16 Die Verquickungsformel

Und einmal und zwei rollt der Würfel so frei,

Kavaliere, das gibt ein Gelach!

Aber zeigt, was erzielt, wer in Sünden verspielt,

In dem heimlichen Hause der Schmach!

Oscar Wilde, »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«

»Jessamine! Jessamine, was geht hier vor? Wo ist Nate?«

Die junge Schattenjägerin, die direkt vor Nates Zimmertür stand, wirbelte herum und sah Tessa, die durch den Flur auf sie zugestürmt kam. Jessamines rot geränderte Augen blitzten wütend und aus ihrer sonst so sorgfältig hochgesteckten Frisur hatten sich im Nacken mehrere blonde Strähnen gelöst. »Ich weiß es nicht«, schnappte sie. »Ich bin im Sessel neben seinem Bett eingeschlafen, und als ich aufwachte, war er verschwunden — einfach verschwunden!« Tadelnd kniff sie die Augen zu Schlitzen. »Du meine Güte, du siehst ja grauenhaft aus!«

Tessa schaute an sich herab. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, Reifrock oder gar Schuhe anzuziehen, sondern einfach nur ein Kleid übergeworfen und die nackten Füße in die Hausschuhe geschoben. Ihre Haare fielen lose um die Schultern und sie konnte sich durchaus vorstellen, dass ihr Anblick an die Geistesgestörte erinnern mochte, die Mr Rochester in Charlotte Brontes Roman Jane Eyre auf dem Speicher eingeschlossen hielt. »Nate kann nicht sehr weit gekommen sein, jedenfalls nicht in seinem Zustand«, stellte sie sachlich fest. »Hat sich schon irgendjemand auf die Suche nach ihm gemacht?«

Entrüstet warf Jessamine die Hände in die Luft.

»Alle haben sich auf die Suche nach ihm gemacht —

Will, Charlotte, Henry, Thomas, sogar Agatha. Aber ich darf doch wohl annehmen, du erwartest nicht von uns, dass wir den armen Jem aus dem Bett zerren und ihn ebenfalls nach deinem Bruder Ausschau halten lassen, oder?«

Tessa schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Jessamine ...«, setzte sie an, unterbrach sich dann aber und drehte der Schattenjägerin den Rücken zu. »Gut, dann werde ich ebenfalls nach ihm suchen. Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst.«

»Und ob ich will!«, erwiderte Jessamine und warf die Haare in den Nacken.

Während Tessa durch den Korridor davonmarschierte, überschlugen sich ihre Gedanken förmlich:

Wohin, um alles in der Welt, konnte Nate sich gewandt haben? Hatte er vielleicht Halluzinationen gehabt und war im Fieberwahn aus dem Bett geklettert, um sie zu suchen? Der Gedanke legte sich wie eine kalte Hand um ihr Herz. Das Institut glich einem Labyrinth, überlegte sie, während sie zum wiederholten Mal um eine Ecke bog, hinter der sich ein weiterer, von Wandteppichen gesäumter Korridor erstreckte. Wenn sie sich schon kaum darin zurechtfand, wie sollte Nate erst ...

»Miss Gray?«

Tessa drehte sich um und sah Thomas, der aus einer der endlosen Türen getreten war. Statt einer Weste trug er nur ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln; seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und seine braunen Augen schauten sehr ernst. Tessa spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Oh, Gott, er hat schlechte Nachrichten. »Ja, Thomas?«

»Ich hab Ihren Bruder gefunden«, erklärte Thomas zu Tessas Überraschung.

»Wirklich? Aber wo war er denn?«

»Im Salon. Hatte sich 'ne Art Versteck gesucht, hinter den Vorhängen«, sprudelte Thomas hastig hervor und zog eine verlegene Miene. »Kaum hat er mich gesehen, ist er auch schon durchgedreht und hat geschrien und geflucht. Und dann hat er versucht, an mir vorbeizukommen, und ich musste ihm fast eins überbraten, damit er endlich Ruhe gab ...« Als er Tessas verständnislosen Blick sah, hielt er einen Moment inne und räusperte sich dann. »Das soll heißen: Ich fürchte, ich habe ihm möglicherweise einen großen Schrecken eingejagt, Miss.«

Bestürzt schlug Tessa eine Hand vor den Mund.

»Oje ... Aber es geht ihm gut?«

Es hatte den Anschein, dass Thomas nicht ganz wusste, wohin er schauen sollte. Offenbar war es ihm peinlich, dass er Nate hinter Charlottes Vorhängen kauernd vorgefunden hatte, dachte Tessa und spürte eine Woge der Empörung aufkommen. Schließlich war ihr Bruder kein Schattenjäger — er hatte nicht von Kindesbeinen an gelernt, irgendwelche Monster zu töten und ständig sein Leben zu riskieren. Da war es doch nur natürlich, dass er sich zu Tode fürchtete. Und wahrscheinlich litt er obendrein unter Fieberwahn und Halluzinationen. »Ich sollte besser zu ihm gehen. Aber nur ich allein, hast du verstanden? Vermutlich muss er einfach nur ein vertrautes Gesicht sehen«, sagte Tessa kühl.

Thomas wirkte erleichtert. »Ja, Miss. Ich warte hier draußen — allein. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn ich die anderen herbeiholen soll.«

Tessa nickte, schob sich an Thomas vorbei und drückte die Tür auf. Im Salon war es dämmrig; durch die hohen Fenster fiel nur das graue Licht des Nachmittagshimmels. Die Sofas und Sessel, die über den halbdunklen Raum verteilt waren, wirkten wie kauernde, zum Sprung bereite Kreaturen. Nate saß in einem der ausladenden Sessel vor dem Kamin. Offenbar hatte er die blutbefleckten Kleidungsstücke gefunden, die er bei de Quincey getragen hatte, und wieder übergestreift. Seine Füße waren nackt. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, sein Gesicht in die Hände gelegt und wirkte zutiefst unglücklich.

»Nate?«, fragte Tessa leise.

Sofort schaute er auf, sprang aus dem Sessel und ein Ausdruck unglaublicher Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Tessie!«

Vor Erleichterung stieß Tessa einen kleinen Schrei aus. Dann eilte sie quer durch den Raum, schlang die Arme um ihren Bruder und drückte ihn fest an sich. Sie hörte, wie er schmerzhaft aufstöhnte, doch dann schloss auch er sie in die Arme, und einen kurzen Moment fühlte Tessa sich wieder in die kleine Küche in New York zurückversetzt — umgeben vom köstlichen Duft warmen Gebäcks und dem leisen Lachen ihrer Tante, die sie und Nate gutmütig tadelte, weil sie beide zu viel Lärm machten.

Nate löste sich als Erster aus der Umarmung und betrachtete seine Schwester von Kopf bis Fuß. »Du meine Güte, Tessie, du siehst so verändert aus ...«

Ein Schauer durchzuckte Tessas Körper. »Wie meinst du das?« Nachdenklich, fast geistesabwesend tätschelte er ihre Wange. »Älter«, sagte er schließlich.

»Dünner. Als ich aus New York fortging, warst du ein kleines, pausbäckiges Mädchen, stimmt’s? Oder habe ich dich vielleicht nur so in Erinnerung?«

Während Tessa ihm versicherte, dass sie immer noch dieselbe kleine Schwester war, die er immer gekannt hatte, beschäftigte sich ihr Geist bereits mit einer anderen Frage. Besorgt musterte sie ihren Bruder:

Er wirkte zwar nicht mehr so aschfahl wie zuvor, war aber noch immer ziemlich blass und die Blutergüsse im Gesicht und am Hals schillerten in allen Farben.

»Nate ...«

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, beruhigte er sie, als er die Sorge in ihren Augen bemerkte.

