15 Fremdländischer Dreck

Bei Gott, was wünscht’ ich, die Liebe wäre Blüten oder Funken gleich.

Das Leben dem Ersinnen eines Namens gleich,

Der Tod nicht trauriger als lüsternes Verzehren.

Bei Gott, was wünscht’ ich, dass diese Dinge nicht dasselbe wären!

Algernon Charles Swinburne, »Laus Veneris«

»Miss Tessa!« Sophies Stimme schallte durch den Innenhof.

Langsam drehte Tessa sich um und sah das Dienstmädchen in der offenen Portaltür; eine flackernde Laterne baumelte in ihrer Hand.

»Ist alles in Ordnung, Miss Tessa?«, fragte sie und kam auf Tessa zu.

Der Anblick des anderen Mädchens erfüllte Tessa mit einer Woge der Dankbarkeit — sie hatte sich schrecklich einsam gefühlt. »Mir geht es gut, ich bin unverletzt. Henry hat sich allerdings an die Fersen dieser Kreaturen geheftet und Charlotte ...«

»Ach, keine Sorge. Die wissen sich schon zu helfen«, erwiderte Sophie beruhigend und legte Tessa eine Hand auf den Ellbogen. »Kommen Sie. Lassen Sie uns ins Haus gehen, Miss, und Sie verarzten. Sie bluten.«

»Tatsächlich?« Benommen befühlte Tessa ihre Stirn und betrachtete verwundert ihre rot verfärbten Fingerspitzen. »Ich muss mir den Kopf gestoßen haben, als ich auf die Stufen gestürzt bin. Aber ich habe überhaupt nichts davon bemerkt.«

»Das ist der Schock«, erklärte Sophie ruhig und Tessa fragte sich, wie oft das Mädchen während seiner Dienstzeit im Institut diese Dinge wohl schon verrichtet haben mochte — Wunden versorgen, Blutlachen fortwischen. »Kommen Sie, dann kann ich Ihnen einen Verband anlegen.«

Tessa nickte, warf noch einen letzten Blick auf das Bild der Zerstörung im Innenhof und ließ sich von Sophie ins Gebäude führen. Die nächsten Minuten glitten wie im Nebel an Tessa vorbei: Sophie half ihr die Treppe hinauf ins Obergeschoss, platzierte sie fürsorglich in einem der schweren Sessel im Salon, eilte dann davon und kehrte kurz darauf mit Agatha zurück, die Tessa eine Tasse mit heißer Flüssigkeit in die Hand drückte.

In dem Augenblick, als Tessa der Geruch des dampfenden Heißgetränks in die Nase stieg, wusste sie, worum es sich dabei handelte — Brandy und Wasser. Unwillkürlich musste sie an Nate denken und zögerte einen Moment, aber nachdem sie ein paar Mal vorsichtig an der heißen Tasse genippt hatte, schien die Welt um sie herum wieder klarer zu werden. Kurze Zeit später kehrten Charlotte und Henry zurück und erfüllten den Raum mit typischem Kampfgeruch — einer Mischung aus Metall, Öl und Blut. Mit finsterer Miene legte Charlotte ihre Waffen auf den Tisch. Dann rief sie nach Will, der jedoch nicht reagierte; dafür erschien Thomas eilig in der Salontür und erklärte ihr, dass Will bei Jem sei und dass es Jem bald wieder besser gehen würde.

»Die Kreaturen haben ihn verwundet und er hat einiges an Blut verloren«, berichtete Thomas, fuhr sich mit der Hand durch die wirren braunen Haare und warf dabei Sophie einen Blick zu. »Aber Will hat ihn mit einer Heilrune versehen ...«

»Und was ist mit seiner Arznei?«, hakte Sophie rasch nach. »Hat er die auch bekommen?«

Als Thomas nickte, ließ die Anspannung in Sophies Schultern deutlich nach. Auch Charlottes Züge entspannten sich ein wenig. »Danke, Thomas«, sagte sie.

»Vielleicht könntest du nachsehen, ob er sonst irgendetwas benötigt ...«

Thomas nickte erneut und marschierte zur Tür, wo er sich noch einmal kurz nach Sophie umschaute, doch das Mädchen schien seinen Blick überhaupt nicht wahrzunehmen.

