warnenden Blick sah, schloss er ihn wieder.

»Mit ansehen zu müssen, dass Tessa alles bekam, was Sie sich wünschten, es aber überhaupt nicht zu würdigen wusste.«

»Sie hat es nie begriffen — die Ehre, die ihr zuteil wurde. Der Ruhm, den sie erlangen sollte.« Die gelben Augen der Dämonin brannten vor Empörung.

»Als sie floh, richtete sich der Zorn des Magisters gegen mich — ich hatte ihn enttäuscht. Und er setzte ein Kopfgeld auf mich aus.«

Dies schien Jem aufrichtig zu bestürzen. »Sie meinen, de Quincey wollte wirklich Ihren Tod?«, fragte er schockiert.

»Wie oft muss ich euch noch sagen, dass de Quincey nicht der Magister ist? Der Magister ist ...«

Abrupt brach die Dämonin ab und kreischte dann:

»Du versuchst nur, mich hereinzulegen, kleiner Schattenjäger, aber das wird dir nicht gelingen!«

Gleichgültig zuckte Jem die Achseln. »Sie können nicht ewig in diesem Pentagramm bleiben. Irgendwann wird der Rest der Brigade hier eintreffen und Sie aushungern. Und dann gehören Sie uns — und Sie wissen ja, wie der Rat mit denjenigen verfährt, die das Gesetz brechen.«

Mrs Dark zischte. »Mag sein, dass er mich verstoßen hat, aber ich fürchte den Magister noch immer tausendmal mehr als euch und eure Brigade!«

Tausendmal mehr als die Brigade. Eigentlich hätte sie sich vor den Nephilim fürchten müssen, überlegte Will. An Jems Worten gab es nichts zu rütteln und dennoch fürchtete sich die Kreatur nicht. Aber nach Wills Erfahrung handelte es sich nur selten um ein Zeichen von Mut oder Tapferkeit, wenn jemand entgegen aller Erwartung keine Angst empfand — in der Regel bedeutete das vielmehr, dass derjenige mehr wusste als man selbst.

»Wenn Sie uns schon nicht verraten wollen, wer der Magister ist«, setzte Will mit scharfer Stimmer an,

»dann können Sie uns vielleicht stattdessen eine einfache Frage beantworten. Ist Axel Mortmain der Magister?«

Bei diesen Worten stieß die Dämonin ein gequältes Heulen aus, schlug die knochigen Hände vor den Mund und sank mit weidwunden Augen zu Boden.

»Der Magister ... Er wird glauben, ich hätte es euch verraten. Jetzt wird er mir niemals vergeben ...«

»Mortmain?«, wiederholte Jem. »Aber er ist doch derjenige, der uns gewarnt hat ... Ah.« Er schwieg kurz. »Ich verstehe«, fügte er hinzu, inzwischen kreidebleich im Gesicht.

Will wusste, dass Jems Gedanken nun in dieselbe Richtung rasten wie seine eigenen kurz zuvor. Und da er insgeheim den Verdacht hegte, dass sein Freund schlauer war als er, nahm er an, dass Jem vermutlich sogar als Erster darauf gekommen wäre — wenn ihm nicht Wills angeborener Hang zur Skepsis gefehlt hätte, der Will immer das Schlimmste von anderen Leuten annehmen ließ.

»Mortmain hat uns belogen, was die Dunklen Schwestern und die Verquickungsformel betrifft«, erkannte Jem nun. »Genau genommen war er sogar derjenige, der Charlotte überhaupt erst den Floh ins Ohr gesetzt hat, de Quincey sei der Magister. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir den Vampir niemals verdächtigt. Aber wozu der ganze Aufwand?«

»De Quincey ist eine widerliche Bestie«, heulte Mrs Dark, die noch immer inmitten des Pentagramms kauerte. Offenbar war sie zu dem Schluss gekommen, dass weiteres Leugnen keinen Zweck hatte. »Der Vampir hat Mortmain bei jeder Gelegenheit zuwidergehandelt und wollte sich sogar selbst zum Magister machen. Eine derartige Gehorsamsverweigerung muss bestraft werden.«

Will tauschte einen kurzen Blick mit Jem und erkannte, dass sein Freund dasselbe dachte wie er.

