4 Staub und Schatten

Pulvis et umbra sumus.

Horaz, »Oden«

In dem Moment, in dem Tessa sich wieder in ihre eigene Gestalt verwandelte, stürmten die Schattenjäger mit einer Fülle von Fragen auf sie ein. Für eine Gruppe von Leuten, die in einer Schattenwelt voller Magie lebte, waren die versammelten Nephilim überraschend beeindruckt von ihrer Fähigkeit — was Tessas Verdacht nur bestätigte: Ihre Begabung der Gestaltwandlung musste tatsächlich sehr außergewöhnlich sein. Selbst Charlotte, die bereits vor Tessas Demonstration von diesem Phänomen gehört hatte, wirkte völlig fasziniert. »Das heißt also, dass Sie einen Gegenstand aus dem Besitz der Person benötigen, in die Sie sich verwandeln wollen?«, fragte sie nun schon zum zweiten Mal. Sophie und die ältere Frau, von der Tessa annahm, dass es sich um die Köchin handelte, hatten inzwischen das Geschirr abgeräumt und Tee und Gebäck gereicht, was aber niemandem der Anwesenden bisher aufgefallen zu sein schien. »Sie können also nicht einfach jemanden anschauen und dann ...?«

»Das hab ich doch schon erklärt.« Tessa bekam allmählich Kopfschmerzen. »Ich muss etwas in die Hand nehmen, das der betreffenden Person gehört, wie etwa einen Ring oder ein Haar oder eine Wimper. Etwas, das wirklich zu diesem Menschen gehört. Denn sonst passiert gar nichts.«

»Und würde auch eine Phiole mit Blut genügen, um die Verwandlung einzuleiten?«, fragte Will mit wissenschaftlichem Interesse.

»Möglicherweise, aber ich weiß es nicht genau. Ich habe es jedenfalls noch nicht ausprobiert.« Tessa nippte an ihrem Tee, der inzwischen kalt geworden war.

»Und Sie behaupten, dass die Dunklen Schwestern von dieser Begabung wussten? Sie wussten es, noch bevor Sie selbst von Ihrer Fähigkeit auch nur ahnten?«, hakte Charlotte nach.

»Ja. Aus diesem Grund wollten sie mich überhaupt erst in ihre Gewalt bekommen.«

Henry schüttelte den Kopf. »Aber woher haben sie davon gewusst? Diesen Teil verstehe ich noch immer nicht ganz.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Tessa, nicht zum ersten Mal. »Sie haben es mir nicht gesagt. Und ich weiß wirklich nicht mehr als das, was ich Ihnen erzählt habe: Die Schwestern schienen haargenau zu wissen, wozu ich fähig bin und wie sie mich darin unterrichten mussten. Sie haben stundenlang mit mir geübt, wieder und wieder, Tag für Tag ...« Tessa musste schlucken, um den bitteren Geschmack aus ihrem Mund zu bekommen. Erinnerungen an die schrecklichen Wochen im Dunklen Haus tauchten vor ihrem inneren Auge auf, an die endlosen Stunden im Keller ... an die Art und Weise, wie die Schwestern sie angeschrien hatten, dass Nate sterben würde, wenn sie nicht tat, was sie verlangten ... an die Höllenqualen beim ersten gelungenen Versuch. »Anfangs hat es sehr wehgetan«, wisperte sie. »Als würden die Knochen im Inneren meines Körpers brechen ... sich auflösen. Die Schwestern haben mich zwei, drei und dann ein Dutzend Mal täglich gezwungen, mich zu verwandein, bis ich schließlich das Bewusstsein verlor. Und am nächsten Tag begann alles wieder von vorn. Ich war in diesem Zimmer eingesperrt, konnte nicht fliehen ...« Gequält schnappte Tessa nach Luft. »An jenem letzten Tag haben sie mich getestet und von mir verlangt, mich in ein Mädchen zu verwandeln, das tot war. Das Mädchen besaß Erinnerungen an einen Überfall ... sie war mit einem Dolch attackiert worden ... und irgendetwas hatte sie bis in eine Gasse verfolgt ...«

»Möglicherweise war dies dasselbe Mädchen, das Jem und ich gefunden haben!« Will setzte sich kerzengerade auf; seine Augen funkelten. »Jem und ich haben vermutet, dass sie ihrem Angreifer entkommen und in die Dunkelheit geflohen war. Ich bin mir sicher, dass man den Shax-Dämon auf ihre Fährte gehetzt hatte, um sie zurückzuholen. Aber den habe ich getötet. Wahrscheinlich werden sie sich gefragt haben, was passiert ist.«

»Das Mädchen, in das ich mich verwandelte, hieß Emma Bayliss«, flüsterte Tessa kaum hörbar. »Sie hatte hellblondes Haar, zu dünnen Zöpfen geflochten, mit rosa Schleifen ... Sie war noch ein Kind.«

Will nickte, als käme ihm diese Beschreibung bekannt vor.

»Die Schwestern wollten wissen, was mit ihr geschehen ist. Aus diesem Grund musste ich mich in Emma verwandeln. Als ich ihnen erzählte, dass das Mädchen nicht mehr lebte, schienen sie sehr erleichtert.«

»Die arme Kleine«, murmelte Charlotte. »Dann können Sie sich also auch in Tote verwandeln? Nicht nur in lebende Personen?«

Tessa nickte. »Wenn ich ihre Gestalt annehme, sprechen ihre Stimmen zu mir. Und viele erinnern sich sehr genau an den Moment ihres Todes.«

»Igitt.« Jessamine erschauderte. »Wie makaber!«

Tessa schaute zu Will hinüber. Zu Mr Herondale, wie sie sich ermahnte, doch es fiel ihr schwer, ihn auf diese Weise zu sehen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihn viel besser zu kennen, als es tatsächlich der Fall sein konnte. Doch das war Torheit, schimpfte sie mit sich. »Sie haben mich gefunden, weil Sie nach dem Mörder von Emma Bayliss gesucht haben«, sagte sie.

»Dabei war sie doch nur ein Mädchen, eine tote ... Wie haben Sie sie genannt? ... eine tote Irdische. Warum haben Sie so viel Zeit und Mühe investiert, um herauszufinden, was mit ihr geschehen ist?«

Einen kurzen Moment trafen sich Wills und ihre Blicke und seine Augen schimmerten in einem tiefdunklen Blau. Doch dann änderte sich der Ausdruck in ihnen — nur eine winzige Veränderung, die Tessa jedoch nicht entging. Allerdings hätte sie nicht sagen können, was diese Veränderung zu bedeuten hatte.

