5 Der Schattenjäger-Codex

Träume sind wahr, solange wir sie träumen,

und leben wir nicht immer im Traum?

Alfred Lord Tennyson, »The Higher Pantheism«

Tessa wanderte eine halbe Ewigkeit von einem dämmrigen Flur zum nächsten, bis sie zufällig einen Riss in einem der endlosen Wandteppiche wiedererkannte und ihr klar wurde, dass ihr Zimmer von diesem Korridor abgehen musste. Wenige Minuten später, nachdem sie mehrere Türen überprüft hatte, schloss sie dankbar ihre eigene Zimmertür hinter sich und schob den Riegel vor.

Sobald sie ihr Nachthemd angezogen hatte und unter die Bettdecke geschlüpft war, schlug sie den Schattenjäger-Codex auf und begann mit der Lektüre. »Natürlich werden Sie uns niemals verstehen lernen, indem Sie einfach nur ein Buch über uns lesen«, hatte Will gesagt, aber darum ging es nicht. Er wusste nicht, was Bücher für sie bedeuteten ... dass Bücher Symbole für Wahrheit und Sinn waren ... dass dieses hier ihre Existenz bestätigte und die weiterer ihrer Art. Die Tatsache, dass sie dieses Buch in den Händen hielt, gab ihr die Gewissheit, dass alle schrecklichen Geschehnisse der vergangenen sechs Wochen tatsächlich real gewesen waren — und ihr jetzt sogar noch realer erschienen als zur Zeit ihres tatsächlichen Martyriums. Aus dem Codex lernte Tessa, dass alle Schattenjäger von einem Erzengel namens Raziel abstammten, der dem ersten der Nephilim einen Band mit dem Titel »Das Graue Buch« überreicht hatte. Das Graue Buch war in der »Sprache des Himmels« geschrieben — denselben schwarzen Runenmalen, die Charlotte und Will auf der Haut trugen. Diese Zeichnungen wurden mithilfe einer sogenannten »Stele« in die Haut aller ausgebildeten Schattenjäger geritzt — Tessa erinnerte sich an das seltsame griffelähnliche Objekt, das Will im Dunklen Haus zum Öffnen einer Tür benutzt hatte. Die Male boten den Nephilim alle möglichen Formen von Schutz: schnelle Heilung, Stärke und Schnelligkeit, Nachtsicht und sogar die Möglichkeit, sich mithilfe einer Rune namens »Zauberglanz« vor Irdischen unsichtbar zu machen. Doch sie standen nicht jedermann zur freien Verfügung: Versah man einen Menschen oder einen Schattenweltler mit einem dieser Male, hatte das unerträgliche Schmerzen zur Folge, die den Betreffenden letztendlich in den Wahnsinn oder sogar in den Tod trieben.

Aber die Nephilim schützten sich nicht nur mithilfe der Runenmale — sie trugen auch robuste, mit magischen Symbolen versehene Lederkleidung als Kampfmontur. Der Codex zeigte Abbildungen der verschiedenen Kampfmonturen in unterschiedlichen Ländern und zu Tessas Überraschung waren auch Zeichnungen von Frauen in langärmligen Hemden und Hosen darunter — keine Pumphosen, wie Tessa sie in Karikaturen gesehen hatte, sondern richtige Herrenhosen. Während sie die Seite umblätterte, fragte sie sich kopfschüttelnd, ob Charlotte und Jessamine derart befremdlich anmutende Kleidung tatsächlich trugen. Die nächsten Seiten beschäftigten sich mit den anderen Gaben, die Raziel den ersten Schattenjägern überreicht hatte: mächtige magische Objekte namens Engelsinsignien und ein eigenes Heimatland, ein winziges Fleckchen Erde, herausgeschnitten aus dem damaligen Heiligen Römischen Reich und von Schutzschilden umgeben, sodass kein Irdischer es betreten konnte. Diese Heimat der Nephilim hieß Idris. Im flackernden Schein der Lampe las Tessa Seite um Seite, obwohl ihre Lider immer schwerer wurden. Schattenweltler, so erfuhr sie, waren übernatürliche Wesen — genau wie Feen und Elben, Werwölfe,

Vampire und Hexenwesen. Bei den Vampiren und Werwölfen handelte es sich um Menschen, die sich mit einer Dämonenkrankheit angesteckt hatten. Feenwesen stammten dagegen zur Hälfte von Dämonen und zur Hälfte von Engeln ab und zeichneten sich deshalb durch große Schönheit und einen bösartigen Charakter aus. Und Hexenwesen waren direkte Nachfahren eines Menschen und eines Dämons — kein Wunder, dass Charlotte sie gefragt hatte, ob sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter menschlicher Herkunft seien. Und das traf doch auf ihre Eltern zu, überlegte Tessa. Daher kann ich keine Hexe sein, Gott sei Dank!

Sie schaute wieder in das Buch und betrachtete eine Abbildung, die einen großen Mann mit wirren Haaren zeigte: Er stand in der Mitte eines Pentagramms, das auf den Steinboden unter seinen Füßen gezeichnet worden war, und wirkte völlig normal — wenn man einmal von der Tatsache absah, dass er katzenartige Pupillen besaß. In jeder der fünf Ecken des sternförmigen Kreidesymbols brannte eine Kerze. Während Tessa das Bild betrachtete, verschwammen ihre Augen vor Erschöpfung immer mehr, bis die Flammen miteinander zu verschmelzen schienen. Schließlich fielen ihr die Lider zu und sie versank sofort in einen tiefen Traum.

