14 Blackfriars Bridge

Zwanzig Brücken — vom Tower bis Kew-Garten wollten sie hören und nicht länger warten.

Denn sie waren jung und die Themse bejahrt.

Es folgt die Geschichte, die der Fluss hat bewahrt.

Rudyard Kipling, »Die Geschichte des Flusses«

Als Tessa durch das Eisentor des Instituts trat, kam sie sich ein wenig vor wie Dornröschen, das zum ersten Mal das von einer hohen Hecke umgebene Schloss verlässt. Das Institutsgelände lag in der Mitte eines Platzes, von dem aus Straßen in alle vier Himmelsrichtungen fortführten und sich im engen Labyrinth der angrenzenden Häuser verloren.

Jem hatte höflich eine Hand unter Tessas Ellbogen gelegt und geleitete sie durch eine schmale Gasse. Der Himmel über ihnen schimmerte stahlgrau, der Untergrund glänzte noch feucht von den Regenschauern der Nachmittagsstunden und die Fassaden der Häuser, die sich tief in die Gasse hineinzuschieben schienen, waren nass und vom Kohlenstaub dunkel verfärbt. Auf ihrem Weg redete Jem in einem fort — wobei er jedoch nichts von Bedeutung sagte, sondern einfach nur beruhigend plauderte und ihr berichtete, was er bei seinem ersten Eintreffen in London von der Stadt gedacht hatte. Wie unglaublich grau ihm alles erschienen war — selbst die Bewohner! Er hatte es gar nicht für möglich gehalten, dass es an einem einzigen Ort so ausgiebig und unaufhörlich regnen konnte, und nach einer Weile hatte ihn fast das Gefühl beschlichen, dass die ständig aus dem Boden aufsteigende Feuchtigkeit ihm allmählich in die Knochen drang und er bald selbst Schimmel ansetzen würde wie ein von einem Pilz befallener Baum. »Aber man gewöhnt sich daran«, erklärte er, als sie die schmale Gasse hinter sich ließen und hinaus auf die breite Fleet Street traten.

»Selbst wenn man manchmal den Eindruck hat, dass man wie ein nasser Waschlappen ausgewrungen werden müsste.«

Tessa erinnerte sich an das Chaos auf Londons Straßen bei Tag und stellte erleichtert fest, wie viel ruhiger es hier am Abend zuging — die dicht gedrängte Menge hatte ein paar vereinzelten Gestalten Platz gemacht, die mit gesenktem Kopf über die Gehwege eilten. Auf der Fleet Street waren zwar noch ein paar Kutschen und sogar der ein oder andere Reiter unterwegs, doch keiner von ihnen schien Tessa oder Jem zu bemerken. Ob Jem sie wohl mit Zauberglanz kaschiert hatte, fragte Tessa sich, unterbrach ihn aber nicht, da sie sein Geplauder genoss.

Dies war der älteste Teil der Stadt — der Ort, an dem das ursprüngliche London entstanden war, erzählte Jem, während sie weiterspazierten. Die meisten Geschäfte entlang der Straße hatten zu dieser Abendstunde bereits geschlossen, aber ihre Werbung schrie ihnen von jeder Oberfläche entgegen: Reklame für transparente Glyzerinseife der Firma Pears, für Haarwasser und sogar für öffentliche Vorträge zum Thema Spiritismus. Hin und wieder konnte Tessa den hohen Turm des Instituts zwischen den Gebäuden erkennen und sie fragte sich, ob er wohl auch für andere Leute sichtbar war. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Papageienfrau mit der grünen Haut und dem bunten Federschopf. War das Institut wirklich klar sichtbar und doch zu übersehen? Tessas Neugier gewann die Oberhand und sie fragte Jem danach.

»Warte, ich möchte dir etwas zeigen«, erwiderte er.

»Bleib genau hier stehen.« Behutsam nahm er Tessa am Ellbogen und drehte sie ein wenig, sodass sie in Richtung der gegenüberliegenden Straßenseite schaute. Dann deutete er hinüber. »Was siehst du dort?«, fragte er.

Tessa spähte über die Straße; sie befanden sich in der Nähe der Kreuzung von Fleet Street und Chancery Lane und sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.

»Die Front eines Bankgebäudes. Was soll da sonst noch zu sehen sein?«, erwiderte sie.

»So, und nun lass deine Gedanken ein wenig schweifen«, forderte Jem sie mit sanfter Stimme auf.

»Sieh einfach ein Stückchen weiter, so als wolltest du einer Katze nicht direkt in die Augen blicken, um sie nicht zu erschrecken. Dann schau aus den Augenwinkeln zur Bank zurück. Und jetzt sieh genau hin, direkt und sehr schnell!«

Tessa tat, wie ihr geheißen — und starrte ungläubig über die Straße: Die Bank war verschwunden und an ihrer Stelle stand ein Fachwerkhaus, eine Schenke mit großen bleiverglasten Fenstern. Durch die rautenförmigen Scheiben und die weit geöffnete Eingangstür fiel rötliches Licht auf den Gehweg. Hinter den Fenstern bewegten sich dunkle Schatten durch den verqualmten Schankraum — allerdings nicht die vertrauten Gestalten von Frauen und Männern, sondern Schatten, die zu groß und dünn, zu seltsam geformt oder zu vielarmig für Menschen waren. Immer wieder übertönte lautes Gelächter eine hohe, sehnsüchtige, schwermütige Musik, die beklemmend und betörend zugleich klang. Über der Eingangstür hing ein Schild, auf dem ein Mann zu sehen war, der einem gehörnten Dämon mit einer Zange in die Nase kniff. Und darunter stand »The Devil Tavern«.

Das ist das Gasthaus, in dem Will vor ein paar Tagen eingekehrt ist, überlegte Tessa und schaute zu Jem, der seinen Blick fest auf die Schenke geheftet hatte. Sein Atem ging ruhig und leicht und in seinen silberhellen Augen spiegelte sich das rote Licht wie ein Sonnenuntergang über dem Meer. »Ist das dein Lieblingsort?«, fragte Tessa leise.