»Ach, ich hätte mich nicht weiter um den Fall gekümmert, aber Charlotte hat darauf bestanden. Sie hatte den Eindruck, dass sich etwas Größeres hinter der Geschichte verbarg. Und nachdem Jem und ich uns erst einmal in den Pandemonium Club eingeschleust und die Gerüchte von weiteren Morden gehört hatten, wurde uns klar, dass es hier um mehr ging als nur um den Tod eines einzelnen Mädchens. Und ob wir die Irdischen nun besonders mögen oder nicht — wir können keinesfalls zulassen, dass sie systematisch abgeschlachtet werden. Schließlich ist dies der Grund für unsere Existenz.«

Charlotte beugte sich weit über den Tisch zu Tessa.

»Die Dunklen Schwestern haben nicht vielleicht erwähnt, zu welchem Zweck sie Ihre Fähigkeiten einsetzen wollten?«

»Vom Magister habe ich Ihnen ja bereits erzählt. Und die Schwestern meinten, sie würden mich für ihn vorbereiten«, erklärte Tessa.

»Damit er was mit Ihnen macht?«, fragte Will. »Sie zum Abendessen verspeisen?«

Tessa schüttelte den Kopf. »Um ... um sich mit mir zu vermählen, behaupteten die Schwestern.«

»Sich mit Ihnen vermählen?«, höhnte Jessamine verächtlich. »Einfach lächerlich. Wahrscheinlich sollten Sie als Menschenopfer dargebracht werden und die Schwestern wollten Sie nicht in Panik versetzen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sinnierte Will.

»Bevor ich Tessa fand, habe ich in mehrere Räume geschaut, und ich erinnere mich, dass ein Zimmer wie ein Brautgemach ausstaffiert war, mit weißen Vorhängen über einem riesigen Himmelbett. Und am Schrank hing ein weißes Brautkleid ... etwa in Ihrer Größe.« Er betrachtete Tessa aufmerksam.

»Eine offizielle Eheschließung kann ein sehr machtvolles Instrument sein«, sagte Charlotte. »Den gesetzlichen Vorschriften entsprechend vollzogen, kann sie dem Ehegatten Zugang zu Ihren Fähigkeiten gewähren, Tessa, ihm sogar das Recht verleihen, über Sie zu bestimmen.« Nachdenklich trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und was den ›Magister‹ anbelangt: Ich habe diesen Begriff im Archiv nachgeschlagen. Häufig bezeichnet er den Leiter eines Hexenzirkels oder einer anderen Gruppe von Magiern. Also jene Sorte von Leuten, als die sich die Mitglieder des Pandemonium Clubs gern betrachten. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe den starken Verdacht, dass zwischen dem Magister und dem Pandemonium Club irgendeine Verbindung besteht.«

»Wir haben schon öfter Ermittlungen über den Club und seine Mitglieder angestellt und ihnen nie irgendetwas nachweisen können«, warf Henry ein. »Und es ist nun mal nicht gesetzeswidrig, sich wie ein Idiot aufzuführen.«

»Dein Glück!«, murmelte Jessamine.

Henry wirkte gekränkt, schwieg aber, während Charlotte Jessamine einen eisigen Blick zuwarf.

»Henry hat recht«, sagte Will. »Es ist ja nicht so, als hätten Jem und ich sie nicht bei irgendwelchen illegalen Praktiken erwischt ... etwa beim Genuss von Absinth, der mit Dämonenpulver versetzt war und so weiter. Aber solange sie sich nur gegenseitig Schaden zufügten, schien es uns kaum der Mühe wert, uns einzumischen. Falls sie jedoch jetzt dazu übergegangen sind, anderen Schaden zuzufügen ...«

»Kennst du irgendjemanden aus dem Kreis der Mitglieder?«, fragte Henry neugierig.

»Von den Irdischen niemanden«, erwiderte Will abschätzig. »Es gab keinen Grund, ihre Identität festzustellen, und viele von ihnen besuchten die Veranstaltungen des Clubs maskiert oder verkleidet. Allerdings habe ich ein paar aus den Reihen der Schattenweltler wiedererkannt: Magnus Bane, Lady Belcourt, Ragnor Fell, Hydepark ...«

»De Quincey? Ich hoffe, er hat nicht gegen irgendwelche Gesetze verstoßen. Du weißt doch, welche Mühe wir hatten, einen Vampir-Anführer zu finden, mit dem wir konform gehen«, sorgte Charlotte sich. Will lächelte in seinen Tee hinein. »Jedes Mal, wenn ich ihm begegnet bin, hat er sich wie ein wahrer Engel benommen.«

Charlotte warf ihm einen scharfen Blick zu und wandte sich dann wieder an Tessa. »Besaß das Dienstmädchen, das Sie erwähnten, diese Miranda, dieselbe Fähigkeit wie Sie? Und was ist mit Emma?«

»Nein, das glaube ich nicht. Wenn Miranda die Gabe besessen hätte, hätten die Schwestern sie doch ebenfalls darin unterrichtet, oder nicht? Und Emma besaß keinerlei Erinnerungen an etwas Derartiges.«

»Und die Schwestern haben den Pandemonium Club mit keinem Wort erwähnt? Oder irgendein höheres Ziel, das sie anstrebten?«

Tessa zermarterte sich das Hirn. Worüber hatten sich die Dunklen Schwestern unterhalten, sobald sie annahmen, dass Tessa nicht zuhörte? »Ich glaube nicht, dass sie den Namen des Clubs jemals erwähnt haben. Aber manchmal sprachen sie von bevorstehenden Zusammenkünften, an denen sie teilnehmen wollten ... und sie sprachen davon, wie erfreut die anderen Mitglieder über die Fortschritte sein würden, die sie mit mir machten. Einmal ist auch ein Name gefallen ...« Tessa verzog das Gesicht im Versuch, sich den Moment wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Der Name eines anderen Clubmitglieds. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber ich meine, er hätte irgendwie fremdländisch geklungen ...«

Charlotte beugte sich erneut weit über den Tisch auf sie zu. »Können Sie es nicht wenigstens versuchen? Versuchen, sich zu erinnern?«

Tessa wusste, dass Charlotte ihr nichts Böses wollte, aber dennoch weckte ihre Bitte Erinnerungen an andere Stimmen — Stimmen, die sie drängten, sie solle versuchen, tief in sich zu gehen, die Kraft aus sich herauszuholen. Stimmen, die bei der geringsten Provokation hart und unerbittlich werden konnten. Stimmen, die schmeichelten und drohten und logen. Tessa setzte sich auf. »Zuerst will ich wissen, was mit meinem Bruder ist.«