Charlotte ließ sich gegenüber von Tessa auf ein Sofa sinken und fragte besorgt: »Tessa, kannst du uns erzählen, was passiert ist?«

Mit steifen Fingern, die sich trotz des warmen Porzellans klamm anfühlten, umklammerte Tessa ihre Tasse. Ein Schaudern fuhr durch ihren Körper. »Habt ihr die anderen geschnappt ... die, die geflüchtet sind? Die ... was auch immer sie sein mögen ... diese Metallmonster?«

Ernst schüttelte Charlotte den Kopf. »Wir haben sie noch durch einige Straßen verfolgt, aber auf Höhe der Hungerford Bridge waren sie urplötzlich verschwunden. Henry meinte, dass dabei irgendwelche Magie im Spiel gewesen sein muss.«

»Oder ein Geheimtunnel«, bemerkte Henry. »Ich habe auch von einem Geheimtunnel gesprochen, Liebes.« Dann wandte er sich Tessa zu. Sein freundliches Gesicht war blut- und ölverschmiert, seine leuchtend bunte Weste zerschlitzt und zerrissen — er erinnerte an einen Schuljungen, der in einen handfesten Streit geraten war. »Hast du die Kreaturen vielleicht aus einem Tunnel klettern sehen, Tessa?«, fragte er interessiert.

»Nein«, sagte Tessa, wobei ihre Stimme fast wie ein Flüstern klang. Sie räusperte sich und nahm noch einen Schluck von der heißen Flüssigkeit, die Agatha ihr gegeben hatte. Dann stellte sie die Tasse auf einen Beistelltisch und schilderte den Vorfall in allen Einzelheiten, angefangen von der Brücke und dem Kutscher über die Verfolgungsjagd bis hin zu den Worten der Kreaturen und ihrem Vordringen durch das Institutstor.

Charlotte hörte mit angespanntem bleichem Gesicht zu; selbst Henry schaute grimmig und Sophie saß still auf einem Sessel und lauschte Tessas Bericht mit der ernsten Aufmerksamkeit eines Schulmädchens.

»Sie sagten, sie würden eine Kriegserklärung überbringen«, beendete Tessa ihre Schilderung. »Und sie würden an uns Rache nehmen wollen — an euch —, für das, was bei de Quincey geschehen sei.«

»Und diese Kreatur hat ihn als den Magister bezeichnet?«, fragte Charlotte.

Tessa presste die Lippen fest zusammen, damit sie nicht länger zitterten. Nach kurzem Nachdenken erklärte sie: »Ja. Er sagte, ich sei das Eigentum des Magisters und dieser habe ihn gesandt, um mich zu holen ... Charlotte, das ist alles meine Schuld. Ohne mich hätte de Quincey niemals diese Kreaturen auf uns gehetzt und Jem wäre nicht ...« Tessa verstummte und schaute auf ihre Hände. »Vielleicht solltet ihr mich ihm einfach überlassen.«

Entschlossen schüttelte Charlotte den Kopf. »Nein, Tessa. Du hast doch gehört, was de Quincey gestern Abend gesagt hat: Er hasst alle Schattenjäger. Und er würde den Rat so oder so angreifen. Aber wenn wir dich ihm auslieferten, würden wir ihm möglicherweise nur eine wertvolle Waffe in die Hände spielen.« Charlotte überlegte einen Moment und schaute dann zu Henry: »Ich frage mich, warum er so lange gewartet hat. Warum hat er Tessa nicht zu holen versucht, als sie mit Jessie in der Stadt war? Im Gegensatz zu Dämonen können diese Klockwerk-Kreaturen sich doch auch tagsüber im Freien bewegen.«

»Sie können schon — allerdings nicht, ohne dabei die breite Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen«, erklärte Henry. »Noch unterscheiden sie sich viel zu sehr von gewöhnlichen Bürgern.« Er nahm ein glänzendes Zahnrad aus der Westentasche und hielt es hoch. »Ich habe mir die Überreste der Automaten draußen im Innenhof einmal genauer angesehen. Diejenigen, die de Quincey hinter Tessa hergeschickt hat, lassen sich mit dem Modell unten in meinem Labor nicht vergleichen: Sie sind ausgeklügelter, aus härterem Metall gefertigt und mit besseren Gelenkverbindungen ausgestattet. Irgendjemand hat an den Entwürfen gearbeitet, die Will bei de Quincey gefunden hat — sie wurden überarbeitet und verbessert. Denn die Kreaturen sind nun noch schneller und noch gefährlicher.«

Aber auf welche Weise verbessert? »Da war doch eine Zauberformel«, warf Tessa rasch ein, »auf der Entwurfszeichnung. Magnus hat sie entziffert ...«

»Die Verquickungsformel. Dazu gedacht, die Energie eines Dämons mit einem Automaten zu verknüpfen«, bestätigte Charlotte und schaute fragend zu Henry. »Hat de Quincey . .?«