»Mortmain ergriff die günstige Gelegenheit, ein schlechtes Licht auf einen Rivalen zu werfen«, überlegte Jem laut. »Nur aus diesem Grund hat er de Quincey gewählt.«

»Es wäre durchaus denkbar, dass er die Pläne für die Automaten in de Quinceys Bibliothek versteckt hat«, pflichtete Will ihm bei. »Denn de Quincey hat zu keinem Zeitpunkt zugegeben, dass sie ihm gehörten. Genau genommen schien er sie nicht einmal wiederzuerkennen, als Charlotte ihn damit konfrontierte. Des Weiteren kann Mortmain den Automaten auf der Brücke durchaus befohlen haben, sich als Handlanger des Vampirs auszugeben. Und es war für ihn sicherlich auch kein Problem, de Quinceys Zeichen in der Brust dieses Klockwerk-Mädchens zu hinterlassen und sie im Dunklen Haus zu deponieren, damit wir sie dort finden — alles nur, um den Verdacht von sich zu lenken.«

»Aber Mortmain ist nicht der Einzige, der mit dem Finger auf de Quincey gezeigt hat«, fügte Jem mit ernster Stimme hinzu. »Da wäre noch Nathaniel Gray. Tessas Bruder. Und wenn zwei Leute dieselbe Lüge verbreiten ...«

»... dann arbeiten sie in der Regel zusammen«, beendete Will den Satz. Einen kurzen Moment empfand er fast so etwas wie Genugtuung — die jedoch schnell wieder verflog. Er hatte Nathaniel Gray von Anfang an nicht gemocht und es nicht ausstehen können, dass Tessa ihren Bruder so behandelte, als könnte dieser kein Wässerchen trüben. Und natürlich hatte er sich für seine Eifersucht anschließend selbst verachtet. Doch so schön die Erkenntnis auch sein mochte, dass er sich im Hinblick auf Nates Charakter nicht getäuscht hatte, die Konsequenzen waren nicht auszudenken.

Mrs Dark brach in ein hohes, heulendes Gelächter aus. »Nate Gray«, schnaubte sie. »Das kleine menschliche Schoßhündchen des Magisters. Gray hat seine eigene Schwester an Mortmain verkauft. Für eine Handvoll Silberlinge, jawohl. Nur für ein paar Schmeicheleien. Etwas Derartiges hätte ich meiner Schwester niemals angetan. Und da behauptet ihr, wir Dämonen wären bösartig und die Menschen müssten vor uns beschützt werden!« Ihre Stimme überschlug sich fast vor höhnischem Gelächter.

Will ignorierte sie — sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Gütiger Gott, diese Geschichte, die Nathaniel ihnen über de Quincey aufgetischt hatte, war eine Lüge gewesen ... nichts als ein Trick, um die Nephilim auf eine falsche Fährte zu locken. Aber warum war Mortmain kurz nach dem Aufbruch der Brigade im Institut erschienen? Um uns loszuwerden, Jem und mich, dachte Will grimmig. Nate konnte nicht wissen, dass wir zwei Charlotte und Henry nicht begleiten würden. Also musste er improvisieren, als wir im Institut zurückblieben. Und aus diesem Grund ist dann Mortmain aufgetaucht, mit einem weiteren Ammenmärchen. Nate hat von Anfang an mit Mortmain unter einer Decke gesteckt.

Und jetzt ist Tessa allein mit ihm im Institut! Will spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre sofort zum Institut zurückgefahren, um Nathaniels Kopf wieder und wieder gegen eine Wand zu schlagen. Nur jahrelanges Training und die Sorge um Henry und Charlotte hielten ihn davon ab.

Aufgebracht wandte er sich an Mrs Dark: »Wie lautet Mortmains Plan? Was erwartet die Brigade, wenn sie am Carleton Square eintrifft? Ein Blutbad? Antworte mir!«, brüllte er. Die Angst ließ seine Stimme brechen. »Oder ich werde dafür sorgen, dass der Rat dich vor deiner Hinrichtung foltern wird, das schwöre ich beim Erzengel! Was plant Mortmain?«

Mrs Darks gelbe Augen blitzten. »Worauf hat der Magister es abgesehen? Was ist das Einzige, das ihn je interessiert hat?«, zischte sie. »Er verachtet die Nephilim, aber was ist es, was er wirklich will?«

»Tessa«, antwortete Jem prompt. »Aber sie befindet sich in Sicherheit. Nicht einmal Mortmains vermaledeite Klockwerk-Armee kann ins Institut hineingelangen. Selbst wenn wir beide hier und nicht vor Ort sind ...«

Mrs Dark lachte und erwiderte mit schmeichlerischer Stimme: »Als ich noch das Vertrauen des Magisters genoss, hat er mir von einem Plan erzählt, wie er in euer Institut einzudringen gedenkt. Er beabsichtigte, die Hände seiner Mechanik-Kreaturen mit dem Blut eines Schattenjägers zu bepinseln, um auf diese Weise die Portaltür zu öffnen.«