Charlotte blinzelte. »Ihr Bruder?«

»Sie haben gesagt, wenn ich Ihnen Informationen über die Dunklen Schwestern liefere, würden Sie mir helfen, meinen Bruder zu finden. Und ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß, aber noch immer keine Ahnung, wo Nate ist.«

»Oh.« Charlotte lehnte sich zurück und wirkte fast erschreckt. »Natürlich. Gleich morgen werden wir unsere Nachforschungen über seinen Verbleib einleiten«, versicherte sie Tessa. »Wir beginnen bei seiner Arbeitsstätte und werden mit seinem Arbeitgeber sprechen, um herauszufinden, ob dieser irgendwelche Informationen besitzt. Sie müssen wissen, dass wir über weitreichende Kontakte verfügen, Miss Gray. Die Schattenwelt ist eine ebensolche Gerüchteküche wie die Welt der Irdischen. Letztendlich werden wir jemanden aufspüren, der etwas über Ihren Bruder weiß.«

Als das Dinner kurz darauf beendet war, erhob Tessa sich vom Tisch und entschuldigte sich, innerlich sehr erleichtert. Charlottes Angebot, sie zu ihrem Zimmer zu begleiten, lehnte sie dankend ab. Sie wollte allein sein, um ihre Gedanken zu ordnen.

Während sie langsam durch den Flur ging, der von Fackeln erleuchtet war, erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie in Southampton das Schiff verlassen hatte. Sie war nach England gekommen, wo sie niemanden außer ihrem Bruder kannte, und sie hatte zulassen müssen, dass die Dunklen Schwestern sich ungehindert ihrer Hilfe bedienten. Nun war sie auf die Schattenjäger gestoßen ... doch wer konnte schon sagen, ob diese sie besser behandeln würden? Genau wie die Dunklen Schwestern wollten diese Nephilim etwas von ihr - Informationen, die sie besaß. Und nun, da sie ihre Fähigkeit kannten, stellte sich lediglich die Frage, wie lange es wohl dauern würde, bis sie diese Gabe für ihre Zwecke zu nutzen versuchten.

Tief in Gedanken versunken, ging Tessa weiter und wäre fast gegen eine Wand gestoßen. Erst kurz davor hielt sie erschrocken inne und schaute sich stirnrunzelnd um. Sie lief nun schon viel länger durch dieses Haus, als sie beim Hinweg mit Charlotte benötigt hatte, aber ihr Zimmer hatte sie noch immer nicht gefunden. Genau genommen war sie sich nicht einmal sicher, ob sie den richtigen Flur gefunden hatte. Sie befand sich zwar in einem Gang, der von Fackeln beleuchtet wurde und an dessen Mauern üppige Wandteppiche hingen, aber handelte es sich auch um den Korridor, von dem ihr Zimmer abging? Einige Flure waren hell erleuchtet, andere wirkten eher düster, je nach Intensität der Fackeln an den Wänden. Manchmal flackerten die Fackeln kurz auf und erloschen dann zu einem schwachen Glimmen, sobald sie an ihnen vorbeigegangen war — als reagierten sie auf einen bestimmten Anreiz, den Tessa aber nicht erkennen konnte. Und nun befand sie sich in einem Korridor, der ihr besonders dämmrig erschien. Vorsichtig tastete sie sich bis zum Ende des Ganges, wo er sich in zwei weitere, identische Flure aufgabelte.

»Verirrt?«, erkundigte sich plötzlich eine Stimme hinter ihr — eine schleppende, leicht amüsiert wirkende Stimme, die Tessa sofort wiedererkannte. Will.

Tessa drehte sich um und sah, dass er direkt hinter ihr lässig an der Wand lehnte, einen Fuß achtlos über den anderen geschlagen. In der Hand hielt er seinen leuchtenden Stein, den er einsteckte, als Tessa ihn anschaute.

»Sie sollten mir wirklich erlauben, Sie ein wenig herumzuführen, Miss Gray«, schlug er vor. »Damit Sie sich hier im Institut nicht wieder verlaufen.«

Aufgebracht musterte Tessa ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Natürlich können Sie auch einfach weiter umherirren, wenn Sie es wünschen«, fügte er hinzu. »Allerdings muss ich Sie warnen, dass es in diesem Institut mindestens drei oder vier Türen gibt, die Sie auf keinen Fall öffnen sollten. Da wäre beispielsweise die Tür, die zu dem Verlies führt, in dem wir verhaftete Dämonen gefangen halten. Und die können wirklich sehr unangenehm werden. Dann wäre da noch die Waffenkammer: Einige der dortigen Waffen sind verdammt scharf und besitzen einen ganz eigenen Willen. Nicht zu vergessen die Türen, hinter denen sich nichts als Luft befindet. Sie dienen zur Verwirrung von Eindringlingen, aber wenn man sich in den oberen Geschossen einer ehemaligen Kirche bewegt, möchte man nun wirklich nicht versehentlich in einen solchen Raum geraten und das Gleichgewicht verlieren ...«

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Tessa. »Sie sind ein schlechter Lügner, Mr Herondale. Dennoch ...« Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe. »Dennoch mag ich es nicht, orientierungslos umherzuirren. Daher dürfen Sie mir das Institut zeigen, wenn Sie versprechen, keine Tricks zu versuchen.«

Will gab ihr sein Wort darauf und zu Tessas Überraschung hielt er sich auch daran. Er führte sie durch eine Reihe identisch wirkender Flure und hielt ihr dabei einen kurzen Vortrag — über die Anzahl der Räume im Institut (mehr als man zählen konnte) und die Anzahl der Schattenjäger, die hier untergebracht werden konnten (Hunderte). Dann präsentierte er Tessa den riesigen Ballsaal, in dem die jährliche Weihnachtsfeier der hiesigen Brigade stattfand — ein Begriff, der die gesamte Gruppe der in London ansässigen Schattenjäger bezeichnete, wie Will erklärte.

(»In New York redet man in diesem Zusammenhang von der ›Division‹«, fügte er hinzu. Amerikanische Schattenjäger pflegten offenbar ihre eigene Sprache.)

