9 Die Brigade

Mein Herz schwer wie ein Mühlstein,

mein Antlitz hart wie Flint,

Betrügen und betrogen und dann hinab ins Grab.

Wer weiß? Wir sind nur Staub und Asche.

Alfred Lord Tennyson, »Maud«

»Versuch’s noch mal«, schlug Will vor. »Geh einfach bis zum Ende des Raums und wieder zurück. Wir werden dir dann schon sagen, ob du überzeugend wirkst.«

Tessa seufzte. Ihr dröhnte der Kopf und ihre Augen schmerzten: Es war wirklich anstrengend, glaubhaft eine Vampirin darzustellen.

Der Besuch von Lady Belcourt lag nun schon zwei Tage zurück und Tessa hatte seitdem fast jede freie Minute damit verbracht, sich in die Vampirdame zu verwandeln — allerdings ohne großen Erfolg. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich noch immer am Rand von Camilles Geist bewegte und einfach nicht bis zu ihrer wahren Persönlichkeit vordringen konnte. Und das machte es schwierig, sich wie diese zu geben und zu reden oder zu wissen, wie sie sich den anderen Vampiren gegenüber verhalten sollte, denen sie bei de Quinceys Soiree zweifellos begegnen würde und die Camille alle gut kannten.

Im Augenblick hielt sie sich in der Bibliothek auf, wo sie seit dem Mittagessen versucht hatte, Lady Belcourts seltsamen, fast schwebenden Gang und ihren schleppenden Tonfall zu imitieren. Dabei hatte ihr eine Brosche geholfen, die einer von Camilles Domestiken, eine verhutzelte, kleine Kreatur namens Archer, in einer Schatulle gebracht hatte. Lady Belcourt hatte auch eine Robe mitgeschickt, die Tessa bei de Quinceys Abendgesellschaft tragen sollte, doch sie war viel zu schwer und reich verziert für diese Tageszeit. Also hatte Tessa ihre Übungen in ihrem neuen, blau-weiß gestreiften Kleid durchgeführt — das allerdings ärgerlicherweise im Brustbereich zu eng und um die Taille herum zu lose war, sobald sie sich in Camille verwandelte.

Jem und Will hatten es sich auf einem der langen Tische im hinteren Bereich der Bibliothek bequem gemacht, angeblich um Tessa zu helfen und sie zu beraten. Doch es wirkte eher, als machten sie sich hauptsächlich über ihre verzweifelten Bemühungen lustig.

»Deine Füße zeigen beim Gehen zu weit nach außen«, fuhr Will fort, polierte eifrig einen Apfel an seiner Hemdbrust und schien Tessas wütendes Funkeln gar nicht zu bemerken. »Camille tritt behutsam und vorsichtig auf. Wie ein Faun im Wald. Und nicht watschelnd wie eine Ente.«

»Ich watschle nicht wie eine Ente!«

»Ich mag Enten«, lenkte Jem diplomatisch ein.

»Vor allem die im Hydepark.« Er warf Will einen Seitenblick zu. Beide Schattenjäger hockten mit baumelnden Beinen auf der hohen Tischkante. »Weißt du noch, wie du mich dazu überredet hast, eine Geflügelpastete an die Stockenten zu verfüttern, um herauszufinden, ob wir eine Rasse von Kannibalen-Enten züchten könnten?«

»Und sie haben sie tatsächlich verputzt!«, schwelgte Will genüsslich in Erinnerungen. »Diese blutrünstigen kleinen Biester. Vertraue niemals einer Ente.«

»Ich muss doch sehr bitten!«, fauchte Tessa. »Wenn ihr mir nicht helfen wollt, könnt ihr genauso gut auch gehen. Ich habe eurer Anwesenheit hier nicht zugestimmt, nur um mir dann euer Geschnatter über Enten anzuhören.«

»Deine Ungeduld ist wirklich höchst undamenhaft«, konstatierte Will und grinste hinter seinem Apfel hervor. »Oder bemerke ich hier vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich Camilles Vampircharakter zunehmend manifestiert?«

Sein Ton klang scherzhaft, was Tessa sehr seltsam erschien: Nur wenige Tage zuvor hatte er sie wegen ihrer Frage nach seinen Eltern angefahren und kurz darauf mit flehendem Ausdruck in den Augen gebeten, nur ja kein Wort über Jems blutigen Husten zu verlieren. Und nun neckte er sie, als sei sie die kleine Schwester eines guten Freundes — ein Mädchen, das er flüchtig kannte, vielleicht auch mit einer gewissen Zuneigung in seiner Gegenwart duldete, aber ganz bestimmt nicht mit komplexeren Gefühlen in Verbindung brachte.

Tessa biss sich auf die Lippe und zuckte im nächsten Moment zusammen, weil sie einen unerwartet heftigen Schmerz verspürte: Camilles Vampirzähne — ihre Zähne — folgten einem Instinkt, den sie einfach nicht verstehen konnte. Sie schienen ohne jede Vorwarnung aus ihren Scheiden zu gleiten und Tessa nur durch plötzliche Stiche auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, wenn sie die zarte Haut ihrer Lippe durchstachen. Wie jedes Mal schmeckte sie auch nun Blut im Mund — ihr eigenes Blut, salzig und heiß — und presste einen Finger gegen die Wunde. Als sie die Hand herunternahm, schimmerte die Kuppe blutrot.

»Kümmere dich einfach nicht darum«, riet Will, legte den Apfel beiseite und stand auf. »Du wirst feststellen, dass deine Haut sehr schnell verheilt.«

Vorsichtig tastete Tessa mit der Zunge nach ihrem linken Schneidezahn, doch er fühlte sich wieder flach an, wie ein ganz gewöhnlicher Zahn. »Ich verstehe wirklich nicht, was sie dazu veranlasst, einfach so hervorzugleiten!«

»Hunger«, erklärte Jem. »Hast du vielleicht an Blut gedacht?«

»Nein.«

»Oder daran, über mich herzufallen?«, fragte Will.

»Nein!«

»Das würde dir gewiss niemand verübeln — er ist heute äußerst ermüdend«, meinte Jem.

Tessa seufzte. »Camille ist so kompliziert. Es gelingt mir einfach nicht, sie zu verstehen — ganz zu schweigen davon, sie darzustellen.«

Jem betrachtete Tessa aufmerksam. »Bist du in der Lage, ihren Geist zu berühren? Auf dieselbe Art und Weise, wie du die Gedanken anderer Menschen lesen konntest, in die du dich verwandelt hast?«

»Nein, noch nicht. Ich versuche es schon die ganze Zeit, aber ich erhalte bloß Geistesblitze, flüchtige Bilder. Ihre Gedanken sind offenbar sehr gut abgeschirmt.«

»Nun, dann können wir nur hoffen, dass du diesen Schutzwall bis morgen durchbrochen hast«, bemerkte Will. »Denn sonst sehe ich schwarz für uns.«

»Will, sag doch nicht so was!«, rügte Jem seinen Freund.

