Wir alle sind nur Menschen,
Schwachheit ist unser Erb’, und wen’ge nur,
Weil noch im Fleisch, sind Engel.
Tessa stieß einen gellenden Schrei aus.
Keinen menschlichen Schrei, sondern den eines Vampirs. Das Geräusch, das aus ihrer Kehle drang, war ihr selbst fremd: Der schrille Schrei klang wie splitterndes Glas. Erst einen Moment später erkannte sie, dass sie statt unartikulierter Laute tatsächlich Worte ausstieß — allerdings nicht den Namen ihres Bruders, wie sie vermutet hätte.
»Will!«, kreischte sie. »Will, jetzt! Tu es jetzt!«
Ein empörtes Keuchen ging durch den Salon und Dutzende weiße Gesichter drehten sich ruckartig zu Tessa um: Ihr Schrei hatte die Vampirgemeinschaft aus ihrem Blutrausch gerissen. De Quincey stand reglos auf der Bühne. Selbst Nathaniel hatte den Kopf gehoben und starrte benommen in ihre Richtung, als fragte er sich, ob ihre Schreie nur eine Halluzination waren, hervorgerufen durch seine Todesqualen. Will, dessen Finger auf dem Knopf des Phosphorisators lag, zögerte und sein Blick traf sich quer durch den Raum mit Tessas.
Der Blickkontakt dauerte nur einen Sekundenbruchteil, aber de Quincey bemerkte ihn dennoch. Schlagartig veränderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht — als könnte er in ihren Augen lesen — und er riss eine Hand hoch und zeigte direkt auf Will. »Der Junge!«, fauchte er. »Haltet ihn auf!«
Will riss sich von Tessas Anblick los. Die ersten Vampire bewegten sich bereits auf ihn zu, mit vor Zorn und Hunger funkelnden Augen, doch Will schaute an ihnen vorbei zu de Quincey, der mit wutverzerrter Miene auf ihn hinabstarrte. Dagegen zeigte Wills Gesicht keinerlei Gefühlsregung, als er dem Blick des Vampirs begegnete — keine Furcht, kein Zögern, keine Überraschung. »Ich bin kein Junge«, erwiderte er. »Ich bin ein Nephilim!«
Und dann drückte er auf den Knopf.
Tessa wappnete sich für einen blendenden Elbenlichtblitz. Stattdessen ertönte jedoch ein lautes Zischen, als sämtliche Kerzenflammen plötzlich grell aufflackerten und bis zur Decke emporschlugen. Funken flogen durch die Luft, bedeckten den Boden mit glimmender Glut, entzündeten die Vorhänge und steckten die Roben der Frauen in Brand. Im Nu war der Raum mit schwarzem Qualm und gellenden Schreien erfüllt — hohe, von Todesangst gepackte Schreie.
Will war nicht mehr zu sehen. Tessa versuchte, nach vorn zu stürmen, doch Magnus — dessen Anwesenheit sie fast völlig vergessen hatte — packte sie am Handgelenk und riss sie zurück. »Miss Gray, nicht!«, rief er, und als Tessa nur noch fester zog, fügte er hinzu: »Miss Gray! Sie sind jetzt eine Vampirin! Wenn Sie Feuer fangen, werden Sie wie Zündholz in Flammen aufgehen ...«
Und wie zur Unterstreichung seiner Worte landete in diesem Moment ein Funken auf Lady Delilahs weißer Perücke, die sofort in Brand geriet. Mit einem Aufschrei versuchte die Vampirin, sich das Kunsthaar vom Kopf zu reißen, doch als ihre Hände mit den Flammen in Berührung kamen, fingen auch diese Feuer, als bestünden sie aus knochentrockenem Papier. Im Bruchteil einer Sekunde brannten ihre Arme wie Fackeln und Lady Delilah stürzte aufheulend zur Tür. Doch die Flammen waren schneller als sie: Innerhalb weniger Momente loderte dort, wo sie gestanden hatte, ein flackernder Scheiterhaufen, in dessen tanzenden Feuerzungen Tessa nur noch die zuckenden Konturen einer kreischenden schwarzen Gestalt erkennen konnte.
»Verstehen Sie jetzt, was ich meine?«, brüllte Magnus Tessa ins Ohr, im Versuch, sich über die Schreie der Vampire verständlich zu machen, die in alle Richtungen stürmten, um den Flammen auszuweichen.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Tessa und schaute rasch zur Bühne: de Quincey hatte sich in das Gedränge gestürzt und Nathaniel hing zusammengesackt und offensichtlich bewusstlos auf dem Stuhl, nur noch festgehalten von seinen Hand- und Fußschellen. »Da oben auf dem Podium — das ist mein Bruder. Mein Bruder!«
Sprachlos starrte Magnus sie an. Tessa nutzte seine Verwirrung, riss sich los und stürzte auf die Bühne zu. Im Raum herrschte das reinste Chaos: Vampire rannten und stoben in alle Richtungen und viele flohen panikartig zum Ausgang. Diejenigen, die die Türen erreicht hatten, stießen und drängelten, um als erste hinauszugelangen; andere hatten auf dem Absatz kehrtgemacht und stürmten in wilder Flucht zu den Terrassentüren, die auf den Garten hinausgingen.
Tessa schlug einen Haken, um einem umgestürzten Stuhl auszuweichen, und wäre fast in die rothaarige Vampirin im blauen Kleid gerannt, die sie noch kurz zuvor neidisch angestarrt hatte. Jetzt wirkte sie nur noch zu Tode entsetzt. Als sie Tessa sah, stürzte sie sich mit einem Schrei auf sie, schien dann aber zu taumeln. Ihr Mund öffnete sich zu einem weiteren Schrei, doch stattdessen schoss ein Schwall Blut daraus hervor. Ihr Gesicht verschrumpelte und fiel in sich zusammen, wobei die Haut sich zu Asche auflöste und von den Knochen ihres Schädels herabrieselte. Ihre roten Haare zerknitterten und wurden schlagartig grau, die Haut auf ihren Armen vertrocknete und zerstob zu Staub und mit einem letzten verzweifelten Aufschrei brach die Vampirin in einem faserigen Haufen aus Knochen und Asche zusammen, auf dem nur noch ihr locker zusammengefallenes Satinkleid lag.
Der Anblick bereitete Tessa Übelkeit und sie musste rasch den Blick abwenden, um nicht zu würgen. Und dann sah sie Will. Er stand direkt vor ihr, ein langes Silbermesser mit blutverschmierter Klinge in der Hand. Auch sein Gesicht hatte blutige Flecken und er starrte Tessa mit einem wilden Ausdruck in den Augen an.
»Was zum Teufel tust du noch hier?«, brüllte er.
»Du unfassbar dummes ...!«
Plötzlich ertönte ein leises, hohes Wimmern, wie von einer defekten Maschine, das Tessa dank ihres Vampirgehörs noch vor Will wahrnahm: Der blonde Junge in der grauen Livree — der Domestik, dessen Blut Lady Delilah zu Beginn des Abends getrunken hatte — stürmte mit tränenüberströmtem Gesicht auf Will zu, wobei ein schrilles Heulen aus seiner Kehle drang. In einer Hand hielt er ein Stuhlbein, aus dessen zerborstenem Ende spitze Holzsplitter ragten.
»Will, pass aufl«, schrie Tessa und Will wirbelte herum. Er bewegte sich so schnell, dass er wie ein verschwommener Schatten vorbeischoss, und das Messer in seiner Hand blitzte etliche Male silberhell auf. Als er schließlich innehielt, lag der Junge auf dem Boden und die Klinge ragte aus seiner Brust. Rotes Blut sickerte aus mehreren Wunden, dicker und dunkler als Vampirblut.