»Mit dem Blut eines Schattenjägers?«, wiederholte Will. »Aber ...«

»Will«, sagte Jem leise, beide Hände auf die Stelle gelegt, wo die Klockwerk-Kreatur ihm in jener Nacht vor dem Institut die Brust aufgerissen hatte. »Mein

Blut.«

Einen Moment stand Will vollkommen reglos da und starrte seinen Freund stumm an. Dann wirbelte er herum und rannte zum Ausgang des Speisesaals, dicht gefolgt von Jem, der sich den Käfig mit dem Kater schnappte und ihm nachstürmte. Doch als sie die Tür erreichten, flog diese wie von Geisterhand bewegt vor ihrer Nase krachend ins Schloss. Abrupt kam Will zum Stehen und drehte sich zu Jem um, der genauso verblüfft schaute wie er selbst.

Im Inneren ihres Pentagramms brach Mrs Dark in johlendes Gelächter aus. »Nephilim«, keuchte sie zwischen zwei Lachsalven. »Törichte, kleine Nephilim. Wo ist euer Erzengel, jetzt, da ihr ihn braucht?«

Im nächsten Moment schossen gewaltige Feuersäulen an den Wänden empor, sprangen auf die Vorhänge vor den Fenstern über und züngelten über den Boden. Die Flammen brannten in einem seltsamen blaugrünen Licht und sofort breitete sich ein dichter, beißender Qualm im Raum aus — Dämonengestank. Der Kater in dem Käfig begann wie wild in seinem Gefängnis herumzutoben, und warf sich wieder und wieder jaulend gegen die Gitterstäbe.

Hastig zückte Will eine zweite Seraphklinge und brüllte: »Anael!« Das Schwert leuchtete sofort grell auf, doch Mrs Dark lachte nur.

»Wenn der Magister eure verkohlten Leichen sieht, wird er mir vergeben!«, jubelte sie. »Dann wird er mich wieder willkommen heißen!« Ihr meckerndes Gelächter steigerte sich zu einem hohen, grässlichen Heulen, während sich der Saal mit dunklem, undurchdringlichem Rauch füllte.

Jem hielt sich einen Arm vor den Mund und rief Will mit erstickter Stimme zu: »Töte sie! Töte sie und das Feuer wird sofort erlöschen!«

Beide Hände fest um den Griff seines Schwerts geklammert, erwiderte Will knurrend: »Glaubst du ernsthaft, das hätte ich nicht längst getan, wenn ich könnte? Sie befindet sich im Inneren des Pentagramms!«

»Ich weiß.« Jem warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Will, schneid sie durch!«

Da Will und Jem sich blind verstanden, begriff Will sofort, was sein Freund meinte. Er wirbelte zu dem Pentagramm herum, hob das strahlende Seraphschwert, zielte und schleuderte die Waffe — allerdings nicht gegen die Dämonin, sondern in Richtung der dicken Metallkette, die den schweren Kristalllüster trug. Die Klinge durchtrennte die Kette so mühelos wie ein Messer einen Papierbogen. Dann ertönte ein reißendes Geräusch und der Dämonin blieb gerade noch Zeit, einen einzigen schrillen Schrei auszustoßen, bevor der wuchtige Kronleuchter herabstürzte — ein berstender Komet aus knirschendem Metall und klirrendem Glas.

Schützend riss Will die Arme vor die Augen, als der Boden unter seinen Füßen wie bei einem Erdstoß bebte. Einen Sekundenbruchteil später ging ein Hagel aus Marmorbrocken, Kristallscherben und Metallstücken auf ihn herab.

Als sich das Chaos nach einer Weile legte, öffnete er vorsichtig die Augen. Der Kronleuchter lag zersplittert und vollkommen verbogen vor ihm, wie ein gewaltiges Schiffswrack auf dem Meeresboden. Dünne Staubsäulen stiegen aus den Trümmern auf und unter einem Haufen aus scharfkantigen Glasscherben und spitzen Metallteilen sickerte schwarzgrünes Blut hervor ...

Jem hatte recht gehabt: Die Flammen waren erloschen. Er selbst stand — den Käfig mit dem Kater fest in der Hand — vor dem Trümmerhaufen und betrachtete Wills Werk. Staub hatte seine ohnehin hellen Haare noch weißer getönt und seine Wangen waren mit Asche beschmiert. »Gute Arbeit, William!«, bemerkte er anerkennend.