»Doch, das ist es sehr wohl. Du solltest im Bett liegen und dich ausruhen«, widersprach Tessa. »Was, um Himmels willen, tust du hier?«

»Ich hab versucht, dich zu finden — schließlich wusste ich doch, dass du hier irgendwo sein musstest. Ich hab dich gesehen, bevor mich dieser alte Mistkerl mit den fehlenden Augen in die Finger bekommen hat. Also bin ich davon ausgegangen, dass sie dich ebenfalls gefangen halten, und wollte deshalb versuchen, uns beide hier rauszubringen.«

»Gefangen halten? Nein, Nate, da täuschst du dich.« Tessa schüttelte den Kopf. »Wir sind hier in Sicherheit.«

Nathaniel musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Dies ist doch das Institut, oder etwa nicht? Man hat mich vor diesem Ort gewarnt. De Quincey sagte, es würde von Geistesgestörten geführt, von Monstern, die sich selbst als Nephilim bezeichnen. Er sagte, sie würden die Seelen menschlicher Verdammter in irgendeinem Behältnis einsperren und diese würden vor Qual schreien ...«

»Was? Meinst du die Pyxis? Sie dient nur zur sicheren Aufbewahrung von Dämonenenergie, Nate, enthält aber keine Menschenseelen! Das Gefäß ist vollkommen harmlos. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir später zeigen, in der Waffenkammer ...«

Nate zog weiterhin eine finstere Miene. »De Quincey sagte, wenn die Nephilim mich in die Finger bekämen, würden sie mich in der Luft zerfetzen, Stück für Stück, weil ich gegen ihre Gesetze verstoßen habe«, stieß er düster hervor.

Ein eisiger Schauer jagte Tessa über den Rücken. Sie trat einen Schritt zurück und sah, dass eines der Salonfenster weit offen stand und die Vorhänge in der kalten Brise flatterten. Dann hatte sie also nicht nur vor Anspannung gefröstelt. »Hast du das Fenster geöffnet? Hier drin ist es so furchtbar kalt, Nate.«

»Nein — es stand bereits offen, als ich hereinkam.«

Kopfschüttelnd durchquerte Tessa den Raum und schloss das Fenster. »Du wirst dir noch den Tod holen ...«

»Kümmere dich nicht um meinen Tod«, erwiderte Nate gereizt. »Was ist mit diesen Schattenjägern? Willst du mir ernsthaft sagen, dass sie dich nicht hier eingesperrt haben?«

»Ja, genau so ist es«, bestätigte Tessa und wandte sich vom Fenster ab. »Sie halten mich nicht gefangen. Die Schattenjäger mögen etwas seltsam sein, aber sie waren auch sehr freundlich zu mir. Ich wollte hierbleiben. Und sie waren so großzügig, mir dies zu gestatten.«

Nate schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«

Tessa verspürte einen Anflug von Wut, was sie überraschte. Entschlossen unterdrückte sie ihre Verärgerung — das Ganze war nicht Nates Schuld. Es gab so viele Dinge, die er nicht wissen konnte. »Wohin hätte ich mich sonst wenden sollen, Nate?«, fragte sie, trat auf ihn zu, nahm ihn behutsam am Arm und führte ihn zu seinem Sessel zurück. »Komm, setz dich. Du verausgabst dich zu sehr.«

Folgsam ließ Nate sich in den Sessel sinken und schaute sie geistesabwesend an. Tessa kannte diesen Blick: Er bedeutete, dass ihr Bruder etwas ausheckte, irgendeinen verrückten Plan schmiedete, einen lächerlichen Traum träumte. »Wir können noch immer von hier verschwinden«, sinnierte er. »Nach Liverpool reisen ... uns auf einem Ozeandampfer einen Platz buchen. Und nach New York zurückkehren.«

»Und was genau machen wir dann dort?«, erwiderte Tessa so sanft wie nur möglich. »In New York gibt es für uns kein Zuhause mehr. Nicht seit Tante Harriets Tod. Ich war gezwungen, sämtliches Mobiliar zu verkaufen, um die Bestattungskosten bezahlen zu können. Und auch ihr kleines Häuschen musste ich aufgeben — mir fehlte das Geld für die Miete. Es ist nichts mehr da, wohin wir zurückkehren könnten, Nate.«

»Dann schaffen wir uns ein neues Zuhause. Beginnen ein neues Leben.«

Traurig musterte Tessa ihren Bruder. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen — mit flehentlicher Hoffnung in den Augen, blauen Blutergüssen im Gesicht, die sich wie unansehnliche Blüten entfalteten, und blutverkrusteten Haaren. Nate war nicht wie andere Menschen, hatte Tante Harriet stets zu sagen gepflegt. Er strahlte eine wundervolle Unschuld aus, die es unter allen Umständen zu bewahren galt.

Und Tessa hatte sich wirklich bemüht, viele Jahre lang. Ihre Tante und sie hatten Nates Charakterschwäche — und auch die Folgen seiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen — immer vor ihm selbst verborgen. Sie hatten ihm nie davon erzählt, welch harte Arbeit Tante Harriet zusätzlich annehmen musste, um das Geld, das er verspielte, wieder hereinzuholen. Oder von den Verhöhnungen, die Tessa erdulden musste, wenn andere Kinder ihren Bruder einen Trunkenbold und Nichtsnutz schimpften. Die beiden Frauen hatten all diese Dinge vor ihm geheim gehalten, um zu vermeiden, dass Nathaniel verletzt wurde. Doch nun war er trotz allem verletzt worden, überlegte Tessa. Vielleicht hatte Jem ja recht — vielleicht war die Wahrheit doch der beste Weg.

Nachdenklich setzte Tessa sich ihrem Bruder gegenüber auf ein Sofa und schaute ihn ruhig an. »Das wird uns nicht gelingen, Nate. Noch nicht. Dieser Schlamassel, in dem wir beide stecken, wird uns verfolgen, selbst wenn wir vor ihm davonlaufen. Und wenn wir davonlaufen, werden wir auf uns allein gestellt sein, sobald er uns findet. Es wird niemand da sein, der uns helfen oder gar beschützen könnte. Wir brauchen das Institut, Nate. Wir brauchen die Nephilim.«

Nates blaue Augen trübten sich. »Scheint so«, sagte er resigniert und der Ausdruck wirkte auf Tessa, die seit fast zwei Monaten nur britische Stimmen gehört hatte, so uramerikanisch, dass sie sofort einen heftigen Anflug von Heimweh verspürte. »Es ist alles meine Schuld — nur deswegen bist du jetzt hier«, fuhr Nate fort. »De Quincey hat mich gefoltert. Hat mich gezwungen, diese Briefe zu schreiben und dir den Fahrschein für das Dampfschiff zu schicken. Er hat mir versichert, er würde dir kein Haar krümmen, wenn er dich erst einmal bei sich hätte. Aber dann hat er jede meiner Bitten, dich endlich zu treffen, abgelehnt und ich dachte ... ich dachte ...« Er verstummte, hob den Kopf und sah sie niedergeschlagen an. »Du hast allen Grund, mich von ganzem Herzen zu hassen.«

»Ich könnte dich niemals hassen«, erwiderte Tessa mit fester Stimme. »Du bist mein Bruder. Wir sind eine Familie.«

»Meinst du, dass wir nach Hause zurückkehren können, wenn das alles vorbei ist?«, fragte Nate.

»Dass wir all das hier vergessen und ein ganz normales Leben führen können?«

Ein ganz normales Leben führen. Die Worte ließen vor Tessas innerem Auge ein Bild entstehen, das sie und Nate in einer kleinen, sonnigen Wohnung zeigte. Nate könnte sich eine Anstellung suchen, sie würde sich um den Haushalt kümmern, und wenn er abends nach Hause kam, würde sie für ihn kochen. Und am Wochenende könnten sie im Park spazieren gehen oder den Zug nach Coney Island nehmen und Karussell fahren oder sich von dem dampfbetriebenen Aufzug auf die Aussichtsplattform des Iron Tower transportieren lassen und das Feuerwerk über den Dächern des Manhattan Beach Hotel beobachten. Und tagsüber würde die Sonne sommerlich warm scheinen und nicht so blass und wolkenverhangen wie hier in London, überlegte Tessa. Und sie selbst könnte ein ganz normales Mädchen sein, die Nase in ihre Bücher stecken und mit beiden Beinen sicher auf dem vertrauten Pflaster ihrer Heimatstadt New York stehen.