»Damit bereits Erfolg gehabt?«, beendete Henry ihren Satz und schüttelte den Kopf. »Nein. Diese Kreaturen sind so konstruiert, dass sie einem bestimmten Muster folgen, wie Spieluhren. Aber sie sind nicht mit Leben erfüllt — sie verfügen weder über Intelligenz noch über einen eigenen Willen. An ihnen ist absolut nichts Dämonisches.«

Erleichtert atmete Charlotte auf. »Wir müssen de Quincey finden, bevor er sein Ziel erreicht. Die Klockwerk-Männer sind bereits im jetzigen Zustand schwer zu töten. Weiß der Himmel, wie viele dieser Kreaturen er inzwischen erschaffen hat — und um wie vieles schwieriger es werden könnte, ihrer Herr zu werden, wenn sie erst einmal über die Gerissenheit von Dämonen verfügen.«

»Ein Heer, das weder im Himmel noch in der Hölle erwuchs«, murmelte Tessa leise.

»Genau«, bestätigte Henry. »De Quincey muss gefunden und aufgehalten werden. Und in der Zwischenzeit solltest du, Tessa, im Institut bleiben. Nicht weil wir dich hier als Gefangene einsperren wollen, sondern weil es zu deiner eigenen Sicherheit wäre, wenn du das Gebäude nicht verlässt.«

»Aber wie lange ...«, setzte Tessa an und verstummte, als sie sah, wie sich Sophies Gesichtsausdruck veränderte. Das Mädchen starrte mit weit aufgerissenen Augen über Tessas Schulter hinweg zur Tür. Als Tessa ihrem Blick folgte, entdeckte sie Will. Der junge Schattenjäger stand in der Tür zum Salon; ein breiter Streifen Blut zog sich wie Farbe quer über sein weißes Hemd. Mit reglosem, fast maskenhaftem Gesicht fixierte er Tessa, und als sich ihre Blicke quer durch den Raum trafen, spürte sie, wie ihr Herz einen Satz machte.

»Er will dich sprechen«, sagte Will nur.

Einen Moment lang herrschte absolute Stille im Raum, da sämtliche Augen auf ihn gerichtet waren. Wills intensiver Blick hatte etwas Beunruhigendes an sich — sein Schweigen glich fast einer bedrohlichen Spannung. Tessa schaute zu Sophie, die sich angsterfüllt an die Kehle griff und mit den Fingern nervös am Kragen nestelte.

»Will«, brach Charlotte schließlich die Stille. »Hast du Jem gemeint? Hat sich sein Zustand verbessert?«

»Er ist wach und kann reden«, erwiderte Will lediglich. Sein Blick wanderte kurz zu Sophie, die sofort zu Boden schaute, als wollte sie den Ausdruck auf ihrem Gesicht kaschieren. »Und nun will er Tessa sprechen.«

»Aber ...«, setzte Tessa an und schaute zu Charlotte, die beunruhigt wirkte. »Geht es ihm denn gut? Ist er dazu überhaupt in der Verfassung?«

Wills Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Er will dich sprechen«, wiederholte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Also wirst du jetzt aufstehen und mit mir kommen und mit ihm reden. Hast du mich verstanden?«

»Will!«, fuhr Charlotte scharf auf, doch Tessa hatte sich bereits erhoben und strich sich den verknitterten Rock glatt. Charlotte warf ihr einen besorgten Blick zu, schwieg aber.

Als Tessa Will folgte, der sie eisig schweigend durch den Korridor führte, sah sie im zuckenden Schein der Elbenlicht-Wandleuchter, dass sein Hemd nicht nur mit Blut, sondern auch mit schwarz schimmernden Ölflecken gesprenkelt war, die sich bis hinauf zu seiner Wange erstreckten. Seine Haare wirkten wirr und Tessa konnte die Anspannung an seiner Kinnpartie ablesen. Sie fragte sich, ob er seit dem Morgengrauen, als sie ihn auf dem Speicher zurückgelassen hatte, überhaupt eine Minute geschlafen hatte, und überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte. Doch alles an ihm — seine Haltung, sein Schweigen, seine kerzengeraden Schultern — verriet ihr, dass ihr Interesse nicht willkommen wäre.