Doch Will reagierte nicht — dafür war jetzt keine Zeit. Er stieß die Tür, die sich nun mühelos öffnen ließ, weit auf und stürmte aus dem Saal.

Tessa und Sophie liefen die endlosen Stufen der Institutstreppe hinauf, bis Sophie keuchend rief: »Hier entlang! Durch diese Tür!« Sofort warf Tessa sich dagegen und fiel förmlich in den dahinterliegenden Flur. Sophie entzog sich ihrem Griff und wirbelte herum, um die Tür zu schließen und den Riegel vorzuschieben. Nach Luft schnappend lehnte sie sich einen Moment gegen das Holz. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Miss Jessamine«, wisperte sie. »Glauben Sie, dass sie ...?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Tessa kurzatmig.

»Aber du hast gehört, was Thomas gesagt hat. Wir müssen es zum Sanktuarium schaffen, Sophie. Dort werden wir in Sicherheit sein.« Und Thomas will, dass ich auch in Zukunft für deine Sicherheit sorge. »Du musst mir zeigen, wo dieser Raum liegt. Ich finde mich hier allein nicht zurecht.«

Sophie nickte langsam und richtete sich auf. Schweigend führte sie Tessa durch ein Labyrinth gewundener Gänge, bis sie schließlich den dunklen Korridor betraten, den Tessa von ihrem ersten Treffen mit Camille wiedererkannte. Sophie nahm ein Elbenlicht aus der Wandhalterung und lief voran. Endlich erreichten sie die massive Eisentür, auf deren Oberfläche die beiden mit dem Rücken aneinandergrenzenden C prangten.

Plötzlich hielt Sophie abrupt inne und schlug bestürzt eine Hand vor den Mund. »Der Schlüssel!«, wisperte sie. »Ich hab den verdammten — 'tschuldigung, Miss — Schlüssel vergessen!«

Tessa spürte, wie eine Woge frustrierter Wut in ihr aufwallte, aber es gelang ihr, den Anfall zu unterdrücken. Sophie hatte gerade miterleben müssen, wie eine gute Freundin in ihren Armen gestorben war; man konnte es ihr wohl kaum verübeln, dass sie den Schlüssel vergessen hatte. »Weißt du, wo Charlotte ihn aufbewahrt?«, fragte Tessa drängend.

Sophie nickte. »Ich lauf schnell los und hol ihn. Warten Sie hier, Miss.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Tessa schaute ihr nach, bis ihre weiße Haube und die hell schimmernden Ärmelaufschläge in den Schatten verblassten und sie allein in der Dunkelheit zurückblieb. Der Flur wurde nur von einem schmalen Lichtstreifen erhellt, der unter der Tür des Sanktuariums hindurchfiel. Tessa presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, als könnte sie darin verschwinden. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder und wieder, wie das Blut aus Agathas Brustkorb schoss und Sophies Hände hellrot verfärbte. Und sie hatte noch immer das spröde Gelächter ihres Bruders in den Ohren, als der rote Kugelblitz Jessamine traf ...

Da war es wieder — harsch und spröde wie knirschendes Glas hallte es durch die Dunkelheit. Sicher bildete sie sich das nur ein. Langsam drehte Tessa sich um, in Richtung des Gelächters — und dort, wo wenige Minuten zuvor nur ein leerer Gang gewesen war, stand nun jemand. Jemand mit hellen Haaren und einem breiten Grinsen im Gesicht. Jemand mit einem dünnen, langen Messer in der rechten Hand.

Nate.

»Meine kleine Tessie«, spottete er. »Das war wirklich beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass du oder das Dienstmädchen so schnell laufen könnt.« Er wirbelte das Messer zwischen seinen Fingern. »Zu deinem Pech hat mich mein Gebieter jedoch mit gewissen ... Kräften ausgestattet. Ich kann mich inzwischen schneller bewegen, als du denken kannst.« Er lächelte süffisant. »Wahrscheinlich bedeutend schneller, wenn man berücksichtigt, wie lange du gebraucht hast, um die Zusammenhänge zu begreifen.«

»Nate«, stieß Tessa mit zittriger Stimme hervor.