Doch sosehr sie sich auch bemühte, diese Vorstellung in ihrem Kopf festzuhalten — das Bild zerfiel langsam, zerriss wie eine Spinnwebe, die man mit beiden Händen anzuheben versucht. Und dann sah sie Will vor sich und Jem und Charlotte und sogar Magnus Bane: Armes Ding. Jetzt, da Sie die Wahrheit kennen, führt kein Weg mehr zurück.

»Aber wir sind nicht normal«, sagte Tessa. »Ich bin nicht normal. Und das weißt du ganz genau, Nate.«

Betreten schaute er zu Boden. »Ich weiß«, murmelte er, blickte wieder auf und wedelte hilflos mit der Hand. »Dann stimmt es also. Du bist wirklich das, was de Quincey behauptet hat: mit magischen Fähigkeiten ausgestattet. Er sagte, du würdest die Fähigkeit besitzen, deine Gestalt zu ändern, Tessie ... dich in jede andere Person verwandeln können.«

»Hast du ihm denn geglaubt? Es entspricht zwar der Wahrheit — oder beinahe, um genau zu sein —, aber ich habe es anfangs selbst kaum glauben können. Das Ganze ist so merkwürdig ...«

»Ich habe schon viel merkwürdigere Dinge gesehen«, erwiderte Nathaniel mit Grabesstimme. »Oh Gott, eigentlich hätte ich derjenige sein sollen.«

Tessa runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Doch bevor ihr Bruder antworten konnte, schwang die Tür auf.

»Miss Gray?«, fragte Thomas, mit einem entschuldigenden Ausdruck in den Augen. »Miss Gray, der junge Mr Herondale ist ...«

»Der junge Mr Herondale ist schon da!«, verkündete Will und schlängelte sich geschickt an Thomas vorbei, trotz der massiven Gestalt des Dienstboten. Er trug noch dieselbe Kleidung wie am Abend zuvor, die inzwischen einen stark verknitterten Eindruck machte. Tessa fragte sich, ob er vielleicht die ganze Nacht im Sessel an Jems Bett verbracht hatte. Graublaue Schatten lagen unter seinen Augen und er wirkte erschöpft, doch aus seinem Blick sprach etwas anderes — Erleichterung oder doch eher Belustigung? Tessa vermochte es nicht zu sagen. Dann schaute er zu Nate hinüber. »Unser Wandervogel ist ins Nest zurückgekehrt«, bemerkte er. »Thomas behauptet, Sie hatten sich hinter dem Vorhang versteckt?«

Lustlos musterte Nate den jungen Schattenjäger.

»Und wer sind Sie?«

Rasch stellte Tessa die beiden einander vor, doch keiner der jungen Männer schien über diese Begegnung besonders erfreut zu sein: Nate sah noch immer so aus, als würde er jeden Moment sterben, und Will musterte Nate mit einem Blick, als handelte es sich bei ihm um eine neue wissenschaftliche Entdeckung — allerdings keine allzu einnehmende.

»Dann sind Sie also ein Schattenjäger«, sagte Nate.

»De Quincey hat mir erzählt, dass die Nephilim wahre Monster seien.«

»War das bevor oder nachdem er versucht hat, seinen Hunger an Ihnen zu stillen?«, fragte Will interessiert.

Hastig erhob Tessa sich von ihrem Sofa. »Will, könnte ich dich vielleicht einen Moment draußen im Flur sprechen?«

Falls sie mit Widerstand gerechnet hatte, wurde sie jedoch enttäuscht: Nach einem letzten feindseligen Blick in Nates Richtung nickte Will, folgte ihr schweigend in den Korridor und zog die Salontür hinter sich ins Schloss.

Die Elbenlichter im fensterlosen Flur erzeugten klar umrissene helle Lichtkegel, die sich jedoch nicht überschnitten. Will und Tessa standen im Schatten zwischen zwei Lichtinseln und musterten einander — misstrauisch wie zwei angriffslustige Katzen, die einander in einer düsteren Gasse umkreisen, dachte Tessa.

Will brach als Erster das unbehagliche Schweigen.

»Nun denn, du hast mich dort, wo du mich haben wolltest — allein in einem dunklen Korridor ...«

»Ganz richtig«, erwiderte Tessa von oben herab,

»und Tausende von Frauen in ganz England würden ein Vermögen für solch ein einmaliges Privileg zahlen. Können wir die Zurschaustellung deines Esprits vielleicht einen Moment außer Acht lassen? Hier geht es um Wichtigeres.«

»Du willst, dass ich mich entschuldige, stimmt’s?«, fragte Will. »Für das, was auf dem Speicher vorgefallen ist, hab ich recht?«

Vollkommen überrumpelt blinzelte Tessa ihn an.

»Auf dem Speicher?«

»Du willst hören, dass es mir leidtut, dass ich dich geküsst habe.«

Bei seinen Worten kehrte die Erinnerung an diesen Moment mit unerwarteter Klarheit zurück — Tessa glaubte fast, Wills Finger wieder in ihren Haaren zu spüren, die Berührung seiner Hand an ihrem Handgelenk, seine Lippen auf ihren.

Im nächsten Augenblick fühlte sie, wie sie feuerrot anlief, und hoffte inständig, dass ihre glühenden Wangen im dämmrigen Licht nicht zu erkennen waren. »Was? Nein. Nein!«, erwiderte sie bestürzt.

»Dann willst du also nicht, dass es mir leidtut«, bemerkte Will mit einem kleinen sardonischen Lächeln — die Sorte von Lächeln, die sich manchmal auf das Gesicht eines kleinen Kindes stiehlt, kurz bevor es seine Burg aus Bauklötzen mit einer raschen Handbewegung vom Tisch fegt.

»Es kümmert mich nicht, ob es dir leidtut oder nicht«, entgegnete Tessa. »Das ist nicht der Grund, warum ich mit dir reden wollte. Ich möchte dich vielmehr bitten, meinem Bruder gegenüber freundlich zu bleiben. Er hat Schreckliches durchgemacht und muss nun wirklich nicht wie ein Verbrecher ins Kreuzverhör genommen werden.«

Will formulierte seine Antwort deutlich ruhiger, als Tessa erwartet hätte: »Das verstehe ich durchaus. Aber wenn er irgendetwas vor uns verbirgt ...«

»Jeder verbirgt irgendetwas!«, platzte Tessa zu ihrer eigenen Überraschung heraus. »Es gibt Dinge, von denen ich weiß, dass er sich dafür schämt. Aber das bedeutet nicht, dass diese notwendigerweise auch für dich von Belang wären. Schließlich ist es doch nicht so, als ob du allen alles erzählst, oder?«

Will musterte sie argwöhnisch. »Worauf willst du hinaus?«

Was ist mit deinen Eltern, Will? Warum hast du dich geweigert, mit ihnen zu sprechen? Warum gibt es für dich außer dem Institut keinen anderen Ort auf der Welt, wohin du dich wenden kannst? Und warum hast du mich auf dem Speicher fortgeschickt? Doch Tessa stellte keine dieser Fragen, sondern erwiderte nur:

»Was ist mit Jem? Warum hast du mir nicht erzählt, wie krank er wirklich ist?«

Jem?« Wills Überraschung wirkte echt. »Er wollte nicht, dass ich darüber rede. Denn er betrachtet die Angelegenheit als seine Privatsache — was sie ja auch ist. Und sicherlich erinnerst du dich, dass ich nicht besonders erbaut darüber war, als er dir von seiner Krankheit berichtet hat. Er dachte, er wäre dir eine Erklärung schuldig, aber das ist völliger Unsinn. Jem schuldet niemandem etwas. An dem, was ihm widerfahren ist, hatte er nicht die geringste Schuld und dennoch lastet seine Krankheit schwer auf seinen Schultern und er schämt sich dafür ...«

»Es gibt nichts, weswegen er sich schämen müsste.«

»Das magst du so sehen. Aber andere machen keinen Unterschied zwischen seiner Krankheit und einer klassischen Sucht und verachten ihn wegen seiner vermeintlichen Schwäche. Als könnte er die Einnahme des Mittels einfach so einstellen, wenn er nur genügend Willenskraft besäße.« Will klang überraschend bitter. »Manche haben ihm das sogar direkt ins Gesicht gesagt. Und ich wollte nicht, dass er etwas Derartiges auch von dir zu hören bekommt.«