Endlich erreichten sie die Tür von Jems Zimmer, die Will aufdrückte und für Tessa aufhielt. Der Raum wurde nur vom fahlen Mondschein und einem Elbenlicht in einem Kerzenständer auf Jems Nachttisch erhellt. Jem lag halb zugedeckt in dem riesigen Himmelbett. Er war so weiß wie sein Nachthemd und die Lider seiner geschlossenen Augen schimmerten bläulich. Am Bettrahmen lehnte sein Spazierstock, der auf wundersame Weise repariert schien und wieder völlig intakt war — der Jadeknauf funkelte wie neu. Als Jem das Quietschen der Tür hörte, drehte er das Gesicht in die Richtung, hielt die Augen aber geschlossen. »Will?«, fragte er mit matter Stimme. In dem Moment tat Will etwas, das Tessa sehr verblüffte: Er zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte in halbwegs heiterem Ton: »Ich habe sie hergebracht, genau wie du es wolltest.«

Ruckartig öffnete Jem die Lider und Tessa stellte erleichtert fest, dass die Farbe wieder in seine Augen zurückgekehrt war. Dennoch wirkten sie in seinem bleichen Gesicht wie tiefe dunkle Höhlen. »Tessa«, brachte er angestrengt hervor, »es tut mir so leid.«

Fragend schaute Tessa zu Will; sie war sich selbst nicht sicher, ob sie damit um seine Erlaubnis oder seine Hilfe bat. Doch er schaute stur geradeaus — ganz offensichtlich wollte er ihr nicht helfen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Tessa durch das Zimmer und ließ sich in einem Sessel neben Jems Bett nieder. »Jem«, sagte sie mit gedämpfter Stimme,

»es gibt nichts, was dir leidtun oder wofür du dich schämen müsstest. Ich sollte mich eigentlich bei dir entschuldigen. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Diese Klockwerk-Kreaturen hatten es auf mich abgesehen, nicht auf dich.« Sanft strich sie über die Bettdecke — wie gern hätte sie seine Hand berührt, wagte es aber nicht. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du niemals derartig verwundet werden können.«

»Verwundet«, stieß Jem keuchend, fast angewidert hervor. »Ich war nicht verwundet.«

»James.« Wills Stimme enthielt einen warnenden Unterton.

»Sie muss es erfahren, William. Sonst denkt sie noch, dass das alles ihre Schuld gewesen sei.«

»Du warst krank«, widersprach Will, ohne Tessa dabei anzusehen. »Daran trägt niemand die Schuld.«

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich denke einfach nur, dass du vorsichtig sein solltest. Du bist noch immer nicht wohlauf. Reden würde dich bestimmt zusätzlich erschöpfen.«

»Es gibt Wichtigeres, als Vorsicht walten zu lassen.« Mühsam setzte Jem sich auf, wobei die Muskeln und Sehnen an seinem Hals deutlich hervortraten, und schob sich ein Kissen in den Rücken. Als er sich wieder an Will wandte, klang seine Stimme leicht atemlos: »Wenn dir das nicht gefällt, Will, dann musst du nicht hierbleiben.«

Im nächsten Moment hörte Tessa, wie die Tür geöffnet und dann mit einem leisen Klick ins Schloss gezogen wurde. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Will hinausgegangen war. Fast gegen ihren Willen spürte sie einen Stich der Enttäuschung — wie jedes Mal, wenn er einen Raum verließ.

Jem seufzte. »Er ist ja so starrköpfig.«

»Aber er hat recht«, warf Tessa ein. »Zumindest im Hinblick darauf, dass du mir nichts erzählen musst, was du nicht wirklich willst. Ich weiß ohnehin, dass es nicht deine Schuld war.«

»Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld«, erwiderte Jem. »Ich bin nur der Ansicht, dass du die Wahrheit erfahren solltest. Etwas zu verheimlichen, hilft nur in den seltensten Fällen weiter«, sagte er und schaute einen kurzen Moment zur Tür, als wären seine Worte für seinen abwesenden Freund bestimmt. Dann seufzte er erneut und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Du weißt doch, dass ich den Großteil meines Lebens in Shanghai gelebt habe, zusammen mit meinen Eltern? Und dass ich im dortigen Institut aufgewachsen bin, oder?«

»Ja«, bestätigte Tessa und fragte sich, ob er vielleicht noch immer ein wenig benommen war. »Das hast du mir erzählt, auf der Brücke. Und du hast mir auch erzählt, dass ein Dämon deine Eltern getötet hat.«

»Yanluo«, stieß Jem hasserfüllt hervor. »Der Dämon hegte einen starken Groll gegen meine Mutter:

Sie war für den Tod einer ganzen Reihe seiner Nachkommen verantwortlich. Ihre Brutstätte befand sich in einer kleinen Stadt namens Lijiang, wo sie sich von den Kindern des Ortes ernährten. Meine Mutter räucherte das Nest aus und floh, bevor der Dämon sie fand. Yanluo wartete viele Jahre auf den Augenblick der Rache — Dämonenfürsten sind unsterblich —, aber er verlor sein Ziel keinen Moment aus den Augen«, erzählte Jem, hielt einen Moment inne und fuhr dann mit tonloser Stimme fort: »Als ich gerade elf geworden war, entdeckte Yanluo eine Schwachstelle im Schutzschild, der das Institut umgab, und grub einen Tunnel in das Gebäude. Er tötete sämtliche Wachen, nahm meine Familie als Geiseln und fesselte uns an die Stühle im großen Saal des Hauses. Und dann machte er sich ans Werk: Yanluo folterte mich vor den Augen meiner Eltern.