Mit aschfahlem Gesicht starrte Will auf die reglose Gestalt. »Ich dachte ...«, setzte er bestürzt an.
»Er hätte dich umgebracht, wenn du ihm nicht zuvorgekommen wärst«, versicherte Tessa ihm rasch.
»Du verstehst nichts von alldem«, fuhr Will sie an. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sich von Tessa Stimme befreien — oder vom Anblick des toten Jungen. Der Domestik wirkte jetzt noch jünger als zuvor, seine Züge noch weicher. »Ich hatte dir befohlen zu gehen ...«, wandte Will sich wieder an Tessa.
»Der Mann dort drüben ist mein Bruder«, erwiderte Tessa und zeigte auf die Bühne, wo Nathaniel noch immer bewusstlos in seinen Fesseln hing. Wenn nicht noch Blut aus seiner Wunde am Hals gesickert wäre, hätte sie ihn für tot gehalten. »Nathaniel. Dort auf dem Stuhl.«
Wills Augen weiteten sich verwundert. »Aber wie ...«, setzte er an, bekam aber keine Gelegenheit mehr, seine Frage zu beenden. Denn im nächsten Moment erfüllte ein ohrenbetäubendes Klirren den Raum. Die Terrassentüren flogen auf und eine Woge von Schattenjägern in dunkler Kampfmontur strömte in den Musiksalon. Sie stießen eine Gruppe kreischender, zerlumpter Vampire, die in den Garten geflohen war, in den Raum. Dann drängten weitere Schattenjäger durch die anderen Türen herein und trieben noch mehr Vampire vor sich her, wie Hütehunde, die eine Herde Schafe in den Stall bugsieren. Ganz vorne taumelte de Quincey, mit bleichem, von Blut und Asche verschmiertem Gesicht und gebleckten Zähnen.
Tessa entdeckte Henry unter den Nephilim — er war durch sein rotes Haar leicht zu erkennen —, dicht gefolgt von Charlotte, die wie die männlichen Schattenjäger eine schwarze Kampfmontur trug und genau wie die Frauen in Tessas Schattenjägerbuch aussah. Sie wirkte klein, aber entschlossen und erstaunlich grimmig. Und dann erblickte Tessa Jem. Die Schattenjägermontur ließ seine Haut noch blasser erscheinen und die schwarzen Runenmale erinnerten an dunkle Tusche auf weißem Papier. In der Menge erkannte Tessa auch Gabriel Lightwood, seinen Vater Benedict und die schlanke, schwarzhaarige Schattenjägerin Lilian. Hinter ihnen schritt Magnus, von dessen Händen bei jeder Geste blaue Funken stoben. Erleichtert atmete Will auf und etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. »Ich war mir nicht sicher, ob sie auch kommen würden«, murmelte er, »nicht mit diesem vermaledeiten Phosphorisator, der nie funktioniert, wenn man ihn braucht.« Dann riss er sich vom Anblick seiner Freunde los und wandte sich erneut Tessa zu. »Geh und kümmere dich um deinen Bruder. Dort bist du aus dem schlimmsten Getümmel heraus ... hoffe ich«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
Inzwischen hatten die Nephilim die verbleibenden Vampire — diejenigen, die nicht durch das Feuer oder von Will getötet worden waren — in der Raummitte zusammengetrieben und von allen Seiten umzingelt. De Quincey überragte die restlichen Nachtkinder um Längen. Sein bleiches Gesicht war wutverzerrt und auf seinem hellen Hemd prangten rote Blutflecken — ob es sich dabei um sein eigenes oder das eines anderen handelte, vermochte Tessa nicht zu sagen. Die übrigen Vampire drängten sich hinter ihn, wie eine Horde Kinder hinter dem Rockzipfel der Mutter, und wirkten wild und jämmerlich zugleich.
»Das Gesetz«, knurrte de Quincey, als Benedict Lightwood sich ihm mit gezücktem Schwert näherte, auf dessen leuchtender Klinge schwarze Runen schimmerten. »Das Gesetz beschützt uns. Wir ergeben uns. Das Gesetz ...«
»Ihr habt das Gesetz gebrochen«, fauchte Benedict.
»Deshalb steht ihr nicht länger unter seinem Schutz. Und dieser Gesetzesbruch wird mit dem Tod bestraft.«
»Ein Irdischer«, hielt de Quincey dagegen und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Nathaniel. »Ein einziger Irdischer, der ebenfalls gegen den Bündnisvertrag verstoßen hat ...«
»Der Vertrag bezieht sich nicht auf Irdische. Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie sich an die Gesetze einer Welt halten, von der sie nichts wissen.«
»Er ist wertlos«, setzte de Quincey erneut an.
»Vollkommen wertlos. Wollen Sie unser Bündnis wegen eines einzigen nichtswürdigen Irdischen wirklich aufs Spiel setzen?«
»Es geht um mehr als nur einen Irdischen!«, fuhr Charlotte dazwischen und zückte aus ihrer Tasche die Papierrolle, die Will in der Bibliothek gefunden hatte. Tessa hatte in dem Gedränge gar nicht gesehen, dass er sie Charlotte zugesteckt hatte. »Was ist beispielsweise mit diesen Zauberformeln? Haben Sie ernsthaft geglaubt, wir würden nicht dahinterkommen? Diese ... diese schwarze Magie ist im Rahmen des Bündnisses strengstens untersagt!«
De Quinceys Gesicht verriet nur einen winzigen Moment seine Überraschung. »Wo haben Sie das gefunden?«
Charlottes Lippen waren zu einer dünnen, harten Linie zusammengepresst. »Das spielt keine Rolle.«
»Was auch immer Sie zu wissen glauben ...«, setzte de Quincey an.
»Wir wissen genug!«, entgegnete Charlotte aufgebracht. »Wir wissen, dass Sie uns hassen und verachten! Wir wissen, dass Ihre Allianz mit uns nur eine Farce war!«
»Verstößt es jetzt etwa auch gegen das Gesetz, wenn man Schattenjäger nicht mag?«, fragte de Quincey. Doch der höhnische Unterton in seiner Stimme war verschwunden — er klang erschöpft.
»Lassen Sie diese Spielchen«, fauchte Benedict.
»Nach allem, was wir für die Nachtkinder getan haben, und nachdem wir das Abkommen ratifiziert haben ... Warum? Warum jetzt diese Verbrechen? Wir haben versucht, euch zu unseresgleichen zu machen, euch gleich zu behandeln ...«
De Quincey verzog verächtlich das Gesicht.
»Gleich? Ihr wisst doch gar nicht, was dieses Wort bedeutet. Ihr könnt euch ja noch nicht einmal lange genug von eurem Glauben an eure angeborene Überlegenheit verabschieden, um auch nur darüber nachzudenken, was dieses Wort bedeutet. Wo sind unsere Sitze in der Kongregation? Wo ist unsere Botschaft in Idris?«
»Aber das ... das ist lächerlich«, erwiderte Charlotte, die jedoch bleich geworden war.