»So etwas hätte ich niemals gesagt.«

»Woher sollte ich wissen, was du vielleicht sagen würdest?«, erwiderte Will. »Schließlich kenne ich dich nicht besonders gut, Tessa, oder? Jedenfalls nicht mehr, als du mich kennst.«

»Du willst doch gar nicht, dass irgendjemand dich besser kennenlernt«, schnappte Tessa. »Und ich kann dir versichern, ich werde es auch nicht länger versuchen. Aber tu nicht so, als ob Jem genauso wäre wie du. Vielleicht möchte er ja sogar, dass andere Menschen erfahren, wer er wirklich ist.«

»Das solltest du besser lassen«, sagte Will, dessen blaue Augen sich verdüsterten. »Bilde dir nur nicht ein, du würdest Jem besser kennen als ich.«

»Wenn dir so viel an ihm liegt, warum unternimmst du dann nicht etwas, um ihm zu helfen? Warum suchst du nicht nach einem Heilmittel?«, konterte Tessa.

»Glaubst du ernsthaft, wir hätten nicht danach gesucht? Denkst du, Charlotte hätte keine intensiven Nachforschungen angestellt und Henry nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt? Meinst du wirklich, wir hätten nicht zig Hexenmeister bemüht, für jede Information gezahlt und etliche um Gefälligkeiten gebeten? Glaubst du etwa, Jems drohender Tod wäre eine Tatsache, die wir alle einfach so hinnehmen, ohne auch nur im Geringsten dagegen anzukämpfen?«, hielt Will entgegen.

»Jem hat mir gesagt, er habe euch alle gebeten, die Suche einzustellen«, erwiderte Tessa ruhig, obwohl sie Wills Wut spüren konnte. »Und ihr habt seinem Wunsch entsprochen — stimmt das etwa nicht?«

»Das hat er dir erzählt?«

»Habt ihr die Suche aufgegeben?«

»Da gibt es nichts zu suchen, Tessa. Es existiert kein Heilmittel.«

»Das weißt du doch gar nicht. Ihr könntet einfach weiterhin Ausschau halten, Jem aber nichts davon erzählen. Vielleicht findet sich ja doch ein Weg. Selbst die geringste Möglichkeit ...«

Will hob die Augenbrauen. Das flackernde Elbenlicht betonte seine hervortretenden Wangenknochen und die tiefen Schatten unter seinen Augen. »Dann meinst du also, wir sollten seinen Wunsch missachten?«

»Ich meine: Ihr solltet alles in eurer Macht Stehende versuchen — selbst wenn das bedeutet, dass ihr ihn anlügen müsst. Ich meine: Ich begreife einfach nicht, wieso ihr seinen drohenden Tod einfach so akzeptiert.«

»Und ich meine, du begreifst nicht, dass einem manchmal nur die Wahl zwischen Akzeptanz und Wahnsinn bleibt.«

Plötzlich räusperte sich jemand hinter Will und Tessa. »Was ist denn hier los?«, fragte eine vertraute Stimme aus den Schatten des Flurs.

Sowohl Tessa als auch Will waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht gehört hatten, wie Jem sich ihnen genähert hatte. Will zuckte schuldbewusst zusammen, ehe er sich seinem Freund zuwandte, der die beiden mit ruhigem Interesse betrachtete. Jem war vollständig bekleidet, erzeugte aber den Eindruck, als wäre er gerade aus einem Fiebertraum erwacht: Seine Haare standen in alle Richtungen und seine Wangen leuchteten rot.

Will wirkte überrascht und nicht besonders erfreut über Jems Anwesenheit. »Was tust du hier? Wieso bist du nicht im Bett?«, fragte er leicht gereizt.

»Ich habe eben mit Charlotte in der Eingangshalle gesprochen. Sie sagte, wir würden uns alle im Salon treffen, um mit Tessas Bruder zu reden«, erklärte Jem in sanftem Ton. Sein Gesichtsausdruck ließ keinerlei Rückschlüsse darauf zu, wie viel er von Tessas und Wills Diskussion mitbekommen hatte. »Immerhin geht es mir gut genug, um anderen zuzuhören«, fügte er hinzu.

»Ah, gut, da seid ihr ja alle.« Charlotte kam durch den Korridor geeilt, dicht gefolgt von Henry, Jessamine und Sophie. Jessie hatte sich umgezogen und trug nun eines ihrer hübschesten Kleider — aus hauchdünnem blauem Musselin, wie Tessa mit einem Blick feststellte. Außerdem drückte die junge Schattenjägerin eine gefaltete Wolldecke an ihre Brust, während Sophie ein schweres Tablett mit Tee und Sandwiches balancierte.

»Ist das für Nate?«, fragte Tessa überrascht. »Der Tee und die Decke?«

Sophie nickte. »Mrs Branwell dachte, dass Ihr Bruder bestimmt hungrig wäre ...«

»Und ich dachte, dass ihm vielleicht kalt ist. Er hat letzte Nacht so fürchterlich gezittert«, warf Jessamine eifrig ein. »Sollen wir ihm die Sachen nun bringen oder nicht?«

Charlotte schaute zu Tessa, um ihre Einwilligung abzuwarten — eine Geste, die Tessa entwaffnete. Charlotte würde freundlich zu Nate sein; sie konnte gar nicht anders. »Ja, geht nur. Er erwartet euch bereits.«

»Danke, Tessa«, sagte Charlotte leise, drückte dann die Salontür auf und betrat den Raum, die anderen im Schlepptau. Als Tessa ihnen folgen wollte, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrem Arm — die Berührung war so leicht, dass sie sie fast nicht bemerkt hätte. Jem stand dicht neben ihr. »Warte«, sagte er. »Nur einen Moment.«

Aufmerksam wandte Tessa sich ihm zu. Durch die offene Salontür konnte sie leises Stimmengewirr hören — Henrys freundlichen Bariton und Jessamines eifrig bemühte Fistelstimme, die sich beinahe überschlug, als sie Nates Namen rief. »Was ist denn, Jem?«, fragte Tessa.

Jem zögerte. Seine Hand auf Tessas Arm war kühl und seine Finger fühlten sich an, als würde sie von dünnen, kalten Glasstielen berührt. Sie fragte sich, ob die Haut auf seinen geröteten, fiebrigen Wangen wohl mehr Wärme ausstrahlte.

»Aber meine Schwester ...«, drang Nates besorgte Stimme in den Flur. »Wird sie auch dabei sein? Wo ist sie?«

»Ach, nicht weiter wichtig. Es ist nichts«, erklärte Jem und ließ seine Hand mit einem beruhigenden Lächeln sinken. Tessa wunderte sich einen Moment, drehte sich dann aber um und betrat den Salon, dicht gefolgt von Jem.

Sophie kniete vor dem offenen Kamin und versuchte, ein Feuer zu entfachen. Nate saß noch immer in seinem Sessel, Jessamines Wolldecke über den Knien, während diese neben ihm auf einem herbeigerückten Stuhl thronte und vor Stolz strahlte. Henry und Charlotte hatten sich auf dem Sofa gegenüber von Nate niedergelassen und Will lehnte wie üblich an der Wand, wobei er einen gleichermaßen gereizten wie belustigten Eindruck machte.

Während Jem sich zu Will gesellte, konzentrierte Tessa ihre Aufmerksamkeit auf ihren Bruder. Seine Anspannung hatte ein wenig nachgelassen, nachdem sie den Raum betreten hatte, doch er sah noch immer erbärmlich aus und zupfte nervös an der Wolldecke. Rasch durchquerte sie den Raum und ließ sich auf dem Polsterhocker zu seinen Füßen nieder. Dabei unterdrückte sie tapfer den Drang, ihm durch die Haare zu fahren oder seine Schulter zu tätscheln — nur allzu deutlich spürte sie alle Blicke auf sich ruhen. Sämtliche Anwesenden beobachteten sie und ihren Bruder und dann wurde es so still im Salon, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.