Wieder und wieder injizierte er mir ein brennendes Dämonengift, das meine Adern versengte und mir fast den Verstand raubte. Zwei ganze Tage lang wechselte ich zwischen Bewusstsein und Halluzinationen und Albträumen. Ich sah die Welt in Strömen von Blut ertrinken und ich hörte die Schreie der Sterbenden und Toten seit Anbeginn aller Tage. Ich sah London in Flammen aufgehen und große Metallkreaturen auf und ab schreiten wie riesige Spinnen ...« Ein Moment lang stockte sein Atem. Er war nun sehr bleich und das Nachthemd klebte schweißfeucht an seiner Brust, doch er wischte Tessas besorgte Bemühungen einfach beiseite. »Alle paar Stunden kehrte ich gerade lange genug in die Wirklichkeit zurück, um die Schreie meiner Eltern zu hören — sie schrien meinen Namen. Als ich am zweiten Tag das Bewusstsein wiedererlangte, hörte ich nur noch meine Mutter. Mein Vater war für immer zum Schweigen gebracht worden. Die Stimme meiner Mutter klang heiser und brüchig, aber sie rief noch immer meinen Namen — nicht meinen britischen Namen, sondern den, den sie mir bei meiner Geburt gegeben hatte: Jian. Manchmal kann ich sie sogar noch heute rufen hören ... meinen Namen rufen hören.« Seine Hände umklammerten das Kissen an seiner Brust so fest, dass das Gewebe an manchen Stellen zu reißen drohte.

»Jem«, sagte Tessa leise. »Du kannst aufhören, wenn du willst — du brauchst mir das nicht alles zu erzählen.«

»Erinnerst du dich, wie ich vor ein paar Tagen die Vermutung aufgestellt habe, dass Mortmain sein Vermögen wahrscheinlich durch den Schmuggel von Opium erlangt hat?«, fragte Jem statt einer Antwort.

»Die Briten schleusen das Zeug tonnenweise nach China. Sie haben aus uns eine Nation von Opiumabhängigen gemacht. Auf Chinesisch nennen wir diese Droge auch ›fremdländischer Dreck‹ oder ›schwarzer Rauch‹. Shanghai, meine Heimatstadt, wurde in gewisser Weise auf Opium errichtet — ohne diese Substanz wäre sie nicht das, was sie heute ist. In der Stadt wimmelt es von Opiumhöhlen, in denen hohläugige Männer sich zu Tode hungern, weil es sie nach nichts anderem mehr gelüstet als nach dieser Droge ... Sie wollen mehr davon, immer nur noch mehr. Und dafür würden sie alles geben. Früher habe ich diese Männer verachtet. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie so schwach waren.« Gequält holte Jem tief Luft.

»Als die Shanghaier Brigade sich schließlich über die völlige Stille im Institut wunderte und sich gewaltsam Zutritt verschaffte, um uns zu retten, waren meine Eltern bereits tot. Ich kann mich an diese Zeit überhaupt nicht erinnern, aber man hat mir erzählt, dass ich unablässig geschrien und halluziniert hätte. Daraufhin hat man mich zu den Brüdern der Stille gebracht, die meinen Körper nach bestem Vermögen heilten. Allerdings gab es da etwas, das sie nicht kurieren konnten: Ich war von der Substanz, mit der der Dämon mich vergiftet hatte, abhängig geworden. Mein Organismus braucht das Gift auf vergleichbare Weise, wie der Körper eines Opiumabhängigen seine Droge braucht. Die Stillen Brüder versuchten, mich einer Entziehungskur zu unterziehen, doch damit waren schreckliche Schmerzen verbunden. Und obwohl sie in der Lage waren, den Schmerz mithilfe von Zaubersprüchen zu dämpfen, schädigte der Entzug des Giftes meinen Körper so sehr, dass ich schließlich an der Schwelle des Todes schwebte. Nach wochenlangen Versuchen und Experimenten kamen die Stillen Brüder zu dem Schluss, dass sich die Situation wohl nicht ändern ließe: Ich konnte ohne diese Substanz nicht mehr leben. Das Gift an sich bedeutet ein langes Dahinsiechen, doch ein völliger Entzug hätte meinen sofortigen Tod herbeigeführt.«