Nach der Besichtigung des Ballsaals führte Will Tessa in die Küche und machte sie mit Agatha bekannt, der grauhaarigen Frau, die Tessa bereits im Speisezimmer gesehen hatte. Die Köchin saß in der Nähe eines gewaltigen Küchenherdes in einem Schaukelstuhl, ihr Nähzeug auf dem Schoß. Zu Tessas Verwunderung rauchte sie eine riesige Pfeife, um deren Stiel herum sie nachsichtig lächelte, als Will sich ein paar Schokoladentörtchen nahm, die auf einem Kuchengitter auskühlten, und Tessa eines anbot. Doch Tessa lehnte schaudernd ab. »Oh, nein danke. Ich hasse Schokolade.«

Will musterte sie bestürzt. »Eine Schokoladenhasserin? Wie zutiefst bedauernswert ...«

»Er verputzt einfach alles«, vertraute Agatha Tessa mit einem friedfertigen Lächeln an. »Schon seit dem Tag, als er mit zwölf hierher gekommen ist. Ich vermute ja, dass das ganze Training ihn daran hindert, Fett anzusetzen.«

Beim Gedanken an einen dicklichen Will musste Tessa lächeln. Gleichzeitig machte sie der schmauchenden Köchin Komplimente zum tadellosen Zustand der riesigen Küche, die aussah, als könnte darin für Hunderte von Personen gekocht werden — ein Eindruck, den die zahlreichen Weckgläser mit eingelegtem Obst und Gemüse, die großen Gewürzdosen in den Regalen und die schmorende Rinderkeule über dem offenen Herd noch verstärkten.

»Ausgezeichnet«, sagte Will, nachdem sie die Küche verlassen hatten. »Ein gerissener Schachzug, Agatha Komplimente zu machen. Nun wird sie Sie mögen. Und das ist auch gut so: Denn wenn Agatha jemanden nicht mag, hat derjenige nichts zu lachen. Sie würde beispielsweise Steinchen unter Ihren Haferbrei mischen.«

»Oje!«, erwiderte Tessa, konnte aber nicht verhehlen, dass sie sich amüsierte.

Von der Küche führte sie der Weg zum Musikzimmer, wo mehrere Harfen und ein altes Tafelklavier Staub ansetzten, und anschließend eine Treppe hinunter zum Salon, ein einladender Raum mit hübsch bedruckten Blumentapeten an den Wänden. Zwei sehr bequem wirkende Lehnsessel standen vor einem offenen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer knisterte, und in einer Ecke befand sich ein großer Schreibtisch. Dies sei Charlottes Reich, erklärte Will, wo sie die meisten mit der Führung des Instituts verbundenen Aufgaben erledigte — worauf Tessa sich fragte, was Henry Branwell denn wohl den ganzen Tag machte. Anschließend führte Will sie zur Waffenkammer, die Tessa besser ausgestattet erschien als so manches Museum. An den Wänden hingen Hunderte von Streitkolben, Äxten, Dolchen, Schwertern, Messern und sogar ein paar Pistolen sowie eine umfassende Sammlung von Kettenhemden, Arm- und Beinschienen bis hin zu ganzen Panzerrüstungen. In der Mitte des Raums saß ein kräftig gebauter junger Mann mit dunkelbraunen Haaren an einem hohen Tisch und polierte eine Reihe kurzer Stichwaffen. Als Will und Tessa die Waffenkammer betraten, schaute er auf und lächelte. »'n Abend, Master Will.«

»Guten Abend, Thomas. Miss Gray kennst du ja bereits.« Will deutete auf Tessa.

»Sie waren im Dunklen Haus!«, stieß Tessa hervor und betrachtete Thomas nun eingehender. »Sie sind zusammen mit Mr Branwell durch das Loch in der Mauer gekrochen. Ich dachte ...«

»Dass ich ein Schattenjäger wäre?« Thomas grinste. Er besaß ein freundliches, offenes Gesicht, umrahmt von einer Fülle dunkler Locken. Trotz seines jugendlichen Alters wirkte er extrem groß und muskulös und der Umfang seiner Oberarme dehnte den Stoff seines Hemdes, das am Kragen offen stand und einen kräftigen Hals erkennen ließ. »Nein, ich bin kein Schattenjäger, Miss — nur als solcher ausgebildet.«

Will lehnte sich an die Wand. »Ist die Lieferung Stilette schon eingetroffen, Thomas? Ich bin in letzter Zeit auf eine beträchtliche Menge an Shax-Dämonen gestoßen und ich brauche eine schmale Klinge, mit der ich deren Panzerung durchdringen kann.«

Thomas erklärte weitschweifig, dass es aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse in Idris zu einer Lieferverzögerung gekommen sei, aber Tessas Blick war bereits auf etwas anderes gefallen: ein hohes Gefäß aus hochglanzpoliertem, vergoldetem Holz, mit einem eingebrannten Emblem auf der Vorderseite — eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang.

»Ist das nicht das Symbol der Dunklen Schwestern?«, fragte sie beunruhigt. »Und was hat das hier zu suchen?«

»Es ist nicht ganz dasselbe«, widersprach Will.

»Bei diesem Behältnis handelt es sich um eine Pyxis. Dämonen haben keine Seele, jedenfalls keine richtige; ihr Bewusstsein entspringt einer Art Energie, die manchmal eingefangen und gelagert werden kann. In der Pyxis ist diese Energie sicher aufbewahrt. Und das Symbol ist ein Ouroboros, der ›Selbstverzehrer‹ — ein uraltes alchemistisches Symbol, das die verschiedenen Dimensionen repräsentiert: unsere Welt im Inneren der Schlange und alle anderen Daseinsformen jenseits des Schlangenkörpers. Beim Emblem der Dunklen Schwestern habe ich zum ersten Mal einen Ouroboros mit zwei Schlangen gesehen.« Will zuckte die Achseln. »Oh, nein, das sollten Sie nicht tun!«, fügte er hinzu und schob sich rasch vor das Behältnis, als Tessa die Hand danach ausstreckte. »Die Pyxis darf von niemandem berührt werden, der kein Schattenjägerblut besitzt. Sonst würden einige wirklich unangenehme Dinge passieren. Und jetzt lassen Sie uns gehen — wir haben Thomas schon genügend Zeit geraubt.«

»Das macht mir überhaupt nichts«, protestierte Thomas, doch Will war bereits auf dem Weg zur Tür. Tessa folgte ihm, warf aber vor dem Verlassen der Waffenkammer einen Blick über die Schulter zu Thomas, der sich wieder dem Polieren der Klingen widmete. An der Haltung seine Schultern glaubte sie jedoch zu erkennen, dass er irgendwie einsam wirkte.