»Nate«, setzte Tessa leise an, »ich darf annehmen, dass alle anderen sich bereits selbst vorgestellt haben?«

Nathaniel, der weiterhin an der Decke herumzupfte, nickte.

»Mr Gray«, begann Charlotte nun, »wir haben mit Mr Mortmain gesprochen. Er hat uns viel über Sie erzählt, beispielsweise über Ihre Schwäche für die Schattenwelt und darüber, dass Sie Glücksspiele aller Art lieben.«

»Charlotte«, protestierte Tessa.

Nate seufzte und erwiderte mit schwerer Stimme:

»Sie hat recht, Tessie.«

»Niemand gibt deinem Bruder die Schuld an dem, was geschehen ist, Tessa«, erklärte Charlotte. Dann wandte sie sich in sanftem Ton wieder an Nate:

»Mortmain sagte, Sie hatten bei Ihrer Ankunft in London bereits Kenntnis von seinen Verwicklungen in okkulte Machenschaften. Woher wussten Sie, dass er dem Pandemonium Club angehört?«

Nate zögerte.

»Mr Gray, wir versuchen einfach zu verstehen, was genau Ihnen widerfahren ist. Und warum de Quincey sich so für Sie interessiert. Ich weiß, Sie sind nicht wohlauf, und ich hege ganz gewiss nicht den Wunsch, Sie einem grausamen Verhör zu unterziehen. Aber wenn Sie uns nur ein paar Informationen liefern könnten, wäre das für uns von unschätzbarem Wert ...«

»Ich habe durch Tante Harriets Nähkästchen davon erfahren«, sagte Nate mit leiser Stimme.

Tessa blinzelte verwundert. »Woher?«

»Du erinnerst dich doch bestimmt, dass Tante Harriet Mutters alte Schmuckschatulle auf dem Nachttisch an ihrem Bett hütete, oder?«, fuhr er fort. »Sie hat immer behauptet, sie würde darin ihre Nähutensilien aufbewahren, aber ich ...« Nate holte tief Luft und schaute Tessa verlegen an. »Damals war ich hoch verschuldet. Ich hatte ein paar unbesonnene Wetten platziert, viel Geld verloren und konnte meine Schulden nicht begleichen. Aber ich wollte nicht, dass du oder Tante Harriet davon erfahrt. Nach langem Grübeln erinnerte ich mich an ein Goldarmband, das Mutter früher immer getragen hatte. Irgendwie hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, dass das Armband noch in der Schmuckschatulle sein musste und dass Tante Harriet nur zu halsstarrig war, es zu veräußern. Du weißt ja, wie sie ist — wie sie war. Jedenfalls ließ mich der Gedanke einfach nicht mehr los. Ich wusste, wenn ich das Armband versetzte, konnte ich mit dem dafür erhaltenen Geld all meine Schulden bezahlen. Also bin ich eines Tages, als ihr beide nicht im Haus wart, in Tante Harriets Schlafzimmer gegangen, habe mir das Kästchen gegriffen und es durchsucht.

Natürlich lag das Armband nicht mehr darin. Aber ich stieß auf ein Geheimfach im Boden der Schatulle, in dem sich nichts von besonderem Wert befand ... nur ein Bündel alter Dokumente. Als ich hörte, wie du die Treppe hinaufkamst, habe ich mir das Bündel gepackt und mit in mein Zimmer genommen.« Nate hielt inne. Sämtliche Augen waren auf ihn geheftet.

Nach einem kurzen Moment konnte Tessa sich nicht länger zurückhalten: »Und?«

»Bei den Dokumenten handelte es sich um Seiten aus Mutters Tagebuch«, fuhr Nate schließlich fort.

»Sie waren aus ihrem ursprünglichen Einband herausgerissen worden. Zwar fehlten einige Blätter, doch der Rest reichte, um mir die Zusammenhänge einer sehr seltsamen Begebenheit zusammenzureimen.

Die Geschichte begann, als unsere Eltern noch in London lebten. Vater war viel außer Haus — er hatte eine Stelle in Mortmains Verwaltungsbüro unten in den Docks angenommen — und so hatte Mom nur Tante Harriet, die ihr Gesellschaft leistete, und mich, um sie rund um die Uhr zu beschäftigen. Damals war ich gerade erst auf die Welt gekommen. Das Ganze ging so lange gut, bis Vater immer häufiger zutiefst besorgt abends nach Hause zurückkehrte. Er berichtete von seltsamen Vorgängen an seinem Arbeitsplatz, von Maschinenteilen mit merkwürdigen Funktionsstörungen, von Geräuschen zu später Abendstunde und von einem Wachmann, der eines Nachts spurlos verschwand. Außerdem ging das Gerücht um, dass Mortmain in okkulte Machenschaften verstrickt sei.«

Nate klang, als handelte es sich bei seinem Bericht um etwas, das er selbst erlebt hatte. »Zunächst ignorierte Vater das Gerede, doch schließlich erzählte er Mortmain davon, der daraufhin alles eingestand. Aus Mutters Aufzeichnungen schloss ich, dass dieser das Ganze als ziemlich harmlos darstellte — so als würde er sich nur zum Zeitvertreib mit Zauberformeln, Pentagrammen und derlei Dingen beschäftigten. Er bezeichnete die Organisation, der er angehörte, als den ›Pandemonium Club‹ und lud Vater ein, ihn zu einer der Zusammenkünfte zu begleiten — und Mutter ebenfalls mitzubringen.«

»Mutter mitzubringen? Aber das kann Vater doch nicht ernsthaft gutgeheißen haben ...«

»Vermutlich nicht. Andererseits muss Vater — mit einer jungen Frau und einem kleinen Kind — einiges daran gelegen gewesen sein, seinen Arbeitgeber nicht zu brüskieren. Deshalb willigte er schließlich ein.«

»Er hätte zur Polizei gehen sollen ...«, protestierte Tessa.

»Ein wohlhabender Mann wie Mortmain hatte die Polizei wahrscheinlich fest in der Tasche«, warf Will ein. »Wenn dein Vater zur Polizei gegangen wäre, hätte man ihn dort bestimmt nur ausgelacht.«

Nathaniel schob sich die Haare zurück; Schweißperlen standen auf seiner Stirn und mehrere Strähnen klebten an seiner verschwitzten Haut. »Mortmain sorgte dafür, dass eine Kutsche unsere Eltern zu später Abendstunde abholte, damit keiner der Nachbarn etwas davon mitbekam. Die Kutsche brachte die beiden zu Mortmains Stadthaus. Danach fehlen ein paar Seiten aus Mutters Tagebuch — und auch auf den darauf folgenden Blättern finden sich keine Informationen darüber, was in jener Nacht geschah. Ich konnte Mutters Notizen nur entnehmen, dass dies zwar der erste, aber nicht der letzte Besuch gewesen war: Im Laufe der nächsten Monate nahmen sie noch mehrmals an den Zusammenkünften des Pandemonium Club teil. Offenbar hat Mutter diese Treffen gehasst; trotzdem besuchten sie den Club noch eine ganze Weile, bis sich die Lage schlagartig änderte. Allerdings kann ich nicht sagen, was die Ursache für diese Veränderung war — die wenigen Seiten in Mutters Tagebuch ließen keine genauen Schlüsse zu. Ich konnte lediglich herauslesen, dass ihre Abreise aus London bei Nacht und Nebel erfolgte, dass sie niemandem davon erzählten und auch keine Nachsendeadresse hinterließen. Für die Nachbarn mussten sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen sein. Doch der Grund für all diese Heimlichtuerei war in Mutters Notizen nicht zu finden ...« Ein trockener Hustenanfall unterbrach Nathaniels Ausführungen.

Sofort griff Jessamine nach der Teekanne, die Sophie auf einem Beistelltisch platziert hatte, und drückte Nate eine Tasse Tee in die Hand. Dabei bedachte sie Tessa mit einem bedeutungsvollen, überlegenen Blick, als wollte sie unterstreichen, dass Tessa eigentlich als Erste auf diesen Gedanken hätte kommen müssen.