Sofort verschwand der angespannte Ausdruck aus seinen Augen. »Grundgütiger, nein«, protestierte er lachend. »Ich wollte dir die Devil Tavern nur kurz zeigen.«

In dem Moment trat jemand aus der Schenke heraus — ein Mann in einem langen schwarzen Mantel mit einem eleganten Hut aus Moire-Seide. Als er einen Blick auf die Straße warf, sah Tessa, dass seine Haut in einem dunklen Tintenblau schimmerte und seine Haare und sein Bart weiß wie Eis leuchteten. Während er sich nach Westen wandte, in Richtung Strand Street, fragte Tessa sich, ob er wohl neugierige Blicke auf sich ziehen würde. Doch seine Anwesenheit wurde von anderen Passanten genauso wenig wahrgenommen wie die eines Geistes. Genau genommen schienen die späten Spaziergänger auch die Devil Tavern kaum zu bemerken — nicht einmal, als eine Gruppe dürrer und aufgeregt schwatzender Gestalten aus der Tür trat und einen müde wirkenden Mann mit einem leeren Karren beinahe umgestoßen hätte. Der Mann hielt einen Moment inne, schaute sich verwirrt um, zuckte die Achseln und ging dann wieder seines Weges.

»Früher war das einmal ein ganz normaler Pub«, erzählte Jem. »Aber als immer mehr Schattenweltler die Schenke frequentierten, gab dies Anlass zur Sorge, dass daraus zu viele Verflechtungen zwischen der Verborgenen Welt und der Welt der Irdischen entstehen könnten. Also hat man den Irdischen den Zugang mithilfe eines Zauberglanzes versperrt, der sie im Glauben ließ, die Schenke wäre abgerissen und an ihrer Stelle ein Bankgebäude errichtet worden. Heute wird die Devil Tavern fast nur noch von Schattenweltlern besucht.« Jem schaute zum Mond hoch und ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Es ist spät geworden. Wir sollten uns besser beeilen.«

Tessa schaute sich noch einmal nach der Schenke um und folgte dann Jem, der weiterhin freundlich plauderte und ihr verschiedene Sehenswürdigkeiten zeigte — die Temple Church, wo einst die Tempelritter Pilger auf ihrem Weg ins Heilige Land beherbergt hatten und wo sich nun die königlichen Gerichtshöfe befanden. »Sie sind mit den Nephilim befreundet gewesen — die Tempelritter, meine ich. Sicher, es waren Irdische, aber mit einem eigenen, umfangreichen Wissen über die Verborgene Welt«, erläuterte Jem. Als sie das Straßengewirr hinter sich ließen und die Blackfriars Bridge betraten, fügte er hinzu: »Natürlich glauben viele, dass die Brüder der Stille die ursprünglichen Dominikaner waren — die wegen ihres schwarzen Mantels über der weißen Kutte auch Black Friars, also ›schwarze Mönche‹ genannt werden. Aber dafür gibt es keinen Beweis.« Jem hielt inne, zeigte auf die Brücke und verkündete stolz: »Da wären wir. Das ist mein Lieblingsort in London.«

Tessa warf einen Blick auf das Bauwerk und fragte sich verwundert, was Jem an diesem Ort wohl so außergewöhnlich gut gefiel. Die Brücke überspannte die Themse mit mehreren niedrigen Granitbögen und die Brüstung war dunkelrot gestrichen und mit goldenen und scharlachroten Akzenten versehen, die im Mondlicht schimmerten. Eigentlich wirkte sie ganz hübsch, wenn nicht direkt daneben diese Eisenbahnbrücke verlaufen würde, überlegte Tessa. Diese lag zwar östlich und im Schatten der Blackfriars Bridge, bildete aber dennoch ein unansehnliches Gitterwerk aus Eisenverstrebungen, das sich hinüber zum anderen Flussufer erstreckte.

»Ich weiß, was du gerade denkst«, verkündete Jem, genau wie kurz zuvor am Institut. »Du sagst dir gerade: ›Diese Eisenbahnbrücke, einfach scheußlich.‹

Aber das bedeutet auch, dass sich nur selten Spaziergänger hierher verirren, um die Aussicht zu bewundern. Ich dagegen genieße die Abgeschiedenheit und den Anblick des Flusses, der schweigend im Mondschein dahinströmt.«

Langsam schlenderten sie zur Mitte der Brücke, wo Tessa sich gegen die Brüstung lehnte und über das Wasser schaute. Die Themse schimmerte schwarz im Mondlicht und die Stadt erstreckte sich auf beiden Uferseiten bis zum Horizont — ein riesiges Häusermeer, aus dem sich wie ein weißes Gespenst die mächtige Kuppel der St. Paul’s Cathedral erhob. Über allem lag ein leichter Nebel, der mit seinem Schleier die harten Konturen Londons etwas milderte.

Nach einer Weile blickte Tessa direkt hinunter auf die Fluten des Flusses, aus dem ein typischer Geruch aufstieg, eine Mischung aus Salz, Schlick und Fäulnis, die sich mit dem Nebel vermengte. Dennoch hatte die Themse etwas Schicksalhaftes, etwas Bedeutungsvolles an sich, so als führte sie das Gewicht der langen Geschichte Londons in ihrer Strömung mit sich. Die Zeilen eines alten Gedichts kamen ihr in den Sinn.

»›Süße Themse, fließe sachte dahin, bis dass mein Lied verklingt‹«, murmelte sie leise. Normalerweise hätte sie in Gegenwart anderer niemals aus einem Gedicht zitiert, doch irgendetwas an Jem schenkte ihr das Gefühl, dass er sie nicht verurteilen würde, ganz gleich, was sie tat.

»Ich habe diese Strophe schon einmal gehört«, bemerkte er nun lediglich. »Will hat sie mir mal vorgetragen. Woraus ist das?«

»Aus Spensers Prothalamion«, erklärte Tessa und runzelte dann die Stirn. »Mir scheint, Will hegt eine merkwürdige Vorliebe für Poesie ... ich meine, für jemanden, der so ... der so ...«

»Will liest ständig und er verfügt über ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, erwiderte Jem. »Es gibt kaum etwas, an das er sich nicht erinnert.« Irgendetwas in seiner Stimme schien seinen Worten eine zusätzliche Bedeutung zu verleihen, die über die reine Feststellung hinausging.

»Du magst Will, nicht wahr?«, fragte Tessa. »Ich meine, du bist ihm vom Herzen zugetan.«

»Ich liebe ihn wie meinen eigenen Bruder«, erklärte Jem schlicht.