»Du hast recht«, erwiderte Will. »Ich sollte meine eigenen Fähigkeiten nicht unterschätzen. Falls Tessa die Geschichte vermasselt, bin ich bestimmt in der Lage, uns durch gierende Vampirmassen hindurch einen Weg in die Freiheit zu erkämpfen.«

Wie üblich ignorierte Jem diese Bemerkung einfach. »Vielleicht kannst du ja nur die Gedanken der Toten lesen?«, wandte er sich an Tessa. »Vielleicht stammten ja die Gegenstände, die die Dunklen Schwestern dir gegeben haben, ausschließlich von den Menschen, die sie umgebracht hatten.«

»Nein, daran liegt es glücklicherweise nicht. Ich habe Jessamines Geist berührt, als ich mich in sie verwandelt habe. Das Ganze wäre sonst auch eine ziemlich makabre Fähigkeit.«

Jem musterte sie aus seinen silberhellen Augen. In seinem Blick lag etwas so Eindringliches, dass Tessa fast ein wenig mulmig wurde. »Wie klar kannst du die Gedanken der Toten tatsächlich sehen?«, fragte er.

»Wenn ich dir beispielsweise einen Gegenstand geben würde, der einst meinem Vater gehört hat, wüsstest du dann, was er im Moment seines Todes gedacht hat?«

Bei diesen Worten schaute Will den anderen Jungen überrascht und beunruhigt an. »James, ich glaube nicht ...«, setzte er an, verstummte aber, als sich die Tür öffnete und Charlotte die Bibliothek betrat. Doch sie war nicht allein: Ihr folgten mindestens ein Dutzend Leute — Fremde, die Tessa noch nie gesehen hatte.

»Die Brigade«, raunte Will und bedeutete Jem und Tessa, sich hinter einem der hohen Bücherregale zu verbergen. Von ihrem Versteck aus beobachteten sie gemeinsam, wie sich der Raum mit Schattenjägern füllte. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Männer, doch Tessa entdeckte auch zwei Frauen darunter.

Fasziniert betrachtete sie die beiden Schattenjägerinnen und musste dabei an Wills Worte über Boadicea denken: Auch Frauen konnten zum Schwert greifen. Die größere der beiden — sie war knapp einen Meter achtzig groß — trug ihr puderweißes Haar zu einem Kranz hochgesteckt. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von über sechzig Jahren besaß sie eine hoheitsvolle Ausstrahlung. Die andere Frau war deutlich jünger und verströmte mit ihren dunklen Haaren und den katzenartigen Augen ein geheimnisvolles Flair.

Die restlichen Schattenjäger — eine Gruppe Männer unterschiedlicher Herkunft — wirkten dagegen fast wie zusammengewürfelt. Der Älteste unter ihnen war nicht nur von Kopf bis Fuß in Grau gekleidet, sondern hatte auch graue Haare und einen leicht gräulichen Teint. Sein hageres Gesicht mit der ausgeprägten, aber schmalen Nase und dem spitzen Kinn erinnerte Tessa an einen Adler und um die rot geränderten Augen gruben sich tiefe Krähenfüße in die faltige Haut, die unterhalb der Wangenknochen noch dunkler schimmerte. Neben ihm stand der jüngste der Gruppe, ein Schattenjäger, der nicht viel älter als Jem oder Will sein konnte und eine steife, wenn auch nicht unattraktive Ausstrahlung besaß, mit kantigen, allerdings ebenmäßigen Gesichtszügen, wirren braunen Haaren und einem wachsamen Blick.

Jem stieß ein unangenehm überraschtes Schnauben aus. »Gabriel Lightwood«, raunte er in Wills Richtung. »Was hat der hier zu suchen? Ich dachte, er wäre im Internat in Idris.«

Will hatte sich nicht von der Stelle bewegt und starrte den braunhaarigen Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen an, wobei ein mattes Lächeln seine Lippen umspielte.

»Leg dich bitte nicht mit ihm an, Will«, fügte Jem hastig hinzu. »Jedenfalls nicht hier. Mehr erwarte ich gar nicht von dir.«

»Das ist ziemlich viel verlangt, findest du nicht?«, erwiderte Will, ohne den Blick von der Schattenjägergruppe abzuwenden. Er beugte sich leicht vor und beobachtete, wie Charlotte die Männer und Frauen zu einem großen Tisch im vorderen Bereich der Bibliothek dirigierte.

»Frederick Ashdown und George Penhallow, wenn ihr bitte hier Platz nehmen wollt«, forderte sie zwei Schattenjäger auf und wandte sich an die nächsten:

»Lilian Highsmith, bitte hier drüben neben der Landkarte und ...«

»Und wo ist Henry?«, fiel ihr der große, grauhaarige Mann mit vorgeblich höflichem Interesse ins Wort.

»Dein Gatte, Henry Branwell? Als einer der Leiter dieses Instituts sollte er wirklich zugegen sein.«

Charlotte zögerte nur einen Sekundenbruchteil, ehe sie eine freundliche Miene aufsetzte. »Er ist auf dem Weg hierher, Benedict Lightwood«, erklärte sie. Tessa erkannte dadurch zweierlei: zum einen, dass der grauhaarige Mann sehr wahrscheinlich Gabriel Lightwoods Vater war, und zum anderen, dass Charlotte log.

»Er täte auch gut daran! Eine Zusammenkunft der Brigade ohne den Leiter des Instituts — äußerst regelwidrig«, murrte Benedict Lightwood und wandte ruckartig den Kopf ab. Hastig zog Will sich hinter das Bücherregal zurück, doch es war bereits zu spät. Der große Mann kniff die Augen zusammen und dröhnte durch den Raum: »Und wer verbirgt sich dahinten? Komm heraus und zeig dein Gesicht!«

Will warf Jem einen Blick zu, der beredt die Achseln zuckte. »Hat wohl keinen Zweck, sich hier hinter dem Bücherregal zu verstecken, bis man uns hervorzerrt, oder?«

»Das meinst aber auch nur du!«, zischte Tessa. »Ich lege keinen Wert darauf, dass Charlotte wütend auf mich ist, falls wir uns hier nicht hätten aufhalten dürfen.«

»Nur keine Aufregung. Du hast von dieser Versammlung ja nichts ahnen können und Charlotte ist sich dessen durchaus bewusst«, erwiderte Will. »Sie weiß immer ganz genau, wem sie die Schuld geben muss«, fügte er grinsend hinzu. »Allerdings würde ich mich an deiner Stelle zügig zurückverwandeln, wenn du mich fragst. Wir brauchen unseren altehrwürdigen Honoratioren ja keinen allzu großen Schrecken einzujagen.«

»Oh!« Einen Moment lang hatte Tessa ganz vergessen, dass sie ja noch immer in Camilles Haut steckte. Hastig ließ sie deren Gestalt von sich abgleiten, und als sie zusammen mit Will und Jem hinter dem Bücherregal hervortrat, war sie wieder sie selbst.