Benedict warf Charlotte einen ungeduldigen Blick zu. »Lächerlich und irrelevant. All das entschuldigt nicht Ihr Verhalten, de Quincey. Während Sie mit uns am Verhandlungstisch saßen und vorgaben, sich für einen langfristigen Frieden einzusetzen, haben Sie hinter unserem Rücken das Gesetz gebrochen und unsere Macht verhöhnt. Ergeben Sie sich und erzählen Sie uns alles, was wir wissen wollen, dann lassen wir Ihren Clan vielleicht am Leben. Andernfalls wird es keine Gnade geben.«
Sofort meldete sich ein anderer Vampir zu Wort, einer der Männer, die Nathaniel an den Stuhl gefesselt hatten, ein großer, rothaariger Mann mit zorniger Miene. »Wenn es auch nur eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass die Nephilim ihr Friedensversprechen nie ernst gemeint haben, dann ist es wohl diese Aussage. Wagt es ja nicht, uns anzugreifen, Schattenjäger, oder euch steht ein Krieg bevor!«
Benedict verzog nur spöttisch das Gesicht. »Dann lasst den Krieg beginnen«, sagte er und schleuderte im selben Moment ansatzlos sein Schwert in de Quinceys Richtung. Es wirbelte durch die Luft -und bohrte sich in die Brust des rothaarigen Vampirs, der sich schützend vor sein Clanoberhaupt geworfen hatte. Der Mann explodierte in einer Fontäne aus Blut, während die übrigen Nachtkinder entsetzt aufkreischten. De Quincey stieß einen Schrei aus und stürzte sich brüllend auf Benedict. Und auch die anderen Vampire schienen aus ihrer Erstarrung zu erwachen und gingen zum Angriff über. Innerhalb von Sekunden war der Raum ein einziges Getümmel aus Schreien und Kämpfen.
Das plötzliche Chaos rüttelte Tessa wach: Sie raffte ihre Röcke und rannte zur Bühne, wo sie sich neben Nathaniels Stuhl auf die Knie fallen ließ. Sein Kopf hing bewusstlos zur Seite und seine Augen waren fest geschlossen. Weiteres Blut war aus der Wunde am Hals gesickert und über sein Hemd geflossen. Vorsichtig zupfte Tessa ihn am Ärmel. »Nate«, wisperte sie. »Nate, ich bin’s.«
Ihr Bruder stöhnte, brachte aber keine Antwort hervor. Tessa biss sich auf die Lippe und machte sich daran, die Handschellen zu lösen, die seine Handgelenke an den Stuhl fesselten. Doch sie bestanden aus massivem Eisen und waren mit mehreren Schrauben im Holz verankert - und ganz offensichtlich so konzipiert, dass sie selbst Vampirkräften widerstehen konnten. Tessa zerrte daran, bis ihre Finger bluteten, doch die Schellen gaben nicht nach. Wenn sie doch nur eine von Wills Klingen gehabt hätte, überlegte sie fieberhaft.
Rasch schaute sie sich im Musiksalon um. Der Raum war noch immer von schwarzem Qualm erfüllt. Zwischen den dunklen Rauchschwaden blitzten immer wieder Waffen auf - die hell leuchtenden Schwerter der Schattenjäger, die Seraphklingen genannt wurden und mit dem Namen eines Engels zum Leben erweckt wurden, wie Tessa inzwischen wusste. Hellrotes Vampirblut spritzte von den Klingen, funkelnd wie Rubine. Zum ersten Mal erkannte Tessa — mit einer gewissen Überraschung, da die Vampire ihr zuerst Angst eingejagt hatten —, dass diese sich eindeutig in der Unterzahl befanden. Obwohl die Kinder der Nacht bösartig und blitzschnell zuschlugen, waren die Schattenjäger fast ebenso schnell und zudem hervorragend im Umgang mit Waffen ausgebildet. Ein Vampir nach dem anderen fiel den Hieben der Seraphschwerter zum Opfer. Ihr Blut rann in Strömen über den Boden und sickerte in die Perserteppiche, bis deren Ränder sich vollkommen vollgesogen hatten.
Als sich der Rauch in einem Bereich etwas lichtete, sah Tessa, wie Charlotte einen stämmigen Vampir in einem grauen Frack erledigte: Mit einer raschen Bewegung schlitzte sie ihm die Kehle auf, sodass das Blut bis an die Wand hinter ihm spritzte. Als er zischend auf die Knie sank, stieß Charlotte ihm die Klinge mit einem Ruck in die Brust.
Hinter Charlotte erkannte Tessa einen Wirbel aus rasend schnellen, wilden Bewegungen — Will, der von einem grimmigen Vampir mit einer Silberpistole verfolgt wurde. Der Vampir legte auf Will an, zielte und feuerte. Doch Will schlug einen Haken, schlitterte über den blutigen Boden, rollte sich ab und sprang auf einen der Polsterstühle. Dann wich er einem weiteren Schuss geschickt aus, sprang erneut und tänzelte zu Tessas Überraschung leichtfüßig über die Rückenlehnen einer Reihe von Stühlen. Beim letzten Stuhl angekommen, sprang er auf den Boden und wirbelte zu dem Vampir herum, der sich nun ein paar Meter von ihm entfernt befand. Plötzlich — und ohne dass Tessa gesehen hätte, wie er ihn zückte — blitzte ein kurzer Dolch in seiner Hand auf und flog einen Sekundenbruchteil später quer durch den Salon. Der Pistolenschütze versuchte noch, sich zu ducken, war aber nicht schnell genug: Der Dolch bohrte sich in seine Schulter, woraufhin der Vampir vor Schmerz aufbrüllte. In dem Moment, in dem er nach dem Heft greifen wollte, um den Dolch herauszuziehen, tauchte wie aus dem Nichts ein schlanker dunkler Schatten hinter ihm auf. Grelle Silberblitze durchzuckten die Rauchschwaden, dann explodierte der Vampir in einer Wolke aus Blut und Asche.
Als sich das Chaos etwas lichtete, erkannte Tessa Jem, eine lange Klinge in der Hand. Er grinste, allerdings nicht in ihre Richtung, und versetzte der Silberpistole, die nun verloren zwischen den Überresten des Vampirs lag, einen kräftigen Tritt, sodass sie über den Boden schlitterte und erst von Wills Fuß gestoppt wurde. Will nickte Jem ebenfalls grinsend zu, schnappte sich die Pistole und steckte sie unter seinen Gürtel.
»Will!«, rief Tessa in seine Richtung, obwohl sie nicht sicher war, ob er sie über dem Kampflärm überhaupt hören konnte. »Will ...«
Plötzlich packte sie jemand im Rücken ihres Kleides, stemmte sie hoch und riss sie nach hinten. Tessa hatte das Gefühl, sich in den Krallen eines riesigen Raubvogels zu befinden. Sie schrie auf und spürte dann, wie sie nach vorn geschleudert wurde, über den Boden rutschte und mit voller Wucht in einen Stapel Stühle krachte, der mit ohrenbetäubendem Getöse zusammenbrach. Vor Schmerz stöhnte Tessa laut auf und hob mühsam den Kopf.
Über ihr stand de Quincey. Seine schwarzen, blutunterlaufenen Augen glitzerten vor rasender Wut, sein weißes Haar hing ihm in matten Strähnen ins Gesicht und sein einst weißes Hemd war über der Brust aufgeschlitzt und klebte vor Blut. Er musste sich eine klaffende Schnittwunde zugezogen haben, die jedoch nicht so tief gewesen war, dass sie ihn getötet hätte, und die danach umgehend verheilt war. Die Haut unter dem zerfetzten Hemd wirkte jedenfalls vollkommen unversehrt. »Du Miststück«, knurrte er Tessa an.
»Du verlogenes, hinterhältiges Miststück! Du hast diesen jungen hierher gebracht, Camille. Diesen Nephilim.«
Panisch krabbelte Tessa rückwärts, bis der Haufen zusammengebrochener Stühle sie aufhielt.
»Ich habe dich wieder in unseren Clan aufgenommen, selbst nach deinem kleinen widerwärtigen ... Intermezzo ... mit diesem Lykanthropen. Ich habe deinen lächerlichen Hexenmeister toleriert. Und das ist nun der Dank dafür ... so dankst du mir. Dankst du uns.« Er streckte ihr seine Hände entgegen, die mit schwarzem Staub beschmiert waren. »Siehst du das hier?«, fragte er. »Das ist die Asche unserer toten Clanmitglieder. Toter Vampire. Die du verraten hast. Und für wen? Für die Nephilim.« Er spuckte den Begriff förmlich aus, als wäre er giftig.