»Wochenlange Versuche und Experimente?«, wiederholte Tessa entsetzt. »Als du gerade einmal elf Jahre alt warst? Das erscheint mir sehr grausam.«

»Wer Gutes tun will, kann nicht immer freundlich sein«, erwiderte Jem und schaute an ihr vorbei. »Dort drüben, auf dem Nachttisch, steht ein Kästchen. Kannst du mir das bitte reichen?«

Tessa nahm das Kästchen in die Hand. Es war aus Silber gefertigt und auf dem Deckel mit einer EmailleEinlegearbeit verziert: Die Szenerie zeigte eine schlanke Frau in einem weißen Gewand, die barfuß an einem Fluss stand und Wasser aus einer Vase in den Strom goss. »Wer ist das?«, fragte Tessa, während sie Jem das Kästchen gab.

»Kwan Yin, die Göttin der Barmherzigkeit und des Mitgefühls. Es heißt, sie höre jedes Gebet und jeden Schmerzensschrei und tue alles in ihrer Macht Stehende, um das Leid zu lindern. Ich habe mir gedacht, wenn ich die Ursache meines Leidens in einem Kästchen mit ihrem Abbild aufbewahre, könnte dies den Schmerz möglicherweise ein wenig mildern.« Jem öffnete den Schnappverschluss und der Deckel glitt nach hinten. Darunter kam eine dicke Lage feines Pulver zum Vorschein, das Tessa zunächst für Asche hielt. Allerdings schimmerte das Pulver dafür zu hell — fast im selben silberglänzenden Ton wie Jems Augen.

»Dies ist die Substanz«, erklärte er. »Wir beziehen sie von einem befreundeten Hexenmeister in Limehouse. Ich muss jeden Tag etwas davon einnehmen. Das ist der Grund, weshalb ich so ... so gespenstisch aussehe; das Gift entzieht meinen Augen und Haaren und sogar meiner Haut jegliche Farbe. Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern mich überhaupt noch erkennen würden ...« Er verstummte und räusperte sich schließlich. »Vor einem Kampf nehme ich eine größere Menge als üblich ein. Eine geringere Dosierung hingegen schwächt mich. Und als wir vorhin zu unserem Abendspaziergang aufgebrochen sind, hatte ich noch gar nichts von der Substanz zu mir genommen. Aus diesem Grund bin ich zusammengebrochen. Nicht wegen der KlockwerkKreaturen, sondern wegen des Gifts. Ohne dieses Mittel ist mir das Ganze — der Kampf, die anschließende Flucht — einfach zu viel geworden ... Mein Körper musste an seine eigenen Reserven gehen und deshalb bin ich kollabiert.« Mit einem lauten Schnappen schloss er das Kästchen und reichte es Tessa. »Hier. Bitte stell es wieder zurück an seinen Platz.«

»Brauchst du denn jetzt nichts?«

»Nein. Ich habe für heute Abend genug eingenommen.«

»Du hast gesagt, das Gift bedeute ein langes Dahinsiechen. Heißt das, dass diese Substanz dich letztendlich umbringt?«, fragte Tessa. Jem nickte und eine silberhelle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Seine Bestätigung versetzte Tessa einen Stich ins Herz. »Und vor einem Kampf nimmst du eine höhere Dosierung? Warum hörst du dann nicht einfach auf und beteiligst dich nicht länger an den Kämpfen? Will und die anderen ...«

»... würden das verstehen«, beendete Jem ihren Satz. »Ich weiß, dass sie das verstehen würden. Aber das Leben dreht sich um mehr als nur um den Tod. Ich bin ein Schattenjäger. Das ist nicht bloß irgendeine Tätigkeit, sondern macht mich zu dem, was ich bin. Ohne das kann ich nicht leben.«

»Du meinst, du willst nicht«, bemerkte Tessa. Wenn sie so etwas zu Will gesagt hätte, wäre er bestimmt wütend geworden, überlegte sie.

Doch Jem betrachtete sie lediglich konzentriert.

»Nein — ich möchte es nicht. Ich habe viele Jahre lang nach einem Heilmittel gesucht, doch irgendwann beschlossen, die Suche aufzugeben. Also habe ich Will und die anderen gebeten, ihre Bemühungen ebenfalls einzustellen. Ich bin ich selbst und nicht diese Substanz oder die Sucht, die mich in ihren Klauen hält. Ich glaube, dass ich Besseres zu bieten habe und dass mein Leben Besseres zu bieten hat — ganz gleich, wie und wann es eines Tages enden mag.«

»Nun ja, ich möchte aber nicht, dass du stirbst«, warf Tessa ein. »Ich weiß nicht, warum dieses Gefühl so intensiv ist, denn schließlich sind wir uns gerade erst begegnet, aber ich will dich nicht sterben sehen.«

»Und ich vertraue dir«, erwiderte Jem. »Auch ich weiß nicht, warum, aber ich vertraue dir.« Seine dünnen Hände umklammerten nicht länger das Kissen, sondern lagen entspannt und ruhig auf dem gestreiften Gewebe.