»Das scheint mir auch so«, lächelte Tessa. »Ganz gleich, wie abscheulich er alle anderen behandelt, aber dich liebt er. Zu dir ist er nett. Was hast du getan, dass er sich dir gegenüber so anders verhält als gegenüber allen anderen?«

Jem lehnte seitlich an der Brüstung, den Blick auf Tessa gerichtet. Dennoch schien er mit seinen Gedanken weit entfernt, während er sinnend mit den Fingern auf den Jadeknauf seines Spazierstocks trommelte. Tessa nutzte seine geistige Abwesenheit, um ihn in Ruhe zu betrachten und seine eigentümliche Schönheit im Mondlicht still zu bewundern: Jem schien nur aus Silber und Asche zu bestehen — völlig anders als Will mit seinen kräftigen Farben Blau, Schwarz und Gold.

Schließlich erwiderte Jem: »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich hatte immer geglaubt, es hinge vielleicht damit zusammen, dass wir beide elternlos sind und dass er deshalb das Gefühl hat, wir seien einander sehr ähnlich ...«

»Ich bin auch eine Waise. Und Jessamine ebenfalls«, bemerkte Tessa. »Aber Will glaubt nicht, dass wir ihm in irgendeiner Weise ähneln.«

»Nein. Du sagst es«, bestätigte Jem, doch in seinem Blick lag etwas Vorsichtiges, als würde er irgendetwas zurückhalten.

»Ich verstehe ihn einfach nicht«, grübelte Tessa.

»In einem Moment ist er freundlich und im nächsten vollkommen abscheulich. Ich kann mich nicht entscheiden, ob Will nun nett oder grausam ist, liebenswert oder hasserfüllt . .«

»Spielt das denn eine Rolle?«, fragte Jem. »Ist es wirklich erforderlich, dass du solch eine Entscheidung triffst?«

»Letztens ... als er in dein Zimmer gekommen ist ... da hat er gesagt, er hätte die ganze Nacht getrunken«, fuhr Tessa unbeirrt fort. »Doch später dann, als du ... als du ... da schien er schlagartig nüchtern zu werden. Aber ich habe meinen Bruder oft genug betrunken erlebt, um genau zu wissen, dass ein Vollrausch nicht von einer Sekunde auf die nächste verschwindet. Selbst wenn meine Tante Nate einen Kübel eiskaltes Wasser ins Gesicht schüttete, konnte sie ihn damit nicht aus seinem Rausch wecken — jedenfalls nicht, wenn er wirklich volltrunken war. Außerdem hat Will überhaupt nicht nach Alkohol gerochen und am nächsten Morgen auch keinen Kater gehabt. Aber warum sollte er lügen und behaupten, er wäre betrunken, wenn das gar nicht stimmt?«

Jem seufzte resigniert. »Und genau das ist das ewige Rätsel namens Will Herondale. Ich habe mir früher genau die gleichen Fragen gestellt: Wie kann jemand so viel trinken, wie er von sich behauptet, und diesen Alkoholkonsum problemlos überleben? Ganz zu schweigen davon, in seinem Zustand noch so exzellent zu kämpfen, wie es bei ihm der Fall ist ... Also bin ich ihm eines Abends nachgegangen.«

»Du hast ihn verfolgt?«

Jem grinste schief. »Ja. Er verließ das Haus, unter dem Vorwand, er hätte ein Rendezvous mit irgendeiner Dame, und ich habe mich an seine Fersen geheftet. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartet, hätte ich festeres Schuhwerk angezogen. Will ist die ganze Nacht durch London gestreift, von St. Paul’s zum Spitalfields Market und dann zur Whitechapel High Street. Anschließend hinunter zum Fluss und durch die Docks. Aber er ist nicht ein einziges Mal stehen geblieben und hat mit niemandem gesprochen. Es war fast, als würde man einem Gespenst folgen. Am nächsten Morgen hat er uns irgendeine Geschichte von seinen angeblichen Abenteuern aufgetischt, aber ich habe ihn nicht zur Rede gestellt. Wenn er mich zu belügen wünscht, wird er seine Gründe dafür haben.«

»Er belügt dich und dennoch vertraust du ihm?«

»Ja«, bestätigte Jem. »Ich vertraue ihm.«

»Aber ...«

»Will schwindelt ständig. Er erfindet andauernd irgendeine Geschichte, die ihn in einem besonders üblen Licht dastehen lässt.«

»Und hat er dir erzählt, was mit seinen Eltern passiert ist? Sei es nun eine Lüge oder die Wahrheit .

»Nein, nicht ausführlich ... nur in Teilen«, sagte Jem nach kurzem Überlegen. »Ich weiß, dass sein Vater die Nephilim verlassen hat. Noch vor Wills Geburt. Er hatte sich wohl in eine Irdische verliebt, und als der Rat es ablehnte, sie ebenfalls zur Nephilim zu machen, verließ er die Schattenjägergemeinschaft und zog mit ihr an einen entlegenen Ort in Wales, wo die beiden offensichtlich glaubten, dass man sie in Ruhe lassen würde. Doch der Rat schäumte vor Wut.«

»Wills Mutter war eine Irdische?«, fragte Tessa überrascht. »Bedeutet das, dass er nur ein HalbNephilim ist?«

»Das Blut der Nephilim ist dominant«, erläuterte Jem. »Aus diesem Grund wurden auch drei Regeln für diejenigen aufgestellt, die die Schattenjägergemeinschaft verlassen. Erstens: Man muss jeglichen Kontakt zu allen Schattenjägern abbrechen, selbst zu Freunden und engsten Verwandten. Diese dürfen nie wieder mit dem Betreffenden ein Wort wechseln — und umgekehrt. Zweitens: Man kann den Rat nie wieder um Hilfe bitten, ganz gleich, in welcher Gefahr man auch schweben mag. Und drittens ...« Jem schwieg einen Moment. »Und drittens?«, fragte Tessa.

»Die dritte Regel besagt: Selbst wenn ein Nephilim die Schattenjägergemeinschaft verlässt, können sie immer noch Anspruch auf seine Kinder erheben«, erklärte Jem.

Tessa spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken jagte.

Jem schaute weiterhin über den Fluss, als könnte er Will in den silbern glitzernden Fluten sehen. »Alle sechs Jahre sucht ein Abgesandter der Schattenjägergemeinschaft die Familie auf, bis zum achtzehnten Geburtstag des Jungen oder Mädchens. Und dann fragt er das Kind, ob es seine Familie verlassen und zu den Nephilim kommen möchte.«

Tessa starrte ihn bestürzt an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Kind diese Frage mit Ja beantworten würde. Ich meine, es dürfte dann doch nie wieder mit seiner Familie sprechen, oder?« Jem schüttelte den Kopf.