Plötzlich perlte irgendetwas in Tessas Kehle. Helles Gelächter. Allerdings nicht ihr eigenes, sondern das von Camille. »›Widerwärtiges Intermezzo‹?« Die Worte sprudelten aus Tessas Mund hervor, ehe sie sie aufhalten konnte. Es schien, als hätte sie keinerlei Kontrolle mehr über das, was sie sagte. »Ich habe ihn geliebt — so, wie du mich nie geliebt hast, so, wie du nie auch nur irgendjemanden geliebt hast. Und dann hast du ihn getötet, nur um dem Clan zu zeigen, dass du es kannst. Ich will, dass du am eigenen Leib erfährst, wie es ist, alles zu verlieren, was einem etwas bedeutet. Ich will, dass dein Haus niederbrennt, dein Clan zu Asche zerfällt und das Ende deines eigenen erbärmlichen Lebens naht — und dass du weißt, dass ich diejenige bin, die dir dies antut.«
Und dann war Camilles Stimme genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war, und ließ Tessa ausgelaugt und bestürzt zurück. Was sie allerdings nicht daran hinderte, ihre Hände zu benutzen und hinter ihrem Rücken zwischen den zerborstenen Stühlen herumzutasten. Irgendetwas musste sich dort doch finden lassen — irgendein abgebrochenes Stück Holz, das sie als Waffe einsetzen konnte.
De Quincey starrte sie mit offenem Mund an. Er war wie vom Donner gerührt — offenbar hatte es bisher niemand gewagt, so mit ihm zu sprechen. Jedenfalls kein anderer Vampir. »Vielleicht ... vielleicht habe ich dich ja unterschätzt«, brachte er schließlich hervor. »Vielleicht wirst du mich ja tatsächlich vernichten ... Aber dann reiße ich dich mit mir in den Tod!«, fauchte er und stürzte sich mit ausgestreckten Händen auf sie.
Im selben Moment schlossen sich Tessas Finger um ein Stuhlbein. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, schwang sie den Stuhl nach oben und ließ ihn krachend auf de Quinceys Rücken niedergehen. Als er vor Schmerz aufschrie und rückwärtstaumelte, spürte sie ein Gefühl des Triumphs, rappelte sich auf und zog ihm den Stuhl erneut über den Schädel. Dieses Mal erfasste ihn ein zerbrochenes Stück Armlehne im Gesicht und schlitzte ihm die gesamte Wange auf. De Quincey fletschte die Zähne, die lautlos aus ihren Scheiden hervorglitten, und dann sprang er — es gab keinen anderen Ausdruck dafür. Der Satz, den er machte, ähnelte dem geräuschlosen Sprung einer Katze und riss Tessa von den Füßen. De Quincey landete auf ihr, fegte ihr den Stuhl aus der Hand und schnappte mit gebleckten Fangzähnen nach ihrer Kehle. Verzweifelt schlug Tessa ihm mit einer krallenbewehrten Hand ins Gesicht. Sein Blut, das auf sie herabtropfte, schien wie Säure auf ihrer Haut zu brennen. Sie schrie und schlug noch heftiger nach ihm aus, doch er lachte nur. Seine Pupillen waren gänzlich in seiner schwarzen Iris verschwunden und er wirkte vollkommen unmenschlich, wie ein riesiges, räuberisches Reptil.
Brutal packte er ihre Handgelenke und presste sie neben ihrem Körper auf den harten Boden. »Camille«, stieß er mit heiserer Stirnme hervor und beugte sich über sie. »Sei ganz ruhig, kleine Camille. Gleich ist alles vorbei ...« Und dann warf er den Kopf in den Nacken, wie eine attackierende Kobra.
Von Todesangst erfüllt, strampelte Tessa wild hin und her, um ihre eingeklemmten Beine zu befreien, um ihn zu treten ... so fest zu treten, wie sie nur konnte ...
Plötzlich schrie de Quincey auf. Er schrie und wand sich — eine Hand hatte ihn an den Haaren gepackt, seinen Kopf nach hinten gerissen und ihn auf die Füße gezogen. Eine Hand, die über und über mit verschlungenen schwarzen Malen bedeckt war.
Wills Hand.
De Quincey kam kreischend auf die Beine und presste die Hände an seinen Schädel, während Tessa sich aufrappelte und keuchend zusah, wie Will den brüllenden Vampir verächtlich von sich fortschleuderte. Das Lächeln war aus Wills Gesicht verschwunden, aber seine Augen funkelten und Tessa verstand nun auch, warum Magnus ihre Farbe mit dem Nachthimmel der Hölle verglichen hatte.
»Nephilim.« De Quincey taumelte, richtete sich auf und spuckte Will vor die Füße.
Will zückte die Pistole und zielte auf de Quincey.
»Eine Ausgeburt des Teufels bist du ... du und deinesgleichen. Ihr verdient es nicht einmal, in dieser Welt zu leben ... zusammen mit uns anderen. Und als wir euch aus Mitleid am Leben ließen, habt ihr uns dieses Geschenk direkt ins Gesicht geschleudert.«
»Als ob wir euer Mitleid bräuchten«, erwiderte de Quincey. »Als ob wir jemals weniger wert sein könnten als ihr. Ihr Nephilim, ihr denkt, ihr wärt ...« Abrupt unterbrach er sich. Seine Haut war so mit Blut und Asche verschmiert, dass Tessa es nicht mit Sicherheit sagen konnte, aber sie glaubte fast, dass die Wunde in seinem Gesicht bereits wieder verheilt war.
»Wir denken was?« Will spannte den Hahn der Pistole. Das Klicken war selbst über das Kampfgetümmel zu hören. »Sprich es ruhig aus.«
»Was soll ich aussprechen?«, fauchte der Vampir mit brennenden Augen.
»›Gott‹«, erklärte Will. »Du wolltest mir doch gerade erzählen, dass wir Nephilim uns für Gott halten, nicht wahr? Dummerweise kannst du nicht einmal diesen Begriff sagen. So sehr du dich mit deiner kleinen Bibelsammlung auch über das Wort Gottes lustig zu machen vermagst, Seinen Namen kannst du trotzdem nicht aussprechen.« Wills Finger krümmte sich inzwischen um den Abzug der Waffe, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Sag es. Sag Seinen Namen und ich lasse dich am Leben.«
Verächtlich fletschte der Vampir die Zähne. »Du kannst mich damit nicht töten ... nicht mit diesem lächerlichen Menschenspielzeug.«
»Wenn die Kugel mitten durchs Herz geht«, entgegnete Will vollkommen ungerührt, »wirst du sterben. Und ich bin ein sehr guter Schütze.«
Tessa stand wie betäubt dabei und starrte gebannt auf die Szenerie vor ihr. Eigentlich wollte sie einen Schritt zurückgehen, zu Nathaniel eilen, aber sie traute sich nicht, sich zu bewegen.
De Quincey hob den Kopf und öffnete den Mund. Ein schwaches Röcheln drang über seine Lippen, als er zu sprechen versuchte — als er versuchte, ein Wort zu formulieren, das seine Seele ihn nicht aussprechen ließ. Er keuchte, würgte und fasste sich mit der Hand an die Kehle.
Will begann zu lachen ...
Und der Vampir sprang. Mit vor Wut und Schmerz verzerrtem Gesicht warf er sich brüllend auf Will. Ein heftiges Handgemenge entbrannte, dann löste sich ein Schuss und Blut spritzte in alle Richtungen. Will schlug auf dem Boden auf, wobei die Pistole seiner Hand entglitt und über das Parkett rutschte, während der Vampir sich auf den Schattenjäger stürzte. Hastig stürmte Tessa los, schnappte sich die Pistole, drehte sich um und sah, dass de Quincey Will von hinten gepackt hatte, ihm den Unterarm gegen die Kehle drückte.
