8 Camille

Frucht fällt, Liebe stirbt, Zeit entbindet,

Du bist wach und von Atem durchloht,

Du blühst, wenn der Sommer entschwindet,

Und frisch unter Küssen vom Tod,

Von Süchten, die drängen und driften,

Von Schrecken im Unteren Reich,

Von Dingen unsagbar und Giften

Die Königin bleich

Algernon Charles Swinburne, »Dolores«

Tessa hatte gerade einmal die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als Will und Jem sie auch schon einholten und in die Mitte nahmen.

»Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass wir dich allein zu Lady Belcourt gehen lassen, oder?«, fragte Will, hob die Hand und ließ den Elbenstein zwischen seinen Fingern aufleuchten, sodass der Korridor taghell wurde. Charlotte, die ein paar Meter vor ihnen durch den Gang eilte, drehte sich stirnrunzelnd um, sagte aber nichts.

»Ich habe ja gewusst, dass du niemanden lange in Ruhe lassen kannst«, erwiderte Tessa und schaute kühl geradeaus. »Aber von Jem hätte ich etwas anderes erwartet.«

»Wo Will hingeht, da geh auch ich hin«, erklärte Jem gutmütig. »Und außerdem bin ich mindestens so neugierig wie er.«

»Eine Eigenschaft, der man sich wohl kaum rühmen sollte. Aber wohin gehen wir nun eigentlich?«, fragte Tessa verwirrt, während sie sich dem Ende des Korridors näherten und nach links abbogen. Der nächste Bereich war wieder in undurchdringliche Dunkelheit getaucht. »Haben wir uns verlaufen?«

»Geduld ist eine weithin unterschätzte Tugend, meine liebe Tessa«, erwiderte Will. Inzwischen hatten sie einen langen Flur erreicht, der steil nach unten führte und an dessen nackten Wänden keine Fackeln leuchteten. Nun verstand Tessa auch, warum Will seinen Elbenlichtstein hervorgeholt hatte.

»Dieser Gang führt zu unserem Sanktuarium«, erklärte Charlotte. »Es ist der einzige Raum im gesamten Institut, der nicht auf geweihtem Boden steht. Hier treffen wir uns mit denjenigen, die — aus welchen Gründen auch immer — keinen geweihten Boden betreten können. Personen, auf denen beispielsweise ein Fluch lastet, Vampire und dergleichen. Außerdem bringen wir hier gelegentlich Schattenweltler unter, die in Gefahr schweben und von Dämonen oder anderen Bewohnern der Verborgenen Welt bedroht werden. Aus diesem Grund ist die Tür zum Sanktuarium auch durch zusätzliche Schutzmaßnahmen gesichert. Ohne eine Stele oder den richtigen Schlüssel lässt sich der Raum kaum betreten.«

»Ist ein Fluch die Ursache? Ich meine, für das Dasein als Vampir?«, fragte Tessa.

Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein. Wir glauben eher, dass es sich um eine Art Dämonenkrankheit handelt. Die meisten Erkrankungen, mit denen Dämonen sich infizieren, sind nicht auf den Menschen übertragbar, aber in manchen Fällen — etwa durch einen Biss oder Kratzer — kann die Krankheit weitergegeben werden. Vampirismus. Lykanthropie ...«

»Dämonenpocken«, ergänzte Will.

»Will, so etwas wie Dämonenpocken gibt es nicht — das weißt du ganz genau«, entgegnete Charlotte.

»Also, wo war ich stehen geblieben?«

»Das Dasein als Vampir ist kein Fluch, sondern eine Erkrankung«, half Tessa aus. »Aber trotzdem dürfen Vampire keinen geweihten Boden betreten? Bedeutet das, dass sie verdammt sind?«

»Das hängt ganz von den eigenen Überzeugungen ab«, erklärte Jem. »Und ob man an etwas wie Verdammnis überhaupt glaubt.«

»Aber Sie jagen Dämonen. Sie müssen doch an Verdammnis glauben!«

»Ich glaube an das Gute und an das Böse«, sagte Jem. »Und ich glaube daran, dass die Seele unsterblich ist. Aber ich glaube nicht an den flammenden Höllenschlund, an Teufel mit Dreizacken oder endlose Höllenqualen. Denn ich bin nicht davon überzeugt, dass man Menschen durch Furcht zur Güte bewegen kann.«

Tessa schaute zu Will. »Und was ist mit dir? Woran glaubst du?«

»Pulvis et umbra sumus«, erwiderte Will, ohne Tessa jedoch anzusehen. »Ich glaube, wir sind Staub und Schatten. Was sollte es danach auch noch anderes geben?«

»Woran auch immer ihr glaubt, bitte erwähnt gegenüber Lady BeIcourt nicht, dass ihr sie möglicherweise für verdammt haltet«, warf Charlotte ein. Sie stand inzwischen am Ende des Gangs vor einer hohen Flügeltür aus massivem Eisen. Zwei ungewöhnliche Symbole, die Tessa an zwei mit dem Rücken aneinandergrenzende C erinnerten, waren in die Eisenoberfläche eingeprägt. Charlotte drehte sich um und sah ihre drei Begleiter scharf an. »Lady Betcourt hat uns freundlicherweise ihre Unterstützung angeboten und es besteht nicht der geringste Grund, sie mit derart beleidigenden Äußerungen zu kränken. Das gilt besonders für dich, Will: Wenn du nicht ein Mindestmaß an Höflichkeit wahren kannst, werde ich dich aus dem Sanktuarium verweisen. Jem, ich vertraue darauf, dass du dich wie üblich als reizend und charmant erweist. Und Tessa ...«, Charlotte heftete ihre ernsten, aber freundlichen Augen auf das Mädchen, »... bitte haben Sie keine Angst.«

Damit zog sie einen Eisenschlüssel aus der Tasche und schob ihn in das Türschloss. Der Kopf des Schlüssels war wie eine Engelsfigur mit ausgebreiteten Schwingen geformt, und als Charlotte den Schlüssel drehte und die Tür aufdrückte, leuchteten die Schwingen der Figur kurz auf.

Der fensterlose Raum dahinter wurde vom flackernden Schein zahlreicher Kerzen in schweren Messingleuchtern erhellt und erinnerte Tessa an eine sorgfältig gehütete Schatzkammer: Seine hohe Gewölbedecke ruhte auf gewaltigen Steinpfeilern mit geschwungenen Linien und Runen, deren kunstvolle, rund um den Säulenschaft verlaufende Muster das Auge des Betrachters verwirrten. An den Steinwänden hingen immense Wandteppiche mit jeweils einer einzelnen riesigen Rune; auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein großer, goldgerahmter Spiegel, der den Raum doppelt so groß erscheinen ließ, und in der Mitte erhob sich ein wuchtiger Steinbrunnen mit einem kreisrunden Sockel und einer Engelsfigur mit geschlossenen Schwingen. Ströme von Tränen flossen aus den Augen des Engels und plätscherten in das darunterliegende Becken.

Neben dem Brunnen, zwischen zwei massiven Pfeilern, stand eine Gruppe von schweren, mit schwarzem Samt bezogenen Polstersesseln. Die schlanke Frau, die in dem Sessel mit der höchsten Lehne saß, wirkte vornehm und majestätisch. Ein leicht in die Stirn gezogener Hut mit einer riesigen schwarzen Feder thronte auf ihrem Kopf und ihr elegantes Kleid aus blutrotem Samt ließ die schneeweiße Haut über dem eng geschnürten Oberteil, das kein Atemzug zu heben oder senken vermochte, noch blasser erscheinen. Eine Kette aus Rubinen wand sich wie eine frische Wunde um ihre Kehle und verschwand im Nacken unter dichten silberblonden, fein gelockten Haaren. Und die Augen der Frau funkelten so grün wie die einer Katze. Tessa hielt die Luft an — Schattenwesen konnten also auch atemberaubend schön sein, schoss es ihr durch den Kopf.