»Will.« Charlotte seufzte, als sie ihn sah, und schüttelte beim Anblick von Tessa und Jem den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass die Brigade hier um vier Uhr zu einer Sitzung zusammenkommt.«

»Tatsächlich? Das muss ich wohl vergessen haben. Wie nachlässig von mir«, erklärte Will und warf dann dem jüngsten Schattenjäger einen spöttischen Blick zu. »Hallo, Gabriel.«

Der braunhaarige Junge reagierte mit einem verbissenen Starren: Seine leuchtend grünen Augen funkelten wütend und er presste die dünnen Lippen fest zusammen. Schließlich stieß er mühsam beherrscht hervor: »William ... Und James. Seid ihr zwei nicht ein bisschen zu jung, um euch während einer Versammlung hier heimlich herumzudrücken?«

»Und was ist mit dir?«, erwiderte Jem.

»Ich bin im Juni achtzehn geworden«, verkündete Gabriel selbstgefällig und lehnte sich mit seinem Stuhl so weit nach hinten, dass die vorderen Stuhlbeine vom Boden abhoben. »Damit habe ich das Recht, an allen Aktivitäten der Brigade teilzunehmen.«

»Dann hätten wir das ja geklärt«, warf die weißhaarige Frau mit der hoheitsvollen Ausstrahlung ironisch ein. »Und das ist sie also, Lottie? Das Hexenmädchen, von dem du uns erzählt hast?« Die Frage war direkt an Charlotte gerichtet, doch ihr Blick ruhte auf Tessa.

»Sie sieht ja nicht gerade wie eines von Liliths Kindern aus.«

»Das Gleiche galt für Magnus Bane, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin«, gab Benedict Lightwood zu bedenken und beugte sich interessiert vor.

»Na, dann zeig uns mal, was du kannst!«, forderte er Tessa auf.

»Ich bin keine Hexe!«, protestierte Tessa aufgebracht.

»Nun ja, irgendetwas musst du ja sein, mein liebes Kind«, entgegnete die ältere Frau. »Wenn keine Hexe, was dann?«

»Das reicht.« Charlotte richtete sich auf. »Miss Gray hat ihre Glaubwürdigkeit bereits unter Beweis gestellt. Das muss fürs Erste genügen — zumindest bis die Brigade den Beschluss fasst, von ihrer Fähigkeit Gebrauch machen zu wollen.«

»An diesem Beschluss führt kein Weg vorbei«, sagte Will. »Ohne sie haben wir nicht die geringste Chance, den Plan erfolgreich umzusetzen ...«

Mit einem Ruck brachte Gabriel seinen Stuhl nach vorne, sodass die Beine krachend auf dem Steinboden aufschlugen. »Mrs Branwell«, fauchte er wütend, »ist William nun zu jung, um an einer Brigadenversammlung teilzunehmen, oder nicht?«

Charlottes Blick wanderte von Gabriels gerötetem Gesicht zu Wills ausdrucksloser Miene. Schließlich seufzte sie. »Ja, er ist zu jung. Will, Jem, wenn ihr bitte mit Tessa draußen im Flur warten würdet.«

Wills Züge verdüsterten sich, doch Jem schoss ihm einen warnenden Blick zu und er schwieg. Dagegen zog Gabriel Lightwood ein triumphierendes Gesicht.

»Ich werde euch hinausbegleiten«, verkündete er und sprang auf. Dann führte er die drei gewichtig aus der Bibliothek und folgte ihnen in den Korridor. »Du ...!«, zischte er in Wills Richtung, wobei er die Stimme senkte, damit die anderen Schattenjäger ihn durch die halb geöffnete Tür nicht hören konnten. »Du bist eine Schande für alle Schattenjäger.«

Will lehnte sich lässig gegen die Korridorwand und betrachtete Gabriel kühl. »Ich wusste nicht, dass da noch viel zu verschandeln war, nachdem dein Vater ...«

»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht von meiner Familie reden würdest«, fauchte Gabriel und zog die Bibliothekstür hinter sich ins Schloss.

»Wie bedauerlich, dass die Aussicht auf deine Verbundenheit mich nicht besonders zu locken vermag«, bemerkte Will spöttisch.

Gabriel starrte ihn an, mit wirren Haaren und wütend funkelnden Augen. In dem Moment erinnerte er Tessa an jemanden, aber sie hätte nicht sagen können, an wen genau. »Was?«, knurrte Gabriel.

»Er meint damit, dass ihn dein Dank nicht sonderlich interessiert«, erläuterte Jem bereitwillig. Gabriels Wangen liefen scharlachrot an. »Wenn du nicht minderjährig wärst, Herondale, würde das jetzt monomachia für uns bedeuten. Nur du und ich. Einen Zweikampf bis zum Tod. Ich würde dich in Fetzen reißen, dein Blut ...«

»Hör auf, Gabriel«, unterbrach Jem ihn, ehe Will etwas erwidern konnte. »Will zum Kampf anzustacheln, ist ungefähr so, als würde man einen Hund bestrafen, nachdem man ihn so lange gequält hat, bis er zugebissen hat. Du weißt doch, wie er ist.«

»Verbindlichsten Dank, James«, sagte Will, ohne den Blick von Gabriel abzuwenden. »Ich weiß dieses Leumundszeugnis wirklich zu schätzen.«

Jem zuckte die Achseln. »Aber es stimmt doch.«

Gabriel musterte Jem mit einem finsteren Blick.

»Halt dich da raus, Carstairs. Das betrifft dich nicht.«

Jem trat näher zu Will, der vollkommen ruhig dastand und Gabriels wütendes Funkeln mit einem derart eiskalten Blick konterte, dass sich Tessa die Nackenhaare aufrichteten. »Wenn es Will betrifft, betrifft es auch mich«, erwiderte Jem.