In ihrem Traum tanzte sie durch wirbelnde Rauchfahnen in einem langen, von Spiegeln gesäumten Korridor. Und jeder Spiegel, den sie passierte, zeigte ein anderes Bild von ihr. Sehnsuchtsvolle, schwermütige Musik drang an ihr Ohr, Musik, die aus großer Ferne zu kommen schien und sie gleichzeitig von allen Seiten umhüllte. Vor ihr ging ein Mann, sehr jung, schlank und bartlos — doch obwohl sie das Gefühl hatte, ihn zu kennen, konnte sie ihn nicht identifizieren, denn sein Gesicht war nicht zu sehen. Er hätte ihr Bruder sein können oder Will oder jemand völlig anderes. Sie folgte ihm, rief ihm etwas hinterher, doch er bewegte sich so schnell durch den Korridor, als würde der Rauch ihn mit sich tragen. Die Musik schwoll immer stärker an, lauter und lauter ...

Tessa erwachte ruckartig. Ihr Atem ging stoßweise und das Buch rutschte ihr vom Schoß, während sie sich aufsetzte. Der Traum war verschwunden, aber die Musik blieb, sehnsuchtsvoll und lieblich. Neugierig lief Tessa zur Tür und spähte hinaus in den Flur. Hier klang die Musik noch lauter und Tessa erkannte, dass sie aus einem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors kam. Die Tür war nur angelehnt und die Töne schienen aus dem schmalen Spalt zu perlen wie Wasser aus dem Hals einer engen Vase.

An einem Haken an der Tür hing ein Morgenmantel, den Tessa nun nahm und überstreifte. Dann trat sie aus ihrem Zimmer, durchquerte den Flur wie in Trance und legte vorsichtig eine Hand auf die Tür, die unter ihrer Berührung weit aufschwang. Der dahinterliegende Raum war nur vom Mondschein beleuchtet und sie erkannte, dass das Zimmer ihrem eigenen ähnelte: dasselbe große Himmelbett, dieselben schweren Möbel. Die Vorhänge waren zurückgezogen und silbriges Licht fiel wie ein glitzernder Nadelregen durch das hohe Fenster. Im rechteckigen Lichtfleck vor dem Fensterbrett stand jemand ... ein Junge ... zu schmächtig für einen erwachsenen Mann. Der Junge drückte eine Geige gegen die Schulter; seine Wange ruhte auf dem Instrument und der Bogen strich über die Saiten und entlockte ihnen Töne — so zart und vollendet, wie Tessa sie noch nie gehört hatte.

Der Junge hatte die Augen geschlossen. »Will?«, fragte er, ohne die Lider zu öffnen oder sein Spiel zu unterbrechen, »Will, bist du das?«

Tessa schwieg. Sie brachte es nicht übers Herz, die liebliche Musik zu stören — doch im selben Moment nahm der Junge den Bogen von der Geige und öffnete stirnrunzelnd die Augen.

»Will ...«, setzte er an, doch als er Tessa sah, musterte er sie erstaunt. »Sie sind nicht Will.« Er klang neugierig und überhaupt nicht verärgert, trotz der Tatsache, dass Tessa mitten in der Nacht in sein Zimmer eingedrungen war und ihn beim Geigenspiel überrascht hatte, noch dazu in seiner Nachtwäsche. Zumindest nahm Tessa an, dass es sich um sein Nachtzeug handelte: Er trug eine dünne, weite Hose und ein kragenloses Hemd unter einem locker geknoteten Morgenmantel aus schwarzer Seide. Tessa hatte sich nicht geirrt — er war tatsächlich jung, wahrscheinlich im selben Alter wie Will, und sein schmächtiger Körperbau unterstrich den Eindruck der Jugendlichkeit zusätzlich. Zugleich war er groß und sehr schlank und unter dem Rand seines Hemds konnte Tessa die geschwungenen Konturen der schwarzen Zeichnungen erkennen, die sie auch bei Will und Charlotte gesehen hatte.

Jetzt wusste sie, wie diese Zeichnungen hießen —

Runenmale. Und sie wusste auch, wozu sie ihren Träger machten — zu einem Nephilim. Dem Nachfahren eines Menschen und eines Engels. Kein Wunder, dass seine blasse Haut im Mondlicht so hell zu schimmern schien wie Wills Elbenlicht. Auch seine Haare leuchteten silberhell, genau wie seine mandelförmigen Augen.

»Bitte entschuldigen Sie vielmals«, setzte Tessa an und räusperte sich. Das Geräusch erschien ihr schrecklich laut und harsch in der Stille des Raumes und sie krümmte sich innerlich. »Ich ... es war nicht meine Absicht, hier einfach so einzudringen. Aber ... mein Zimmer liegt auf der anderen Seite des Flurs und ...«

»Ist schon in Ordnung.« Der junge Mann nahm die Geige von der Schulter. »Sie sind Miss Gray, stimmt’s? Das Gestaltwandler-Mädchen. Will hat mir schon von Ihnen erzählt.«

»Oh«, murmelte Tessa.