»Lösch dein Elbenlicht, Will«, forderte Charlotte ihn leise auf, ehe sie sich ihrem Gast zuwandte. »Zu gütig von Ihnen, auf uns zu warten, Baronesse. Ich hoffe, das Sanktuarium hat Ihren Erwartungen entsprochen und Sie im Hinblick auf Komfort und Bequemlichkeit nicht enttäuscht?«

»Wie üblich, Charlotte.« Lady Belcourt klang gelangweilt. Sie besaß einen leichten Akzent, den Tessa aber nicht identifiztieren konnte.

»Lady Belcourt, darf ich Ihnen Miss Theresa Gray vorstellen?« Charlotte deutete auf Tessa, die nicht wusste, wie sie reagieren sollte und deshalb nur höflich den Kopf neigte. Fieberhaft versuchte sie, sich zu entsinnen, wie man sich gegenüber einer Baronesse zu verhalten hatte, aber sie erinnerte sich nur vage, dass es da irgendeinen Unterschied gab — je nachdem, ob die betreffende Dame mit einem Baron verheiratet war oder nicht. Allerdings konnte sie sich die genauen Zusammenhänge nicht mehr ins Gedächtnis rufen.

»Dies hier ist Mr James Carstairs, einer unserer jungen Schattenjäger«, fuhr Charlotte fort. »Und neben ihm steht ...«

Doch Lady Belcourts grüne Augen ruhten bereits auf Will. »William Herondale«, ergänzte sie und lächelte amüsiert.

Tessa hielt innerlich die Luft an, aber die Zähne der Vampirin wirkten völlig normal — von spitzen Schneidezähnen war nichts zu sehen.

»Was für eine Überraschung, Sie hier anzutreffen!«, fügte Lady Belcourt spöttisch hinzu.

»Sie kennen einander?«, fragte Charlotte erstaunt.

»William hat mir beim Pharao zwanzig Pfund abgenommen«, erzählte Lady Belcourt und ließ ihre grünen Augen auf eine Weise über Wills Gestalt gleiten, die Tessa ein Kribbeln im Nacken verursachte.

»Vor ein paar Wochen, in einem Klub ... einem Schattenwelt-Spielsalon.«

»Tatsächlich?«, fragte Charlotte spitz und musterte den jungen Schattenjäger, der nur lässig die Achseln zuckte.

»Alles Teil meiner Nachforschungen. Ich hatte mich in dieser Lasterhöhle als törichter Irdischer ausgegeben, auf der Suche nach Vergnügungen der ganz besonderen Art«, erklärte Will. »Es hätte nur unnötig Verdacht erregt, wenn ich es abgelehnt hätte, mich am Kartenspiel zu beteiligen.«

Charlotte schob das Kinn vor. »Nichtsdestoweniger handelt es sich bei dem Geld, das du gewonnen hast, um ein Beweismittel, Will. Du hättest es dem Rat aushändigen müssen.«

»Ich habe es für Gin ausgegeben.«

»Will!«

Doch der junge Mann zuckte nur erneut die Achseln. »Die Verlockungen des Lasters sind eine beschwerliche Verantwortung.«

»Und dennoch scheinst du sie erstaunlich gut tragen zu können«, bemerkte Jem mit einem belustigten Glitzern in den silberhellen Augen.

»Darüber werden wir uns später noch unterhalten, William«, verkündete Charlotte gepresst. Dann wandte sie sich wieder an ihren Gast: »Lady Belcourt, habe ich richtig verstanden, dass Sie ebenfalls Mitglied im Pandemonium Club sind?«

Lady Belcourt verzog indigniert das Gesicht. »Ganz gewiss nicht. Ich war an jenem Abend nur deshalb dort, weil ein befreundeter Hexenmeister hoffte, dort beim Kartenspiel schnelles Geld machen zu können. Der Klub steht den meisten Schattenweltlern offen und man sieht es gern, wenn wir dort verkehren, da dies die Irdischen beeindruckt und ihre Brieftasche öffnet. Ich weiß, dass dieses Etablissement von Schattenweltlern geführt wird, aber ich würde dem Club niemals beitreten. Das Ganze erscheint mir so déclassé.«

»De Quincey ist Mitglied im Pandemonium«, warf Charlotte ein und in ihren großen braunen Augen konnte Tessa das Funkeln messerscharfer Intelligenz erkennen. »Mir wurde zugetragen, dass er genau genommen sogar der Präsident des Clubs ist. Haben Sie das gewusst?«

Lady Belcourt schüttelte den Kopf; diese Information schien sie eindeutig nicht zu interessieren. »De Quincey und ich standen einander vor vielen Jahren einmal nahe. Aber das ist längst vorbei und ich habe ihm gegenüber keinerlei Zweifel an meinem mangelnden Interesse am Pandemonium aufkommen lassen. Gut möglich, dass er den Club leitet. Das Ganze ist eine lächerliche Organisation, wenn Sie mich fragen, aber zweifellos auch eine sehr lukrative.« Sie beugte sich vor und faltete ihre schlanken, behandschuhten Hände im Schoß.

Ihre Bewegungen übten auf Tessa eine seltsame Faszination aus - selbst in der kleinsten Geste lag eine animalische Eleganz. Tessa hatte das Gefühl, eine Katze zu beobachten, die durch die Schatten schleicht.

»Zunächst einmal müssen Sie über de Quincey wissen, dass er der gefährlichste Vampir in ganz London ist«, fuhr Lady Belcourt fort. »Er hat sich von ganz unten bis an die Spitze des mächtigsten Clans hochgearbeitet. Jeder Vampir der Stadt ist seinen Launen unterworfen.« Sie presste ihre scharlachroten Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Als Nächstes müssen Sie wissen, dass de Quincey alt ist - sehr alt, selbst für einen Vampir. Der Großteil seines Lebens fand vor der Unterzeichnung des Abkommens statt — und er verabscheut es, ebenso wie er es verabscheut, sich dem Joch des Gesetzes beugen zu müssen. Und am meisten verabscheut er die Nephilim.«

Tessa sah, wie Jem sich zu Will hinüberbeugte und ihm etwas zuflüsterte, worauf sich dessen Mundwinkel amüsiert verzogen. »Kaum zu glauben — wie kann uns irgendjemand verabscheuen, wo wir doch so charmant sind?«, warf Will spöttisch ein.