Gabriel schüttelte den Kopf. »Du bist ein anständiger Schattenjäger, James«, sagte er, »und ein Gentleman. Du hast deine ... deine Behinderung, aber daran gibt dir niemand die Schuld. Doch dieser ...« Er verzog verächtlich die Lippe und stieß mit einem Finger in Wills Richtung. »... dieser Abschaum hier wird dich nur mit in den Dreck ziehen. Such dir besser einen anderen parabatai. Niemand erwartet, dass Will Herondale älter als neunzehn wird, und niemand wird es bedauern, wenn er sein erbärmliches Leben aushaucht ...«

Das ging Tessa nun wirklich zu weit. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, platzte sie empört hervor:

»Wie können Sie nur so etwas sagen!«

Gabriel, der mitten in seiner Tirade unterbrochen worden war, starrte sie verblüfft an, als hätte einer der Wandteppiche plötzlich zu reden begonnen. »Wie bitte?«

»Sie haben mich genau verstanden. Einem anderen Menschen an den Kopf zu werfen, dass man es nicht bedauern würde, wenn er stirbt! Das ist unverzeihlich!« Tessa packte Will am Ärmel. »Komm, Will. Dieses ... dieses Jüngelchen ist es ganz offensichtlich nicht wert, auch nur eine Minute deiner Zeit an ihn zu verschwenden.«

Will wirkte höchst amüsiert. »Wie wahr, wie wahr.«

»Du ... du ...«, setzte Gabriel stammelnd an und musterte Tessa mit einem beunruhigten Blick. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was er getan hat ...«

»Und es ist mir auch vollkommen egal. Ihr seid alle Nephilim, oder etwa nicht? Das bedeutet, dass ihr auf derselben Seite kämpfen solltet.« Tessa musterte Gabriel stirnrunzelnd. »Ich denke, Sie schulden Will eine Entschuldigung.«

»Eher würde ich mir die Gedärme herausreißen und vor meinen Augen zusammenknoten lassen, als diesen Wurm um Verzeihung zu bitten«, knurrte Gabriel.

»Du meine Güte!«, sagte Jem sanft. »Das kann nicht dein Ernst sein. Natürlich nicht der Teil mit Will als Wurm, sondern die Aussage über deine Gedärme. Das klingt wahrlich grauenvoll.«

»Oh doch, das ist mein voller Ernst«, erwiderte Gabriel, der sich für das Thema zunehmend erwärmte.

»Eher ließe ich mich in ein Fass mit Malphas’ ätzendem Gift versenken, bis von mir nur noch die Knochen übrig wären.«

»Tatsächlich?«, fragte Will. »Zufälligerweise kenne ich da einen Burschen, der uns ein Fass ...«

Im selben Moment wurde die Tür der Bibliothek aufgerissen und Mr Lightwood erschien auf der Schwelle. »Gabriel«, wandte er sich in eisigem Ton an seinen Sohn. »Beabsichtigst du nun, an der Versammlung teilzunehmen — deiner ersten Versammlung der Brigade, falls ich dich daran erinnern darf? Oder möchtest du lieber hier draußen im Flur bleiben und mit den anderen Kindern spielen?«

Keiner der Anwesenden wirkte über diesen Kommentar besonders begeistert — vor allem Gabriel nicht, der nun hörbar schluckte, nickte und Will einen letzten giftigen Blick zuwarf, ehe er seinem Vater folgte und die Bibliothekstür laut hinter sich zuknallte.

»Nun, das war ungefähr so übel, wie ich es erwartet hatte«, bemerkte Jem, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Ist dies eure erste Begegnung seit der letzten Weihnachtsfeier?«, wandte er sich an Will.

»Ja«, bestätigte Will. »Meinst du, ich hätte ihm erzählen sollen, wie sehr er mir gefehlt hat?«

»Nein«, seufzte Jem.

»Ist er immer so?«, fragte Tessa. »So grässlich?«

»Da solltest du erst mal seinen älteren Bruder kennenlernen«, erklärte Jem. »Im Vergleich zu ihm ist Gabriel das reinste Lamm. Und er hasst Will noch mehr als Gabriel — sofern das überhaupt möglich ist.«

Will quittierte diese Worte mit einem breiten Grinsen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und stiefelte fröhlich pfeifend durch den Flur. Jem zögerte einen Moment und setzte sich dann ebenfalls in Bewegung, wobei er Tessa bedeutete, ihnen zu folgen.

»Warum hasst Gabriel Lightwood dich so sehr, Will?«, fragte Tessa, als sie zu den Jungen aufgeschlossen hatte. »Was hast du ihm denn angetan?«

»Ihm eigentlich nichts«, erklärte Will, während er zügig weitermarschierte. »Es geht eher darum, was ich seiner Schwester angetan habe.«

Tessa warf Jem einen fragenden Blick zu, der jedoch nur achselzuckend erwiderte: »Wo unser Will ist, da ist auch ein halbes Dutzend zorniger junger Damen, die behaupten, er habe ihre Tugend auf dem Gewissen.«

»Und, stimmt das?«, fragte Tessa, während sie gleichzeitig versuchte, mit den Jungen Schritt zu halten. Schließlich konnte sie in ihren schweren Röcken, die sich bei jeder Bewegung um die Fußknöchel bauschten, nicht so schnell ausschreiten wie bisher. Einen Tag zuvor war die Lieferung der neuen Gewänder aus der Bond Street eingetroffen und sie musste sich erst noch daran gewöhnen, derart teure Kleidung zu tragen. Wehmütig erinnerte Tessa sich an die leichten Kleider, die sie als kleines Mädchen besessen hatte. Darin hatte sie zu ihrem Bruder laufen, ihn gegen das Schienbein treten und davonflitzen können, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, sie einzuholen. Einen Moment lang fragte sie sich, was wohl geschehen würde, wenn sie das auch mit Will versuchte. Allerdings hatte sie große Zweifel, ob dies zu ihrem Vorteil enden würde — so verlockend der Gedanke auch sein mochte. »Hast du sie kompromittiert, meine ich?«, fügte sie atemlos hinzu.

»Du stellst viele Fragen«, sagte Will, bog scharf um eine Ecke und stieg eine schmale Stiege hinauf. »Findest du nicht?«

»Ja, schon ...«, räumte Tessa ein, während die Absätze ihrer Schuhe laut auf den Steinstufen klapperten, als sie Will die Treppe hinauf folgte. »Aber was bedeutet parabatai? Und was hast du gemeint, als du von Gabriels Vater und seiner Ehre gesprochen hast?«

»Parabatai heißt auf Griechisch eigentlich ›Ein Kämpfer gepaart mit einem Wagenlenker‹«, erläuterte Jem. »Aber wenn Nephilim diesen Begriffverwenden, meinen wir damit zwei Krieger, die gemeinsam kämpfen — zwei Männer, die schwören, einander bedingungslos zu schützen und sich gegenseitig Rückendeckung zu geben.«

»Männer?«, hakte Tessa nach. »Diese Gespanne können also nicht aus Frauen bestehen oder einem Mann und einer Frau?«

»Hattest du nicht gesagt, Frauen verspürten keine Blutrunst?«, entgegnete Will, ohne den Kopf zu wenden. »Und was Gabriels Vater betrifft, lass es mich einmal so formulieren: Er steht im Ruf, für Dämonen und Schattenwesen eine etwas größere Vorliebe zu hegen, als gesund ist. Es würde mich wundern, wenn die nächtlichen Besuche des alten Lightwood in einem gewissen Etablissement in Shadwell ihm nicht eine hässliche kleine Ansteckung mit Dämonenpocken beschert hätten.«

»Dämonenpocken?«, wiederholte Tessa mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.