»Mir war gar nicht bewusst, dass Sie auch Irdische an Ihrer Seite kämpfen lassen«, wandte sie sich an Will, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ist Thomas ein Dienstbote oder ...«

»Thomas hat fast sein ganzes Leben im Institut verbracht«, erläuterte Will und führte Tessa um eine scharfe Kurve im Korridor. »Es gibt bestimmte Familien, die die Gabe des zweiten Gesichts besitzen, Familien, die schon immer den Schattenjägern gedient haben. Thomas’ Eltern haben Charlottes Eltern hier im Institut gedient und nun dient Thomas Charlotte und Henry. Und seine Kinder werden ihren Kindern dienen. Thomas übernimmt alle möglichen Aufgaben: Er führt die Kutsche, kümmert sich um Balios und Xanthos — unsere Pferde — und hilft bei der Reparatur und Pflege der Waffen. Sophie und Agatha erledigen den Rest, obwohl Thomas ihnen hin und wieder zur Hand geht. Ich vermute ja, dass er eine Schwäche für Sophie hat und nicht möchte, dass sie zu hart arbeitet.«

Tessa war froh, das zu hören. Nach ihrer bestürzten Reaktion auf Sophies Narbe hatte sie sich schrecklich gefühlt und der Gedanke, dass das Mädchen einen männlichen — und noch dazu einen recht ansehnlichen — Verehrer hatte, beruhigte ihr schlechtes Gewissen ein wenig. »Oder er ist in Agatha verliebt«, überlegte sie.

»Das will ich nicht hoffen. Ich beabsichtige nämlich meinerseits, Agatha zu heiraten. Sie mag zwar steinalt sein, aber sie bäckt einen unvergleichlichen Kirschkuchen. Schönheit vergeht, doch die Kochkunst besteht.« Vor einer gewaltigen Eichentür mit schweren Messingscharnieren blieb er stehen. »Da wären wir«, sagte er und drückte die Klinke, worauf die Tür weit aufschwang.

Der dahinterliegende Raum war sogar noch größer als der Ballsaal, den Will Tessa kurz zuvor gezeigt hatte. Lange rechteckige Eichentische erstreckten sich über die gesamte Länge, bis zum anderen Ende, wo das Bildnis eines Engels die Wand schmückte. Auf jedem der Tische spendete eine Glaslampe flackerndes weißes Licht.

Entlang der hohen Wände verlief eine Galerie mit einem Holzgeländer, die über zwei Wendeltreppen links und rechts des Eingangs zu erreichen war. Sowohl auf als auch unterhalb der Galerie standen endlose Reihen von Bücherregalen, die von Säulen eingefasste, geschützte Alkoven auf beiden Seiten des Saals bildeten. Die darin aufbewahrten Bücher waren hinter durchbrochenen Metallgittern verborgen, in deren Mitte jeweils ein Emblem prangte — viermal der Buchstabe C. Zwischen den Bücherregalen luden abgewetzte Steinbänke zum Sitzen ein, hinter denen hohe Erkerfenster mit Buntglasscheiben aufragten. In der Raummitte ruhte ein wuchtiger Wälzer auf einem Pult, dessen aufgeschlagene Seiten Tessa neugierig machten. Sie nahm an, dass es sich wohl um ein Wörterbuch handelte, musste aber feststellen, dass die Seiten mit einer unleserlichen, illuminierten Schrift versehen waren und Radierungen unbekannter Landkarten enthielten.

»Dies ist die Große Bibliothek«, sagte Will. »Jedes Institut besitzt eine Bibliothek, aber diese hier ist die mit Abstand größte — zumindest die größte in der westlichen Hemisphäre.« Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen die Tür. »Ich hatte Ihnen doch versprochen, Ihnen ein paar Bücher zu besorgen, nicht wahr?«

Tessa war derart erstaunt, dass er sich an sein Versprechen erinnerte, dass sie ein paar Sekunden für ihre Antwort benötigte. »Aber diese Bücher stehen alle hinter Schloss und Riegel!«, protestierte sie. »Wie ein Literaturgefängnis!«

Will grinste. »Manche dieser Bücher sind gefährlich. Es empfiehlt sich also, vorsichtig zu sein«, entgegnete er.

»Bei Büchern empfiehlt es sich immer, vorsichtig zu sein«, konterte Tessa, »denn Worte haben die Macht, uns zu verändern.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob mich ein Buch jemals verändert hat«, sinnierte Will. »Nun ja, da gab es eines, das versprach, dem Leser zu zeigen, wie man sich in eine ganze Herde Schafe verwandeln kann ...«

»Nur die Willensschwachen lehnen es ab, sich von Literatur und Poesie beeinflussen zu lassen«, erwiderte Tessa, fest entschlossen, Will keinen Themenwechsel zu gestatten.

»Natürlich stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt in eine ganze Schafsherde verwandeln möchte. Aber das steht auf einem anderen Blatt«, schloss Will seine Überlegungen. »Gibt es hier irgendein Buch, das Sie gern lesen würden, Miss Gray? Nennen Sie mir seinen Titel und ich werde versuchen, es für Sie aus seinem Gefängnis zu befreien.«

»Glauben Sie, in dieser Bibliothek lässt sich Die weite, weite Welt finden oder Betty und ihre Schwestern?«

»Habe noch nie davon gehört. Von keinem der beiden Bücher«, erklärte Will. »Wir haben hier aber auch nicht viele Romane.«

»Ich wünsche mir aber Romane«, verkündete Tessa. »Oder Gedichtbände. Bücher zum Lesen und nicht solche, mit denen man sich in eine Viehherde verwandeln kann.«

Wills Augen funkelten. »Ich glaube, wir haben hier irgendwo eine Ausgabe von Alice im Wunderland herumstehen.«

Tessa rümpfte die Nase. »Das ist doch etwas für kleine Kinder, oder nicht?«, widersprach sie. »Dieses Buch hat mir nie sonderlich gefallen — zu viel Unsinn für meinen Geschmack.«

Wills Augen schimmerten in einem sehr dunklen Blau. »Manchmal lässt sich in Unsinn sehr viel Sinn finden — wenn man nur danach sucht.«

Doch Tessa hatte inzwischen ein vertrautes Buch in einem Regal entdeckt und begrüßte es wie einen alten Freund. »Oliver Twist!«, rief sie. »Haben Sie noch irgendwelche anderen Romane von Mr Dickens? Vielleicht Eine Geschichte aus zwei Städten?«

»Diese alberne Erzählung? Von Männern, die sich im Namen der Liebe den Kopf abschlagen lassen? Lächerlich.« Will löste sich von der Tür und schlenderte zu Tessa, die vor den Bücherregalen stand. Mit einer großen Geste deutete er auf die riesige Anzahl von Büchern um ihn herum. »Nein, hier werden Sie nur jede Menge Ratgeber finden, wie man jemand anderem den Kopf abschlägt — falls Sie so etwas einmal benötigen sollten. Also wesentlich nützlichere Lektüre.«

»Nein, das brauche ich nicht!«, protestierte Tessa.