»Es ist noch nicht zu spät. Du kannst noch aufhören.«

»Womit aufhören?« Nate sah sie direkt an — zum ersten Mal, seit er in der Eingangshalle vor Mortmain niedergekniet war. »Ich soll damit aufhören, unermessliche Kräfte und immenses Wissen zu gewinnen? Oder damit, der Lieblingsjünger des mächtigsten Mannes von ganz London zu sein? Ich wäre ein rechter Narr, wenn ich mit alldem aufhören würde, kleines Schwesterlein.«

»Lieblingsjünger? Wo war Mortmain denn, als de Quincey kurz davor stand, dir sämtliches Blut aus den Adern zu saugen?«

»Ich hatte ihn enttäuscht«, sagte Nate. »Du hast ihn enttäuscht. Du bist aus dem Haus der Dunklen Schwestern geflohen, obwohl du wusstest, was das für mich bedeutete. Deine schwesterliche Zuneigung lässt etwas zu wünschen übrig, Tessie.«

»Ich habe mich um deinetwillen von den Dunklen Schwestern foltern lassen, Nate. Ich habe alles für dich getan. Und du ... du hast mich glauben lassen, de Quincey sei der Magister. All die Dinge, die du behauptet hast ... alles, was de Quincey angeblich getan hat, das war in Wahrheit Mortmains Werk, stimmt’s? Er war derjenige, der mich nach England holen ließ. Er war derjenige, der die Dunklen Schwestern beauftragt hat. Dieser ganze Unsinn über de Quincey diente nur dazu, die Brigade vom Institut fortzulocken.«

Nate grinste. »Wie hat Tante Harriet immer so schön gesagt: ›Zu spät gescheit ist oft bereut!‹«

»Und was wird die Brigade vorfinden, wenn sie bei der Adresse eintrifft, die du als de Quinceys Versteck angegeben hast? Nichts? Ein leeres Haus, eine niedergebrannte Ruine?« Langsam wich Tessa zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die kalte Oberfläche der Eisentür stieß.

Nate folgte ihr und seine Augen glitzerten wie die Klinge in seiner Hand. »Aber nein. Dieser Teil der Geschichte ist wahr. Es wäre doch nicht sinnvoll, wenn die Brigade zu schnell erkennen würde, dass man sie zum Narren gehalten hat, oder? Sie soll ruhig ein Weilchen beschäftigt sein — und das Ausräuchern von de Quinceys Nest dürfte sie in der Tat ein paar Stunden kosten.« Er zuckte die Achseln. »Übrigens bist du diejenige, die mich erst darauf gebracht hat, dem Vampir an allem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Nach den Ereignissen neulich Abend war er sowieso ein toter Mann — die Nephilim hatten ihn damit im Visier, was ihn für Mortmain nutzlos machte. Und die Tatsache, dass wir ihm nun die Brigade auf den Hals geschickt haben, um ihn zu beseitigen, und Will und Jem fortgelockt haben, damit sie meinem Gebieter diese lästige Mrs Dark vom Hals schaffen ... nun ja, das ist wie drei Fliegen mit einer Klappe schlagen, oder? Ein ziemlich genialer Schachzug von mir, wenn ich das mal so sagen darf, findest du nicht auch?«

Er lobt sich selbst ... ist stolz auf seine eigenen Taten, dachte Tessa angewidert und hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Doch sie wusste, dass sie ihn dazu bringen musste weiterzureden, um selbst Zeit zu gewinnen — Zeit für einen Plan, wie sie sich aus dieser misslichen Lage befreien konnte. »Uns hast du auf jeden Fall gründlich hereingelegt«, erklärte sie und hasste sich dafür selbst. »Wie viel von der Geschichte ist denn wahr? Und wie viel hast du erfunden?«

»Ach, große Teile davon entsprechen tatsächlich der Wahrheit, wenn du es unbedingt wissen willst. Die besten Lügen sind die, die auf der Wahrheit basieren, zumindest in Teilen«, prahlte Nathaniel selbstgefällig.

»Ich bin mit der festen Absicht nach London gekommen, Mortmain mit meinem Wissen über seine okkulten Machenschaften zu erpressen. Aber dann stellte sich heraus, dass ihn das überhaupt nicht kümmerte. Allerdings wollte er mich unbedingt kennenlernen, um sich Gewissheit zu verschaffen: Denn er war sich nicht sicher, ob ich das erst- oder zweitgeborene Kind unserer Eltern war. Er dachte, ich wäre möglicherweise du«, grinste Nate. »Als er dann erkannte, dass ich nicht das Kind war, nach dem er suchte, freute er sich wie ein Schneekönig — er wünscht sich nämlich ein Mädchen, musst du wissen.«

»Aber wozu? Was will er von mir?«

Erneut zuckte Nate die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und es ist mir auch egal. Mortmain versprach mir, wenn ich dich herbeischaffen und ihm übergeben würde und du dich als das erweisen würdest, was er sich von dir erhoffte, dann würde er mich zu seinem Jünger machen. Doch nach deiner Flucht lieferte er mich zur Strafe an de Quincey aus. Und als du mich hierher brachtest, mitten in die Hochburg der Nephilim, war das für mich wie eine zweite Chance: Endlich konnte ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllen.«