»Und Will hat eingewilligt? Er hat sich trotzdem den Schattenjägern angeschlossen?«

»Nein, er hat das Angebot abgelehnt. Zwei Mal hat er sich geweigert. Und dann ... eines Tages — Will muss etwas älter als zwölf gewesen sein — klopfte es an der Institutstür und Charlotte öffnete, um nachzusehen, wer die Schattenjäger zu sprechen wünschte. Ich glaube, sie war damals gerade achtzehn geworden. Und vor ihr stand Will. Charlotte erzählte mir, dass er von Kopf bis Fuß mit Staub und Dreck bespritzt war, als hätte er mehrere Nächte im Straßengraben geschlafen. Und er sagte: ›Ich bin ein Schattenjäger. Einer von euch. Ihr müsst mich einlassen. Ich kann sonst nirgendwohin.‹«

»Das hat er gesagt? Will? ›Ich kann sonst nirgendwohin‹?«

Jem zögerte. »Du musst wissen, dass ich all diese Informationen von Charlotte erfahren habe. Will hat diesen Teil der Geschichte mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Doch Charlotte behauptet, genau das seien seine Worte gewesen.«

»Aber ich verstehe das nicht. Seine Eltern ... sie sind doch tot, oder? Denn sonst hätten sie doch bestimmt nach ihm gesucht.«

»Das haben sie auch«, erwiderte Jem leise. »Ein paar Wochen nach Wills Ankunft sind seine Eltern ihm gefolgt, erzählte Charlotte. Sie haben gegen die Institutstür gehämmert und ihn zu sprechen verlangt. Daraufhin ist Charlotte in Wills Zimmer gegangen, um ihn zu fragen, ob er sie sehen wolle. Doch er hatte sich unter sein Bett verkrochen, sich mit beiden Händen die Ohren zugehalten und ließ sich durch nichts dazu bewegen hervorzukommen. Er wollte sie auf keinen Fall sehen. Ich glaube, dass Charlotte nach einer Weile aufgegeben hat, wieder nach unten gegangen ist und seine Eltern fortgeschickt hat. Vielleicht sind sie aber auch freiwillig gegangen — ich bin mir nicht ganz sicher ...«

»Charlotte hat sie fortgeschickt? Aber ihr Kind war doch im Institut. Sie hatten jedes Recht ...«

»Sie hatten keinerlei Rechte«, unterbrach Jem sie sanft. Trotzdem schwang in seinem Ton etwas mit, das ihn Tessa so fern erscheinen ließ wie der Mond.

»Will hatte sich entschieden, den Schattenjägern beizutreten. Nachdem er einmal diese Entscheidung getroffen hatte, konnten sie keinerlei Ansprüche mehr auf ihn geltend machen. Es war das Recht und die Pflicht der Nephilim, sie fortzuschicken.«

»Und du hast ihn nie gefragt, warum er nicht mit seinen Eltern reden wollte?«

»Wenn er gewollt hätte, dass ich es erfahre, hätte er es mir erzählt«, erwiderte Jem ruhig. »Du hast mich vorhin gefragt, warum er mich wohl eher toleriert als andere Leute. Ich könnte mir vorstellen, dass es genau damit zusammenhängt — ich frage ihn nie nach dem Warum«, fügte er mit einem ironischen Lächeln hinzu. Die kalte Brise hatte seine Wangen gerötet, seine Augen funkelten und seine Hand ruhte dicht neben Tessas auf der Brüstung. Einen kurzen, halb verwirrten Moment glaubte Tessa, dass er seine Hand vielleicht auf ihre legen würde. Doch sein Blick streifte an ihr vorbei. Dann runzelte er die Stirn. »Ein wenig spät für einen Spaziergang, oder nicht?«

Tessa folgte seinem Blick und entdeckte zwei schemenhafte Gestalten — ein Mann und eine Frau, die über die Brücke auf sie zukamen. Der Mann trug einen typischen Filzhut der Arbeiterklasse und einen dunklen Wollmantel; die Frau hatte sich bei ihm untergehakt und ihm das Gesicht zugewandt. »Vermutlich denken sie dasselbe von uns«, überlegte Tessa und schaute zu Jem hoch. »Und was ist mit dir? Bist du auch zum Institut gekommen, weil du sonst nirgendwohin konntest? Warum bist du nicht in Shanghai geblieben?«

»Meine Eltern haben das dortige Institut geleitet«, erzählte Jem, »aber sie wurden von einem Dämon getötet. Er — es — trug den Namen Yanluo.« Seine Stimme klang vollkommen ruhig. »Nach ihrem Tod hielten alle es für das Beste, dass ich das Land verließ, falls der Dämon oder seine Kohorten es auch auf mich abgesehen hatten.«

»Aber warum bist du hierher gekommen, warum nach England?«

»Mein Vater war Engländer. Ich war der englischen Sprache mächtig. Es schien das Vernünftigste.« Jems Stimme wirkte weiterhin ruhig, doch Tessa spürte, dass er ihr irgendetwas verschwieg. »Ich dachte, ich würde mich hier schneller heimisch fühlen als in Idris, dem Land der Nephilim, zu dem aber weder mein Vater noch meine Mutter eine engere Beziehung hatten.«

Am anderen Ende der Brücke waren die beiden Spaziergänger inzwischen an die Brüstung getreten. Der Mann zeigte auf irgendwelche Besonderheiten der Eisenbahnbrücke, während die Frau aufmerksam nickte.

»Und hast du dich hier schnell heimisch gefühlt?«, fragte Tessa.

»Das kann man so nicht sagen«, erwiderte Jem.

»Schon kurz nach meiner Ankunft ist mir aufgefallen, dass mein Vater sich nie als richtigen Engländer betrachtet hat — jedenfalls nicht so, wie die hiesige Bevölkerung es tut. Richtige Engländer sind in erster Linie britisch und erst in zweiter Linie Gentlemen. Und was sie sonst auch immer sein mögen, ob Doktor, Richter oder Gutsherr, das folgt erst an dritter Stelle. Bei den Schattenjägern sieht die Sache vollkommen anders aus. Wir sind zuallererst Nephilim und erst danach verneigen wir uns kurz in Richtung des Landes, in dem wir geboren wurden und aufgewachsen sind. Und was den dritten Punkt betrifft, so kann ich dir versichern, dass er für uns nicht existiert: Wir sind einzig und allein Schattenjäger. Wenn andere Nephilim mich sehen, sehen sie nur einen Schattenjäger — im Gegensatz zu den Irdischen, die mich betrachten und einen jungen Mann sehen, der zwar nicht vollkommen fremd ist, aber andererseits auch nicht wie sie.«

»Halb dieses und halb jenes. Genau wie ich«, murmelte Tessa. »Aber du weißt wenigstens, dass du ein Mensch bist.«

Jem schaute sie mit einem sanften Ausdruck in den Augen an. »Das bist du auch. In jeder Hinsicht, die von Bedeutung ist.«

Tessa spürte, wie ihr die Tränen kamen. Rasch blickte sie zum Mond hoch, der halb hinter einer Wolke verschwunden war und dadurch einen perlmuttartigen Schimmer besaß. »Ich denke, wir sollten zum Institut zurückgehen. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen«, sagte sie leise.