Nachdem Nate seinen Husten mit einem Schluck Tee bekämpft hatte, fuhr er fort: »Der Fund von Mutters Tagebuchnotizen kam mir vor, als wäre ich auf eine Goldmine gestoßen. Von Mortmain hatte ich bereits gehört. Und ich wusste, dass er zwar sehr exzentrisch, aber eben auch steinreich war. Also schrieb ich ihm und erklärte ihm in meinem Brief, dass ich Nathaniel Gray sei, der Sohn von Richard und Elizabeth Gray. Und dass beide Eltern tot seien und ich im Nachlass meiner Mutter mehrere Dokumente gefunden hätte, die seine okkulten Aktivitäten beweisen würden. Zusätzlich gab ich ihm zu verstehen, dass ich es kaum erwarten könne, ihn kennenzulernen und mit ihm über eine mögliche Anstellung zu sprechen. Und falls er sich für eine Begegnung nicht gleichermaßen erwärmen wolle, würden mir sofort mehrere Zeitungen einfallen, die sich für das Tagebuch meiner Mutter bestimmt brennend interessieren würden.«

»Das war geschäftstüchtig«, bemerkte Will beinahe beeindruckt.

Nate lächelte, doch Tessa warf ihm einen wütenden Blick zu: »Schau nicht so selbstgefällig. Wenn Will ›geschäftstüchtig‹ sagt, meint er ›moralisch verwerflich‹.«

»Nein, ich meine ›geschäftstüchtig«‹, widersprach Will. »Wenn ich ›moralisch verwerflich‹ gemeint hätte, hätte ich gesagt: ›Also, das ist etwas, das ich getan hätte.‹«

»Das reicht jetzt, Will«, unterbrach Charlotte das Geplänkel. »Lass Mr Gray bitte seine Geschichte zu Ende erzählen.«

»Als ich diesen Brief an Mortmain schickte, nahm ich an, er würde mir vermutlich Geld senden, um mein Schweigen zu erkaufen«, fuhr Nate fort. »Stattdessen erhielt ich kurze Zeit später einen Erste-KlasseFahrschein für die Überfahrt nach London und ein offizielles Angebot für eine Stelle, die ich bei meiner Ankunft sofort antreten konnte. Nach kurzem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass dies eine gute Sache sei, und nahm mir zum ersten Mal in meinem Leben vor, das Ganze ausnahmsweise nicht zu vermasseln.

Als ich in London eintraf, fuhr ich sofort zu Mortmains Haus, wo man mich in sein Arbeitszimmer geleitete. Er begrüßte mich aufs Herzlichste und sagte, er freue sich außerordentlich, mich endlich kennenzulernen, und wie sehr ich meiner lieben verstorbenen Mutter ähneln würde. Dann wurde er ernst: Er bat mich, Platz zu nehmen, und erzählte mir, er habe meine Eltern immer sehr gemocht. Und es hätte ihn wirklich geschmerzt, als sie England verließen. Von ihrem Tod habe er erst aus meinem Brief erfahren. Und selbst wenn ich mit meinem Wissen doch noch an die Öffentlichkeit gehen wolle, würde er — schon allein um der alten Freundschaft willen — mir frohen Herzens eine Stelle anbieten und auch sonst alles in seiner Macht Stehende tun, um mir zu helfen.

Daraufhin erklärte ich Mortmain, dass sein Geheimnis bei mir sicher sei — sofern er mich zu einer der Zusammenkünfte des Pandemonium Club mitnehmen würde. Schließlich sei er es mir schuldig, mir genau das zu zeigen, was er auch meinen Eltern gezeigt habe. In Wahrheit hatte die Erwähnung des Spielsalons in Mutters Tagebuch mein Interesse geweckt. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Gruppe von Männern, die dumm genug waren, an Magie und Teufelswerk zu glauben. Sicherlich konnte es nicht allzu schwer sein, diesen Narren ein wenig Geld abzuknöpfen.« Nate schloss einen Moment die Augen und fuhr dann fort:

»Mortmain willigte widerstrebend ein, mich mitzunehmen. Vermutlich blieb ihm keine andere Wahl. An jenem Abend fand die Zusammenkunft in de Quinceys Stadtvilla statt. Doch in dem Moment, in dem sich die Haustür öffnete, wusste ich sofort, dass ich der Narr gewesen war. Hier traf sich keine Gruppe von Amateuren, die sich ein wenig mit Spiritismus beschäftigte — dies war die Verborgene Welt, die meine Mutter in ihrem Tagebuch nur andeutungsweise erwähnt hatte. Dies war real. Ich kann meine Bestürzung beim Anblick der Gäste kaum in Worte fassen: Groteske Gestalten aller Art füllten die Räume. Die Dunklen Schwestern saßen am Spieltisch und warfen mir über die Whist-Karten in ihren Krallen lüsterne Blicke zu. Frauen mit weiß gepuderten Gesichtern und schneeweißen Schultern lächelten mich an, während Blut aus ihren Mundwinkeln tropfte. Kleine Kreaturen, deren Augen beständig die Farbe wechselten, huschten über den Boden. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass all diese Wesen wirklich existierten — was ich Mortmain gegenüber dann auch erwähnte.

›Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Nathaniel‹, erwiderte er.

Nun, dieses Zitat kannte ich von dir, Tessa. Du hast mir ja immer aus Shakespeares Werken vorgelesen und manchmal habe ich sogar zugehört. Ich wollte Mortmain gerade auffordern, sich nicht über mich lustig zu machen, als ein Mann zu uns trat. Mortmain erstarrte vor Anspannung, so als wäre dieser Mann jemand, den er sehr fürchtete. Dann stellte er mich als Nathaniel vor, seinen neuen Mitarbeiter, und verriet mir im Gegenzug den Namen des Gastgebers: de Quincey.

Als de Quincey mir ein höfliches Lächeln schenkte, wusste ich sofort, dass er kein Mensch war. Noch nie zuvor hatte ich einen leibhaftigen Vampir gesehen, mit der totenbleichen Haut und den spitzen Zähnen, die beim Lächeln zum Vorschein traten. Ich glaube, ich habe ihn einfach nur angestarrt. ›Mortmain, Sie verschweigen mir schon wieder etwas‹, näselte de Quincey. ›Dieser junge Mann ist bedeutend mehr als nur ein neuer Mitarbeiter. Dies ist Nathaniel Gray, der Sohn von Elizabeth und Richard Gray.‹

Mortmain schaute ihn verblüfft an und stammelte irgendetwas, woraufhin de Quincey leise lachte. ›Mir kommt so manches zu Ohren, Axel‹, erwiderte er und wandte sich dann erneut an mich. ›Ich habe Ihren Vater gekannt. Er war mir sehr ans Herz gewachsen‹, teilte er mir mit. ›Vielleicht hätten Sie ja Lust, mich auf eine Partie Karten zu begleiten?‹

Mortmain, der einen Schritt hinter de Quincey stand, schüttelte hastig den Kopf, doch ich hatte bereits beim Betreten des Hauses den Kartensaal entdeckt und es zog mich zu den Spieltischen wie die Motte zum Licht. Also verbrachte ich die darauffolgenden Stunden beim Pharao und spielte gegen einen Vampir, zwei Werwölfe und einen haarigen Hexenmeister. In jener Nacht habe ich ordentlich Zaster gemacht — viel Geld gewonnen — und reichlich getrunken, vor allem diese farbenfrohen, moussierenden Getränke, die freigiebig auf Silbertabletts gereicht wurden. Irgendwann nahm Mortmain seinen Hut und ging, doch das kümmerte mich nicht. Ich verließ die Villa erst bei Anbruch der Morgendämmerung, in unbändiger Ausgelassenheit — und mit de Quinceys Einladung, jederzeit in den Club zurückzukehren, wann immer es mich danach gelüstete.