»Das hat er nur erfunden«, versicherte Jem ihr hastig. »Also wirklich, Will. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es so etwas wie Dämonenpocken gar nicht gibt?«

Inzwischen war Will vor einer schmalen Tür auf dem ersten Treppenabsatz stehen geblieben. »Ich glaube, hier ist es«, murmelte er und rüttelte am Türknauf. Als nichts geschah, zückte er seine Stele und zeichnete eine schwarze Rune auf das Holz. Sofort schwang die Tür nach innen, wobei eine kleine Staubwolke aufstieg. »Das müsste der Abstellraum sein.«

Jem folgte ihm in die Kammer und auch Tessa ließ sich nicht zweimal bitten. Sie befanden sich in einem kleinen, quadratischen Raum, nur erhellt vom fahlen Licht, das durch ein schmales Bogenfenster hoch oben in der gegenüberliegenden Mauer hereinfiel. Überall stapelten sich Kisten und Truhen, und abgesehen von einem Haufen alter Waffen in einer der Ecken — schwere Ungetüme aus rostigem Eisen mit breiten Klingen und langen Ketten, an denen klobige, mit eisernen Stacheln bewehrte Metallkugeln befestigt waren — wirkte der Raum wie jede herkömmliche Abstellkammer.

Will schob eine der Truhen zur Seite, um eine rechteckige Fläche auf dem Holzboden freizuräumen. Dabei wirbelte weiterer Staub auf und Jem hustete und bedachte seinen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Wenn deine Motive nicht wie immer bestenfalls als nebulös zu bezeichnen wären, könnte man meinen, dass du uns hierher gebracht hast, um uns zu ermorden«, krächzte er.

»Nicht ermorden«, murmelte Will. »Warte einen Moment — ich muss noch eine weitere Truhe verrücken.«

Während Will das schwere Möbelstück gegen die Wand schob, warf Tessa Jem einen Seitenblick zu.

»Was hat Gabriel mit ›deine Behinderung‹ gemeint«, fragte sie mit gesenkter Stimme, damit Will sie nicht hören konnte.

Jems silberne Augen weiteten sich einen kurzen Moment, ehe er erklärte: »Meine schlechte Gesundheit. Das ist schon alles.«

Doch Tessa wusste sofort, dass er log. Er hatte denselben Ausdruck in den Augen wie ihr Bruder, wenn er ihr eine Lüge auftischen wollte — etwas zu unschuldig, zu aufrichtig, um wahr zu sein.

Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, richtete Will sich auf und verkündete: »So, das hätten wir. Kommt her und setzt euch.« Dann ließ er sich auf dem staubigen Boden nieder und zückte erneut seine Stele. Während Jem seinem Beispiel folgte, zögerte Tessa noch und veranlasste Will zu einem schiefen Lächeln.

»Willst du dich nicht zu uns gesellen, Tessa? Oder hast du Sorge, das hübsche Kleidchen zu ruinieren, das Jessamine dir gekauft hat?«

Genau genommen entsprach das der Wahrheit:

Tessa verspürte nicht den geringsten Wunsch, das eleganteste Ensemble, das sie je besessen hatte, zu beschädigen. Aber Wills spöttischer Ton war ihr unerträglicher als der Gedanke an das ramponierte Kleid. Also biss sie die Zähne zusammen, schürzte die Röcke und ließ sich gegenüber den beiden Schattenjägern so auf den Holzdielen nieder, dass sie eine Art Dreieck bildeten.

Will drückte die Stele wie einen Stift auf den schmutzigen Boden und begann zu zeichnen. Breite schwarze Linien flossen aus der Spitze, die Tessa gebannt beobachtete. Die Bewegungen der Stele hatten etwas Faszinierendes und Wunderschönes an sich — ihre Linien wirkten nicht wie Tusche, die sich aus einem Füllfederhalter ergoss, sondern eher so, als wären sie schon immer dort gewesen und würden von Will nur freigelegt.

Nach ein paar Sekunden stieß Jem plötzlich ein ungläubiges Schnauben aus; offenbar hatte er gerade erkannt, welches Runenmal sein Freund da anfertigte.

»Was um Himmels willen ...?«, setzte er an, doch Will hielt abwehrend die andere Hand hoch und schüttelte den Kopf.

»Unterbrich mich nicht«, sagte er. »Wenn mir hierbei ein Fehler unterläuft, könnte es passieren, dass wir durch den Boden sacken.« Jem verdrehte die Augen, was aber keine Rolle zu spielen schien: Will hatte sein Werk bereits vollendet und steckte die Stele wieder ein. Tessa schaute auf die von ihm angefertigte Rune — und stieß dann einen kurzen, überraschten Schrei aus, als die verzogenen Holzdielen zwischen ihnen zu schimmern begannen und schließlich gänzlich durchsichtig wurden. Sie vergaß ihr neues Kleid, beugte sich rasch vor und starrte durch den Boden wie durch eine Glasscheibe.

Nach einem Moment begriff sie, dass sie von oben in die Bibliothek hineinschaute: Sie konnte den großen Tisch sehen und die Schattenjäger, die daran Platz genommen hatten, Charlotte zwischen Benedict Lightwood und der eleganten, weißhaarigen Frau. Selbst von oben war Charlotte leicht zu erkennen — an ihrem ordentlichen Haarknoten und den schnellen Handbewegungen, die jedes ihrer Worte zu begleiten schienen.

»Warum hier?«, wandte Jem sich leise an Will.

»Warum nicht in der Waffenkammer? Die liegt doch direkt neben der Bibliothek.«

»Schall bewegt sich in alle Richtungen, also können wir genauso gut von hier oben zuhören«, erklärte Will. »Außerdem: Wer vermag schon zu sagen, ob nicht irgendeiner der Anwesenden während der Versammlung auf die Idee kommt, einen Blick in die Waffenkammer zu werfen, um unsere Bestände zu inspizieren? Das ist schließlich schon öfter passiert.«

Tessa, die noch immer fasziniert durch die Dielen starrte, stellte erstaunt fest, dass sie tatsächlich ein leises Stimmengewirr vernehmen konnte. »Sind wir ebenfalls zu hören?«, fragte sie beunruhigt. Will schüttelte den Kopf. »Diese Rune funktioniert nur in eine Richtung.« Dann runzelte er die Stirn und beugte sich vor. »Was sagen sie?«

Alle drei verstummten und in der darauffolgenden Stille drang Benedict Lightwoods Stimme deutlich bis zu ihnen in die Abstellkammer hinauf: »Ich weiß nicht recht, Charlotte. Dieser ganze Plan erscheint mir sehr riskant.«

»Aber wir können de Quincey nicht einfach so weitermachen lassen«, hielt Charlotte dagegen. »Er ist der Anführer der Londoner Vampirclans. Sämtliche Nachtkinder schauen zu ihm auf. Wenn wir ihm unbekümmert gestatten, gegen das Gesetz zu verstoßen, welche Botschaft sendet das dann an die Schattenwelt? Dass die Nephilim nachlässig geworden sind und es mit dem Schutz nicht mehr so genau nehmen?«

»Damit ich das richtig verstehe: Du bist also bereit, Lady Belcourt einfach so zu glauben, dass de Quincey — ein langjähriger Verbündeter des Rats — in seinem eigenen Haus Irdische ermordet?«, fragte Lightwood.