»Oh?« Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Es scheint Sie nicht sehr zu erfreuen, dass ich weiß, wer Sie sind.«

»Nein, daran liegt es nicht. Ich habe vielmehr die Befürchtung, dass Will wütend auf mich ist«, erklärte Tessa. »Also, was auch immer er Ihnen erzählt haben mag . .«

Der Junge lachte. »Will ist auf die ganze Welt wütend«, erwiderte er. »Aber dadurch lasse ich mich nicht in meinem Urteil beeinflussen.« Das Mondlicht spiegelte sich auf der glänzenden Oberfläche der Geige, als er das Instrument zusammen mit dem Bogen auf einen hohen Schrank legte. Dann wandte er sich wieder Tessa zu. »Ich hätte mich Ihnen schon eher vorstellen sollen«, sagte er lächelnd. »Mein Name ist James Carstairs. Aber bitte nennen Sie mich Jem — alle nennen mich so.«

»Oh, Sie sind Jem. Sie waren nicht beim Abendessen«, bemerkte Tessa. »Charlotte meinte, Sie seien krank. Geht es Ihnen besser?«

Jem zuckte die Achseln. »Ich war nur müde, das ist schon alles.«

»Nun ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass Sie nach den vielen Aufgaben, die Sie alle zu erledigen haben, ziemlich müde sein müssen.« Nach der Lektüre des Codex brannte Tessa förmlich darauf, ihm weitere Fragen über die Nephilim zu stellen. »Will meinte, Sie wären aus einem fernen Land nach London gekommen ... Haben Sie vorher in Idris gelebt?«

Erstaunt hob Jem die Augenbrauen. »Sie wissen von Idris?«

»Oder waren Sie vielleicht in einem anderen Institut? Die gibt es in jeder größeren Stadt, nicht wahr? Und warum sind Sie nach London gekommen ...?«

Verwirrt hob Jem eine Hand und unterbrach Tessa.

»Sie stellen ziemlich viele Fragen, finden Sie nicht?«

»Mein Bruder pflegte immer zu sagen, Neugierde sei eine meiner hartnäckigsten Untugenden.«

»Von allen Untugenden ist sie jedoch bei Weitem nicht die schlimmste.« Jem ließ sich auf der Koffertruhe am Fuß des Betts nieder und betrachtete Tessa mit ruhigem Interesse. »Dann legen Sie mal los: Fragen Sie mich, was immer Sie wollen. Ich kann ohnehin nicht schlafen und mir ist jede Form von Ablenkung willkommen.«

Sofort hörte Tessa Wills Stimme in ihrem Hinterkopf: Jems Eltern waren von Dämonen getötet worden. Aber dazu kann ich ihn unmöglich befragen, überlegte Tessa und antwortete stattdessen: »Will hat mir erzählt, dass Sie von sehr weit her kommen. Wo haben Sie denn vorher gelebt?«

»In Shanghai«, sagte Jem. »Wissen Sie, wo das liegt?«

»In China«, erwiderte Tessa, mit leichter Entrüstung in der Stimme. »Weiß das nicht jedes Kind?«

Jem grinste. »Sie wären überrascht.«

»Und was haben Sie in China gemacht?«, fragte Tessa, aufrichtig interessiert. Sie konnte sich einfach keine Vorstellung davon machen, woher Jem genau stammte. Beim Gedanken an China fielen ihr nur Bilder von Marco Polo und von Tee ein. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Ort sehr, sehr weit entfernt lag, als wäre Jem vom anderen Ende der Welt gekommen.

»Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen«, hätte ihre Tante Harriet dazu gesagt. »Ich dachte, bis auf Missionare und Seeleute würde niemand dorthin reisen«, fügte sie hinzu.

»Schattenjäger leben über die ganze Welt verteilt. Meine Mutter war Chinesin, mein Vater Engländer. Sie haben sich in London kennengelernt und sind nach Shanghai gezogen, als ihm die Leitung des dortigen Instituts angeboten wurde.«

Tessa war verwirrt. Wenn Jems Mutter Chinesin gewesen war, dann war er ein Halbchinese, oder nicht? Die meisten chinesischen Einwanderer, die sie aus New York kannte, hatten in Wäschereien gearbeitet oder handgerollte Zigarren an Straßenständen verkauft, aber keiner von ihnen hatte Jem mit seinem seltsamen silberweißen Haar und den hellen Augen auch nur im Entferntesten ähnlich gesehen. Vielleicht hing das ja damit zusammen, dass er ein Schattenjäger war, überlegte sie. Allerdings wollte ihr partout kein Weg einfallen, wie sie ihn danach fragen konnte, ohne schrecklich unhöflich zu wirken.

Glücklicherweise schien Jem nicht darauf zu warten, dass sie das Gespräch fortsetzte. »Bitte entschuldigen Sie meine Frage, aber ... Ihre Eltern sind tot, nicht wahr?«, fragte er.