»Gewiss sind Sie sich der Tatsache bewusst, dass die meisten Schattenweltler Sie und Ihresgleichen nicht gerade ins Herz geschlossen haben. Oder sollte ich mich irren?«

»Aber wir dachten, de Quincey sei ein Verbündeter.« Charlotte legte ihre kleinen, sehnigen Hände auf die Lehne eines der Polstersessel. »Jedenfalls hat er immer mit dem Rat kooperiert.«

»Das ist nur vorgespielt. Es liegt in seinem ureigenen Interesse, mit Ihnen zu kooperieren, also frisst er Kreide. Aber er sähe nichts lieber, als wenn Sie alle im tiefsten Höllenschlund schmachten würden.«

Charlotte war bleich geworden, fasste sich aber wieder. »Und Sie wissen nichts über seine Verbindung zu zwei Frauen, die sich als die Dunklen Schwestern bezeichnen? Nichts über sein Interesse an Automaten ... mechanischen Geschöpfen?«

»Die Dunklen Schwestern!« Lady Belcourt erschauderte. »Diese hässlichen, unerquicklichen Kreaturen. Hexen, soweit ich weiß. Ich habe ihre Gesellschaft stets gemieden. Sie sind dafür bekannt, dass sie die Wünsche einiger Clubmitglieder bedienen, welche einen etwas ... fragwürdigen Geschmack haben. Dämonen-Drogen, Schattenwelt-Huren und dergleichen.«

»Und was ist mit den Automaten?«

Lady Belcourt winkte gelangweilt ab. »Falls de Quincey eine Vorliebe für Uhrwerkteile hegen sollte, so ist mir darüber jedenfalls nichts bekannt. Um ehrlich zu sein, Charlotte: Als Sie mich vorhin kontaktierten, hatte ich zunächst nicht die Absicht, Ihnen überhaupt irgendwelche Informationen zu geben. Es ist eine Sache, mit dem Rat ein paar Schattenweltgeheimnisse zu teilen, aber etwas völlig anderes, den mächtigsten Vampir Londons zu hintergehen. Ich habe meine Meinung erst geändert, als ich von Ihrer kleinen Gestaltwandlerin erfuhr.« Sie heftete ihre grünen Augen auf Tessa und lächelte. »Eine gewisse Familienähnlichkeit ist nicht zu leugnen.«

Tessa starrte sie an. »Ähnlichkeit mit wem?«

»Nun, mit Nathaniel, natürlich. Ihrem Bruder.«

Tessa hatte das Gefühl, als hätte man ihr plötzlich eiskaltes Wasser in den Kragen geschüttet. Sie richtete sich hellwach auf »Sie haben meinen Bruder gesehen?«

Lady Belcourt verzog die roten Lippen zu einem Lächeln — dem Lächeln einer Frau, die wusste, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden besaß. »Ich bin ihm ein paar Mal im Pandemonium Club begegnet«, erklärte sie. »Der Ärmste hatte diese unglückselige Ausstrahlung eines Irdischen, der unter einem Zauber steht. Wahrscheinlich hat er dort sein gesamtes Hab und Gut verspielt — wie es in der Regel bei allen irdischen Besuchern des Clubs der Fall ist. Charlotte sagte mir, dass die Dunklen Schwestern ihn in ihre Gewalt gebracht haben. Das überrascht mich nicht. Die beiden lieben es, Irdische in die Schuldenfalle zu locken und das Geld dann auf äußerst abstoßende Weise einzufordern ...«

»Aber lebt er noch?«, hakte Tessa nach. »Haben Sie ihn noch lebend gesehen?«

»Ja. Unsere letzte Begegnung liegt zwar schon ein paar Tage zurück, aber da war er jedenfalls noch ziemlich lebendig.« Lady Belcourt wedelte gelangweilt mit der Hand, die durch den scharlachroten Handschuh den Eindruck erweckte, als sei sie in Blut getaucht. »Um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukehren: Haben Sie gewusst, Charlotte, dass de Quincey in seinem Stadthaus am Carleton Square regelmäßig Soireen veranstaltet?«

Charlotte nahm die Hände von der Rückenlehne.

»Es ist mir gerüchteweise zu Ohren gekommen.«

»Bedauerlicherweise hat de Quincey es versäumt, unsere Namen auf die Gästeliste zu setzen. Aber vielleicht ist seine Einladung ja auch mit der Post verloren gegangen«, bemerkte Will.

»Bei diesen Abendgesellschaften werden Menschen gefoltert und getötet«, fuhr Lady Belcourt ungerührt fort. »Ich glaube, ihre Leichname werden in der Themse entsorgt, wo sich dann die Gassenjungen um die angeschwemmten Überreste streiten dürfen. Nun, Charlotte, haben Sie davon ebenfalls gewusst?«

Selbst Will wirkte betroffen und Charlotte erwiderte bestürzt: »Aber es ist den Kindern der Nacht gesetzlich verboten, Menschen zu töten ...«

»Und de Quincey verachtet das Gesetz. Er veranstaltet diese Soireen nicht nur aus purer Lust am Töten, sondern auch deshalb, weil ihm dies die Gelegenheit bietet, die Nephilim zu verspotten.«

Charlottes Lippen wirkten blass und blutleer. »Wie lange geht das schon so, Camille?«

Das war also ihr Vorname, dachte Tessa. Camille.

Ein französisch klingender Name; das erklärte möglicherweise auch ihren Akzent.

»Wenigstens ein Jahr. Vielleicht auch länger«, erklärte die Vampirin in kühlem, gleichgültigem Ton.

»Und Sie erzählen mir erst jetzt davon, weil ...?«

Charlotte klang gekränkt.

»Weil die Preisgabe von Geheimnissen des Lords von London mit dem Tode bestraft wird«, erwiderte Camille und ihre grünen Augen verdüsterten sich.

»Außerdem hätte Ihnen dieses Wissen nichts genutzt, selbst wenn ich Ihnen davon erzählt hätte. De Quincey ist einer Ihrer Verbündeten. Sie haben keinerlei Handhabe, einfach in sein Haus einzudringen, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Verbrecher. Nicht ohne Beweise für ein Vergehen seinerseits. Wenn ich es richtig verstanden habe, muss im Rahmen des neuen Abkommens ein Vampir auf frischer Tat ertappt werden, wie er einem Menschen Schaden zufügt. Erst dann können die Nephilim einschreiten, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Charlotte widerstrebend. »Aber wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, eine dieser Abendgesellschaften zu besuchen . .«

Camille stieß ein kurzes Lachen aus. »De Quincey hätte dies niemals zugelassen! Beim ersten Anzeichen eines Schattenjägers hätte er sein Haus sofort verrammelt und verriegelt. Man hätte Sie niemals auch nur die Schwelle überschreiten lassen.«

»Aber Sie hätten das gekonnt«, sagte Charlotte.

»Sie hätten einen von uns mitnehmen können . .«

Die Feder an Camilles Hut zitterte, als sie ruckartig den Kopf hob. »Und damit mein eigenes Leben aufs Spiel setzen?«

»Nun ja, von Leben kann eigentlich keine Rede sein, oder?«, gab Will zu bedenken.

»Ich schätze meine Existenz mindestens so sehr wie Sie die Ihre, Schattenjäger«, schnappte Lady Belcourt, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Vielleicht sollten Sie einmal den folgenden Ratschlag beherzigen: Es könnte nicht schaden, wenn die Nephilim endlich ihre Überzeugung aufgeben würden, dass all jene, die nicht genauso leben wie sie, überhaupt kein Leben führen.«

In dem Moment meldete Jem sich zu Wort, scheinbar zum ersten Mal seit Betreten des Raums: »Lady Belcourt, wenn Sie mir diese Frage verzeihen mögen, aber was genau wünschen Sie von Tessa?«

Sofort schaute Camille zu Tessa und ihre grünen Augen funkelten wie Edelsteine. »Sie können sich als jede andere Person ausgeben, ist das richtig? Eine perfekte Maskerade — im Hinblick auf Erscheinungsbild, Stimme und Umgangsformen? Das habe ich zumindest gehört.« Ihre Lippen kräuselten sich. »Ich habe meine Quellen.«

»Ja«, sagte Tessa zögernd. »Jedenfalls hieß es immer, die Verwandlung sei mit dem Ausgangsobjekt identisch.«

Camille musterte sie eingehend. »Das müsste sie aber sein — perfekt. Wenn Sie sich für mich ausgeben wollen ...«

»Für Sie?«, protestierte Charlotte. »Lady Belcourt, ich verstehe wirklich nicht ...«

»Aber ich verstehe es«, warf Will umgehend ein.