Jem bot Tessa seinen Arm an und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er abrupt innehielt. Die beiden Spaziergänger befanden sich plötzlich direkt vor ihnen und versperrten ihnen den Weg. Obwohl sie sich sehr rasch bewegt haben mussten, um das andere Ende der Brücke so schnell zu erreichen, standen sie nun vollkommen reglos da. Das Gesicht der Frau, die sich bei dem Mann untergehakt hatte, lag im Schatten einer schlichten Haube, während die Züge des Mannes unter der Krempe seines Filzhuts verschwanden. Jems Griff um Tessas Arm verstärkte sich, aber seine Stimme klang neutral, als er sich an das Paar wandte: »Guten Abend. Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Keiner der beiden Spaziergänger sprach ein Wort, aber sie traten noch einen Schritt näher, wobei der Rock der Frau im Wind flatterte. Tessa schaute sich um, doch die Brücke lag vollkommen verlassen da und auch am Ufer war niemand zu sehen. London wirkte unter dem bleichen, verschwommenen Mond wie ausgestorben.

»Verzeihung, aber ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie mich und meine Begleiterin passieren ließen«, sagte Jem höflich und ging einen Schritt vor, Tessa im Kielsog.

Sie standen nun so dicht vor dem schweigsamen Paar, dass Tessa im Schein des Monds, der in diesem Moment hinter den Wolken hervorkam und die Brücke in silbernes Licht tauchte, das Gesicht des Mannes sofort wiedererkannte: die wirren Haare, die breite, einst gebrochene Nase, das narbige Kinn und vor allem die hervortretenden Augen ... die gleichen Augen wie die Frau neben ihm, welche Tessa nun mit einem leeren Blick anstarrte, der sie auf erschreckende Weise an Miranda erinnerte.

Aber du bist doch tot. Will hat dich getötet. Ich habe deinen Leichnam gesehen, dachte Tessa fassungslos und flüsterte Jem zu: »Das ist der Kutscher. Er gehört zu den Dunklen Schwestern.«

Der Kutscher lachte leise. »Ich gehöre dem Magister«, erwiderte er. »Solange die Dunklen Schwestern in seinen Diensten standen, habe ich ihnen gedient. Doch nun diene ich ihm direkt.« Seine Stimme klang anders, als Tessa sie in Erinnerung hatte — weniger abgehackt, dafür deutlicher und mit einer fast unheimlichen Glätte.

Jem hatte sich kerzengerade aufgerichtet und stand vollkommen reglos da. »Wer sind Sie?«, fragte er fordernd. »Warum verfolgen Sie uns?«

»Der Magister hat uns befohlen, euch zu folgen«, sagte der Kutscher. »Du bist ein Nephilim. Und die Nephilim sind für die Zerstörung seines Hauses und für die Vernichtung seines Volkes verantwortlich. Wir sind hier, um euch eine Kriegserklärung zu überreichen. Und wir sind wegen des Mädchens hier.« Er heftete seinen starren Blick auf Tessa. »Sie ist das Eigentum des Magisters und er wird sie zurückbekommen.«

»Der Magister . .«, sagte Jem gedehnt und seine Augen glitzerten silbern im Mondlicht, »meinst du damit de Quincey?«

»Der Name, den ihr ihm gebt, spielt keine Rolle. Er ist der Magister. Er hat uns aufgetragen, eine Nachricht zu überbringen. Und diese Nachricht lautet ›Krieg‹.«

Jems Griff um den Knauf seines Spazierstocks verstärkte sich. »Ihr dient de Quincey, seid aber selbst keine Vampire. Was seid ihr dann?«

Die Frau neben dem Mann stieß ein seltsames Seufzen aus, wie der hohe Pfeifton einer Lokomotive:

»Hütet euch, Nephilim! So wie ihr andere richtet, so werdet auch ihr gerichtet werden. Euer Engel kann euch nicht vor dem schützen, das weder Gott noch der Teufel schuf.«

Tessa wollte sich gerade an Jem wenden, als dieser bereits reagierte: Seine Hand mit dem schweren Spazierstock machte eine pfeilschnelle Bewegung, dann erfolgte ein Aufblitzen und eine rasiermesserscharfe, schimmernde Klinge schoss aus dem unteren Ende des Stocks hervor. Mit einer geschmeidigen Körperdrehung schwang Jem die Waffe nach vorn und hieb sie dem Kutscher quer über die Brust, der daraufhin überrascht rückwärtstaumelte und ein hohes, sirrendes Pfeifen von sich gab.

Bestürzt hielt Tessa die Luft an. In der Brust des Kutschers klaffte eine breite Wunde, doch unter dem aufgeschlitzten Hemd kam weder Haut noch Blut zum Vorschein, sondern nur glänzendes Metall, das durch Jems Klinge eine tiefe Kerbe erlitten hatte. Jem zog seine Waffe zurück und stieß ein Schnauben aus, eine Mischung aus Genugtuung und Erleichterung. »Hab ich’s doch gewusst ...«

Der Kutscher knurrte und zog ein langes Fleischermesser aus dem Mantel, während die Frau nun ebenfalls zum Leben erwachte und mit ausgestreckten, nackten Händen auf Tessa zumarschierte. Ihre Bewegungen waren abgehackt, ruckartig, aber sehr, sehr schnell — viel schneller, als Tessa erwartet hätte. Sie steuerte unbeirrt auf Tessa zu, mit ausdrucksloser Miene und leicht geöffnetem Mund, in dem irgendetwas glänzte, Metall oder Kupfer. Sie hat keine Speiseröhre und vermutlich auch keinen Magen: Ihre Mundhöhle endet hinter den Zähnen in einer Metallplatte, erinnerte Tessa sich an Henrys Worte.