»Du hast ihn kontaktiert?« Tessa spürte, wie ihr übel wurde. Plötzlich musste sie an das geöffnete Fenster im Salon denken, an Nates gerötetes Gesicht und seine Behauptung, dass es bereits offen gewesen wäre. Irgendetwas sagte ihr, dass er Mortmain eine Nachricht geschickt hatte. »Du hast ihm mitgeteilt, dass die Nephilim dich aufgenommen haben? Und dass du bereit wärst, uns zu hintergehen? Aber du hättest hierbleiben können — und wärst in Sicherheit gewesen!«

»In Sicherheit, aber machtlos. Hier im Institut bin ich nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, schwach und nichtswürdig. Aber als Mortmains Jünger werde ich direkt an seiner Seite stehen, wenn er das britische Weltreich regiert.«

»Du bist ja verrückt«, stieß Tessa hervor. »Die ganze Geschichte ist vollkommen lächerlich.«

»Ich kann dir versichern, dass sie alles andere als lächerlich ist. Genau heute in einem Jahr wird Mortmain es sich im Buckingham Palace bequem machen. Das Empire wird sich seiner Herrschaft beugen.«

»Aber du wirst nicht an seiner Seite sein. Ich habe gesehen, mit welchem Blick er dich bedacht hat: Du bist kein Jünger, sondern nur ein Werkzeug, das er benutzt. Und wenn er bekommen hat, was er will, dann wird er dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.«

Nates Hand schloss sich fester um den Griff des Messers. »Das stimmt nicht!«

»Doch, es stimmt«, sagte Tessa. »Tante Harriet hat dich immer gewarnt, dass du viel zu vertrauensselig bist. Deshalb bist du auch ein so miserabler Spieler, Nate. Du lügst und betrügst andere nach Strich und Faden, kannst aber nicht erkennen, wenn man dich täuscht. Tante Harriet meinte ...«

»Tante Harriet . . Nate lachte leise. »Ihr Tod kam ja so überraschend ...«, grinste er. »Ist es dir eigentlich nicht merkwürdig erschienen, dass ich dir eine Schachtel Pralinen geschickt habe? Eine Süßigkeit, von der ich doch genau wusste, dass du sie nicht anrühren würdest? Während das liebe Tantchen sich mit Freuden darauf gestürzt haben dürfte ...«

Bei seinen Worten verspürte Tessa einen plötzlichen Übelkeitsanfall, einen heftigen Stich, als hätte Nathaniel ihr das Messer in den Magen gerammt und genüsslich darin umgedreht. »Nate ... das würdest du doch nicht ernsthaft tun ... Tante Harriet hat dich geliebt!«

»Du hast keine Ahnung, was ich alles tun würde, Tessie. Nicht die geringste.« Die Worte sprudelten wie im Fieberwahn aus ihm heraus: »Du hältst mich für einen tumben Narren. Deinen törichten Bruder, der vor der Welt beschützt werden muss, den man so leicht übertölpeln und ausnutzen kann. Ich habe gehört, wie ihr euch über mich unterhalten habt, du und Tante Harriet. Und ich weiß, dass keiner von euch beiden geglaubt hat, dass ich es jemals zu etwas bringen würde ... dass ich etwas leisten würde, worauf ihr stolz sein könntet. Aber jetzt habe ich es geschafft.

Jetzt habe ich es geschafft«, knurrte er, vollkommen taub gegenüber der Ironie in seinen Worten.

»Du hast es geschafft, einen Mörder aus dir zu machen! Und da glaubst du wirklich, darauf wäre ich auch noch stolz? Nein, Nate, ich schäme mich dafür, mit dir verwandt zu sein.«

»Mit mir verwandt? Dass ich nicht lache! Du bist ja nicht mal ein Mensch, sondern nur irgendein ... Ding.

Mich verbindet nichts mehr mit dir. Seit dem Moment, als Mortmain mir erzählte, worum es sich bei dir tatsächlich handelt, bist du für mich gestorben. Ich habe keine Schwester mehr.«

»Und warum nennst du mich dann immer noch ›Tessie‹?«, fragte Tessa so leise, dass sie ihre Worte kaum selbst hören konnte.