»Wenn Tessa sich als Lady Belcourt ausgeben würde, könnte sie eine von de Quinceys Abendgesellschaften besuchen. Sie könnte ihn dabei beobachten, wie er das Gesetz bricht. Und dann könnte der Rat eingreifen, ohne das Bündnis zu gefährden.«

»Wie immer ganz der Stratege.« Camille lächelte und entblößte erneut ihre weißen Zähne.

»Außerdem böte uns dies die ideale Gelegenheit, de Quinceys Haus zu durchsuchen«, meinte Jem. »Wir könnten uns dort einmal gründlich umsehen, ob wir irgendwelche Hinweise auf diese Automaten finden. Wenn er wirklich Menschen ermordet, dann haben wir wohl allen Grund zur Annahme, dass dahinter mehr steckt als die pure Lust am Töten.« Er schenkte Charlotte einen bedeutungsvollen Blick und Tessa wusste sofort, dass er genau wie sie selbst an die Leichen im Keller des Dunklen Hauses dachte.

»Wir müssten uns natürlich einen Weg überlegen, wie wir den Rat von de Quinceys Villa aus verständigen können«, überlegte Will, dessen blaue Augen bereits begeistert funkelten. »Vielleicht könnte Henry ja irgendein Gerät entwickeln. Außerdem wäre es von unschätzbarem Wert, wenn wir einen Grundriss von de Quinceys Anwesen hätten ...«

»Will«, protestierte Tessa. »Ich weiß nicht recht ...«

»Selbstverständlich würdest du nicht allein dorthin gehen«, fuhr Will ungeduldig fort. »Ich würde dich begleiten. Und ich würde natürlich dafür Sorge tragen, dass dir nichts geschieht.«

»Nein, Will. Du und Tessa allein in einem Haus voller Vampire? Das kommt nicht infrage«, verkündete Charlotte kategorisch.

»Wen würdest du denn sonst als ihren Begleiter mitschicken, wenn nicht mich?«, konterte Will. »Du weißt, dass ich sie beschützen kann, und du weißt, dass ich der Richtige für diese Aufgabe bin ...«

»Ich könnte mitgehen. Oder Henry ...«, widersprach Charlotte.

Camille, die diesen Wortwechsel mit einer Mischung aus Langeweile und Belustigung verfolgt hatte, mischte sich nun ein: »Ich fürchte, ich muss William recht geben. Die einzigen Personen, die Zutritt zu diesen Soireen erhalten, sind de Quinceys enge Freunde, andere Vampire und die menschlichen Domestiken dieser Vampire. De Quincey kennt Will bereits ... als einen Irdischen, der von allem Okkulten fasziniert ist. Es dürfte ihn nicht weiter verwundern, wenn er feststellt, dass Will sich in die Knechtschaft eines Vampirs begeben hat.«

Menschliche Domestiken. Tessa hatte darüber im Codex gelesen: Bei diesen Domestiken oder Finsterlingen handelte es sich um Irdische, die sich den Diensten eines Vampirs verschworen hatten. Für die Nachtkinder stellten sie einen treuen Begleiter und leicht verfügbare Nahrung dar, wofür die Domestiken im Gegenzug kleine Mengen Vampirblut erhielten —

Blut, das dafür sorgte, dass sie an ihren Gebieter gebunden blieben und sich nach dem Tod ebenfalls in Vampire verwandelten.

»Aber Will ist doch erst siebzehn«, protestierte Charlotte.

»Die meisten menschlichen Domestiken sind jung«, hielt Will dagegen. »In der Regel nehmen Vampire ihre Finsterlinge dann in den Dienst, wenn sie noch jung sind — sie bieten dann einen hübscheren Anblick. Außerdem verringert dies das Risiko, dass ihr Blut bereits verseucht ist. Und natürlich leben sie länger, wenn auch nicht viel.« Will zog eine selbstgefällige Miene und fuhr fort: »Der Großteil der Londoner Schattenjäger-Abteilung wäre wohl kaum in der Lage, einen halbwegs überzeugenden jungen Domestiken abzugeben ...«

»Weil wir anderen allesamt unansehnlich sind?«, hakte Jem nach und musterte seinen Freund belustigt.

»Ist das der Grund, warum ich nicht dafür infrage komme?«

»Nein. Du kennst den Grund«, erwiderte Will ohne jede Veränderung der Stimmlage, woraufhin Jem ihn noch einen Moment betrachtete, die Achseln zuckte und schließlich den Blick abwandte.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich von diesem Vorhaben halten soll«, sagte Charlotte. »Wann wird die nächste dieser Abendgesellschaften stattfinden, Camille?«

»Samstagnacht.«

Charlotte holte tief Luft. »Ich werde mich mit dem Rat besprechen müssen, ehe ich diesem Plan zustimmen kann. Und Tessa müsste natürlich ebenfalls einverstanden sein.«

Sämtliche Anwesenden schauten zu Tessa.

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.

»Sie sind also der Überzeugung, dass die Möglichkeit besteht, meinen Bruder dort anzutreffen?«, wandte sie sich an Lady Belcourt.

»Ich kann nichts versprechen. Möglicherweise ist er zugegen. Aber zumindest wird irgendjemand dort wissen, was mit ihm geschehen ist. Die Dunklen Schwestern wurden schon des Öfteren bei de Quinceys Soireen gesichtet; wenn man sie oder ihre Gefolgsleute verhaften und verhören würde, könnte man zweifellos ein paar Antworten aus ihnen herausquetschen.«

Tessa spürte, wie ihr übel wurde. »Also gut, ich mache es«, sagte sie. »Aber ich verlange, dass wir Nate, falls er anwesend sein sollte, dort herausholen. Ich will die Zusicherung, dass es nicht nur darum geht, de Quincey auf frischer Tat zu ertappen, sondern auch darum, meinen Bruder zu retten.«

»Selbstverständlich«, sagte Charlotte. »Aber ich bin mir noch immer nicht sicher, Tessa. Das Ganze wird sehr gefährlich werden ...«

»Hast du dich je in ein Schattenwesen verwandelt?«, erkundigte Will sich. »Weißt du, ob das überhaupt möglich ist?«

Tessa schüttelte den Kopf. »Ich habe es noch nicht probiert, aber ... ich könnte es ja einmal versuchen.«

Erneut wandte sie sich an Lady Belcourt. »Dürfte ich wohl um irgendeinen Gegenstand von Ihnen bitten? Einen Ring oder vielleicht ein Taschentuch?«

Camille griff mit den Händen in ihren Nacken und schob die dichten silberblonden Locken beiseite. Dann öffnete sie den Verschluss ihrer Halskette, ließ die funkelnden Rubine durch ihre schlanken Finger gleiten und hielt sie Tessa entgegen. »Hier, nehmen Sie.«

Mit einem Stirnrunzeln trat Jem einen Schritt vor, übernahm die Kette und reichte sie Tessa. Das Collier lag schwer in ihrer Hand und die rechteckigen Edelsteine fühlten sich kalt an — so kalt, als hätten sie im Schnee gelegen. Tessa schloss die Finger um den größten, fast vogeleigroßen Rubin in der Mitte der Kette und hatte den Eindruck, ein Stück Eis zu berühren. Dann holte sie tief Luft und schloss die Augen. Ein seltsames Gefühl überkam sie, anders als bei ihren bisherigen Verwandlungen: Die Dunkelheit hob sich ihr rasch entgegen und legte sich geschmeidig um sie und das Licht in der Ferne flirrte in einem kalten Silber. Die Kälte, die davon ausging, raubte ihr fast den Atem. Trotzdem zog Tessa das Licht zu sich heran, wickelte sich in seine eisige Umarmung und drang bis zu seinem Kern vor. Im nächsten Moment umhüllte das Licht sie wie mit schimmernden weißen Eiswänden.