Tessa sah, dass seine Fingerknöchel ein klein wenig zu dick für die schlanken Finger waren und dass auf seinem rechten Daumen eine breite weiße Narbe prangte. Wie gern hätte sie ihre eigene Hand über seine gelegt, sie festgehalten, um ihm Trost zu spenden ...

»Wie rührend«, drang eine Stimme von der Tür zu ihnen — Will natürlich, der geräuschlos ins Zimmer getreten war. Er hatte sein blutverschmiertes Hemd gewechselt und sich offenbar hastig gewaschen: Seine Haare glänzten feucht und sein Gesicht war frisch geschrubbt, obwohl noch immer Dreck und Öl unter seinen Fingernägeln schimmerten. Langsam schaute er von Jem zu Tessa, mit sorgsam ausdrucksloser Miene.

»Wie ich sehe, hast du es ihr erzählt.«

»Ja, das habe ich.« In Jems Stimme lag nichts Provozierendes. Er betrachtete Will stets voller Zuneigung, dachte Tessa — ganz gleich, wie streitlustig Will sich auch verhalten mochte. »Ich habe ihr alles erzählt. Es besteht also kein Grund, sich noch Sorgen zu machen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Will und warf Tessa einen demonstrativen Blick zu. Tessa erinnerte sich an seine Mahnung, Jem nicht zu überanstrengen, und erhob sich von ihrem Stuhl. Jem betrachtete sie wehmütig: »Musst du wirklich schon fort? Ich hatte gehofft, du könntest hierbleiben und mein barmherziger Engel sein. Aber wenn du gehen musst, kann man wohl nichts machen.«

»Ich werde hierbleiben«, sagte Will leicht indigniert und warf sich in den Sessel, den Tessa gerade freigegeben hatte. »Ich kann mich barmherzig und engelhaft um dich kümmern.«

»Nicht sehr überzeugend. Außerdem bietest du keinen solch hübschen Anblick wie Tessa«, entgegnete Jem, schloss die Augen und ließ sich in die Kissen sinken.

»Wie grob von dir. Viele, die das Glück besaßen, einen Blick auf mich werfen zu dürfen, verglichen dieses Erlebnis mit einem Blick hinauf zur strahlenden Sonne.«

Die Augen immer noch geschlossen, schnaubte Jem: »Falls sie damit meinten, dass man davon Kopfschmerzen bekommt, kann ich ihnen nur zustimmen.«

»Außerdem«, fuhr Will unbeirrt fort und schaute zu Tessa, »wäre es nicht anständig, Tessa noch länger von ihrem Bruder fernzuhalten. Sie hat den ganzen Tag kaum Gelegenheit gehabt, nach ihm zu sehen.«

»Das ist wahr.« Jem öffnete kurz die Augen, die vor Müdigkeit dunkelsilbern wirkten. »Ich muss dich um Verzeihung bitten, Tessa. Deinen Bruder hätte ich fast vergessen.«

Tessa schwieg betreten — Jem war nicht der Einzige, der ihren Bruder fast vergessen hätte. Ist schon in Ordnung, wollte sie erwidern, doch Jems Lider waren wieder zugefallen und sie nahm an, dass er möglicherweise bereits schlief. Während sie ihn betrachtete, beugte Will sich vor und zog seinem Freund die Bettdecke bis über die Brust.

Schweigend machte Tessa auf dem Absatz kehrt und verließ leise das Zimmer. Die Lichter im Flur brannten auf kleinster Stufe — oder vielleicht war es in Jems Zimmer einfach nur heller gewesen. Blinzelnd stand sie einen Moment da, doch als sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, zuckte sie erschrocken zusammen. »Sophie?«, fragte sie verwundert.

Das Hausmädchen wirkte wie eine Aneinanderreihung heller Flecken in der Dunkelheit — man erkannte nur ihr blasses Gesicht und die weiße Haube, die an einem der Bänder knapp über dem Boden baumelte.

»Sophie, ist irgendetwas passiert?«, hakte Tessa nach.