Mit zittriger Hand hob Tessa die Pistole. Aber sie hatte noch nie zuvor eine Pistole oder andere Waffe benutzt — und wie sollte sie den Vampir erschießen, ohne dabei Will zu verletzen? Will war nahe daran zu ersticken; sein Gesicht war schon ganz blau angelaufen. De Quincey knurrte irgendetwas und verstärkte den Griff um seinen Hals.
In dem Moment riss Will den Kopf nach unten und schlug dem Vampir die Zähne in den Unterarm. De Quincey schrie auf und zog reflexartig den Arm fort, während Will sich zur Seite warf, hustend und würgend, sich auf die Knie rollte und Blut auf die Bühne spuckte. Als er aufschaute, war die untere Hälfte seines Gesichts blutverschmiert. Und auch seine Zähne schimmerten rot, als er sich aufrichtete und sich breit grinsend an de Quincey wandte: »Na, wie hat dir das gefallen, Vampir? Du wolltest doch vorhin den Irdischen beißen. Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt!«
De Quincey, der angeschlagen auf den Knien kauerte, starrte von Will zu der hässlichen roten Bisswunde auf seinem Arm, die sich bereits wieder schloss, auch wenn noch immer Blut daraus hervorsickerte.
»Dafür«, stieß er hervor, »wirst du sterben, Nephilim.«
Und Will spreizte die Arme. Kniend und mit einem dämonischen Grinsen um den Mundwinkel, aus dem ihm ein dünnes Rinnsal Blut floss, hatte er selbst kaum noch etwas Menschenähnliches. »Komm und hol mich!«
De Quincey sammelte sich, setzte zum Sprung an — und Tessa betätigte den Abzug. Die Waffe bäumte sich in ihrer Hand auf und der Vampir fiel zur Seite. Blut strömte aus seiner Schulter. Verdammt, die Kugel hat das Herz verfehlt!, stellte Tessa bestürzt fest. Brüllend rappelte de Quincey sich auf. Tessa hob den Arm, drückte erneut ab — doch nichts passierte. Ein leises Klicken verriet ihr, dass die Trommel leer war.
De Quincey lachte höhnisch. Er hielt sich die verletzte Schulter, obwohl der Blutstrom bereits zu einem Rinnsal verebbte. »Camille«, fauchte er in Tessas Richtung, »mit dir werde ich mich später beschäftigen. Ich werde dafür sorgen, dass du den Tag verfluchst, an dem du wiedergeboren wurdest.«
Tessa spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken jagte — dies war nicht nur ihre eigene Furcht, sondern auch die von Camille.
De Quincey fletschte die Zähne ein letztes Mal. Dann wirbelte er mit unglaublicher Geschwindigkeit herum, sprintete quer durch den Raum und warf sich durch eines der deckenhohen Fenster. Es zerbarst in einer Explosion aus Glasscherben und riss ihn mit sich, als würde sein Körper von einer Woge davongetragen. Einen Sekundenbruchteil später war der Vampir in der Dunkelheit verschwunden.
Will fluchte wütend. »Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen ...«, setzte er an und wollte de Quincey gerade nachstürmen, als ein gellender Schrei ihn herumfahren ließ. Ein schwer verletzter Vampir war wie aus dem Nichts hinter Tessa aufgetaucht und hatte sie bei den Schultern gepackt. Verzweifelt versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er war einfach zu stark. Sie konnte hören, wie er ihr etwas ins Ohr zischte, schreckliche Worte — dass sie eine Verräterin sei und die Nachtkinder hintergegangen habe und dass er sie mit seinen eigenen Zähnen zerfetzen werde.
»Tessa«, brüllte Will, doch sie war sich nicht sicher, ob Zorn oder irgendetwas anderes in seiner Stimme mitschwang. Blitzschnell griff er nach einer der leuchtenden Waffen an seinem Gürtel und schloss gerade die Finger um das Heft einer Seraphklinge, als der Vampir das Mädchen zu sich herumwirbelte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Tessa in sein anzüglich grinsendes weißes Gesicht, sah die blutverschmierten Fangzähne bereits auf sich zukommen ... Doch einen Sekundenbruchteil später löste er sich in einer Wolke aus Asche und Blut auf. Die Haut in seinem Gesicht und an seinen Händen verschrumpelte und gab für einen winzigen Moment den Blick auf den darunterliegenden schwarzen Schädel frei, ehe auch dieser zerbröselte und nur noch ein Haufen Staub, ein paar lose Kleidungsstücke und eine glitzernde Silberklinge zurückblieben.
Als Tessa erleichtert aufschaute, sah sie Jem, der mit kreidebleichem Gesicht ein paar Schritte entfernt stand. In seiner linken Hand hielt er eine weitere Waffe, während seine rechte leer herabhing. Eine lange Schnittwunde erstreckte sich über seine Wange, doch ansonsten wirkte er unversehrt. Im Schein der erlöschenden Flammen strahlten seine Augen und Haare in einem grellen Silber. »Ich denke, das dürfte der Letzte gewesen sein«, meinte er.
Überrascht schaute Tessa sich um. Das Chaos hatte sich gelegt. Überall bewegten sich Schattenjäger zwischen den Ruinen des Musiksalons — einige saßen auch auf Stühlen und ließen sich von ihren Mitstreitern mit Stelen verarzten —, doch sie konnte keinen einzigen Vampir mehr entdecken. Inzwischen hatte sich auch der Rauch gelichtet, obwohl weiterhin weiße Asche von den versengten Vorhängen herabrieselte und wie unerwarteter Schnee durch den Raum schwebte.
Will, von dessen Kinn noch Blut tropfte, hob die Augenbrauen und warf Jem einen anerkennenden Blick zu. »Guter Wurf«, bemerkte er.
Jem schüttelte den Kopf. »Du hast de Quincey gebissen, du Narr«, tadelte er seinen Freund. »Er ist ein Vampir. Und du weißt, was es bedeutet, einen Vampir zu beißen.«
»Ich hatte keine andere Wahl«, erwiderte Will. »Er war dabei, mich zu erwürgen.«
»Ich weiß«, sagte Jem. »Aber ehrlich, Will. Schon wieder?«
Letztendlich war Henry derjenige, der Nathaniel von seinem Folterstuhl befreite, indem er einfach mit dem Schwert auf das Holz einschlug, bis es zersplitterte und die Fesseln freigab. Nathaniel rutschte auf den Boden, wo Tessa ihn auf ihren Schoß zog und er stöhnend liegend blieb. Rasch erteilte Charlotte ein paar Befehle: Sie ließ ein feuchtes Tuch herbeibringen, um Nates Gesicht abzuwischen, und holte einen ramponierten Vorhang, den sie über seinen Körper warf. Dann eilte sie zu Benedict Lightwood und verstrickte ihn in eine heftige Diskussion, während der sie abwechselnd zwischen Tessa und Nathaniel hin und her zeigte und theatralisch die Hände rang.
Tessa, die sich geistig und körperlich wie zerschlagen fühlte, fragte sich benommen, was um alles in der Welt Charlotte wohl vorhatte. Aber im Grunde spielte es keine Rolle. Die ganze Szenerie kam ihr vor wie ein Traum: Sie saß auf dem Boden, mit Nathaniel auf ihrem Schoß, während um sie herum die Nephilim sich gegenseitig mit den Stelen behandelten. Tessa konnte kaum glauben, wie schnell ihre Wunden und Verletzungen verschwanden, sobald die Heilrunen erst einmal auf ihre Haut aufgetragen waren. Jeder einzelne Schattenjäger schien diese besonderen, Iratze genannten Male blind zu beherrschen. Tessa beobachtete, wie Jem leicht zusammenzuckte, während er sein Hemd aufknöpfte, um eine tiefe Schnittwunde an seiner Schulter freizulegen. Er presste die Lippen zusammen und schaute weg, als Will die Heilrune unterhalb der Wunde sorgfältig in die Haut ritzte. Doch erst als Will zu ihr herübergeschlendert kam, wurde Tessa klar, warum sie eigentlich so erschöpft war.