Bis sie plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte, in der Mitte ihrer Brust, und vor ihren Augen alles rot wurde. Um sie herum leuchtete alles in dunklem Scharlachrot — die Farbe des Blutes. Panik erfasste Tessa und sie kämpfte sich mühsam frei, riss die Augen auf...

Und dann war sie wieder im Sanktuarium, umringt von den anderen, die sie gebannt anstarrten, wenn auch nicht sprachlos wie bei ihrer ersten Verwandlung im Speisezimmer. Nur Camilles Lippen umspielte ein feines Lächeln.

Doch irgendetwas stimmte nicht: In ihrem Inneren verspürte Tessa eine große Leere — keine Trauer, sondern das abgrundtiefe Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Sie rang nach Luft und im nächsten Augenblick fuhr ihr ein reißender Schmerz durch die Glieder. Kraftlos sank sie in einen der Sessel, presste die Hände auf die Brust und zitterte am ganzen Körper.

»Tessa?« Jem hockte sich neben ihren Sessel und nahm ihre Hand. Tessa konnte sich selbst im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen oder — um genauer zu sein — Camilles Spiegelbild. Camilles schimmerndes silberblondes Haar, das sich in weichen Locken über ihre Schultern ergoss, und die weiße Haut, welche auf eine Weise über das nun zu enge Mieder wogte, die Tessa normalerweise hätte erröten lassen — wenn sie denn dazu in der Lage gewesen wäre. Doch Erröten erforderte Blut — Blut, das durch Adern floss. Und plötzlich erinnerte Tessa sich mit wachsendem Entsetzen, warum Vampire nicht atmeten, ihnen nie kalt oder warm wurde und sie auch kein pochendes Herz besaßen.

Dann war das also diese Leere, dieses seltsame Vakuum, das sie verspürte, überlegte sie. Das Herz in ihrer Brust schlug nicht mehr, war nur noch ein toter Klumpen. Als sie bestürzt nach Luft rang, schoss ein heftiger Schmerz durch ihre Lungen und Tessa erkannte, dass sie zwar noch atmen konnte, ihr neuer Körper dies aber nicht benötigte oder gar wollte.

»Oh Gott«, wisperte sie von Panik erfüllt und sah Jem an. »Ich ... mein Herz schlägt nicht mehr. Ich fühle mich, als wäre ich tot. Jem, ich ...«

Behutsam streichelte Jem ihre Hand und schaute sie aus seinen silbernen Augen besänftigend an. Der Ausdruck darin hatte sich auch nach ihrer Verwandlung nicht verändert — er betrachtete sie so, wie er sie stets betrachtet hatte, als wäre sie noch immer Tessa Gray.

»Keine Angst, du lebst«, erwiderte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte. »Du trägst die Haut einer anderen Person, doch darunter bist du noch immer Tessa. Und du lebst. Weißt du, wieso ich das weiß?«

Tessa schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es, weil du eben ›Gott‹ gesagt hast. Und das kann kein Vampir.« Beruhigend drückte er ihre Hand. »Deine Seele ist noch immer unverändert.«

Tessa schloss die Augen und blieb einen Moment reglos sitzen, während sie sich auf den Druck seiner Finger konzentrierte, auf die Wärme seiner Hand auf ihrer eiskalten Haut. Nach einer Weile ließ das unkontrollierte Beben ihres Körpers nach; sie öffnete die Augen und schenkte Jem ein mattes, zittriges Lächeln.

»Tessa, ist alles ... ist alles in Ordnung?«, fragte Charlotte.

Tessa wandte langsam den Blick von Jems Gesicht ab und sah Charlotte an, die sie mit besorgter Miene musterte. Will, der neben Charlotte stand, betrachtete sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck.

»Sie werden natürlich noch üben und an Ihren Bewegungen und Ihrer Haltung arbeiten müssen, wenn Sie de Quincey davon überzeugen wollen, Sie seien ich«, bemerkte Lady Belcourt. »Ich würde mich beispielsweise niemals derart in einem Sessel lümmeln.«

Dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite und fuhr fort: »Insgesamt aber eine recht beachtliche Vorstellung. Anscheinend hatten Sie einen exzellenten Lehrmeister.«

Sofort musste Tessa an die Dunklen Schwestern denken. Waren sie exzellente Lehrmeister gewesen? Hatten sie ihr wirklich einen Gefallen damit getan, die in ihr schlummernde Kraft zu wecken — so sehr sie diese auch hassen mochte? Oder wäre es vielleicht besser gewesen, sie hätte nie davon erfahren? Langsam ließ sie die fremde Gestalt von sich herabgleiten, streifte Camilles Haut ab. Im nächsten Moment hatte Tessa das Gefühl, als würde sie aus eisigem Wasser emporsteigen. Ihre Hand umklammerte Jems, während die Kälte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durchfuhr wie eine frostklirrende Kaskade. Und dann machte in ihrer Brust irgendetwas einen Satz, wie ein Vogel, der nach einem Schlag gegen eine Glasscheibe reglos am Boden gelegen, seine Kräfte gesammelt und sich schließlich wie ein Pfeil in die Lüfte erhoben hatte: Ihr Herz schlug wieder. Luft strömte durch ihre Lungen und Tessa gab Jems Hand frei und presste ihre Finger gegen die Brust, um den darunterliegenden sanften Rhythmus zu spüren. Als sie in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand schaute, erkannte sie sich selbst darin: Tessa Gray — und keine überwältigend schöne Vampirin. Tessa verspürte eine Woge der Erleichterung.

»Mein Collier?«, sagte Lady Belcourt kühl und streckte ihre schlanke Hand aus.

Jem nahm die Rubinkette von Tessa in Empfang, um sie der Vampirin zu reichen. Als er sie anhob, sah Tessa, dass in die Silberfassung des größten Steins mehrere Worte graviert waren: »Amor verus numquam moritur.« Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu Will, der sie quer durch den Raum ebenfalls eindringlich ansah. Dann wandten beide hastig die Augen ab.

»Lady Belcourt«, richtete Will seine Aufmerksamkeit wieder auf die Vampirin, »da niemand von uns bisher das Vergnügen hatte, de Quinceys Haus betreten zu dürfen, halten Sie es für denkbar, uns vielleicht einen Grundriss des Anwesens zu besorgen oder eine kleine Skizze mit den örtlichen Gegebenheiten anzufertigen?«

»Ich werde Ihnen etwas viel Besseres zur Verfügung stellen«, verkündete Lady Belcourt, während sie die Kette wieder anlegte. »Magnus Bane.«

»Der Hexenmeister?« Charlotte hob skeptisch die Augenbrauen.