»Hat Will Ihnen das erzählt?«

»Das braucht er gar nicht. Wir Waisenkinder lernen schnell, einander zu erkennen. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Waren Sie sehr jung, als es geschah?«

»Ich war drei, als sie bei einem Kutschenunfall starben. Aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« Nur in kurzen Erinnerungsfetzen: der Duft von Tabakrauch oder das fliederfarbene Kleid meiner Mutter. »Meine Tante hat mich großgezogen. Und meinen Bruder, Nathaniel. Aber meine Tante ...« Zu Tessas eigener Überraschung spürte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Vor ihrem inneren Auge tauchte das deutliche Bild ihrer Tante auf, wie sie in ihrem schmalen Messingbett gelegen hatte, mit fiebrig glänzenden Augen. Und wie sie Tessa kurz vor ihrem Ende nicht mehr erkannt und mit ihrer Mutter Elizabeth verwechselt hatte. Tante Harriet war die einzige Mutter gewesen, die Tessa je gekannt hatte. Tessa hatte ihr auf dem Sterbebett die schmächtige Hand gehalten, damals in dem kleinen Zimmer, zusammen mit dem Priester. Sie erinnerte sich daran, wie sie nach Harriets Tod gedacht hatte, dass sie nun wirklich allein war.

»Meine Tante ist vor Kurzem gestorben. Ein Fieber hat sie unerwartet hinweggerafft. Allerdings hatte sie sich nie bester Gesundheit erfreut.«

»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Jem und klang aufrichtig teilnahmsvoll.

»Das war eine schlimme Zeit für mich ... auch weil mein Bruder bereits abgereist war. Er hatte sich einen Monat zuvor auf die Überfahrt nach England begeben. Zunächst hat er uns sogar noch Geschenke nach Hause geschickt — Tee von Fortnum & Mason und Pralinen. Als Tante Harriet krank wurde und schließlich starb, habe ich ihm wieder und wieder geschrieben, doch meine Briefe kamen ungeöffnet zurück. Ich war vollkommen verzweifelt. Und dann traf eines Tages der Fahrschein ein. Ein Fahrschein für die Überfahrt nach Southampton, auf einem Dampfer. Dem Brief lag eine kurze Nachricht von Nate bei, in der er mir mitteilte, dass er mich in Southampton am Kai abholen würde, weil ich bei ihm in London leben solle, nun, da unsere Tante gestorben sei. Allerdings bin ich inzwischen nicht mehr davon überzeugt, dass diese Nachricht tatsächlich von ihm verfasst wurde ...«

Tessa verstummte; Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Bitte entschuldigen Sie, ich plappere vor mich hin. Sie müssen sich das nicht alles anhören.«

»Was für eine Sorte Mann ist Ihr Bruder? Wie ist er so?«

Tessa schaute Jem leicht verwundert an. Die anderen hatten sie gefragt, wie Nate in diese Situation geraten sein könnte und ob sie wüsste, wo die Dunklen Schwestern ihn versteckt halten würden, und ob er dieselbe Fähigkeit besaß wie sie. Aber niemand hatte wissen wollen, was für ein Mensch er war. »Tante Harriet pflegte immer zu sagen, er sei ein Träumer«, erklärte Tessa schließlich. »Er war mit dem Kopf ständig woanders. Und er interessierte sich nicht dafür, wie die Welt tatsächlich war, sondern nur dafür, wie sie in ferner Zukunft sein würde — eines Tages, wenn er alles hatte, was er sich wünschte. Wenn wir alles hatten, was wir uns wünschten«, berichtigte sie sich. »Er hat regelmäßig gespielt. Meiner Ansicht nach konnte er sich nicht vorstellen zu verlieren — das passte einfach nicht in seine Träume.«

»Träume können manchmal gefährlich sein.«

»Nein ... nein, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.« Tessa schüttelte den Kopf. »Er war ein wunderbarer Bruder. Er ...« Charlotte hatte recht: Es war tatsächlich leichter, die Tränen zu unterdrücken, wenn es einem gelang, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, den Blick auf irgendetwas zu heften. Angestrengt schaute Tessa auf Jems Hände. Schlanke, elegante Hände, mit derselben Zeichnung auf dem Handrücken wie Will. Sie zeigte auf das weit geöffnete Auge.

»Was soll das bewirken?«

Jem schien der abrupte Themenwechsel nicht zu stören. »Das ist ein Runenmal. Ist Ihnen der Begriff bekannt?« Er hielt ihr die Hand entgegen. »Dieses Mal heißt Voyance. Es schärft unseren Blick, sodass wir die Schattenwelt sehen können.« Dann drehte er die Handfläche nach oben und zog den Ärmel seines Hemdes zurück. Zwischen Handgelenk und Ellbogenbeuge befanden sich weitere Male, die sich schwarz von seiner blassen Haut abhoben. Sie schienen mit dem Geflecht seiner Adern zu verschmelzen, als würde sein Blut durch die Zeichnungen fließen. »Diese hier bedeuten Schnelligkeit, Nachtsicht, Engelskraft und rasche Heilung«, erklärte er die Runen. »Obwohl ihre Namen eigentlich komplizierter sind.«

»Bereiten sie Ihnen Schmerzen?«

»Nur in dem Moment, als ich sie erhielt. Jetzt nicht mehr.« Er zog den Ärmel wieder hinunter und lächelte. »Aber Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie nicht noch mehr Fragen haben.«