»Wie ich sehe, bist du wieder du selbst«, bemerkte er. In der Hand hielt er ein feuchtes Tuch, doch er hatte sich bisher noch nicht die Mühe gemacht, das Blut aus seinem Gesicht und von seinem Hals zu wischen. Verwundert schaute Tessa an sich herab. Es stimmte: Irgendwann im Laufe der vergangenen Stunde hatte sie Camille verloren und sich wieder zurückverwandelt. Sie musste wirklich sehr benommen gewesen sein, dass sie die Rückkehr ihres eigenen Pulsschlags nicht bemerkt hatte, überlegte sie und nahm nun bewusst wahr, dass ihr Herz in ihrer Brust wie wild trommelte.
»Ich wusste gar nicht, dass du mit einer Pistole umzugehen verstehst«, fügte Will hinzu.
»Das kann ich auch gar nicht«, gestand Tessa.
»Vermutlich hat Camille gewusst, wie man sie abfeuert. Das Ganze geschah ... instinktiv.« Sie biss sich auf die Lippe. »Nicht, dass das eine Rolle spielen würde, denn es hat ja nicht funktioniert.«
»Schusswaffen setzen wir nur sehr selten ein. Aus irgendeinem Grund verhindert das Eingravieren der Runen in den Metalllauf, dass sich das Schießpulver entzündet — niemand weiß, wieso. Natürlich hat Henry bereits versucht, das Problem in den Griff zu bekommen, aber bisher ohne Erfolg«, erklärte Will.
»Und da man Dämonen nur mithilfe von Seraphklingen töten kann, nutzen uns Feuerwaffen nicht viel. Es stimmt zwar, dass Vampire bei einem Schuss mitten ins Herz sofort sterben und Werwölfe durch eine Silberkugel erlegt werden können, aber wenn man dieses entscheidende Organ verfehlt, attackieren sie einen umso grimmiger. Dagegen sind mit Runen versehene Klingen deutlich zuverlässiger. Trifft man einen Vampir mit einem runenbewehrten Schwert, erholt er sich wesentlich langsamer von diesem Schlag.«
Tessa musterte ihn ruhig. »Ist das nicht schwer?«
»Ist was nicht schwer?«, fragte Will und warf das blutverschmierte Handtuch achtlos beiseite.
»Vampire zu töten«, erklärte Tessa. »Sie mögen zwar keine Menschen sein, aber sie sehen doch zumindest so aus. Sie empfinden wie Menschen. Sie schreien und bluten. Ist es da nicht schwer, sie niederzumetzeln?«
Wills Kiefermuskulatur spannte sich an. »Nein«, erwiderte er. »Und wenn du auch nur irgendetwas über sie wüsstest ...«
»Camille hat Gefühle«, warf Tessa ein. »Sie liebt und hasst.«
»Ja, und sie lebt ja auch noch. Jeder hat die Möglichkeit, sich zu entscheiden, Tessa. Und wenn die heute getöteten Vampire nicht ihre Entscheidung getroffen hätten, wären sie an diesem Abend nicht in diesem Raum gewesen.« Will warf einen kurzen Blick auf Nathaniel, der schlaff auf Tessas Schoß lag. »Und er wäre vermutlich auch nicht hier.«
»Ich weiß nicht, warum de Quincey ihn töten wollte«, sagte Tessa leise. »Und ich verstehe nicht, was er getan haben kann, um den Zorn der Vampire auf sich zu ziehen.«
»Tessa!« Charlotte kam wie ein Kolibri auf Tessa und Will zugeflattert. Sie wirkte noch immer winzig — und so harmlos, dachte Tessa, trotz der Kampfmontur und der schwarzen Male, die sich über ihre Haut schlängelten. »Wir haben die Erlaubnis erhalten, deinen Bruder ins Institut mitzunehmen«, verkündete sie und deutete mit ihrer kleinen Hand auf Nathaniel.
»Die Vampire haben ihn möglicherweise unter Drogen gesetzt. Ganz gewiss ist er gebissen worden und wer weiß, was sie ihm sonst noch angetan haben! Er könnte sich in einen Finsterling ... oder Schlimmeres verwandeln, wenn wir nichts unternehmen. Auf jeden Fall bezweifle ich, dass man ihm in einem irdischen Hospital zu helfen vermag. Bei uns können sich wenigstens die Brüder der Stille um ihn kümmern — der arme Junge.«
»Armer Junge?«, schnaubte Will. »Er hat sich doch selbst in diesen Schlamassel gebracht, oder etwa nicht? Niemand hat ihn dazu aufgefordert, seine Stelle zu kündigen und sich mit einem Haufen Schattenweltler einzulassen.«
»Also wirklich, Will.« Charlotte musterte ihn kühl.
»Kannst du nicht ein wenig Mitgefühl zeigen?«
»Gütiger Gott«, stöhnte Will und schaute von Charlotte zu Nate und wieder zurück. »Gibt es irgendetwas auf dieser Welt, das Frauen törichter handeln lässt als der Anblick eines verwundeten jungen Mannes?«
Tessa warf ihm aus zusammengekniffenen Augen einen finsteren Blick zu. »Vielleicht solltest du dir erst einmal das Blut aus dem Gesicht wischen, ehe du in diesem Ton weiterredest.«
Genervt warf Will die Arme in die Luft und marschierte davon, während Charlotte Tessa mit einem leichten Lächeln um die Lippen betrachtete. »Ich muss schon sagen, es gefällt mir, wie du Will in die Schranken verweist.«
Tessa schüttelte den Kopf. »Will kennt keine Schranken.«
Nach kurzer Beratung wurde beschlossen, dass Tessa und Nathaniel zusammen mit Henry und Charlotte in der großen Kutsche des Instituts mitfahren sollten, während Will, Jem und Thomas mit einem kleineren Einspänner folgen würden, den Charlottes Tante ihnen zur Verfügung stellte. Die Lightwoods und der Rest der Brigade sollten noch eine Weile in de Quinceys Haus bleiben, es sorgfältig durchsuchen und dann sämtliche Spuren des Kampfes beseitigen, um keine neugierigen Fragen bei den irdischen Nachbarn zu provozieren. Will hatte ebenfalls bleiben und sich an der Durchsuchung beteiligen wollen, doch Charlotte war unnachgiebig gewesen: Er hatte Vampirblut geschluckt und musste schnellstmöglich zum Institut zurückkehren, um die Behandlung einzuleiten.
Allerdings duldete Thomas nicht, dass Will derart blutbeschmiert in die geliehene Kutsche stieg. Er verkündete, er sei in weniger als »einem Minütchen« wieder zurück, und zog los, um ein feuchtes Handtuch zu besorgen. Währenddessen lehnte Will am Schlag der Kutsche und sah zu, wie die Mitglieder der Brigade wie Ameisen in de Quinceys Haus hinein- und wieder hinauseilten und Dokumente und Mobiliar aus den Brandruinen retteten.
Nach ein paar Minuten kehrte Thomas mit einem feuchten Lappen zurück, warf ihn Will zu und lehnte sich mit seinen breiten Schultern ebenfalls gegen die Kutsche, die unter seinem Gewicht leicht schwankte. Charlotte hatte Thomas stets ermutigt, gemeinsam mit Jem und Will das harte körperliche Trainingsprogramm der Schattenjäger zu absolvieren, und im Laufe der Jahre war der einstmals schmächtige Junge zu einem derart großen und muskulösen Mann herangewachsen, dass jeder Schneider bei seinem Anblick verzweifelte. Will mochte zwar der bessere Krieger sein — allein schon aufgrund seines Schattenjägerblutes —, doch Thomas’ überragende körperliche Erscheinung ließ niemanden unbeeindruckt.