»Ich weiß nicht, warum dich das überrascht, Benedict«, konterte Charlotte mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Möchtest du vielleicht vorschlagen, dass wir Lady Belcourts Bericht schlichtweg ignorieren — ungeachtet der Tatsache, dass sie uns in der Vergangenheit immer zuverlässige Informationen geliefert hat? Ungeachtet der Tatsache, dass das Blut aller von de Quincey ermordeten Menschen von nun an auch an unseren Händen kleben wird, falls sie wieder die Wahrheit sagt?«

»Und ungeachtet der Tatsache, dass wir gesetzlich verpflichtet sind, jedem Bericht über einen Verstoß gegen den Bündnisvertrag unverzüglich nachzugehen«, fügte ein schlanker, dunkelhaariger Mann am anderen Ende des Tischs hinzu. »Das weißt du so gut wie jeder andere hier im Raum, Benedict. Du willst es dir einfach nur nicht eingestehen.«

Während Lightwoods Gesicht sich verfinsterte, atmete Charlotte erleichtert auf. »Vielen Dank, George. Ich weiß deine Unterstützung zu schätzen«, sagte sie entschlossen.

Die hochgewachsene Frau, die Charlotte kurz zuvor mit »Lottie« angesprochen hatte, brach in ein tiefes, grollendes Gelächter aus. »Nun sei doch nicht so theatralisch, Charlotte«, spottete sie. »Du musst zugeben, dass die ganze Geschichte ziemlich bizarr klingt: Ein Gestaltwandler-Mädchen, das eine Hexe sein mag oder auch nicht, Freudenhäuser voller verstümmelter Leichen und ein Informant, der beteuert, er hätte de Quincey irgendwelche mechanischen Gerätschaften verkauft — ein Umstand, den du für ein überaus wichtiges Beweismittel zu halten scheinst, obwohl du dich weigerst, uns den Namen dieses Informanten zu nennen.«

»Ich habe ihm mein Wort gegeben, ihn nicht in die Sache hineinzuziehen«, protestierte Charlotte. »Er fürchtet de Quincey.«

»Handelt es sich um einen Schattenjäger?«, fragte Lightwood fordernd. »Denn falls das nicht so sein sollte, ist er nicht vertrauenswürdig.«

»Also wirklich, Benedict, deine Ansichten sind wahrlich völlig veraltet«, bemerkte die Frau mit den katzenartigen Augen. »Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, das Abkommen wäre nie unterzeichnet worden.«

»Lilian hat recht: Du verhältst dich einfach lächerlich, Benedict«, pflichtete George Penhallow ihr bei.

»Die Suche nach einem hundertprozentig vertrauenswürdigen Informanten ist wie die Suche nach einer keuschen Mätresse. Wenn sie alle vollkommen tugendhaft wären, würden sie uns wohl kaum etwas nutzen. Ein Informant liefert einfach nur Informationen. Es ist unsere Aufgabe, diese Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen — und das ist genau das, was Charlotte vorgeschlagen hat.«

Wie seltsam, dachte Tessa, dass sich diese Gruppe vornehmer Erwachsener nur mit dem Vornamen anredete und auf die Erwähnung irgendwelcher Titel und Ehrenbezeichnungen völlig verzichtete. Aber dies schien bei den Schattenjägern nun mal so üblich zu sein.

»Ich würde es einfach nicht gern sehen, wenn die Macht des Rats in diesem Fall missbraucht würde«, erwiderte Lightwood in samtigem Ton. »Wenn beispielsweise eine Vampirin einen Groll gegen den Anführer ihres Clans hegen würde und ihn seiner Machtposition enthoben sehen wollte — welch besseres Mittel gäbe es dann, als den Rat dazu zu bringen, die schmutzige Arbeit für sie zu erledigen?«

»Verdammt«, murmelte Will und tauschte einen raschen Blick mit Jem. »Woher weiß er davon?«

Jem schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Ich habe nicht den leisesten Schimmer.

»Weiß wovon?«, wisperte Tessa, doch ihre Frage wurde von Charlotte und der weißhaarigen Frau übertönt, die beide gleichzeitig redeten.

»So etwas würde Camille niemals tun!«, protestierte Charlotte. »Zum einen ist sie keine Närrin. Sie weiß genau, welche Strafe sie erwartet, falls sie uns belügt!«

»Benedict hat nicht ganz unrecht«, warf die ältere Frau ein. »Es wäre wirklich besser, wenn ein Schattenjäger gesehen hätte, wie de Quincey gegen das Gesetz verstößt ...«

»Aber genau darum geht es hier doch«, erwiderte Charlotte. In ihrer Stimme schwang ein nervöser Unterton mit — das angestrengte Bemühen, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Plötzlich empfand Tessa so etwas wie Mitleid mit der jungen Institutsleiterin.

»Diese Operation soll dazu dienen, de Quincey beim Brechen des Gesetzes zu beobachten, Tante Callida.«

Tessa stieß einen unterdrückten, überraschten Laut aus, der Jem veranlasste aufzuschauen. »Ja, sie ist Charlottes Tante«, bestätigte er. »Ihr Bruder — Charlottes Vater — hat früher das Institut geleitet. Callida erzählt gern allen anderen, was sie zu tun haben. Wohingegen sie selbst natürlich immer nur das tut, was sie will.«

»Das kann man wohl laut sagen«, pflichtete Will ihm bei. »Wusstest du, dass sie mir einmal Avancen gemacht hat?«

Jem sah nicht so aus, als würde er davon auch nur ein Wort glauben. »Hat sie nicht.«

»Hat sie wohl«, beharrte Will. »Das Ganze war ziemlich skandalös. Und möglicherweise hätte ich mich ihren Wünschen ja gebeugt, wenn sie mir nicht solch eine Angst eingejagt hätte.«

Bei diesen Worten schüttelte Jem nur stumm den Kopf. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den Geschehnissen in der Bibliothek.

»Da wäre außerdem noch de Quinceys Zeichen, das wir im Inneren des Klockwerk-Mädchens vorgefunden haben«, fuhr Charlotte in diesem Moment fort.