Oh, ich habe viel mehr, als du glaubst. »Warum können Sie nicht schlafen?«

Tessa sah, dass er auf diese Frage nicht gefasst gewesen war. Ein zögerlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, ehe er antwortete. Warum zögert er?, überlegte Tessa. Er konnte doch einfach lügen oder ihrer Frage ausweichen, so wie Will es tun würde. Doch zugleich spürte sie instinktiv, dass Jem nicht lügen wollte. »Ich träume schlecht.«

»Ich habe auch geträumt«, sagte Tessa. »Ich habe von Ihrer Musik geträumt.«

Jem grinste. »Dann war es wohl ein Albtraum?«

»Nein, es war wunderschön. Das Schönste, das ich seit meiner Ankunft in dieser grässlichen Stadt erlebt habe.«

»London ist nicht grässlich«, erwiderte Jem gleichmütig. »Sie müssen die Stadt einfach nur besser kennenlernen. Ich schlage vor, dass Sie mich irgendwann einmal auf einem meiner Streifzüge durch London begleiten. Ich kann Ihnen die Orte zeigen, die wirklich wunderschön sind, Orte, die ich liebe.«

»Singst du das Hohelied auf unsere schöne Stadt?«, erkundigte sich eine Stimme leichthin.

Tessa wirbelte herum und sah Will lässig im Türrahmen lehnen. Das Licht aus dem Korridor umhüllte seine feucht schimmernden Haare mit einem goldenen Schein. Der Saum seines langen dunklen Mantels und seine schwarzen Stiefel waren schlammbespritzt, als wäre er gerade von einer Jagd zurückgekehrt, und seine Wangen glühten. Wie üblich trug er keine Kopfbedeckung. »Wir behandeln dich hier gut, nicht wahr, James? Ich bezweifle, dass mir ähnliches Glück in Shanghai widerfahren würde. Wie nennt man Briten dort noch mal?«

»Yang guizi«, erwiderte Jem, den Wills plötzliches Erscheinen nicht zu überraschen schien. »Fremde Teufel.«

»Hast du das gehört, Tessa? Ich bin ein Teufel. Und du ebenfalls.« Will löste sich vom Türrahmen und schlenderte in den Raum. Dann ließ er sich auf das Bett fallen und knöpfte seinen Mantel auf, der mit einer eleganten, seidengefütterten Pelerine versehen war.

»Deine Haare sind ganz nass«, stellte Jem fest.

»Wo bist du gewesen?«

»Hier und dort und sonst wo«, grinste Will. Im Gegensatz zu seiner üblichen Eleganz wirkten seine Bewegungen seltsam hölzern, außerdem waren seine Wangen gerötet und seine Augen besaßen ein seltsames Funkeln ...

»Blau wie eine Strandhaubitze, was?«, fragte Jem, durchaus nicht unfreundlich.

Verstehe, dachte Tessa, er ist betrunken. Sie hatte ihren Bruder oft genug berauscht erlebt, um die Symptome wiederzuerkennen. Seltsamerweise verspürte sie eine vage Enttäuschung.

Jem grinste. »Wo bist du eingekehrt? Im Blue Dragon? Oder im The Mermaid?«

»In der Devil Tavern, wenn du es genau wissen willst.« Will seufzte und lehnte sich gegen einen der Bettpfosten. »Dabei hatte ich solch hehre Pläne für diesen Abend. Mein Streben zielte auf selige Volltrunkenheit in Gesellschaft kapriziöser Damen. Doch leider — es hat nicht sollen sein. Kaum hatte ich mein drittes Glas intus, als ich auch schon von einer entzückenden kleinen Blumenverkäuferin angesprochen wurde, die mir zwei Pence für ein Gänseblümchen abverlangen wollte. Der Preis erschien mir unverschämt hoch, daher lehnte ich dankend ab. Und als ich dies dem Mädchen mitteilte, machte sie sich daran, mich auszurauben.«

»Ein kleines Mädchen hat dich ausgeraubt?«, fragte Tessa.

»Genau genommen war die Blumenverkäuferin gar kein Mädchen, wie sich herausstellte, sondern ein verkleideter Liliputaner mit einem Hang zur Gewalttätigkeit, der unter dem Namen ›Sechs-Finger-Nigel‹ einschlägig bekannt ist.«

»Da kann man sich ja auch leicht täuschen«, bemerkte Jem.

»Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, wie er seine Hand in meine Tasche schob«, fuhr Will fort und gestikulierte lebhaft mit seinen narbigen, schlanken Händen. »Das konnte ich natürlich nicht durchgehen lassen, worauf fast unmittelbar danach eine Keilerei ausbrach. Ich hatte die Oberhand, bis Nigel auf die Theke sprang und mir von hinten einen Krug Gin über den Schädel zog.«

»Ah«, sagte Jem. »Das erklärt natürlich, warum deine Haare nass sind.«

»Es war ein fairer Kampf«, erläuterte Will. »Bedauerlicherweise war der Wirt der Schenke anderer Meinung. Hat mich einfach rausgeworfen. Jetzt kann ich mich die nächsten vierzehn Tage dort nicht mehr sehen lassen.«

»Was das Beste ist, das dir passieren konnte«, kommentierte Jem ohne jedes Mitgefühl. »Freut mich zu hören, dass also alles beim Alten ist. Einen Moment lang war ich in Sorge, du seist früher zurückgekehrt, um dich zu vergewissern, ob es mir besser geht.«