Manchmal erinnerte Will sich an die Zeit zurück, als Thomas im Institut eingetroffen war. Er entstammte einer Familie, die den Nephilim über viele Jahre gedient hatte, war aber bei seiner Geburt so zart gewesen, dass seine Eltern sich keine großen Überlebenshoffnungen gemacht hatten. Doch Thomas erwies sich als zäh und kam im Alter von zwölf Jahren ins Institut; auch damals war er noch so klein gewesen, dass er kaum wie ein Neunjähriger wirkte. Will hatte sich über Charlotte lustig gemacht, weil sie ihn einstellen wollte, aber insgeheim hatte er gehofft, Thomas würde bleiben, damit er nicht mehr der einzige Junge seines Alters im Haus war. Und nach einer Weile war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden, zwischen dem Schattenjäger und dem Stalljungen — bis Jem aufgetaucht war und Will Thomas fast vollständig vergessen hatte. Allerdings hatte Thomas ihm das nie übel genommen und ihn weiterhin mit derselben Freundlichkeit behandelt, die er auch allen anderen entgegenbrachte.
»Schon irgendwie komisch, dass hier so ein Tamtam is’ und keiner der Nachbarn auch nur die Nase aus 'er Tür steckt«, sagte Thomas nun, mit einem bedeutungsvollen Blick in beide Richtungen der Straße. Charlotte hatte stets darauf bestanden, dass die Bediensteten innerhalb der Institutsmauern »korrektes«
Englisch sprachen, aber Thomas’ East-End-Akzent brach manchmal doch noch hervor — je nachdem, ob er sich an ihre Anweisung erinnerte oder nicht.
»Du darfst nicht vergessen, dass das ganze Gelände unter einem extrem starken Zauberglanz liegt«, erwiderte Will und wischte sich mit dem feuchten Lappen über Gesicht und Hals. »Und ich könnte mir vorstellen, dass in dieser Straße durchaus ein paar NichtIrdische wohnen, die aber genau wissen, dass sie sich besser um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, sobald Schattenjäger im Spiel sind.«
»Ihr seid ja nun mal eine Furcht einflößende Truppe, das is’ wohl wahr«, sagte Thomas so gleichmütig, dass Will den Verdacht hegte, er mache sich über ihn lustig. Er zeigte auf Wills Gesicht. »Sie werden morgen ein Riesen-Veilchen haben, wenn Sie sich nicht bald eine Iratze verpassen lassen«, fuhr er fort.
»Vielleicht will ich ja ein blaues Auge haben«, entgegnete Will missmutig. »Hast du daran schon mal gedacht?«
Doch Thomas grinste nur und schwang sich auf den Kutschbock, während Will sich weiterhin bemühte, getrocknetes Vampirblut von seinen Händen und Armen zu wischen. Diese Aufgabe nahm ihn derart in Beschlag, dass es ihm gelang, Gabriel Lightwood fast völlig zu ignorieren, der nun aus den Schatten heraustrat und zu Will herüberschlenderte, ein überhebliches Lächeln auf dem Gesicht.
»Gute Arbeit, da drinnen, Herondale, die Hütte einfach in Brand zu stecken«, bemerkte Gabriel. »Und wie gut, dass wir da waren, um hinter dir aufzuräumen — oder der ganze Plan wäre in Flammen aufgegangen, zusammen mit den Resten deines guten Rufs.«
»Willst du damit sagen, dass von meinem guten Ruf noch etwas übrig ist?«, fragte Will in gespieltem Entsetzen. »Dann muss ich wirklich etwas falsch gemacht haben. Oder vielmehr nicht genug falsch gemacht haben.« Rasch hämmerte er mit der Faust gegen die Kutschwand. »Thomas! Wir müssen umgehend zum nächsten Freudenhaus aufbrechen! Ich brauche Skandale und schlechte Gesellschaft!«
Thomas schnaubte und murmelte etwas, das wie »Quatsch!« klang, von Will aber geflissentlich überhört wurde.
Gabriels Miene verdüsterte sich. »Gibt es eigentlich irgendetwas auf der Welt, das für dich kein Witz ist?«
»Im Moment fällt mir wirklich nichts ein.«
»Weißt du, es hat einmal eine Zeit gegeben«, setzte Gabriel an, »da dachte ich, wir könnten Freunde werden, Will.«
»Und es hat einmal eine Zeit gegeben, da dachte ich, ich sei ein Frettchen«, erwiderte Will ungerührt,
»aber das hat sich im Nachhinein als Opiumwahn herausgestellt. Hast du von dieser Nebenwirkung gewusst? Mir war das nämlich neu.«
»Ich denke, du solltest dir einmal überlegen, ob Witze über Opium wirklich amüsant oder taktvoll sind, angesichts der ... der Situation deines Freundes Carstairs«, bemerkte Gabriel.
Will unterbrach seine Reinigungsbemühungen, hob arrogant eine Augenbraue und fragte in gleichgültigem Ton: »Du meinst seine Behinderung?«
Gabriel blinzelte verwirrt. »Was?«
»So hast du es doch genannt, vor ein paar Tagen im Institut. Seine ›Behinderung‹«, erwiderte Will spöttisch und warf den blutigen Lappen beiseite. »Und da wunderst du dich, wieso wir keine Freunde sind?«
»Ich frage mich lediglich, ob du vielleicht niemals genug bekommst«, erwiderte Gabriel mit gedämpfter Stimme.
»Genug wovon?«
»Genug von deinem eigenen Verhalten.«
Will verschränkte die Arme vor der Brust; seine Augen glitzerten gefährlich. »Ach, ich kann nie genug bekommen«, lächelte er. »Was zufälligerweise genau dasselbe ist, was deine Schwester zu mir sagte, als sie ...«
In dem Moment flog der Kutschschlag auf, eine Hand kam ruckartig zum Vorschein, packte Will von hinten am Hemdkragen und zerrte ihn ins Innere. Dann wurde die Tür mit einem Knall von innen zugeschlagen, Thomas schnappte sich die Zügel und einen Augenblick später schoss der Einspänner in die Nacht, sodass Gabriel ihnen nur wütend nachstarren konnte.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte Jem, nachdem er Will auf die gegenüberliegende Sitzbank verfrachtet hatte. Seine silbernen Augen glänzten im schwachen Licht des Kutscheninneren, während er den Kopf schüttelte und die Hände auf dem Spazierstock zwischen seinen Knien ruhen ließ. Dieser Spazierstock mit dem Drachenkopfknauf hatte einst Jems Vater gehört und war von einem SchattenjägerWaffenschmied in Peking eigens für ihn angefertigt worden. »Gabriel Lightwood so zu reizen — warum tust du das? Was soll das bewirken?«
»Du hast doch gehört, was er gesagt hat ... über dich ...«
»Es kümmert mich nicht, was er über mich sagt. Schließlich ist es genau das, was alle anderen auch denken. Er hat es nur gewagt, es auszusprechen.« Jem beugte sich vor und legte sein Kinn auf seine Hände.