»Geht es ihm gut?«, fragte Sophie mit angespannter Stimme. »Wird er wieder gesund?«

Tessa war zu verwirrt, um ihre Frage zu begreifen, und erwiderte lediglich: »Wer?«

Mit einem flehentlichen, fast tragischen Ausdruck in den Augen sah Sophie sie an. »Jem.«

Nicht »der junge Herr« oder Mr Carstairs, sondern Jem. Vollkommen verblüfft musterte Tessa das Mädchen und erinnerte sich plötzlich wieder an ihre Worte: »Es ist rechtens, jemanden zu lieben, der diese Liebe nicht erwidert — sofern derjenige es auch wert ist, dass man ihn liebt. Sofern er es verdient, geliebt zu werden.«

Natürlich, dachte Tessa. Ich bin ja so dumm! Ich hätte wissen müssen, dass sie in Jem verliebt ist. »Es geht ihm gut«, sagte sie so sanft wie möglich. »Er schläft jetzt, aber vorhin hat er aufrecht im Bett gesessen und sich mit mir unterhalten. Ich bin mir sicher, dass er sich rasch wieder erholen wird. Möchtest du ihn vielleicht sehen ...«

»Nein!«, stieß Sophie sofort hervor. »Nein, das wäre nicht rechtens oder angemessen.« Ihre Augen funkelten. »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Miss. Ich ... ich ...«, stammelte sie, wirbelte dann herum und eilte davon.

Tessa schaute ihr nach, bestürzt und verwirrt. Wie konnte es nur sein, dass sie es nicht eher bemerkt hatte? Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Wie seltsam, dass sie die Fähigkeit besaß, sich buchstäblich in andere Menschen zu verwandeln, und gleichzeitig so wenig fähig schien, sich in sie hineinzuversetzen.

Die Tür zu Nates Zimmer stand einen Spalt offen. Leise drückte Tessa sie weiter auf und spähte hinein. Ihr Bruder lag unter einem Berg von Decken. Das Licht der flackernden Kerze auf seinem Nachttisch fiel auf seine hellen Haare, die über das Kopfkissen gebreitet waren. Er hatte die Augen geschlossen und seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.

Im Sessel neben seinem Bett saß Jessamine. Auch sie war offenbar eingeschlafen. Mehrere blonde, lockige Strähnen hatten sich aus ihrem sorgfältig frisierten Haarknoten gelöst und hingen ihr bis auf die Schultern hinab. Irgendjemand hatte eine schwere Wolldecke über sie geworfen, die sie bis zur Brust hochgezogen hatte und im Schlaf mit beiden Händen umklammert hielt. Jessamine wirkte deutlich jünger als sonst — jünger und verwundbarer. Nichts an ihr erinnerte noch an das Mädchen im Park, das den Kobold niedergemetzelt hatte.

Es war seltsam, welche Dinge Zärtlichkeit und Güte in einem Menschen wecken konnten, überlegte Tessa. Aber es waren niemals die Dinge, die man erwartet hätte. Vorsichtig schlich sie aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

In der darauffolgenden Nacht schlief Tessa sehr unruhig und erwachte immer wieder aus einem Albtraum, in dem die Klockwerk-Kreaturen sie verfolgten und mit langen, dürren Metallhänden nach ihr griffen, um ihr die Haut vom Körper zu reißen. Nach einer Weile veränderte sich die Szenerie in einen Traum, der Jem schlafend in einem Bett zeigte, während silbernes Pulver vom Himmel auf ihn herabrieselte und die Bettdecke in Brand steckte, bis das gesamte Bett in Flammen stand. Doch trotz Tessas warnender Rufe schlief Jem ruhig weiter.

Und schließlich träumte sie von Will, der auf dem höchsten Punkt der Kuppel von St. Paul’s stand, allein im Schein eines sehr bleichen Mondes. Er trug einen schwarzen Gehrock und die Runenmale auf seiner Haut waren im schimmernden Mondlicht deutlich zu erkennen. Schweigend schaute er hinab auf London, wie ein gefallener Engel, der gelobt hat, die Stadt vor ihren eigenen schlimmsten Albträumen zu bewahren — während London unter ihm ungerührt weiterschlief, gleichgültig und ahnungslos.

Plötzlich rüttelte eine Hand heftig an Tessas Schulter und riss sie aus dem Schlaf. Dann drang eine Stimme an ihr Ohr: »Miss!«, rief Sophie angespannt.

»Miss Gray, Sie müssen aufwachen. Es geht um Ihren Bruder.«

Ruckartig setzte Tessa sich auf, wobei mehrere Kissen aus dem Bett purzelten. Das fahle Licht der Nachmittagssonne erhellte den Raum und fiel auf Sophies besorgte Miene. »Nate ist aufgewacht?«, fragte Tessa, noch leicht benommen. »Geht es ihm gut?«

»Ja ich meine, nein. Das heißt, ich weiß es nicht, Miss«, antwortete Sophie mit stockender Stimme. »Er ist verschwunden.«

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