»In der Tat«, bestätigte Lady Belcourt. »Er kennt de Quinceys Villa mindestens so gut wie ich und wird regelmäßig zu seinen Abendgesellschaften geladen. Allerdings hat er — ebenso wie ich — die Soireen, bei denen diese Morde begangen wurden, bisher immer gemieden.«

»Sehr nobel von ihm«, murmelte Will.

»Er wird sich bei de Quincey mit Ihnen treffen und Sie im Haus herumführen. Keiner der Gäste dürfte überrascht sein, uns gemeinsam dort zu sehen. Denn Sie müssen wissen: Magnus Bane ist mein Liebhaber.«

Tessa blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen:

Diese Aussage zählte nicht zu den Dingen, die eine Dame in feiner Gesellschaft äußerte — oder überhaupt in irgendeiner Gesellschaft. Aber vielleicht galten für Vampire ja andere Maßstäbe? Allerdings wirkten auch alle anderen genauso sprachlos wie sie — bis auf Will, der wie üblich so aussah, als versuchte er, sich ein Lachen zu verkneifen.

»Wie ... wie nett«, stammelte Charlotte nach kurzem Zögern.

»Ja, der Meinung bin ich auch«, erwiderte Camille ungerührt und erhob sich. »Und nun wird es Zeit aufzubrechen. Wenn jemand die Güte besäße, mich hinauszubegleiten? Es ist schon spät und ich habe mich noch an niemandem gütlich getan.«

Charlotte warf Tessa einen besorgten Blick zu und wandte sich dann an die beiden jungen Schattenjäger:

»Will, Jem, wärt ihr so freundlich?«

Tessa sah zu, wie die jungen Männer Camille wie Soldaten aus dem Raum eskortierten. An der Tür hielt die Vampirin noch einmal inne und warf einen Blick über die Schulter, wobei ihre silberblonden Locken über die makellosen Wangen streiften. Sie war so atemberaubend schön, dass es Tessa einen Stich versetzte und sie ihre instinktive Abneigung vergaß.

»Wenn Sie diese Aufgabe übernehmen, kleine Gestaltwandlerin, und sie erfolgreich zu Ende bringen — ganz gleich, ob Sie Ihren Bruder finden oder nicht —, verspreche ich Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden«, richtete Camille sich lächelnd an Tessa. Das Mädchen runzelte die Stirn und setzte zu einer Frage an, doch Camille war bereits aus dem Raum gerauscht. Die Vampirin bewegte sich so schnell, dass es schien, als hätte sie sich zwischen zwei Atemzügen in Luft aufgelöst. »Was hat sie damit gemeint? Dass ich es nicht bereuen werde?« Tessa drehte sich zu Charlotte um.

Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Sie seufzte. »Ich würde nur zu gern annehmen, sie meinte damit, dass das Vollbringen eines guten Werks immer etwas Erfüllendes hat. Aber wir haben es hier mit Camille zu tun, daher kann ich mich nicht dafür verbürgen ...«

»Sind alle Vampire so?«, fragte Tessa. »So kalt und gleichgültig?«

»Die meisten von ihnen weilen schon sehr lange auf dieser Welt«, erwiderte Charlotte diplomatisch. »Sie sehen viele Dinge etwas anders als wir.«

Tessa presste die Finger gegen ihre schmerzenden Schläfen. »Das kann man wohl sagen.«

Von allen Eigenschaften, die Will an Vampiren verabscheute — ihre geräuschlose Fortbewegungsweise, das tiefe, unmenschliche Timbre ihrer Stimme —, irritierte ihn ihr Geruch am meisten. Oder genauer: das Fehlen eines Geruchs. Alle Menschen rochen nach irgendetwas — Schweiß, Seife, Parfüm —, aber Vampire verströmten keinerlei Duft. Sie waren geruchlos wie Wachsfiguren.

Wenige Schritte vor ihm hielt Jem eine der Türen auf, die vom Sanktuarium zur Eingangshalle des Instituts führten. All diese Räumlichkeiten waren säkularisiert worden, damit Vampire und ihresgleichen sie betreten konnten, doch darüber hinaus durfte Lady Belcourt sich nicht frei bewegen. Es handelte sich um mehr als einen Akt reiner Höflichkeit, sie hinauszugeleiten — die beiden Schattenjäger stellten damit auch sicher, dass Camille nicht versehentlich auf geweihten Boden geriet, was für alle Beteiligten mit gefährlichen Folgen verbunden gewesen wäre.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schob Camille sich an Jem vorbei, gefolgt von Will, der nur kurz innehielt und seinem Freund zuraunte: »Sie riecht nach gar nichts ... rein gar nichts.«

Jem warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Du hast an ihr gerochen?«

Camille, die bereits an der nächsten Tür auf sie wartete, drehte den Kopf und bemerkte süffisant: »Ich kann alles hören, was ihr beide sagt. Und es stimmt:

Vampire haben keinen Geruch. Das macht uns zu besseren Beutegreifern.«

»In der Tat — das und ein hervorragendes Gehör«, erwiderte Jem und ließ die Tür hinter Will ins Schloss fallen. Sie befanden sich nun im kleinen rechteckigen Vorraum vor der Eingangshalle und Camille legte ihre schlanke Hand auf die Haustür, als könnte sie es kaum erwarten, das Institut zu verlassen. Doch aus ihren Augen sprach nicht die geringste Eile; stattdessen ließ sie ihren kühlen Blick über die beiden Jungen wandern.

»Seht euch nur an«, näselte sie, »ein Bild aus Schwarz und Silber. Du, mit deiner Blässe und den lichten Augen, könntest ein Vampir sein«, wandte sie sich an Jem, um ihren Blick danach auf Will zu heften: »Und du ... nun ja, ich glaube nicht, dass bei de Quincey irgendjemand auch nur den leisesten Zweifel daran hegen wird, dass du mein Domestik bist.«

Jem betrachtete Camille mit einem Ausdruck in den Augen, mit dem er nach Wills Ansicht auch durch Glas hätte schneiden können. »Warum tun Sie das, Lady Belcourt? Dieser Plan, de Quincey ans Messer zu liefern ... Warum?«, fragte er.

Camille lächelte. Sie war berückend schön, musste Will sich eingestehen. Andererseits konnten viele Vampire sich dieser Eigenschaft rühmen, einer Schönheit, die ihn immer an den Anblick gepresster Blumen erinnerte — reizend, aber tot. »Ich tue dies, weil das Wissen um seine Taten auf meinem Gewissen lastet«, erklärte sie.