Entsetzt wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß. Hilfe suchend schaute sie sich nach Jem um, der jedoch gerade vom Kutscher attackiert wurde. Mit blitzschnellen Bewegungen ließ Jem seine Klinge auf den Mann herabsausen, doch dies schien den Angreifer, dessen Mantel und Hemd nun in Fetzen an ihm herabhingen und den Metallkorpus deutlich erkennen ließen, nicht besonders zu behindern.

Inzwischen versuchte die Frau, Tessa zu packen. Es gelang ihr jedoch, rasch zur Seite auszuweichen, woraufhin die Frau ungebremst nach vorne schoss und mit voller Wucht gegen die Granitbrüstung prallte. Doch offenbar war sie genauso schmerzunempfindlich wie der Kutscher, denn sie rappelte sich steif auf, drehte sich um und steuerte erneut auf Tessa zu. Der Aufprall hatte allerdings ihren linken Arm beschädigt. Er hing schlaff an ihrem Körper herab, während sie mit der Rechten ausholte und mit steif gespreizten Fingern Tessas Handgelenk zu fassen bekam. Ihr Griff war so fest, dass Tessa vor Schmerz aufschrie, als sie die feinen Knochen in ihrem Gelenk knirschen spürte. Wütend schlug sie auf die Hand ein, die sie festhielt, und grub ihre Finger tief in die schlüpfrige, weiche Haut der Frau. Doch das Gewebe löste sich wie die Schale einer Frucht und Tessas Fingernägel kratzten so heftig über das darunter-liegende Metall, dass ihr ein Schauer über den Rücken jagte.

Verzweifelt versuchte sie, ihr Gelenk mit einem Ruck aus der Umklammerung zu befreien. Doch das führte nur dazu, dass sie die Frau auf sich zuzog, aus deren Kehle nun ein sirrendes, klickendes Geräusch aufstieg — ein Geräusch, das Tessa auf unangenehme Weise an ein Insekt erinnerte. Auch die pupillenlosen schwarzen Augen hatten etwas Insektenartiges an sich. Panisch holte Tessa mit dem Fuß aus ... Im selben Moment ertönte das laute Klirren von Metall auf Metall: Jems Klinge blitzte auf, sauste herab und durchtrennte den Ellbogen der Frau mit einem klaren Schnitt. Plötzlich befreit, taumelte Tessa rückwärts, während die abgehackte Hand von ihrem Gelenk abfiel und vor ihren Füßen auf dem Boden auftraf. Gleichzeitig wirbelte die Frau zu Jem herum und ruckelte sirrend und klickend auf ihn zu. Jem holte aus und versetzte der Frau einen heftigen Schlag mit dem Knauf seines Spazierstocks, wodurch sie einen Schritt zurückgeworfen wurde. Dann trieb er sie mit weiteren Schlägen rückwärts, bis sie so hart gegen das Brückengeländer stieß, dass sie das Gleichgewicht verlor. Ohne einen einzigen Ton von sich zu geben, stürzte sie über die Brüstung hinab in den Fluss. Sofort stürmte Tessa zum Geländer — und konnte gerade noch sehen, wie die Frau stumm in den Fluten verschwand, ohne dass eine einzige Luftblase an die Oberfläche stieg.

Tessa wirbelte erneut herum. Jem stand ein paar Schritte entfernt. Sein Atem ging schwer und Blut lief aus einer Schnittwunde an seiner Schläfe, aber ansonsten schien er unversehrt. Er hielt seine Waffe locker in einer Hand und starrte auf den dunklen, buckligen Korpus, der sich vor seinen Füßen wand. Erst bei näherem Hinsehen erkannte Tessa, dass es sich um den zuckenden Rumpf des Kutschers handelte, dessen Metallflächen zwischen den zerfetzten Kleidungsstücken hervorschimmerten. Sein Kopf war sauber abgetrennt und eine schwarze, ölige Flüssigkeit strömte pulsierend aus seinem Halsstumpf und ergoss sich über den Brückenbelag.

Jem strich sich die schweißfeuchten Haare nach hinten und verschmierte dabei das Blut auf seiner Wange. Seine Hand zitterte.

Zögernd berührte Tessa ihn am Arm. »Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

»Das sollte ich dich fragen.« Jem schenkte ihr ein mattes Lächeln und schauderte dann leicht. »Diese mechanischen Dinger werden langsam wirklich lästig. Diese Kreaturen ...« Plötzlich verstummte er und schaute an Tessa vorbei.

Am südlichen Brückenende war mindestens ein halbes Dutzend weiterer Klockwerk-Kreaturen aufgetaucht und marschierte nun mit stakkatoartigen Schritten auf sie zu. Trotz der ruckartigen Bewegungen kamen sie erschreckend schnell näher und hatten einen Moment später bereits ein Drittel der Brückenlänge zurückgelegt.

Entschlossen drückte Jem auf einen Knopf an seinem Spazierstock, woraufhin die Klinge mit einem lauten Klick im Schaft verschwand. Dann packte er Tessas Hand und stieß atemlos hervor: »Lauf.«

Und dann rannten sie los, wobei Tessa nur ein einziges Mal einen entsetzen Blick über die Schulter warf: Die Kreaturen waren inzwischen bis zur Brückenmitte vorgedrungen und stürmten mit zunehmender Geschwindigkeit auf sie zu. Es handelte sich ausschließlich um männliche Gestalten, die alle dieselben Filzhüte und dunklen Wollmäntel wie der Kutscher trugen. Ihre Gesichter glänzten im Mondlicht. Endlich erreichten die beiden Flüchtenden den Treppenaufgang am Ende der Brücke, und während sie die Stufen hinabliefen, hielt Jem Tessas Hand umklammert. Als Tessa auf einer besonders feuchten Steinstufe ausrutschte, fing er sie auf, wobei sein Spazierstock gegen ihren Rücken schlug. Tessa spürte, wie sich seine Brust schwer hob und senkte, als würde er nach Luft ringen. Aber er konnte doch nicht derart außer Atem sein, oder? Schließlich war er ein Schattenjäger und im Codex stand, dass diese meilenweit laufen konnten. Als Jem sich aufrichtete, sah Tessa die Anspannung in seinem Gesicht — es schien, als hätte er starke Schmerzen. Sie wollte ihn fragen, ob er verletzt sei, doch dazu blieb keine Zeit: Über ihnen hörten sie bereits das Dröhnen schwerer Schritte auf den Stufen. Wortlos packte Jem erneut Tessas Handgelenk und zog sie wieder hinter sich her.