»Jemandem den Kopf abschlagen, meine ich. Und welchem Zweck dient eine umfangreiche Bibliothek, wenn niemand die Bücher lesen will? Haben Sie hier wirklich keine anderen Romane?«

»Nur wenn Lady Audleys Geheimnis darin besteht, dass sie in ihrer Freizeit Dämonen tötet.« Will sprang federnd eine der Leitern hinauf und zog ein Buch aus einem Regal. »Ich suche Ihnen eine andere Lektüre. Hier, fangen Sie.« Ohne sich umzudrehen, ließ er das Buch fallen, und Tessa musste einen Satz machen, um es noch rechtzeitig aufzufangen, bevor es auf dem Boden auftraf.

Der große, fast quadratische Wälzer besaß einen Einband aus dunkelblauem Samt, in den ein Emblem geschnitten war — ein geschwungenes Symbol, das an die Zeichnungen auf Wills Haut erinnerte. Der Schattenjäger-Codex prangte in schweren silberfarbigen Lettern auf der Vorderseite. Tessa schaute zu Will hoch. »Was ist das?«

»Angesichts der Tatsache, dass Sie derzeit in unserem ›Allerheiligstem‹ wohnen, nehme ich an, dass Sie sicherlich eine Menge Fragen zu uns Schattenjägern haben. Dieses Buch müsste Ihnen alles beantworten, was Sie wissen wollen. Es enthält Informationen über uns, unsere Geschichte und sogar über Schattenwesen wie Sie.« Will zog eine ernste Miene. »Aber gehen Sie bitte sehr sorgsam damit um. Dieses Werk ist sechshundert Jahre alt und das einzige noch existierende Exemplar. Beschädigung oder gar Verlust dieses kostbaren Buchs würden mit dem Tode bestraft.«

Tessa stieß den Wälzer von sich, als stünde er in Flammen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Sie haben recht — das war nur ein Scherz.« Will sprang von der Leiter und landete leichtfüßig direkt vor Tessa. »Aber Sie glauben tatsächlich alles, was ich sage, nicht wahr? Liegt das vielleicht daran, dass ich so ein vertrauenswürdiges Gesicht habe, oder sind Sie eine von der naiven Sorte?«

Statt einer Antwort warf Tessa ihm nur einen finsteren Blick zu und marschierte quer durch den Saal zu einem der Erkerfenster. Dort ließ sie sich auf die Steinbank sinken, schlug den Codex auf und begann zu lesen, wobei sie Will geflissentlich ignorierte — selbst dann noch, als er sich neben sie setzte. Während sie sich ihrer Lektüre widmete, konnte sie seinen durchdringenden Blick spüren.

Die erste Seite des Nephilim-Buchs zeigte dasselbe Bild, das sie bereits auf zahlreichen Wandteppichen in den Fluren gesehen hatte: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand. Darunter stand: »Der Erzengel Raziel und die Engelsinsignien.«

»So hat alles angefangen«, erklärte Will fröhlich, als bemerkte er überhaupt nicht, dass Tessa ihn ignorierte. »Eine Beschwörungsformel hier, ein wenig Engelsblut dort und schon erhält man eine Rezeptur für unzerstörbare menschliche Krieger. Natürlich werden Sie uns niemals verstehen lernen, indem Sie einfach nur ein Buch über uns lesen, aber es ist zumindest ein Anfang.«

»Von menschlich kann wohl kaum die Rede sein — eher wie Racheengel«, sagte Tessa leise, während sie die Seiten umblätterte. Dort waren Dutzende Abbildungen von Engeln zu sehen, die aus dem Himmel herabfielen und dabei Federn versprühten wie die Funken einer Sternschnuppe. Es folgten weitere Illustrationen des Erzengels Raziel: Er hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, auf dessen Seiten Runen wie Flammen brannten. Mehrere Männer knieten vor ihm — Männer, auf deren Haut tiefschwarze Male zu erkennen waren. Männer wie derjenige, dessen Antlitz Tessa in ihrem Albtraum gesehen hatte, mit fehlenden Augen und zugenähten Lippen. Auf den nächsten Seiten fanden sich Abbildungen von Schattenjägern mit flammenden Schwertern in den Händen, wie himmlische Engelskrieger. Tessa warf Will einen Blick zu.

»Dann sind Sie also tatsächlich der Nachfahre eines Engels? Ein Halbengel?«

Will schwieg und schaute aus dem Fenster, durch die transparente untere Scheibe hindurch. Tessa folgte seinem Blick: Das Fenster musste auf die Vorderseite des Instituts hinausgehen, denn sie erkannte einen runden, von Mauern eingefassten Innenhof. Hinter den Gitterstäben eines hohen Eisentors, das von einem massiven Torbogen eingefasst war, konnte Tessa im Schein der gelblichen Gaslaternen Teile der dahinterliegenden Straße ausmachen. Im oberen Abschnitt des schmiedeeisernen Gitterwerks traten deutlich mehrere geschwungene Lettern zutage, die aus Tessas Position jedoch spiegelverkehrt waren und sich nur mühsam entziffern ließen.

»›Pulvis et umbra sumus.‹ Ein Zitat aus einer Ode von Horaz: ›Staub und Schatten sind wir.‹ Passend, finden Sie nicht auch?«, bemerkte Will. »Als Dämonentöter führt man kein langes Leben; in der Regel sterben wir jung und unser Leichnam wird anschließend verbrannt — Asche zu Asche, im wahrsten Sinne des Wortes. Und danach verschwinden wir in den Schatten der Geschichte, ohne auch nur eine Spur auf den Seiten eines irdischen Buchs zu hinterlassen, das der Welt von unserer einstigen Existenz berichten würde.«

Tessa musterte Will. Auf seinem Gesicht lag wieder dieser Ausdruck, den sie ebenso seltsam wie äußerst faszinierend fand — ein Ausdruck der Belustigung, der jedoch nicht tiefer zu gehen und nur auf seinen Zügen zu ruhen schien. Er wirkte immer, als hielte er alles in der Welt für unendlich amüsant und unendlich tragisch zugleich, und sie fragte sich, was ihn so geformt haben mochte, wieso ihn das Dunkel erheiterte. Denn diese Eigenschaft schien er mit keinem der anderen Schattenjäger zu teilen, die sie kennengelernt hatte. Möglicherweise war dies etwas, das er von seinen Eltern übernommen hatte — oder besaß er vielleicht gar keine Eltern mehr?