Einen Augenblick lang sah Nathaniel sie vollkommen verwirrt an. Und als sie den Blick erwiderte und ihren Bruder betrachtete — den Bruder, von dem sie angenommen hatte, er sei das Einzige, was ihr noch geblieben war, bewegte sich plötzlich irgendetwas hinter Nates Schulter und Tessa fragte sich, ob sie wohl inzwischen Gespenster sah oder vielleicht kurz davor stand, in Ohnmacht zu fallen.

»Ich habe dich nicht ›Tessie‹ genannt«, erwiderte Nate schließlich, mit dünner, fast verlorener Stimme. In dem Moment wurde Tessa von einem überwältigenden Gefühl unendlicher Traurigkeit erfasst. »Du bist mein Bruder, Nate. Und du wirst immer mein Bruder bleiben.«

Nathaniel kniff die Augen leicht zusammen. Eine Sekunde lang dachte Tessa, dass er sie schließlich doch noch gehört hatte und sich nun eines Besseren besann. Doch dann erwiderte er: »Wenn du erst dem Magister gehörst, werde ich für immer mit ihm verbunden sein. Denn ich bin derjenige, der es ihm überhaupt ermöglicht hat, dich zu bekommen.«

Tessa sank der Mut. Plötzlich bewegte sich das Ding hinter Nates Schulter erneut, wie eine Verwirbelung der Schatten. Die Bewegung war echt — kein Trugbild ihrer Fantasie, erkannte Tessa im nächsten Moment. Hinter Nate war tatsächlich etwas. Irgendetwas, das sich langsam auf sie zubewegte. Tessa öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Sophie, dachte sie und hoffte inständig, dass das Mädchen genügend Menschenverstand besaß, um rasch wegzulaufen, ehe Nate sie mit dem Messer angreifen konnte.

»Also los, komm endlich«, forderte er Tessa nun auf. »Es besteht überhaupt kein Grund, so ein Theater zu machen. Der Magister wird dir schon nichts tun ...«

»Dessen kannst du dir doch gar nicht sicher sein«, widersprach Tessa. Inzwischen hatte sich die Gestalt bis dicht hinter Nate geschlichen; irgendetwas Helles schimmerte in ihrer Hand. Tessa zwang sich, den Blick weiterhin auf Nates Gesicht zu heften.

»Doch, das weiß ich genau«, knurrte Nathaniel ungeduldig. »Tessa, ich bin kein Narr . .«

In diesem Augenblick setzte sich die Gestalt schlagartig in Bewegung: Das helle, schimmernde Objekt schwebte einen Moment hoch über Nates Kopf und ging dann krachend auf seinen Schädel nieder. Nate torkelte vorwärts und brach bewusstlos zusammen. Als er auf dem Boden auftraf, entglitt die Klinge seiner schlaffen Hand. Und dann lag er reglos da. Blut sickerte zwischen seinen hellblonden Haaren hervor. Tessa schaute auf. Im Halbdunkel des Flurs konnte sie Jessamine erkennen, die mit einem wutentbrannten Ausdruck in den Augen über Nate gebeugt stand, die Überreste einer zerbrochenen Lampe in der linken Hand.

»Vielleicht kein Narr ...«, höhnte sie verächtlich und stieß mit dem Fuß gegen Nates ohnmächtige Gestalt, ». . aber auch nicht gerade der hellste Stern am Himmel.«

Sprachlos starrte Tessa die junge Schattenjägerin an. »Jessamine?«, fragte sie schließlich ungläubig. Jessamine schaute auf. Der Kragen ihres Kleides war zerrissen, ihre Locken hatten sich vollständig aus den Haarnadeln gelöst und auf ihrer rechten Wange schimmerte ein bläulicher Bluterguss. Achtlos ließ sie den Lampenfuß fallen, der Nates Kopf nur knapp verfehlte, und erwiderte in gleichgültigem Ton: »Mir geht es gut, falls du vielleicht deswegen solche Stielaugen machen solltest. Schließlich waren sie ja nicht hinter mir her.«

»Miss Gray! Miss Lovelace!«, rief Sophie in dem Moment atemlos durch den Flur. In einer Hand hielt sie den schlanken Schlüssel zum Sanktuarium. Als sie die beiden anderen Mädchen erreichte, blieb sie abrupt stehen und starrte mit offenem Mund auf Nate.

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Wen interessiert es schon, ob mit ihm alles in Ordnung ist?«, schnaubte Jessamine, bückte sich und hob das Messer auf, das Nates Hand entglitten war.

»Nach all den Lügen, die er uns aufgetischt hat! Er hat es gewagt, mich zu belügen! Ich hatte wirklich gedacht ...« Sie verstummte und lief feuerrot an. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Dann richtete sie sich auf, drehte sich zu Sophie und hob das Kinn.