»Du weißt doch, dass ich deinen mangelnden Selbsterhaltungstrieb nicht auf immer und ewig ausgleichen kann. Irgendwann wirst du lernen müssen, ohne mich auszukommen.«
Wie üblich ignorierte Will diese Bemerkung. »Gabriel Lightwood stellt wohl kaum eine Bedrohung dar.«
»Dann vergiss Gabriel. Gibt es einen besonderen Grund, warum du immer wieder Vampire beißt?«
Will berührte das getrocknete Blut an seinem Handgelenk und lächelte. »Das erwarten sie nicht.«
»Natürlich erwarten sie das nicht. Denn sie wissen, was geschieht, wenn einer von uns Vampirblut zu sich nimmt. Vermutlich erwarten sie eher, dass du mehr Verstand besitzt, als sie zu beißen.«
»Diese Erwartung hat ihnen bisher keine guten Dienste geleistet, oder?«
»Dir aber auch nicht.« Nachdenklich betrachtete Jem seinen Freund. Er war der einzige Mensch, der niemals mit Will die Geduld verlor. Ganz gleich, was Will ausheckte — mehr als milde Verzweiflung schien er bei Jem nicht hervorrufen zu können. »Was ist da drin vorgefallen? Wir haben im Garten auf das Signal gewartet ...«
»Henrys verflixter Phosphorisator hat nicht funktioniert. Statt einen starken Lichtblitz auszustrahlen, hat er die Vorhänge in Brand gesteckt.«
Jem unterdrückte ein Lachen.
Aufgebracht funkelte Will ihn an. »Das ist nicht lustig. Ich wusste doch nicht, ob ihr anderen noch auftauchen würdet.«
»Hast du ernsthaft geglaubt, wir würden nicht nach dir suchen, wenn das ganze Gebäude wie eine Fackel in Flammen aufgeht?«, fragte Jem sachlich. »Schließlich wäre es durchaus denkbar gewesen, dass die Vampire dich auf einen Spieß gesteckt und über dem Feuer geröstet hätten.«
»Und Tessa, dieses dumme Ding, hatte eigentlich längst mit Magnus aus dem Gebäude verschwunden sein sollen. Aber sie wollte nicht gehen ...«
»Ihr Bruder war mit Hand- und Fußschellen an diesen Stuhl gefesselt«, gab Jem zu bedenken. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich an ihrer Stelle das Haus verlassen hätte.«
»Ah, verstehe, du willst meine Ausführungen nicht begreifen.«
»Wenn sich deine Ausführungen darauf beschränken, dass ein hübsches Mädchen im Raum war und dich abgelenkt hat, dann denke ich, dass ich deine Ausführungen durchaus verstanden habe.«
»Du hältst sie für hübsch?«, fragte Will überrascht, weil Jem zu derartigen Dingen nur selten seine Meinung äußerte.
»Ja, und du denkst dasselbe.«
»Ehrlich gesagt, ist mir das noch gar nicht aufgefallen . .«
»Doch, das ist es sehr wohl, und mir ist aufgefallen, dass es dir aufgefallen ist.« Jem lächelte. Trotz des Kampfes machte er an diesem Abend einen gesunden Eindruck: Seine Wangen waren leicht gerötet und seine Augen schimmerten in einem dunklen, beständigen Silber — ganz im Gegensatz zu den Zeiten, wenn er gerade einen schweren Krankheitsschub erlitt, der seinen Augen sämtliche Farbe zu entziehen schien und sie schrecklich blass, fast weiß wirken ließ, bis seine schwarzen Pupillen winzigen Aschepartikeln in einer Schneelandschaft ähnelten. In diesen Phasen fiel er auch regelmäßig ins Delirium. Will hatte Jem schon mehrfach auf dem Bett festgehalten, während dieser um sich trat, in einer fremden Sprache schrie und schließlich die Augen nach hinten verdrehte. Und jedes Mal hatte Will gedacht, dass nun der Moment gekommen sei — dass Jem nun sterben würde. Manchmal hatte er in dieser Situation darüber nachzudenken versucht, was er danach wohl tun würde, doch er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Genauso wenig wie er zurückschauen und sich an sein Leben erinnern konnte, bevor Jem ins Institut gekommen war. Will mochte weder bei dem einen noch bei dem anderen Gedanken lange verweilen.
Doch dann gab es auch wieder andere Zeiten — so wie diesen Abend, an dem er keinerlei Anzeichen der Krankheit an Jem erkennen konnte. Und dann fragte er sich, wie es wohl wäre, in einer Welt zu leben, in der Jem nicht todkrank war. Aber auch bei diesem Gedanken mochte er nicht verweilen. Tief in seinem Inneren befand sich ein schreckliches schwarzes Loch, aus dem die Angst entsprang — eine dunkle Stimme, die er nur durch Wut, Gefahr und Schmerz zum Schweigen bringen konnte.
»Will.« Jems Stimme schnitt durch Wills unerfreuliche Betrachtungen. »Hast du auch nur ein Wort von dem gehört, was ich in den vergangenen fünf Minuten gesagt habe?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Wir brauchen nicht über Tessa zu reden, wenn du das nicht möchtest.«
»Es geht nicht um Tessa.« Und das entsprach auch der Wahrheit. Will hatte nicht an Tessa gedacht. Allmählich entwickelte er großes Geschick darin, nicht an sie zu denken — es bedurfte nur regelmäßiger Übung und Willenskraft. »Eines der Nachtkinder hatte einen Domestiken, der mich angefallen hat. Ich habe ihn getötet«, sagte Will. »Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Er war nur ein dummer kleiner Junge, aber ich habe ihn getötet.«
»Er war ein Finsterling«, widersprach Jem. »Er war bereits im Begriff, sich in einen Vampir zu verwandeln. Es war nur noch eine Frage der Zeit.«
»Er war nur ein dummer Junge«, wiederholte Will und drehte das Gesicht zum Fenster, obwohl er aufgrund der Helligkeit im Kutscheninneren nur sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe sehen konnte.
»Wenn wir zu Hause sind, werde ich mich sinnlos betrinken«, fügte er hinzu. »Ich denke, mir bleibt gar nichts anderes übrig.«
»Nein, das wirst du nicht tun«, entgegnete Jem.
»Denn du weißt genau, was geschieht, sobald wir zu Hause ankommen.«
Statt einer Antwort zog Will nur eine finstere Miene.
In der Kutsche vor Will und Jem saß Tessa gegenüber von Henry und Charlotte auf einer weichen Polsterbank. Die beiden unterhielten sich in gedämpftem Ton über die Ereignisse des Abends. Tessa ließ ihre Worte einfach an sich vorbeirauschen und hörte nur mit halbem Ohr zu. Lediglich zwei Schattenjäger waren bei dem Einsatz ums Leben gekommen, aber de Quinceys Flucht bedeutete eine Katastrophe und Charlotte sorgte sich, dass die Brigade sie dafür verantwortlich machen würde. Henry versuchte, sie zu beruhigen, doch Charlotte schien untröstlich. Tessa hätte bestimmt Mitleid mit ihr empfunden, wenn sie auch nur noch einen Funken Energie im Leib gehabt hätte.
Nathaniel lag quer neben ihr; sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Sie beugte sich über ihn und streichelte ihm mit ihren behandschuhten Fingern über das verfilzte Haar. »Nate«, wisperte sie leise, in der Hoffnung, dass Charlotte sie nicht hörte. »Es wird alles gut. Mach dir keine Sorgen — es wird alles gut.«
Nathaniels Wimpern flatterten und er schlug die Augen auf. Dann hob er eine Hand — seine Fingernägel waren abgebrochen und seine Gelenke geschwollen und gerötet — und griff nach ihrer Hand, verschränkte seine Finger mit ihren. »Geh nicht fort«, brachte er mühsam hervor. Seine Lider flatterten erneut — es war deutlich, dass er zwischen Bewusstsein und Ohnmacht hin und her schwankte. »Tessie, bitte bleib.«
Niemand anderes auf der Welt hatte sie je so genannt. Tessa schloss die Augen und unterdrückte die Tränen, so gut sie konnte. Sie wollte nicht, dass Charlotte oder sonst irgendein Schattenjäger sie weinen sah.