Jem schüttelte den Kopf. »Vielleicht gehören Sie ja zu denjenigen, die sich selbst auf dem Altar der Prinzipien opfern würden, aber irgendwie glaube ich das nicht. Die meisten von uns haben in der Regel persönlichere Beweggründe — Liebe oder Hass.«

»Oder Rache«, ergänzte Will. »Schließlich haben Sie seit über einem Jahr von den Geschehnissen in de Quinceys Villa gewusst, sind aber erst jetzt damit zu uns gekommen.«

»Das hängt mit Miss Gray zusammen.«

»Das mag stimmen, ist aber doch nicht alles, oder?«, hakte Jem nach. »Tessa liefert Ihnen die Gelegenheit, doch das Motiv für Ihr Verhalten ... das Motiv ist ein anderes.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Warum hassen Sie de Quincey so sehr?«

»Ich wüsste nicht, was dich das anginge, kleiner Schattenjäger«, schnaubte Camille verächtlich. Unter ihren rubinroten Lippen erschienen die elfenbeinweißen Spitzen ihrer Fangzähne. Will wusste zwar, dass Vampire ihre Reißzähne jederzeit willkürlich präsentieren konnten, trotzdem hatte der Anblick etwas Beunruhigendes an sich. »Warum spielt es überhaupt eine Rolle, welche Motive ich verfolge?«

»Weil wir Ihnen sonst nicht vertrauen können«, entgegnete Will und nahm damit Jems Antwort vorweg. »Denn möglicherweise wollen Sie uns ja auch in eine Falle locken. Charlotte mag das zwar nicht glauben, aber das bedeutet nicht, dass wir diese Möglichkeit ausschließen dürfen.«

»In eine Falle locken?«, wiederholte Camille spöttisch. »Und dadurch den fürchterlichen Zorn des Rats auf mich ziehen? Nun, das dürfte wohl kaum wahrscheinlich sein!«

»Lady Belcourt, was auch immer Charlotte Ihnen versprochen haben mag — wenn Sie unsere Hilfe wollen, werden Sie die Frage beantworten müssen«, sagte Jem kühl.

»Also gut«, willigte sie widerstrebend ein. »Wie ich sehe, werdet ihr euch erst dann zufriedengeben, wenn ich euch eine Erklärung liefere. Du ...«, sie deutete mit dem Kopf auf Will, »... du hast recht. Für jemanden, der noch so jung ist, weißt du erstaunlich viel über Liebe und Rache. Wir sollten uns irgendwann einmal ausführlicher darüber unterhalten«, fügte sie hinzu und schenkte Will ein Lächeln, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. »Ich hatte einst einen Geliebten ... ein Gestaltwandler, ein Lykanthrop. Allerdings ist es den Nachtkindern untersagt, die Kinder des Mondes zu lieben oder mit ihnen das Lager zu teilen. Wir waren sehr vorsichtig, doch de Quincey erfuhr davon. Er spürte uns auf und ermordete meinen Geliebten — auf eine ähnliche Weise, wie er irgendein armes Wesen bei seiner nächsten Soiree ermorden wird.« Camilles Augen schimmerten grün wie Smaragde, während sie die beiden Schattenjäger ansah. »Ich habe ihn geliebt und de Quincey hat ihn umgebracht. Und die anderen meines Schlages haben ihm dabei geholfen. Das werde ich ihnen nie verzeihen. Also tötet sie alle.«

Das Abkommen, dessen Unterzeichnung inzwischen zehn Jahre zurücklag, markierte einen historischen Moment für Nephilim und Schattenweltler gleichermaßen. Beide Gruppen würden nicht länger danach trachten, die jeweils andere zu vernichten; stattdessen würden sie sich gegen einen gemeinsamen Feind verbünden: die Dämonen. Fünfzig Männer und Frauen waren bei der Unterzeichnung in Idris zugegen gewesen: zehn Nachtkinder, zehn von Liliths Kindern, auch Hexenmeister genannt, zehn Angehörige des Lichten Volks, zehn Kinder des Mondes und zehn Nachkömmlinge von Raziels Blut ...

Mit einem Ruck schreckte Tessa hoch, als jemand leise an ihre Tür klopfte. Sie war eingedöst, den Kopf gegen die Kissen gelehnt und den Finger auf den aufgeschlagenen Seiten des Schattenjäger-Codex. Nachdem sie das Buch zugeklappt hatte, blieb ihr gerade noch Zeit, sich aufzusetzen und die Decke bis zum Hals zu ziehen, als die Tür sich auch schon vorsichtig öffnete.

Ein schwacher Lichtstrahl fiel ins Zimmer und dahinter kam Charlottes Gestalt in Sicht. Tessa verspürte einen seltsamen Stich, fast schon Enttäuschung — aber wen sonst hätte sie auch erwarten dürfen? Trotz der fortgeschrittenen Stunde war Charlotte so gekleidet, als beabsichtigte sie, noch auszugehen. Ihr Gesicht wirkte noch ernster als üblich und dunkle Schatten der Erschöpfung zeichneten sich unter ihren Augen ab. »Sind Sie noch wach?«, fragte sie leise. Tessa nickte und hob das Buch, in dem sie gelesen hatte. »Ich studiere den Codex.«

Charlotte erwiderte nichts darauf, durchquerte jedoch das Zimmer und ließ sich am Fußende von Tessas Bett nieder. Als sie ihr die Hand entgegenstreckte, schimmerte etwas auf ihrer Handfläche —

Tessas Klockwerk-Engel. »Sie haben das hier bei Henry zurückgelassen«, sagte sie.

Tessa legte das Buch beiseite, nahm den Anhänger entgegen, ließ die Kette über den Kopf gleiten und empfand ein Gefühl der Sicherheit, als sie das vertraute Gewicht an ihrer Kehle spürte. »Hat Henry irgendetwas darüber herausgefunden?«, erkundigte sie sich.

»Ich bin mir nicht sicher. Er meinte, das gesamte Innere sei durch jahrelangen Rost vollkommen korrodiert gewesen und es wäre ein Wunder, dass das Uhrwerk überhaupt noch funktioniert hat. Soweit ich weiß, hat er alle mechanischen Teile gereinigt, aber offenbar ohne allzu großen Erfolg. Er lässt fragen, ob der Engel jetzt vielleicht regelmäßiger tickt?«

»Möglicherweise«, erwiderte Tessa, aber im Grunde interessierte sie das wenig. Sie war einfach nur froh, den Engel — das Symbol der Erinnerung an ihre Mutter und ihr Leben in New York — zurückzuhaben.

»Tessa ...«, setzte Charlotte an und faltete die Hände im Schoß. »Da gibt es etwas, das ich Ihnen nicht erzählt habe.«

Tessas Herz schlug schneller. »Worum geht es?«

»Um Mortmain ...« Charlotte zögerte einen Moment. »Als ich Ihnen berichtete, dass Mortmain Ihren Bruder in den Pandemonium Club eingeführt hat, entsprach das zwar der Wahrheit, aber das war noch nicht alles: Ihr Bruder wusste bereits von der Verborgenen Welt, bevor Mortmain ihm davon berichtete. Anscheinend hatte er durch Ihren Vater davon erfahren.«

Sprachlos starrte Tessa die Schattenjägerin an.

»Wie alt waren Sie, als Ihre Eltern verstarben?«, fragte Charlotte.

»Sie sind bei einem Unfall ums Leben gekommen«, erklärte Tessa, leicht benommen. »Ich war damals drei und Nate war sechs.«

Charlotte runzelte die Stirn. »Sehr jung ... dafür, dass Ihr Vater Ihren Bruder ins Vertrauen gezogen hat, aber ... vermutlich nicht völlig unmöglich.«

»Nein«, widersprach Tessa. »Nein, Sie verstehen das nicht richtig: Ich hatte die normalste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. Und meine Tante Harriet war die pragmatischste Frau der Welt. Sie hätte davon gewusst, oder nicht? Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter — meine Eltern hatten sie von London aus nach Amerika mitgenommen. Sie hätte doch etwas davon wissen müssen!«

»Viele Menschen haben Geheimnisse, Tessa, manchmal sogar vor denjenigen, die sie lieben.« Charlotte strich mit den Fingerspitzen über den Einband des Codex und zeichnete das eingeschnittene Emblem nach. »Und Sie müssen eingestehen, dass das Ganze durchaus einen Sinn ergibt.«

»Einen Sinn? Für mich ergibt das überhaupt keinen Sinn!«

»Tessa ...« Charlotte seufzte. »Wir wissen nicht, wieso Sie Ihre besondere Fähigkeit besitzen. Aber falls eines Ihrer Elternteile irgendwelche Verbindungen zur Welt der Magie unterhalten hat, wäre es da nicht naheliegend, dass Ihre Fähigkeit etwas mit dieser Verbindung zu tun haben könnte? Wenn Ihr Vater ein Mitglied des Pandemonium Clubs gewesen ist, könnte das nicht der Grund dafür sein, dass de Quincey überhaupt von Ihnen wusste?«

»Vermutlich schon«, räumte Tessa widerwillig ein.