Sie liefen ein Stück über die Uferpromenade, im Schein der Laternen, um deren gusseiserne Pfähle sich verspielte Delfine rankten. Dann bog Jem abrupt ab und zog Tessa in einen schmalen Steg zwischen zwei Gebäuden. Die leicht ansteigende Gasse führte vom Fluss fort und roch muffig und feucht. Über ihren Köpfen spannten sich Leinen von Fenster zu Fenster, an denen Wäschestücke flatterten wie Gespenster. Das rutschige Kopfsteinpflaster schien zentimeterhoch unter Dreck und Schlamm zu liegen und Tessas Füße in den modischen Schuhen sandten wütende Proteste aus. Mittlerweile raste ihr Herz wie wild, doch ihr blieb keine Zeit zum Verschnaufen: Sie konnte die Kreaturen bereits hinter sich hören und ihre sirrenden, klickenden Geräusche kamen immer näher.

Sekunden später öffnete sich die Gasse zu einer breiten Straße und vor ihnen ragte die imposante Silhouette des Instituts aus der Dunkelheit auf. Die beiden stürmten durch den Eingang und Jem gab Tessas Hand frei, wirbelte herum und verriegelte das Tor von innen. Genau in dem Moment, als die Schlösser zuschnappten, erreichten die Kreaturen das Tor und krachten unter enormem Getöse gegen das Eisengitter — wie aufgezogene Spielzeugfiguren, die sich nicht mehr bremsen konnten.

Mit weit aufgerissenen Augen wich Tessa langsam in Richtung Institut zurück. Die Klockwerk-Kreaturen pressten sich gegen das Tor und ihre Hände griffen durch die Öffnungen im Gitter. Panisch schaute Tessa sich um. Jem stand neben ihr; er war kreidebleich und hielt sich die Seite. Als Tessa nach seiner Hand greifen wollte, trat er einen Schritt zurück.

»Tessa.« Seine Stimme klang zittrig. »Bring dich in Sicherheit. Du musst ins Institut. Lauf!«

»Bist du verletzt? Jem, bist du verletzt?«

»Nein«, erwiderte er mit erstickter Stimme.

Ein rasselndes Geräusch, das vom Tor herüberschallte, ließ Tessa aufschauen. Einer der KlockwerkMänner hatte die Hände durch eine Öffnung im Gitterwerk geschoben und zerrte an der Eisenkette, die das Tor verschloss. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen sah sie, wie der Mann mit solcher Kraft an den Kettengliedern zog, dass sich die Haut von seinen Fingern löste und die Metallhände darunter zum Vorschein kamen. Unter seinem unerbittlichen Griff hatten die Kettenglieder bereits begonnen, sich zu verbiegen, und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die schwere Eisenkette nachgeben und brechen würde.

Tessa packte Jem am Arm. Seine Haut fühlte sich selbst durch die Kleidung hindurch fiebrig heiß an.

»Komm. Komm schnell.«

Stöhnend ließ Jem sich von ihr zum Portal der Kirche ziehen, wobei er mehrfach strauchelte und sich schwer keuchend auf sie stützen musste. Gemeinsam torkelten sie die Steintreppe hinauf, doch als sie die oberste Stufe erreichten, entglitt Jem Tessas Griff. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte er sich zusammen und schlug mit den Knien auf den Boden auf, während heftige Hustenanfälle seinen Körper peinigten.

Im nächsten Moment flog das Tor krachend auf und die Klockwerk-Kreaturen ergossen sich in den Innenhof, angeführt von dem Mann, der die Kette zerrissen hatte und dessen gehäutete Hände im Mondlicht gespenstisch glänzten.

Tessa erinnerte sich an Wills Worte — »... die Eingangstür kann nur von jemandem geöffnet werden, der Schattenjägerblut besitzt« — und griff hektisch zum Klingelzug. Aber obwohl sie mehrfach mit aller Kraft daran zog, konnte sie auf der anderen Seite des schweren Portals keinen Gong hören. Verzweifelt wirbelte sie zu Jem herum, der noch immer auf dem Boden kniete. »Jem! Jem, bitte, du musst die Tür öffnen ...«

Mühsam hob Jem den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber hatten jede Farbe verloren: Sie schimmerten durchgehend weiß, wie Murmeln. Tessa konnte sehen, wie sich das Mondlicht darin spiegelte.

»Jem!«

Er versuchte, sich aufzurappeln, doch seine Knie gaben nach und er brach erneut zusammen. Blut lief aus seinen Mundwinkeln und der Spazierstock entglitt seiner Hand und rollte Tessa fast bis vor die Füße. Inzwischen hatten die Kreaturen den Fuß der Treppe erreicht und kamen unter Leitung des Mannes mit den gehäuteten Händen leicht torkelnd die Stufen hinauf. Panisch warf Tessa sich gegen die Institutstür und hämmerte mit den Fäusten gegen das Eichenholz. Sie konnte den hohlen Widerhall ihrer Schläge auf der anderen Seite hören und war der Verzweiflung nahe:

Das Institut war so riesig und es blieb ihnen so wenig Zeit.

Schließlich gab sie auf, drehte sich von der Tür fort und musste mit Entsetzen feststellen, dass der Anführer der Kreaturen Jem inzwischen erreicht hatte. Er stand über ihn gebeugt, die glänzenden Metallhände tief in die Brust des Schattenjägers getaucht. Mit einem wütenden Aufschrei schnappte Tessa sich Jems Spazierstock und schwang ihn wild hin und her. »Lass ihn in Ruhe!«, brüllte sie. »Verschwinde!«

Die Kreatur richtete sich auf und im Licht des Mondes konnte Tessa zum ersten Mal sein Gesicht deutlich sehen: Es war glatt, fast ohne Merkmale. Dort, wo Mund und Augen sich hätten befinden sollen, waren nur leichte Vertiefungen zu erkennen und die Nase fehlte gänzlich. Der Mann hob die gehäuteten Hände, von denen Jems Blut herabtropfte, während Jem in einer dunkel schimmernden Lache vollkommen reglos dalag. Als Tessa entsetzt auf die Szenerie starrte, wackelte der Klockwerk-Mann mit blutigen Fingern in ihre Richtung, als würde er ihr zuwinken — dann machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte die Stufen hinunter, in einer Mischung aus Springen und Krabbeln, fast wie eine Spinne, und verschwand durch das Tor in die Dunkelheit.