Natürlich war ich ein Narr. Ich empfand nur deswegen ein solches Hochgefühl, weil der Schaumwein mit einem Hexentrank versetzt gewesen war, einem süchtig machenden Stoff. Und selbstverständlich hatte ich nur deshalb gewonnen, weil man es mir gestattet hatte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich bereits am nächsten Abend zurückkehrte, ohne Mortmain, und von da an Nacht für Nacht. Zunächst gewann ich, regelmäßig und beständig. Nur dadurch — und ganz gewiss nicht aufgrund meiner Anstellung bei Mortmain — war ich in der Lage, Tante Harriet und dir Geld nach Hause zu schicken, Tessie. Abgesehen davon, dass ich nur noch unregelmäßig im Büro aufkreuzte, konnte ich mich auch kaum auf meine Arbeit konzentrieren, nicht einmal auf die einfachsten Aufgaben. Meine Gedanken kreisten den ganzen Tag nur darum, dass ich am Abend in den Club zurückkehren würde, um noch mehr perlende Getränke zu mir zu nehmen und noch mehr Geld zu gewinnen.

Und dann, eines Abends, endete meine ›Glückssträhne‹: Ich verlor. Und je mehr ich verlor, desto verzweifelter versuchte ich, das verlorene Geld zurückzugewinnen. De Quincey schlug vor, ich solle auf Pump spielen, also lieh ich mir Geld. Von da an ging ich überhaupt nicht mehr ins Büro — ich verschlief die Tage und spielte jede Nacht hindurch. Und ich verlor alles, was ich besaß.« Nates Stimme klang weit entfernt. »Als ich deinen Brief mit der Nachricht von Tante Harriets Tod erhielt, Tessa, dachte ich, dies sei eine Strafe Gottes, eine Ahndung meines Verhaltens. Am liebsten wäre ich sofort zum Fahrkartenschalter gelaufen und hätte noch für denselben Tag einen Fahrschein für die Rückfahrt nach New York gekauft, doch ich besaß keinen roten Heller mehr. Verzweifelt kehrte ich in den Club zurück — unrasiert, elendig und mit blutunterlaufenen Augen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Mann, der den absoluten Tiefpunkt erreicht hat — denn genau in diesem Moment unterbreitete de Quincey mir ein Angebot: Er zog mich in ein Hinterzimmer und eröffnete mir, dass ich dem Club inzwischen so viel Geld schuldete, dass ich es unmöglich zu Lebzeiten zurückzahlen konnte. Das Ganze schien ihn ungemein zu amüsieren, diesen Teufel. Während er sich ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel schnippte und mich mit seinen spitzen Nadelzähnen angrinste, fragte er, was ich denn zu geben bereit wäre, um meine Schulden zu begleichen. ›Alles!‹, erwiderte ich. Und dann sagte er: ›Auch Ihre Schwester?‹«

Tessa spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten und sich sämtliche Blicke auf sie hefteten. »Was ... was hat er über mich gesagt?«

»Ich war vollkommen überrumpelt«, erklärte Nate.

»Und ich konnte mich nicht erinnern, jemals mit ihm über dich gesprochen zu haben. Aber ich war im Club oft schwer betrunken gewesen und wir hatten immer offen miteinander geredet ...« Die Teetasse in seiner zitternden Hand klapperte so heftig auf ihrer Untertasse, dass er sie mit einem deutlichen Klirren auf den Tisch stellen musste. »Natürlich habe ich ihn gefragt, was er denn mit meiner Schwester anfangen wolle. Darauf erwiderte er, er habe Grund zu der Annahme, dass eines der Kinder meiner Mutter besondere ... besondere Fähigkeiten besitze. Zunächst habe er gedacht, dass ich vielleicht derjenige sei. Doch nachdem er nun ausreichend Gelegenheit gehabt habe, mich zu beobachten, könne er mit Sicherheit feststellen: Das einzig Ungewöhnliche an mir sei meine unglaubliche Torheit.« Nates Ton klang bitter. »›Aber Ihre Schwester ... Ihre Schwester ist etwas ganz Besonderes‹, fügte er hinzu. ›Sie besitzt all jene Fähigkeiten, über die Sie nicht verfügen. Und ich hege keineswegs die Absicht, ihr irgendein Leid zuzufügen. Dafür ist sie viel zu wertvoll.‹

Ich drängte und bettelte um weitere Informationen, doch de Quincey blieb hart. Entweder lieferte ich dich ihm aus oder ich müsste sterben, sagte er. Und dann teilte er mir im Einzelnen mit, was genau ich zu tun hatte.«

Tessa atmete langsam aus. »De Quincey befahl dir, diesen Brief an mich zu schreiben. Mir den Fahrschein für die Main zu senden. Er veranlasste dich, mich nach England zu holen«, sagte sie leise.

Nates Augen flehten um Verständnis. »Er schwor, er würde dir kein Haar krümmen. Und er versicherte mir, er wolle dir lediglich beibringen, deine besonderen Fähigkeiten zu nutzen ... und du würdest mit Ruhm und Reichtum überschüttet werden, Reichtum jenseits aller Vorstellungskraft ...«

»Welch nobles Angebot«, unterbrach Will ihn.

»Schließlich gibt es nichts Wichtigeres auf der Welt als Geld.« Seine Augen funkelten vor Empörung und auch Jem wirkte nicht weniger entrüstet.

»Das ist doch nicht Nates Schuld!«, fauchte Jessamine. »Habt ihr nicht gehört, was er gesagt hat? De Quincey hätte ihn sonst getötet. Außerdem wusste er, wer Nate war ... woher er kam. Letztendlich hätte de Quincey Tessa auch ohne ihn gefunden und Nate wäre völlig umsonst gestorben.«

»Ach, das ist also deine objektive, von ethischen Grundsätzen geleitete Meinung, Jess?«, bemerkte Will. »Und die hat gewiss nichts mit der Tatsache zu tun, dass du Tessas Bruder seit seiner Ankunft permanent hinterherläufst, oder? Dir ist jeder Irdische recht, stimmt’s? Ganz gleich, wie nichtsnutzig ...«

Jessamine kreischte empört auf und sprang von ihrem Stuhl auf. Charlotte versuchte, mit erhobener Stimme zwischen die beiden zu gehen, die nun wütend aufeinander einschimpften, doch Tessa hörte gar nicht mehr zu. Ihr Blick ruhte auf Nate.

Sie hatte schon eine ganze Weile gewusst, dass ihr Bruder schwach war und dass die Charaktereigenschaft, die ihre Tante als Unschuld bezeichnet hatte, in Wahrheit nichts anderes darstellte als das kindische Verhalten eines verzogenen, bockigen Kleinkinds. Als Junge und erstgeborener Sohn und noch dazu mit attraktivem Äußeren gesegnet, war Nate stets der Prinz seines eigenen kleinen Königreichs gewesen. Tessa hatte das alles verstanden, und obwohl es eigentlich seine Aufgabe als älterer Bruder gewesen wäre, sie zu beschützen, waren tatsächlich sie und ihre Tante diejenigen gewesen, die Nate vor Schlimmerem bewahrt hatten.

Doch er war ihr Bruder und sie liebte ihn. Und wie jedes Mal, wenn es um Nate ging, erwachte der alte Beschützerinstinkt in ihr. »Jessamine hat recht«, sagte sie laut, um sich über die wütenden Stimmen im Raum verständlich zu machen. »Es hätte ihm nichts genutzt, de Quinceys Forderungen abzulehnen, und es bringt auch jetzt nichts mehr, darüber zu streiten. Jetzt geht es nur noch darum, dass wir mehr über de Quinceys Pläne erfahren. Weißt du irgendetwas darüber, Nate? Hat er dir erzählt, was er von mir wollte?«

Nathaniel schüttelte den Kopf. »Nachdem ich eingewilligt hatte, dich nach England zu holen, hat er mich in seiner Stadtvilla gefangen gehalten. Dann zwang er mich, ein Kündigungsschreiben an Mortmain zu senden — der arme Mann muss gedacht haben, dass ich ihm seine Großzügigkeit mit schlechter Münze danke. De Quincey hatte nicht vor, mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis er dich endlich in die Finger bekommen würde — ich diente als seine Rückversicherung. Er gab den Dunklen Schwestern meinen Ring, um dir zu beweisen, dass ich mich in ihrer Macht befand. Außerdem versprach er mir wieder und wieder, dass er dir kein Leid zufügen würde ... dass er die Dunklen Schwestern einfach nur angewiesen habe, dich in der Nutzung deiner Fähigkeiten zu unterrichten. Die Schwestern mussten ihm täglich von deinen Fortschritten berichten; deshalb wusste ich wenigstens, dass du noch am Leben warst.