»Machen Sie sich niemals Sorgen?«, fragte sie leise. »Sorgen, dass das, was da draußen ist, vielleicht hereinkommen könnte?«

»Sie meinen, Dämonen und andere Unannehmlichkeiten?«, fragte Will, obwohl Tessa sich nicht sicher war, ob sie das gemeint hatte oder eher die Übel der Welt im Allgemeinen. Will legte eine Hand auf die Mauer. »Der Mörtel, mit dem dieses Mauerwerk errichtet wurde, ist mit Schattenjägerblut vermischt. Jeder einzelne Balken ist aus Ebereschenholz geschlagen, jeder verwendete Nagel aus Silber, Eisen oder Elektrum geschmiedet. Das gesamte Gelände wurde auf heiligem Grund errichtet und ist von Schutzschilden umgeben. Und die Eingangstür kann nur von jemandem geöffnet werden, der Schattenjägerblut besitzt — für alle anderen bleibt sie auf ewig verschlossen. Dieses Institut ist eine Festung. Daher kann ich Ihre Frage mit Nein beantworten. Nein, ich mache mir keine Sorgen.«

»Aber warum leben Sie in dieser Festung?«

Als Will ihr einen überraschten Blick zuwarf, erläuterte Tessa ihre Frage: »Sie sind ganz eindeutig nicht mit Charlotte und Henry verwandt. Die beiden sind auch nicht alt genug, Ihre Adoptiveltern sein zu können. Und offensichtlich müssen nicht alle Schattenjägerkinder hier wohnen, denn sonst wären hier ja viel mehr anwesend als nur Sie und Jessamine ...«

»Und Jem«, erinnerte Will Tessa.

»Ja. Aber Sie verstehen doch sicher, was ich meine. Warum leben Sie nicht bei Ihrer Familie?«

»Keiner von uns hat noch eine Familie. Jessamines Eltern starben bei einem Feuer, Jems Eltern ... nun ja, Jem ist von sehr weit weg hierher gekommen, nachdem seine Eltern von einem Dämon getötet wurden. Es obliegt den gesetzlichen Pflichten des Rates, sich um elternlose Schattenjägerkinder zu kümmern, zumindest bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs.«

»Dann sind Sie sich also gegenseitig eine Familie.«

»Wenn Sie das unbedingt in solch einem romantischen Licht sehen wollen ... Aber vermutlich könnte man tatsächlich behaupten, dass wir eine Familie sind — allesamt Brüder und Schwestern unter dem Dach des Instituts. Dasselbe gilt übrigens für Sie, Miss Gray, wenn auch nur vorübergehend.«

»In diesem Fall ...«, setzte Tessa an und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, »in diesem Fall würde ich es vorziehen, wenn Sie mich mit meinem Vornamen ansprechen würden, genau wie Miss Lovelace.«

Will betrachtete sie mit einem prüfenden Blick und lächelte dann, wobei seine blauen Augen aufleuchteten. »Dann müssen Sie mir ebenfalls diese Ehre erweisen«, sagte er. »Tessa.«

Tessa hatte nie viel über ihren Namen nachgedacht, aber als Will ihn nun aussprach, schien es ihr, als würde sie ihn zum ersten Mal hören: das harte T, das sanfte Streicheln des doppelten S, die Art und Weise, wie er ihren Namen in einem ausgehauchten Laut enden ließ. Und ihr eigener Atem ging sehr flach, als sie leise erwiderte: »Will.«

»Ja?« Belustigung blitzte in seinen Augen auf. Mit Entsetzen registrierte Tessa, dass sie seinen Namen einfach nur um seiner selbst willen gesagt hatte und nicht, weil sie eine Frage hatte. Hastig fügte sie hinzu: »Wo haben Sie ... hast du gelernt, so zu kämpfen? Diese magischen Symbole zu zeichnen und all die anderen Dinge?«

Will lächelte. »Bis vor Kurzem hatten wir einen Hauslehrer, der für unsere schulische Ausbildung und unser Training verantwortlich war. Aber er ist nach Idris zurückgekehrt und Charlotte sucht zurzeit nach einem Ersatz für ihn. Außerdem erhalten wir Unterricht von Charlotte, die die Fächer Geschichte und antike Sprachen übernommen hat.«

»Dann ist sie also eure Gouvernante?«

Ein Ausdruck sardonischer Belustigung huschte über Wills Züge. »Wenn man so will. Doch an deiner Stelle würde ich sie nicht als Gouvernante bezeichnen — nicht, wenn dir deine Gliedmaßen lieb sind. Man sollte es zwar nicht meinen, aber unsere Charlotte ist ziemlich erfahren im Umgang mit einer ganzen Reihe von Waffen.«

Tessa blinzelte verwundert. »Du meinst damit doch nicht, dass ... dass Charlotte tatsächlich kämpft? Jedenfalls nicht so wie du und Henry, oder?«

»Aber natürlich. Warum sollte sie auch nicht?«

»Weil sie eine Frau ist«, sagte Tessa.

»Das war Boadicea auch.«

»Wer?«

»›Dies rief Königin Boadicea, hoch auf ihrem Streitwagen, den Pfeil in der Hand, mit rollenden Augen und lauter Stimme ...‹«, rezitierte Will und brach ab, als er Tessas verständnislosen Blick sah. »Das sagt dir nichts?«, fragte er grinsend. »Wenn du Engländerin wärst, würdest du sie kennen. Erinnere mich daran, dass ich dir ein Buch über sie heraussuche. Na, jedenfalls war Boadicea eine mächtige Königin und Heerführerin, und als sie sich den Römern schließlich geschlagen geben musste, nahm sie lieber Gift, als in Gefangenschaft zu gehen. Sie war mutiger als alle Männer. Ich stelle mir Charlotte gern als ähnliche, wenn auch etwas kleinere Kriegerin vor — aus dem gleichen Holz geschnitzt.«

»Aber sie kann nicht besonders gut darin sein, oder? Ich meine, Frauen verspüren doch nicht diese Sorte von Gefühlen.«

»Welche Sorte von Gefühlen?«

»Blutrunst, vermute ich mal«, erwiderte Tessa nach kurzem Nachdenken. »Grimmige Entschlossenheit. Nun ja, Kriegergefühle.«

»Ich habe gesehen, wie du diese Metallsäge gegen die Dunklen Schwestern geschwungen hast«, entgegnete Will. »Und wenn ich mich richtig entsinne, dann bestand Lady Audleys Geheimnis darin, dass sie eine Mörderin war.«

»Dann hast du das Buch also doch gelesen!« Tessa konnte ihre Freude nicht verbergen.