»Du scheinst auch ohne mich hervorragend zurechtzukommen. Wie ich sehe, hast du bereits die Bekanntschaft unserer geheimnisvollen Gestaltwandlerin gemacht«, sagte Will und schaute in Tessas Richtung. Seit seinem Erscheinen im Türrahmen war dies der erste Blick, den er ihr gönnte. »Zählt es zu deinen Gepflogenheiten, mitten in der Nacht in den Schlafgemächern fremder Gentlemen aufzutauchen? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich stärker dafür eingesetzt, dass Charlotte dich hierbleiben lässt.«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, erwiderte Tessa. »Zumal du mich einfach im Flur hast stehen lassen und ich den Weg zu meinem Zimmer selbst suchen musste.«

»Und stattdessen hast du einen Weg in Jems Zimmer gefunden?«

»Meine Geige war der Grund«, erklärte Jem. »Sie hat mich üben gehört.«

»Grässliches Gejaule, nicht wahr?«, wandte Will sich an Tessa. »Ich verstehe nicht, wieso nicht sämtliche Katzen der Nachbarschaft sofort angerannt kommen, sobald er zur Geige greift.«

»Ich fand die Musik schön.«

»Und das war sie ja auch«, pflichtete Jem ihr bei. Vorwurfsvoll zeigte Will mit dem Finger auf die beiden. »Ihr verschwört euch gegen mich. Wird es von nun an immer so sein? Ich als das fünfte Rad am Wagen? Gütiger Gott, ich werde mich mit Jessamine anfreunden müssen!«

»Jessamine kann dich nicht leiden«, bemerkte Jem.

»Dann eben Henry.«

»Henry wird dich in Brand stecken.«

»Wie wär’s mit Thomas?«, schlug Will vor.

»Thomas ...«, setzte Jem an, krümmte sich aber plötzlich zusammen: Er wurde von einem derart heftigen Hustenanfall geschüttelt, dass er von der Koffertruhe rutschte und auf die Knie sank.

Tessa war so erschrocken, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Stattdessen sah sie mit an, wie Will blitzschnell vom Bett aufsprang, sich neben Jem kniete und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sein Alkoholrausch schien wie weggeblasen.

»James«, sagte er leise. »Wo ist es?«

Jem hielt abwehrend eine Hand hoch. Sein rasselnder, stoßweiser Atem ließ seinen ganzen Körper erbeben. »Ich brauche es nicht . es geht mir gut ...« Ein erneuter Hustenanfall erfasste ihn und ein feiner hellroter Sprühregen verteilte sich auf dem Boden vor ihm. Blut.

Tessa sah, wie sich Wills Griff um die Schulter seines Freundes verstärkte, bis die Knöchel weiß hervorstachen. »Wo ist es? Wo hast du es hingelegt?«

Schwach deutete Jem auf das Bett. »Auf ...«, keuchte er. »Auf der Ablage ... in dem Kästchen ... dem silbernen ...«

»Dann hol ich es dir schnell.« Nie zuvor hatte Tessa Will mit einer derart sanften Stimme reden hören.

»Rühr dich nicht von der Stelle.«

»Als ob ich irgendwohin gehen könnte.« Jem wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und hinterließ rote Streifen auf dem Voyance-Mal.

Will richtete sich auf, drehte sich um ... und sah Tessa an. Einen Moment lang wirkte er aufrichtig überrascht, als hätte er ihre Anwesenheit völlig vergessen.

»Will ...«, flüsterte sie. »Gibt es irgendetwas ...«

»Komm mit«, sagte er, nahm sie am Arm und führte sie mit sanftem Druck zur offenen Tür. Dann schob er sie in den Flur und versperrte mit seinem Körper den Weg ins Zimmer. »Gute Nacht, Tessa.«

»Aber er hat Blut gespuckt«, protestierte Tessa mit leiser Stimme. »Vielleicht sollte ich Charlotte holen ...«

»Nein.« Will warf einen Blick über die Schulter und schaute dann wieder zu Tessa. Langsam beugte er sich vor, seine Hand noch immer auf ihrer Schulter. Tessa spürte, wie sich seine Finger in ihre Muskulatur pressten. Sie waren so nah, dass sie den Geruch der Nacht auf seiner Haut riechen konnte — eine Mischung aus Metall, Rauch und Nebel. Irgendetwas an ihm roch seltsam, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war.

»Jem hat ein Arzneimittel, das ich ihm geben werde«, sagte Will mit gesenkter Stimme. »Charlotte braucht davon nichts zu erfahren.«

»Aber wenn er doch krank ist ...«

»Bitte, Tessa.« Ein flehentliches Drängen sprach aus Wills blauen Augen. »Es wäre besser, wenn du es für dich behalten würdest.«

Aus irgendeinem Grund konnte Tessa ihm die Bitte nicht abschlagen. »Ich ... also gut.«

»Danke.« Will gab ihre Schulter frei, hob die Hand und berührte ihre Wange — so leicht, dass Tessa sich nicht sicher war, ob sie sich die Berührung nicht eingebildet hatte.