Und da ich de Quinceys Haus ohnehin nicht verlassen konnte, habe ich nach einer Weile damit begonnen, die Machenschaften des Pandemonium Clubs genauer zu beobachten. Ich erkannte, dass die Organisation eine klar umrissene Hierarchie besaß. Die unterste Stufe bildeten diejenigen, die kaum etwas zu sagen hatten, wie Mortmain und seinesgleichen. De Quincey und die anderen Höhergestellten duldeten ihre Gesellschaft hauptsächlich wegen ihres Geldes, und damit sie den Club auch weiterhin frequentierten, köderten sie sie immer wieder mit kurzen Demonstrationen und kleinen Einblicken in die Welt der Magie und der Schattenwesen. Über ihnen stand eine Gruppe von Mitgliedern mit mehr Macht und Einfluss im Club, wie die Dunklen Schwestern — allesamt übernatürliche Wesen und kein einziger Mensch darunter. Und an der Spitze schließlich thronte de Quincey, den die anderen als den ›Magister‹ bezeichneten.

Die Oberschicht des Clubs traf sich oft zu Versammlungen, zu denen Menschen und untere Ränge keine Einladung erhielten. Bei einer dieser Zusammenkünfte hörte ich erstmals von den Schattenjägern. De Quincey verachtet die Nephilim«, wandte Nate sich an Henry und Charlotte. »Er hegt einen tiefen Groll gegen alle Schattenjäger — gegen Sie. Und er redete ständig davon, wie viel besser alles wäre, wenn die Nephilim vernichtet würden und die Schattenweltler in Frieden ihren Geschäften nachgehen könnten ...«

»Was für ein Unsinn!«, stieß Henry aufrichtig gekränkt hervor. »Ich wüsste nicht, welche Sorte von Frieden ihm vorschwebt, wenn es uns Schattenjäger nicht mehr gäbe.«

»De Quincey sprach auch davon, dass bisher nicht die geringste Chance bestanden hätte, die Schattenjäger zu besiegen, weil deren Waffen allen anderen weit überlegen seien. Der Sage nach habe Gott die Nephilim zu überragenden Kriegern gemacht, die kein Lebewesen jemals vernichten könne. Daraufhin hat de Quincey sich wohl gedacht: ›Warum nicht eine Kreatur erschaffen, die keinerlei Leben in sich trägt?‹«

»Die Automaten«, warf Charlotte ein. »Seine Klockwerk-Armee.« Verwirrt starrte Nate die Schattenjägerin an: »Sie haben sie gesehen?«

»Ein paar dieser Kreaturen haben Ihre Schwester gestern Abend angegriffen«, erklärte Will. »Glücklicherweise waren wir Schattenjäger-Monster zur Stelle, um sie zu retten.«

»Wobei man sagen muss, dass sie sich gar nicht schlecht geschlagen hat«, murmelte Jem.

»Wissen Sie etwas über diese Automaten?«, fragte Charlotte drängend und beugte sich begierig vor. »Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte? Hat de Quincey in Ihrer Gegenwart je darüber gesprochen?«

Nate ließ sich gegen die Sessellehne sinken. »Ja, schon. Aber das Meiste habe ich nicht verstanden. Ich bin technisch nicht sehr begabt ...«

»Ach, die Sache ist ganz einfach«, mischte Henry sich in einem beruhigenden Ton ein — wie jemand, der eine verängstigte Katze zu besänftigen versucht.

»Im Augenblick funktionieren de Quinceys Kreaturen nur aufgrund eines inneren Mechanismus: Sie müssen aufgezogen werden, genau wie Uhren. Aber wir haben in seiner Bibliothek die Abschrift einer Zauberformel gefunden, die den Schluss nahelegt, dass er nach einer Möglichkeit sucht, seine Kreaturen mit Leben zu erfüllen ... ihre Klockwerk-Hülle mit Dämonenenergie zu verquicken und damit zum Leben zu erwecken.«

»Oh, das meinen Sie! Ja, darüber hat er mehrfach gesprochen«, erwiderte Nathaniel, erfreut wie ein kleines Kind, das im Unterricht die richtige Antwort zu geben wusste.

Tessa konnte förmlich sehen, wie die Schattenjäger die Ohren spitzten — endlich erhielten sie die Sorte von Informationen, die sie wirklich interessierte.

»Das war einer der Gründe, warum de Quincey die Dunklen Schwestern überhaupt in Dienst genommen hat — nicht nur um Tessa auszubilden«, fuhr Nate fort. »Die Schwestern sind Hexen und sollten für ihn untersuchen, auf welchem Weg eine Verquickung vorgenommen werden konnte. Und das ist ihnen auch gelungen. Zwar erst vor ein paar Wochen, aber sie haben einen Weg gefunden.«

»Tatsächlich?«, fragte Charlotte bestürzt. »Aber warum hat de Quincey diese Formel noch nicht angewendet? Worauf wartet er denn?«

Nate schaute von Charlottes besorgter Miene zu Tessa und danach in die Runde. »Ich ... ich dachte, Sie wüssten das. De Quincey sagte, dass die Verquickungsformel nur bei Vollmond durchgeführt werden könne. Bei Vollendung des zweiten Mondviertels werden die Dunklen Schwestern sich ans Werk machen und dann ... de Quincey hat Dutzende dieser Kreaturen in seinem Versteck gehortet. Und ich weiß, dass er vorhat, noch viel mehr dieser KlockwerkMonster zu erschaffen — Hunderte, wenn nicht gar Tausende. Vermutlich wird er sie dann mit Leben erfüllen lassen und ...«

»Bei Vollmond?«, hakte Charlotte nach, warf einen Blick aus dem Fenster und biss sich auf die Lippe.

»Das wird schon sehr bald sein — ich glaube, morgen Abend.«

Jem richtete sich ruckartig auf. »Ich laufe kurz in die Bibliothek und überprüfe das in der Mondphasentabelle. Bin gleich wieder da«, verkündete er und verschwand im nächsten Moment durch die Tür.

»Sind Sie sich auch ganz sicher?«, wandte Charlotte sich erneut an Nate.

Nate nickte und schluckte dann laut. »Als Tessa den Dunklen Schwestern entkommen konnte, gab de Quincey mir die Schuld an ihrer Flucht, obwohl ich überhaupt nichts davon gewusst hatte. Er verkündete, dass er mich zur Strafe den Kindern der Nacht überlassen werde und diese mir sämtliches Blut aus dem Leib saugen würden. Dann sperrte er mich tagelang ein, bis zum Abend der Soiree, kümmerte sich aber nicht mehr darum, was er in meiner Gegenwart sagte oder besser verschwiegen hätte. Denn er wusste, dass ich ohnehin sterben würde. Ich hörte, wie er davon sprach, dass es den Dunklen Schwestern gelungen sei, die Verquickungsformel fertigzustellen. Und dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis alle Nephilim vernichtet wären und die Mitglieder des Pandemonium Clubs London regieren würden.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wo de Quincey sich im Moment verborgen halten könnte — nun, da seine Villa niedergebrannt ist?«, fragte Will mit rauer Stimme.

Nate musterte ihn erschöpft. »Er hat in Chelsea einen Schlupfwinkel. Wahrscheinlich versteckt er sich dort zusammen mit seinen Anhängern — sein Clan umfasst bestimmt noch hundert weitere Vampire, die an jenem Abend nicht in seiner Villa weilten. Ich weiß genau, wo dieser Ort ist. Ich könnte ihn auf einem Stadtplan zeigen ...« Er verstummte abrupt, als Jem mit weit aufgerissenen Augen in den Salon hereinplatzte.

»Vollmond ist nicht erst morgen«, stieß Jem hervor. »Der Mond rundet sich bereits heute.«

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