Will musterte sie amüsiert. »Ich bevorzuge Braddons Die Spur der Schlange. Mehr Abenteuer und weniger bürgerliches Drama. Aber keiner dieser Romane ist so gut wie Der Monddiamant. Hast du schon mal etwas von Collins gelesen?«

»Ich verehre Wilkie Collins«, quietschte Tessa.

»Oh — Der rote Schal! Und Die weiße Frau ... Lachst du über mich?«

»Nein, nicht über dich«, erwiderte Will grinsend,

»eher wegen dir. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich so für Bücher begeistern kann. Man könnte glauben, es handele sich um Juwelen.«

»Nun ja, das sind sie ja auch, oder nicht? Gibt es denn irgendetwas, das du so sehr liebst? Und jetzt sage nicht ›Gamaschen‹ oder ›Rasentennis‹ oder etwas ähnlich Albernes.«

»Gütiger Gott«, stieß er mit gespieltem Entsetzen hervor, »es scheint, als würde sie mich bereits durch und durch kennen.«

»Jeder Mensch hat irgendetwas, ohne das er nicht leben kann. Ich werde schon noch herausfinden, was es bei dir ist, keine Sorge.« Eigentlich hatten ihre Worte leichthin klingen sollen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ Tessa unsicher werden und verstummen. Will betrachtete sie mit einem seltsam unverwandten Blick; seine Augen leuchteten im selben Dunkelblau wie der Samteinband des Buchs in ihrer Hand. Dann wanderte sein Blick weiter — über ihr Gesicht, hinunter zur Kehle und bis zur Taille, ehe er zu ihrem Gesicht zurückkehrte und auf ihren Lippen verweilte. Tessas Herz schlug so wild, als wäre sie eine Treppe hinauf-gestürmt. Irgendetwas in ihrer Brust schmerzte, als hätte sie großen Hunger oder Durst. Da war irgendetwas, das sie sich sehnlich wünschte, das sie wollte und wovon sie doch nicht genau wusste, was es war ...

»Es ist schon spät«, sagte Will abrupt und wandte den Blick ab. »Ich sollte dich zu deinem Zimmer bringen.«

»Ich ...« Tessa wollte protestieren, aber dazu bestand überhaupt kein Grund. Will hatte recht. Es war tatsächlich spät geworden, und durch die klaren Scheiben des Erkerfensters erkannte man bereits die nadelförmigen Lichter der ersten Sterne. Tessa erhob sich, drückte das schwere Buch an ihre Brust und folgte Will hinaus in den Flur.

»Es gibt da ein paar Tricks zur besseren Orientierung im Institut, die ich dir unbedingt beibringen sollte«, sagte er, den Blick weiterhin abgewandt. Seine Haltung strahlte nun etwas merkwürdig Scheues aus, das wenige Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen war — als hätte Tessa ihn durch irgendetwas gekränkt. Aber was konnte sie falsch gemacht haben?

»Mittel und Wege, die verschiedenen Flure und Türen voneinander zu unterscheiden ...«

Als er verstummte, sah Tessa, dass jemand durch den Korridor auf sie zukam. Es war Sophie, mit einem Wäschekorb unter dem Arm.

Sie bemerkte Will und Tessa und blieb stehen, wobei ein vorsichtiger Ausdruck in ihre Augen schlich.

»Sophie!« Wills Zurückhaltung verwandelte sich in Übermut. »Hast du mein Zimmer schon aufgeräumt?«

»Es ist fertig«, sagte Sophie, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Es war richtig schmutzig. Ich hoffe, dass Sie es in Zukunft unterlassen werden, Reste toter Dämonen durchs ganze Haus zu tragen.«

Tessa starrte sie mit offenem Mund an. Wie konnte Sophie es wagen, in diesem Ton mit Will zu reden? Schließlich war sie ein Dienstmädchen und er ein Gentleman, ob er nun jünger war als sie oder nicht. Dennoch schien Will keinen Anstoß daran zu nehmen. »Das gehört alles zum Job, kleine Sophie.«

»Mr Branwell und Mr Carstairs scheinen aber kein Problem damit zu haben, sich bei der Heimkehr die Schuhe abzuputzen«, entgegnete Sophie und schaute finster von Will zu Tessa und wieder zurück. »Vielleicht können Sie sich ja an ihnen ein Beispiel nehmen.«

»Ja, vielleicht«, erwiderte Will. »Aber ich bezweifle es.«

Sophies Miene verdüsterte sich noch mehr; dann marschierte sie weiter, die Schultern vor Empörung hochgezogen.

Verwundert schaute Tessa Will an. »Was war denn das?«

Will zuckte träge die Achseln. »Sophie gefällt es, so zu tun, als würde sie mich nicht mögen.«

»Dich nicht mögen? Sie hasst dich!« Unter anderen Umständen hätte sie Will vielleicht gefragt, ob er und Sophie sich entzweit hatten, aber man entzweite sich nicht mit Dienstboten. Wenn diese nicht den Erwartungen entsprachen, verzichtete man einfach auf eine weitere Anstellung. »Ist ... ist zwischen euch irgendetwas vorgefallen?«

»Tessa«, sagte Will übertrieben geduldig. »Genug. Es gibt Dinge, die du nicht einmal ansatzweise verstehen könntest.«

Wenn es irgendetwas gab, das Tessa aus ganzem Herzen hasste, dann war es solch eine Reaktion — wenn man ihr sagte, dass es Dinge gäbe, die sie nicht verstehen könne. Weil sie zu jung sei, weil sie ein Mädchen sei oder aus sonst irgendeinem der tausend Gründe, die für sie alle keinen Sinn ergaben. Trotzig schob sie das Kinn vor. »Nein, natürlich nicht, solange du es mir nicht erklärst. Und in diesem Fall muss ich sagen: Es sieht ganz danach aus, dass sie dich hasst, weil du ihr etwas Schreckliches angetan hast.«

Wills Miene verdüsterte sich. »Du kannst von mir aus denken, was du willst. Es ist ja nicht so, als ob du irgendetwas über mich wissen würdest.«

»Ich weiß, dass du auf Fragen nicht gern klare Antworten gibst. Ich weiß, dass du ungefähr siebzehn Jahre alt sein musst. Ich weiß, dass du Tennyson magst — du hast ihn im Dunklen Haus zitiert und eben schon wieder. Ich weiß, dass du eine Waise bist, genau wie ich ...«

»Ich habe nie behauptet, dass ich eine Waise wäre«, entgegnete Will unerwartet heftig. »Und ich verabscheue Poesie. Das bedeutet dann wohl, dass du in Wirklichkeit überhaupt nichts über mich weißt, oder?« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

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