»Jetzt steh doch nicht tatenlos herum, Sophie! Lass uns endlich ins Sanktuarium, bevor Gott weiß noch was uns nachsetzt und uns alle erneut zu töten versucht.«

Will stürmte die Eingangsstufen des Herrenhauses hinunter, dicht gefolgt von Jem. Der Vollmond warf sein silbernes Licht auf den hell schimmernden Rasen und die dunkle Kutsche, die am unteren Ende der Auffahrt auf die beiden Schattenjäger wartete — noch genau an der Stelle, wo sie sie zurückgelassen hatten. Jem registrierte mit Erleichterung, dass die Pferde trotz des ganzen Lärms offenbar nicht gescheut hatten. Andererseits konnte er sich gut vorstellen, dass Balios und Xanthos als erfahrene Streitrosse der Nephilim wahrscheinlich schon deutlich Schlimmeres gesehen hatten. »Will«, rief er leise und kam schlitternd neben seinem Freund zum Stehen, wobei er die Tatsache zu verbergen versuchte, dass ihn der kurze Sprint völlig außer Atem gebracht hatte, »wir müssen sofort zum Institut zurückkehren!«

»Da werde ich dir ganz bestimmt nicht widersprechen«, murmelte Will und warf Jem einen scharfen Blick zu.

Jem fragte sich, ob sein Gesicht wohl so gerötet und fiebrig wirken mochte, wie er befürchtete. Das Mittel, von dem er vor dem Aufbruch eine größere Dosis eingenommen hatte, verlor schneller an Wirkung als normalerweise. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn diese Erkenntnis mit großer Sorge erfüllt, doch nun schob er den Gedanken einfach beiseite. »Glaubst du, Mortmain hat erwartet, dass wir Mrs Dark töten würden?«, fragte er — nicht weil ihn die Frage so dringend beschäftigte, sondern weil er ein paar Sekunden gewinnen wollte, um wieder zu Atem zu kommen, bevor sie in die Kutsche kletterten.

Will knöpfte seine Jacke auf und wühlte in einer der Innentaschen. »Könnte ich mir gut vorstellen«, sagte er, leicht geistesabwesend. »Möglicherweise hat Mortmain aber auch gehofft, wir würden uns gegenseitig umbringen — was für ihn natürlich ideal gewesen wäre. Und offensichtlich will er auch de Quinceys Kopf und hat deshalb beschlossen, die Nephilim als seine persönliche Vollstreckertruppe zu benutzen«, fügte er hinzu, zog ein Klappmesser aus der Jackentasche und betrachtete es zufrieden. »Ein einzelnes Pferd«, sinnierte er, »ist viel schneller als eine Kutsche.«

Jems Griff um den Käfig in seiner Hand verstärkte sich. Der graue Kater hinter den Gitterstäben schaute sich mit gelben Augen interessiert um. »Bitte sag mir, dass du nicht das planst, was ich befürchte, Will.«

Will ließ das Messer aufschnappen und marschierte die Auffahrt hinunter. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, James. Und Xanthos kann die Kutsche ganz hervorragend allein ziehen, zumal er ja nur dich transportieren muss.«

Jem versuchte, ihm zu folgen, doch der schwere Käfig und seine eigene Erschöpfung behinderten sein Vorankommen. »Was willst du denn mit dem Messer? Du wirst doch nicht eines der Pferde töten, oder?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Will, hob die Klinge und schlug auf das Geschirr ein, das sein Lieblingspferd Balios mit der Kutsche verband.

»Ah, ich verstehe«, meinte Jem. »Du willst dich wie Dick Turbin auf dem Pferd davonmachen und mich hier allein zurücklassen. Hast du vollends den Verstand verloren?«

»Irgendjemand muss sich ja um den Kater kümmern«, erwiderte Will, während die Ledergurte und Zugriemen herabfielen und er sich auf Balios’ Rücken schwang.

»Aber ...« Inzwischen ernsthaft beunruhigt, setzte Jem den Käfig ab. »Will, das kannst du nicht ...«

Doch es war bereits zu spät: Will grub dem Pferd die Fersen in die Flanken, woraufhin Balios sich wiehernd aufbäumte. Aber Will klammerte sich geschickt an der Mähne fest — und Jem hätte schwören können, dass sein Freund dabei breit grinste. Dann wirbelte Balios herum, preschte durch das Tor davon und innerhalb der nächsten Sekunde waren Ross und Reiter in der Dunkelheit verschwunden.

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