»Aber ... aber als ich nach London kam, war ich so fest davon überzeugt, dass all das, was mir widerfuhr, nur ein Traum sein konnte, ein schrecklicher Albtraum. Ich war mir sicher, dass mein Leben in New York real gewesen war — und nicht das in London. Und ich dachte, wenn es mir nur gelänge, Nate zu finden, könnten wir nach Hause zurückkehren und unser altes Leben wieder aufnehmen.« Sie schaute Charlotte direkt in die Augen. »Aber jetzt komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob vielleicht mein Leben in Amerika nur ein Traum war und dies hier nun der Wahrheit entspricht. Falls meine Eltern wirklich vom Pandemonium Club wussten ... falls sie tatsächlich ein Teil der Verborgenen Welt gewesen sind, dann gibt es für mich keinen Ort, an den ich zurückkehren könnte, welcher nicht davon betroffen ist.«

Charlotte, deren Hände noch immer in ihrem Schoß lagen, schaute Tessa ruhig an. »Haben Sie sich je gefragt, warum Sophies Gesicht so verunstaltet ist?«

Die Frage traf Tessa vollkommen unvorbereitet und sie konnte nur stammelnd erwidern: »Ich ... der Gedanke ... Natürlich ist mir dieser Gedanke schon gekommen, aber ich wollte nicht fragen.«

»Und das war auch richtig so«, erklärte Charlotte mit kühler, fester Stimme. »Als ich Sophie das erste Mal sah, kauerte sie schmutzig und schluchzend in einem Torbogen, einen blutigen Lappen gegen die Wange gedrückt. Sie hatte mich gesehen, als ich an ihr vorbeiging, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt in Zauberglanz gehüllt hatte. Und das war auch der Grund, weshalb sie überhaupt meine Aufmerksamkeit weckte. Sophie besitzt das zweite Gesicht, genau wie Thomas und Agatha. Ich habe ihr damals Geld angeboten, doch sie lehnte ab. Es gelang mir schließlich, sie zu überreden, mich in einen nahe gelegenen Teesalon zu begleiten. Und dort erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war ein Stubenmädchen gewesen, in einem vornehmen Haus in St. John’s Wood. Natürlich werden Stubenmädchen vorrangig wegen ihres hübschen Äußeren ausgewählt und Sophie war eine Schönheit — was sich für sie als Segen und Fluch zugleich entpuppte. Wie Sie sich sicher vorstellen können, zeigte der Sohn des Hauses schon bald Interesse an ihr und versuchte, sie zu verführen. Sophie wies ihn jedoch wiederholt zurück. In einem Wutanfall griff er zum Messer, schlitzte ihr die Wange auf und rief: Wenn er sie nicht haben könne, würde er dafür sorgen, dass auch kein anderer Mann sich jemals wieder für sie interessieren würde.«

»Wie schrecklich«, wisperte Tessa.

»Sophie wandte sich an ihre Dienstherrin, die Mutter des jungen Mannes, aber er behauptete, sie habe versucht, ihn zu verführen, und er habe zum Messer greifen müssen, um sie abzuwehren und seine Ehre zu verteidigen. Und natürlich hat man Sophie aus dem Haus geworfen. Als ich sie auf der Straße fand, hatte sich ihre Wange bereits schlimm entzündet. Ich brachte sie hierher und ließ sie von den Brüdern der Stille behandeln, die zwar die Entzündung heilen konnten, nicht aber die Narbe.«

Unwillkürlich hatte Tessa ihre Hand an die eigene Wange gehoben. »Arme Sophie«, flüsterte sie voller Mitgefühl.

Charlotte neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete Tessa aus leuchtend braunen Augen. Die Schattenjägerin besaß eine solch starke Ausstrahlung, überlegte Tessa, dass sie manchmal vergaß, wie klein Charlotte tatsächlich war, wie vogelzart und zierlich.

»Sophie hat eine besondere Gabe«, fuhr Charlotte nun fort. »Sie hat das zweite Gesicht. Sie sieht Dinge, die andere nicht sehen können. In ihrem alten Leben hat sie sich oft gefragt, ob sie vielleicht verrückt sei. Heute weiß sie jedoch, dass sie nicht verrückt, sondern etwas ganz Besonderes ist. Damals war sie nur ein einfaches Stubenmädchen, das sehr wahrscheinlich seine Stelle in dem Moment verloren hätte, in dem seine Schönheit verblasst wäre. Doch jetzt ist sie ein wertvolles Mitglied unseres Haushalts, ein besonders begabtes Mädchen, das viel beizutragen hat.« Charlotte beugte sich vor. »Sie schauen auf Ihr altes Leben zurück, Tessa, und im Vergleich zu diesem hier erscheint es Ihnen sicher. Doch wenn ich mich recht entsinne, waren Sie und Ihre Tante damals sehr arm. Wenn Sie nicht nach London gekommen wären, wohin hätten Sie sich nach dem Tod Ihrer Tante gewandt? Was hätten Sie getan? Hätten Sie sich vielleicht eines Tages schluchzend in einer Gasse wiedergefunden — so wie unsere Sophie?« Charlotte schüttelte den Kopf. »Sie besitzen eine Kraft von unschätzbarem Wert. Sie müssen niemanden um irgendetwas bitten. Sie sind von niemandem abhängig. Sie sind frei und diese Freiheit ist ein Geschenk.«

»Es fällt schwer, etwas als ein Geschenk zu betrachten, wenn man deswegen gefoltert und eingesperrt wurde.«

Erneut schüttelte Charlotte den Kopf. »Sophie hat mir einmal erklärt, sie sei froh, dass sie diese Narbe habe. Denn nun wisse sie: Wenn jemand sie lieben würde, würde derjenige ihr wahres Ich lieben und nicht nur ihr hübsches Gesicht. Dies hier ist Ihr wahres Ich, Tessa. Diese Kraft — das sind Sie. Wer auch immer Sie nun liebt, und Sie müssen sich natürlich auch selbst lieben, der wird Ihr wahres Ich lieben.«

Tessa nahm den Codex hoch und drückte ihn an ihre Brust. »Dann geben Sie also zu, dass ich recht habe: Dies hier ist das richtige Leben und die Jahre davor waren nur ein Traum.«

»Ganz recht.« Behutsam tätschelte Charlotte Tessas Schulter, die daraufhin fast erschrocken zusammenzuckte.

Es war so lange her, dass jemand sie auf eine solch mütterliche Weise berührt hatte, überlegte sie. Unwillkürlich musste sie an Tante Harriet denken und verspürte sofort einen Kloß im Hals.

»Und nun ist es Zeit aufzuwachen, Tessa«, fügte Charlotte hinzu.

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