»Bei dieser ganzen Geschichte deuten einfach zu viele Indizien in seine Richtung, um keine Ermittlungen einzuleiten.«

»Da kann ich dir nur zustimmen«, sagte Lilian. »Ich zum Beispiel mache mir Sorgen wegen dieser Klockwerk-Kreaturen. Das Basteln von Mädchen aus mechanischen Teilen ist eine Sache, aber was ist, wenn de Quincey eine ganze Klockwerk-Armee auf die Beine stellt?«

»Das sind doch reine Spekulationen, Lilian«, bemerkte Frederick Ashdown.

Lilian verwarf seinen Kommentar mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ein Automat ist weder seraphischen noch dämonischen Ursprungs und damit weder ein Kind Gottes noch des Teufels. Da stellt sich für mich die Frage: Würden wir ihm mit unseren Waffen überhaupt beikommen?«

»Ich glaube ja, dass du ein Problem siehst, wo gar keines ist«, höhnte Benedict Lightwood. »Automaten gibt es inzwischen seit mehreren Jahren: Die Irdischen sind völlig fasziniert von diesen Kreaturen. Und bisher hat kein einziger Automat auch nur die geringste Gefahr für uns dargestellt.«

»Aber bisher wurde auch noch kein einziger mithilfe von Magie angefertigt«, erwiderte Charlotte.

»Soweit du weißt«, schnaubte Lightwood ungeduldig.

Charlotte setzte sich kerzengerade auf. Nur Tessa und die beiden Jungen konnten von oben sehen, dass ihre Hände fest verschränkt in ihrem Schoß ruhten.

»Deine Bedenken, Benedict, scheinen sich darauf zu beziehen, dass wir de Quincey zu Unrecht für ein Verbrechen bestrafen würden, das er nicht begangen hat, und auf diese Weise die Beziehungen zwischen den Nachtkindern und den Nephilim gefährden. Habe ich recht?«

Benedict Lightwood nickte.

»Aber Wills Plan verlangt von uns nichts anderes, als de Qunicey zu beobachten. Wenn wir ihn nicht dabei ertappen, wie er gegen das Gesetz verstößt, werden wir auch keine Schritte gegen ihn einleiten und das Verhältnis wird nicht in Gefahr gebracht. Falls er jedoch das Gesetz in unserem Beisein bricht, dann ist diese Beziehung ohnehin nur eine Farce. Wir können nicht zulassen, dass der Bündnisvertrag missbraucht wird, so ... so bequem es für uns auch sein mag, einfach wegzuschauen.«

»Ich stimme mit Charlotte überein«, verkündete Gabriel Lightwood, der damit zum ersten Mal das Wort ergriff — und zu Tessas Überraschung Partei für die Institutsleiterin nahm. »Ich halte ihren Plan für durchaus vernünftig, allerdings mit einer Ausnahme: die Absicht, das Gestaltwandler-Mädchen zusammen mit Will Herondale zu de Quincey zu schicken. Will Herondale ist nicht einmal alt genug, um an dieser Versammlung teilzunehmen. Wie kann man ihm da eine derart verantwortungsvolle Aufgabe anvertrauen?«

»Du schmieriger kleiner Schnösel«, knurrte Will und beugte sich noch weiter vor, als wollte er am liebsten durch das Portal hindurch-greifen und Gabriel erwürgen. »Wenn ich dich nur fünf Minuten allein zu fassen bekomme ...«

»Stattdessen sollte ich dieses Mädchen begleiten«, fuhr Gabriel fort. »Ich bin in der Lage, auf sie aufpassen, statt nur meine eigene Haut zu verteidigen.«

»Der Strang ist noch viel zu schade für ihn«, pflichtete Jem seinem Freund bei, erweckte aber den Eindruck, als versuchte er, nicht loszuprusten.

»Tessa kennt Will«, protestierte Charlotte. »Sie vertraut ihm.«

»So weit würde ich nun wieder nicht gehen«, murmelte Tessa.

»Außerdem«, fügte Charlotte hinzu, »ist Will derjenige, der diesen Plan entwickelt hat. Er ist derjenige, den de Quincey aus dem Pandemonium Club wiedererkennen wird. Und er ist derjenige, der weiß, wonach er im Inneren von de Quinceys Stadtvilla suchen muss, um ihn mit den Klockwerk-Kreaturen und den ermordeten Irdischen in Verbindung zu bringen. Will ist ein hervorragender Ermittler, Gabriel, und ein guter Schattenjäger obendrein. Das musst du ihm lassen.«

Gabriel lehnte sich gegen die Stuhllehne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich muss ihm gar nichts lassen.«

»Also, wenn Will und dieses Hexenmädchen an de Quinceys Abendgesellschaft teilnehmen und ihn dabei beobachten, wie er gegen das Gesetz verstößt, wie wollen sie dann uns andere verständigen? Wie soll das gehen?«, fragte Lilian.

»Mithilfe von Henrys Erfindung«, erklärte Charlotte, in deren Stimme ein kaum wahrnehmbares Zittern mitschwang. »Mit seinem Phosphorisator. Dieses Gerät wird einen extrem grellen Elbenlichtblitz ausstrahlen, der sämtliche Fenster in De Quinceys Haus kurz taghell aufleuchten lässt. Das ist dann das Zeichen für uns.«

»Gütiger Gott, nicht eine von Henrys Erfindungen«, stöhnte George.

»Anfangs gab es ein paar Probleme mit dem Phosphorisator«, räumte Charlotte widerstrebend ein, »aber Henry hat mir gestern Abend noch seine Funktionstüchtigkeit demonstriert: Das Gerät arbeitet einwandfrei.«

Frederick schnaubte. »Erinnert ihr euch, wie Henry uns das letzte Mal eine seiner Erfindungen angeboten hat? Danach haben wir noch tagelang Fischgedärme von unseren Monturen gekratzt.«

»Aber Frederick, das Gerät war überhaupt nicht für den Einsatz in der Nähe von Wasser bestimmt ...«, protestierte Charlotte, noch immer mit leicht zittriger Stimme. Doch die anderen Schattenjäger hörten ihr schon gar nicht mehr zu und redeten aufgeregt durcheinander, wobei sie sich gegenseitig mit Geschichten über Henrys misslungene Erfindungen und deren schauerliche Konsequenzen zu überbieten versuchten.

Arme Charlotte, dachte Tessa — Charlotte, die inzwischen verstummt und deren Wissen um die eigene Autorität für sie so wichtig und so teuer erkauft war.

»Diese Mistkerle fallen ihr einfach ins Wort«, knurrte Will.

Tessa warf ihm einen überraschten Blick zu: Will starrte angespannt und mit geballten Fäusten auf die Szenerie unter ihnen. Dann war er Charlotte also doch zugetan, überlegte sie und konstatierte erstaunt, wie sehr sie das freute. Vielleicht bedeutete das ja, dass Will doch Gefühle besaß. Nicht dass dies irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hätte, ob er nun Gefühle besaß oder nicht ... Hastig schaute sie von Will fort, hinüber zu Jem, der ebenso aufgebracht wirkte.