Zu verblüfft für eine Reaktion, sah sie stumm mit an, wie Will die Tür schloss. Als sie hörte, wie er von innen den Riegel vorschob, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was ihr an seinem Geruch seltsam erschienen war: Obwohl Will behauptet hatte, er habe den ganzen Abend getrunken — und sogar einen Krug Gin über den Kopf bekommen hatte —, hing nicht der geringste Hauch von Alkohol in seiner Kleidung.

Es dauerte sehr lange, bis Tessa in dieser Nacht wieder Schlaf finden konnte. Sie lag hellwach im Bett, den Codex aufgeschlagen neben sich und den Klockwerk-Engel leise tickend auf ihrer Brust, während das Licht der Straßenlaterne flackernde Muster an die Zimmerdecke malte.

Am nächsten Morgen betrachtete Tessa sich selbst im Spiegel der Frisierkommode, während Sophie die Knöpfe im Rücken ihres Kleides schloss. Im frühen Morgenlicht, das durch die hohen Fenster fiel, wirkte sie sehr blass und die dunklen Ringe unter ihren Augen traten deutlich zutage.

Tessa hatte nie zu den Mädchen gezählt, die sich stundenlang vor dem Spiegel drehten und wendeten. In der Regel genügte ihr ein rascher Blick, um sich zu vergewissern, dass ihre Haare nicht wirr abstanden und sie keine Flecken auf der Kleidung hatte. Doch jetzt konnte sie kaum die Augen von dem hageren blassen Gesicht im Spiegel abwenden. Es schien, als würde die Oberfläche Wellen werfen wie eine Reflexion auf einer Wasseroberfläche — oder wie bei den Vibrationen, die sie kurz vor einer Verwandlung erfassten. Nun, da sie andere Gesichter gehabt und durch andere Augen geschaut hatte, wie konnte sie da sicher sein, dass dieses Antlitz tatsächlich ihr eigenes war — selbst wenn es sich um dasjenige handelte, das sie seit ihrer Geburt besaß? Und wenn sie sich rückverwandelte, woher sollte sie da wissen, dass nicht doch eine winzige Kleinigkeit anders geblieben war — etwas, das sie zu einem anderen Mädchen machte als dasjenige, das sie zuvor gewesen war? Oder spielte ihr Äußeres überhaupt keine Rolle? War ihr Gesicht nicht mehr als eine Maske aus Haut und Muskeln, die nichts mit ihrem wahren Ich zu tun hatte?

Tessa konnte auch Sophies Reflexion im Spiegel erkennen. Sie hatte das Gesicht so gedreht, dass Tessa ihre vernarbte Wange deutlich sah — die Wange, die bei Tageslicht noch viel schlimmer aussah als bei ihrer ersten Begegnung. Der Anblick erinnerte Tessa an ein wunderschönes Gemälde, das jemand mit einem Messer mutwillig zerschlitzt hatte. Alles in ihr drängte danach, das Mädchen zu fragen, wie es dazu gekommen war. Doch Tessa wusste, dass sie diese Frage nicht stellen durfte. Stattdessen sagte sie: »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mir beim Ankleiden hilfst.«

»Stets zu Diensten, Miss«, erwiderte Sophie mit ausdrucksloser Stimme.

»Ich wollte dich bloß fragen ...«, setzte Tessa an. Sophie erstarrte. Sie denkt, ich würde sie zu ihrem Gesicht befragen, schoss es Tessa durch den Kopf und fuhr dann laut fort: »Die Art und Weise, wie du gestern Abend mit Will im Flur gesprochen hast ...«

Sophie lachte — kurz, aber aufrichtig. »Es ist mir gestattet, mit Mr Herondale zu reden, wie und wann ich will. Das war eine meiner Bedingungen bei meiner Anstellung in diesem Haus.«

»Charlotte hat dich Bedingungen aufstellen lassen?«

»Hier im Institut kann nicht jeder arbeiten«, erklärte Sophie. »Man muss das zweite Gesicht haben. Agatha hat diese Gabe und Thomas ebenfalls. Als Mrs Branwell erfuhr, dass auch ich das zweite Gesicht besitze, wollte sie mich sofort einstellen. Sie meinte, sie würde schon seit einer halben Ewigkeit nach einer Zofe für Miss Jessamine suchen. Allerdings warnte sie mich vor Mr Herondale und meinte, er würde sich mir gegenüber vermutlich grob und zu vertraulich verhalten. Und sie fügte hinzu, ich dürfte genauso unhöflich zu ihm sein; niemand würde daran Anstoß nehmen.«

»Irgendjemand muss ja unhöflich zu ihm sein. Schließlich verhält er sich gegenüber allen anderen sehr ungehobelt.«

»Ich wette, dass Mrs Branwell etwas Ähnliches gedacht hat.« Sophie schenkte Tessa über den Spiegel ein verschmitztes Grinsen.

Sie war unglaublich hübsch, wenn sie lächelte, dachte Tessa, ob nun mit oder ohne Narbe. »Du magst Charlotte, stimmt’s?«, fragte sie. »Sie scheint wirklich nett zu sein.«

Sophie zuckte die Achseln. »Bei meiner vorigen Stelle hat Mrs Atkins — das war die Haushälterin — über jede Kerze und jedes Stückchen Seife, das wir benutzten, Buch geführt. Wir mussten die Seife bis zum letzten Fitzelchen aufbrauchen, ehe sie uns ein neues Stück gab. Aber Mrs Branwell gibt mir neue Seife, wann immer ich es möchte.« Sie betonte den letzten Satz, als wäre er ein klares Zeugnis für Charlottes guten Charakter.