Tessa wollte Jem zu Hilfe kommen, doch die anderen Automaten versperrten ihr blitzschnell den Weg. Wie ihrem Anführer fehlten auch ihnen jegliche Gesichtszüge — eine Truppe gesichtsloser Krieger, die den Eindruck erweckte, als hätte ihrem Schöpfer die Zeit gefehlt, sie vollends fertigzustellen.

Einer der Klockwerk-Männer streckte sirrend und klickend die Metallhände nach Tessa aus. Fast blindlings schwang sie den Spazierstock durch die Luft, traf die Kreatur am Kopf und spürte den heftigen Aufschlag von Holz auf Metall, die intensiven Vibrationen in ihrem Arm. Der Mann taumelte einen Moment zur Seite, fing sich aber sofort wieder und sein Kopf schwang blitzschnell in seine ursprüngliche Position zurück. Tessa holte erneut aus und traf ihn dieses Mal an der Schulter. Der Mann torkelte, doch andere Hände zuckten nach vorn, schlossen sich um den Stock und rissen ihn ihr mit solcher Gewalt aus den Fingern, dass die Haut ihrer Handfläche brannte. Als der Automat den Stab mit enormer Kraft über seinem Knie zerbrach, musste Tessa unwillkürlich an Mirandas schmerzhaft harten Griff zurückdenken, mit dem sie sie immer am Handgelenk gepackt hatte.

Das Holz zerbarst mit einem grässlichen Geräusch. Tessa wirbelte herum, um zu fliehen, aber unerbittliche Metallhände packten sie an den Schultern und rissen sie zurück. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte schlug Tessa wild um sich ... als die Tür des Instituts weit aufflog. Das herausströmende Licht blendete sie einen Moment und sie konnte nur die Konturen dunkler Gestalten erkennen, die aus dem Inneren der Kirche herausstürmten. Irgendetwas flog zischend an ihrem Kopf vorbei und streifte sie an der Wange. Dann ertönte das knirschende Geräusch von Metall auf Metall; einen Sekundenbruchteil später erschlaffte der Griff des Klockwerk-Mannes um ihren Hals und Tessa fiel keuchend und hustend auf die Knie. Als sie aufschaute, sah sie, dass Charlotte über ihr stand, mit bleichem, grimmigem Gesicht und einer scharfen Metallscheibe in der Hand. Eine weitere, identische Scheibe steckte tief in der Brust des Mannes, der sie gewürgt hatte und der nun zuckend und zappelnd wie ein defektes Spielzeug kreisförmig über den Boden robbte. Blaue Funken stoben aus der tiefen Kerbe in seinem Hals.

Die restlichen Klockwerk-Kreaturen wirbelten und torkelten umher, als die Schattenjäger sich auf sie stürzten: Henry schleuderte seine leuchtende Seraphklinge in einem hohen Bogen durch die Luft und schlitzte einem der Automaten die Brust auf, woraufhin dieser pfeifend und zuckend in der Dunkelheit verschwand. Neben Henry schwang Will eine Waffe, die an eine Art Sense erinnerte, und ließ sie wieder und wieder mit ungeheurer Wucht auf eine andere Kreatur herabsausen, bis diese zerhackt vor ihm lag und nur noch blaue Funken in alle Richtungen schossen. Charlotte sprang die Stufen hinunter und schleuderte gleichzeitig ihre zweite Metallscheibe, die einem der Metallmonster mit einem grässlichen Geräusch den Schädel spaltete. Der Mann brach auf der Stelle zusammen und schickte einen Sprühregen aus schwarzem Öl und blauen Funken in den Himmel. Plötzlich schienen sich die beiden letzten Kreaturen eines Besseren zu besinnen: Sie machten auf dem Absatz kehrt und sprangen durch den Innenhof in Richtung Tor, dicht gefolgt von Henry und Charlotte. Will hingegen ließ seine Waffe fallen, wirbelte herum und stürmte zur Steintreppe. »Was ist passiert?«, rief er Tessa entgegen, die ihn jedoch nur stumm anstarrte, zu benommen, um seine Frage zu beantworten.

»Was ist passiert?«, wiederholte er mit erhobener Stimme, in die sich ein Anflug von aufgebrachter Panik mischte. »Bist du verletzt? Wo ist Jem?«

»Ich bin unverletzt«, wisperte Tessa. »Aber Jem ... er ist zusammengebrochen. Da drüben.« Sie zeigte auf die Stelle, wo Jem zusammengekrümmt im Schatten des Portals lag.

Schlagartig verlor Wills Gesicht jeden Ausdruck, wie eine frisch gewischte Tafel. Ohne Tessa noch eines Blickes zu würdigen, stürmte er die Stufen hinauf und ließ sich an Jems Seite auf die Knie fallen, wobei er ihn mit leiser Stimme irgendetwas fragte. Als er keine Antwort erhielt, hob er den Kopf und brüllte laut nach Thomas, damit dieser ihm half, Jem ins Gebäude zu tragen. Außerdem rief er noch irgendetwas anderes, das Tessa in ihrer Benommenheit aber nicht verstehen konnte. Vielleicht brüllte er ja sie an. Vielleicht dachte er ja, dass das alles ihre Schuld sei? Wenn sie nicht die Beherrschung verloren hätte, wenn sie nicht aus dem Salon gestürmt wäre und Jem dazu veranlasst hätte, ihr nachzugehen ...

Plötzlich tauchte in der hell erleuchteten Tür ein dunkler Schatten auf — Thomas, der mit wirren Haaren und ernstem Gesicht wortlos neben Will niederkniete. Gemeinsam hoben sie Jem auf die Füße, legten sich jeweils einen Arm um die Schultern und schleppten ihn hastig ins Innere der Kirche, ohne sich noch einmal nach Tessa umzusehen.

Benommen starrte Tessa in den Innenhof. Irgendetwas war seltsam, anders. Und dann wurde es ihr klar: Die plötzliche Stille nach dem lauten Kampfgetümmel wirkte fast unheimlich. Die zerstörten Klockwerk-Kreaturen lagen verstreut auf dem Pflaster, über das sich eine zähflüssige, ölige Flüssigkeit ergoss; die Flügel des Eisentors hingen schräg in den Angeln und der Mond schien bleich vom Himmel — genau wie wenige Minuten zuvor auf der Brücke, als Jem ihr gesagt hatte, dass auch sie ein Mensch sei.

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