Verärgert biss er sich auf die Lippe. »Wo steckt Henry? Sollte er nicht längst da sein?«

Wie aufs Stichwort flog in diesem Moment die Tür der Abstellkammer auf. Die drei Jugendlichen wirbelten zu Henry herum, der mit weit aufgerissenen Augen und wild abstehenden Haaren im Türrahmen stand und irgendetwas in der Hand hielt — die Kupferröhre mit dem schwarzen Knopf an der Seite, die beinahe dafür gesorgt hätte, dass Will sich beim Sturz vom Sideboard im Speisezimmer den Arm gebrochen hätte. Argwöhnisch betrachtete Will das Gerät. »Nimm bloß das verdammte Ding weg«, murrte er ungehalten. Bestürzt starrte Henry die drei an. »Teufel noch eins«, stammelte er mit rotem Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn. »Ich suche eigentlich die Bibliothek. Die Brigade ...«

»... hat sich gerade dort versammelt«, ergänzte Jem.

»Ja, wir wissen davon. Aber die Bibliothek ist ein Geschoss tiefer, Henry. Die Treppe hinunter und dann die dritte Tür rechts. Und beeil dich lieber — Charlotte wartet bereits auf dich.«

»Ich weiß, ich weiß«, jammerte Henry. »Mist, Mist, Mist! Ich wollte doch nur, dass der Phosphorisator endlich ordnungsgemäß funktioniert ...«

»Henry«, sagte Jem in eindringlichem Ton, »Charlotte braucht dich.«

»Richtig.« Henry machte auf dem Absatz kehrt, als wollte er aus dem Raum stürzen, doch dann hielt er inne, wirbelte erneut herum und starrte die drei verwundert an. Dabei huschte ein verwirrter Ausdruck über sein sommersprossiges Gesicht, als fragte er sich erst jetzt, warum Will, Tessa und Jem in einer nur selten genutzten Abstellkammer auf dem Boden hockten.

»Was treibt ihr denn hier?«, erkundigte er sich neugierig.

Will neigte den Kopf leicht zur Seite und schenkte Henry ein strahlendes Lächeln. »Wir spielen Scharade.«

»Ah. Richtig. Sehr schön«, murmelte Henry, stürmte dann aus dem Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen.

»Scharade!«, schnaubte Jem indigniert, beugte sich erneut vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, während Callidas Stimme aus der Bibliothek zu ihnen hinaufdrang.

»Ehrlich, Charlotte, wann wirst du endlich zugeben, dass Henry aber auch gar nichts mit der Leitung dieses Instituts zu tun hat? Und dass du alles allein regelst? Möglicherweise mit der Unterstützung von James Carstairs und Will Herondale, aber keiner der beiden ist älter als siebzehn. Welch große Hilfe können sie da schon sein?«

Charlotte brachte nur ein missbilligendes Geräusch hervor.

»Das ist einfach zu viel für einen allein, insbesondere für jemanden deines Alters«, schlug Benedict in dieselbe Kerbe. »Schließlich bist du selbst gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt. Wenn du gern zurücktreten würdest ...«

Erst dreiundzwanzig!, dachte Tessa überrascht. Sie hatte Charlotte viel älter eingeschätzt, vermutlich aufgrund der Aura überzeugender Kompetenz, die sie verströmte.

»Konsul Wayland hat meinen Mann und mich vor fünf Jahren mit der Leitung des Instituts bevollmächtigt«, entgegnete Charlotte scharf Offensichtlich hatte sie ihre Stimme wiedergefunden. »Falls du also irgendwelche Probleme mit seiner Entscheidung hast, solltest du das mit ihm klären. Bis dahin werde ich das Institut so führen, wie ich es für richtig halte.«

»Ich hoffe, das bedeutet, dass Pläne wie der von dir vorgeschlagene auch weiterhin zur Abstimmung gelangen«, schnaubte Benedict Lightwood. »Oder verfährst du nur noch nach Gutdünken?«

»Mach dich nicht lächerlich, Lightwood — natürlich stimmen wir darüber ab«, fuhr Lilian verärgert dazwischen, ehe Charlotte reagieren konnte. »Alle, die dafür sind, gegen de Quincey vorzugehen, heben die Hand.«

Zu Tessas Überraschung hoben alle die Hand; es gab nicht eine Gegenstimme. Die Diskussion war so kontrovers geführt worden, dass sie mit mindestens einer Ablehnung gerechnet hatte.

Als Jem ihren verwunderten Blick auffing, lächelte er. »So sind sie immer«, raunte er ihr leise zu. »Sie tragen gerne Machtspiele aus, aber keiner von ihnen würde in solch einer wichtigen Angelegenheit dagegen stimmen. Das käme einem Zeichen von Feigheit gleich.«

»Nun gut«, sagte Benedict gerade. »Dann treffen wir uns also morgen Abend. Sind alle ausreichend ausgestattet? Gibt es ...«

In dem Moment flog die Bibliothekstür auf und Henry stürmte herein — mit noch größeren Augen und noch zerzausteren Haaren, falls dies überhaupt möglich war. »Da bin ich!«, verkündete er atemlos.

»Doch nicht zu spät, oder?«

Resigniert stützte Charlotte den Kopf in die Hände.

»Henry, wie schön, dich zu sehen«, bemerkte Benedict Lightwood ironisch. »Deine Frau hat uns bereits über deine neueste Erfindung in Kenntnis gesetzt. Der Phosphorisator, stimmt’s?«

»Genau!« Stolz hielt Henry das Gerät in die Höhe.

»Das hier ist er. Und ich kann euch versichern, dass er diesmal auch so funktioniert wie versprochen. Wollt ihr mal sehen?«

»Äh, es besteht wirklich kein Grund für eine Demonstration«, setzte Benedict hastig an, doch es war zu spät. Henry hatte bereits den Knopf gedrückt. Im nächsten Moment erfolgte ein greller Lichtblitz — und dann erloschen schlagartig sämtliche Lichter in der Bibliothek, sodass Tessa und die anderen auf ein dunkles schwarzes Rechteck im Boden starrten. Von unten drangen bestürzte Laute hoch. Dann schrie jemand kurz auf und irgendetwas stürzte krachend und splitternd zu Boden. Und über allem schwebte die Stimme von Benedict Lightwood, der einen Schwall von Flüchen ausstieß.

Will schaute auf und grinste. »Recht unerquicklich für Henry natürlich«, bemerkte er trocken, »aber andererseits auch irgendwie sehr zufriedenstellend, findet ihr nicht?«

Und Tessa musste ihm recht geben — in jeder Hinsicht.

Загрузка...