»Vermutlich verfügt das Institut über viel Geld.«

Tessa dachte an die prachtvollen Möbel und die allgemeine Grandezza des Gebäudes.

»Ja, vielleicht. Aber ich habe schon genügend Kleider für Mrs Branwell geändert, um zu wissen, dass sie sie nicht neu kauft.«

Tessa erinnerte sich an das blaue Gewand, das Jessamine am Abend zuvor beim Dinner getragen hatte.

»Und was ist mit Miss Lovelace?«

»Sie verfügt über eigene Mittel«, erwiderte Sophie vage und trat dann einen Schritt zurück. »So. Jetzt können Sie sich sehen lassen.« Tessa lächelte. »Vielen Dank, Sophie.«

Als Tessa das Speisezimmer betrat, waren die anderen schon fast mit dem Frühstück fertig. Charlotte saß in einem schlichten grauen Kleid am Tisch und strich Marmelade auf einen Toast; Henry hockte halb verborgen hinter seiner Zeitung und Jessamine löffelte zierlich eine Schüssel Haferbrei. Will dagegen hatte seinen Teller mit Eiern und Speck vollgehäuft und schaufelte sich unermüdlich durch den Berg — was Tessa recht ungewöhnlich erschien für jemanden, der behauptete, die halbe Nacht getrunken zu haben.

»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte Jessamine, als Tessa sich setzte. Sie schob eine silberne Servierplatte quer über den Tisch. »Etwas Toast?«

Tessa schaute nervös in die Runde. »Worum ging es denn dabei?«

»Natürlich darum, was wir mit Ihnen anstellen sollen. Schattenweltler können nicht auf ewig im Institut wohnen«, erwiderte Will. »Ich schlage ja vor, wir verkaufen sie an die Zigeuner in Hampstead Heath«, wandte er sich an Charlotte. »Dem Vernehmen nach erwerben diese nicht nur Pferde, sondern auch überzählige Frauen.«

»Will, hör auf.« Charlotte schaute von ihrem Frühstück auf. »Das ist einfach lächerlich.«

Will ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. »Du hast recht. Die Zigeuner würden sie niemals kaufen. Zu dürr.«

»Jetzt reicht’s«, sagte Charlotte. »Miss Gray kann hier wohnen bleiben. Und sei es auch nur deshalb, weil wir uns noch mitten in den Ermittlungen befinden, die ihre Hilfe erfordern. Ich habe dem Rat bereits eine Nachricht zukommen lassen und ihn darüber informiert, dass sie bei uns bleibt, bis die Angelegenheit mit dem Pandemonium Club geklärt und ihr Bruder aufgespürt ist. Habe ich recht, Henry?«

»Vollkommen«, bestätigte Henry und legte seine Zeitung beiseite. »Dieses Pandemonium-Dingsbums hat höchste Priorität. Ganz ohne Zweifel.«

»Dann solltest du besser Benedict Lightwood ebenfalls informieren«, wandte Will ein. »Du weißt ja, wie er manchmal ist.«

Charlotte wurde leicht blass um die Nase und Tessa fragte sich, wer dieser Benedict Lightwood wohl war.

»Will, ich möchte, dass du heute das Haus der Dunklen Schwestern noch einmal aufsuchst. Es steht zwar inzwischen leer, aber eine abschließende Durchsuchung kann nicht schaden. Und ich möchte, dass du Jem mitnimmst ...«

Bei diesen Worten änderte sich Wills belustigte Miene schlagartig. »Geht es ihm dafür denn gut genug?«

»Oh ja, es geht ihm gut genug«, erklang eine Stimme von der anderen Seite des Raums: Neben dem Sideboard stand Jem mit verschränkten Armen. Er war unbemerkt eingetreten und wirkte deutlich weniger blass als am Abend zuvor — seine rote Weste zauberte sogar einen Hauch Farbe auf seine Wangen.

»Genau genommen wartet er nur darauf, dass du dich fertig machst.«

»Du solltest zuerst etwas frühstücken«, sorgte Charlotte sich und schob die Servierplatte mit Speck in seine Richtung. Als Jem sich setzte und Tessa über den Tisch hinweg anlächelte, fügte Charlotte hinzu:

»Oh, Jem — das ist Miss Gray. Sie ist ...«

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, erwiderte Jem ruhig und Tessa spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es gelang ihr nicht, den Blick von ihm abzuwenden, während er eine Toastscheibe nahm und sie mit Butter bestrich. Wie konnte jemand, der so ätherisch wirkte, einfach dasitzen und Toast essen? Charlotte schaute verwirrt von Tessa zu Jem. »Ach, wirklich? Wann denn?«

»Ich bin Miss Gray gestern Abend auf dem Gang begegnet und habe mich ihr selbst vorgestellt. Ich glaube, ich habe ihr einen tüchtigen Schrecken eingejagt.« Seine silberhellen Augen trafen sich mit Tessas und funkelten vor Vergnügen.

Charlotte zuckte die Achseln. »Nun gut. Ich möchte, dass du Will begleitest. In der Zwischenzeit könnten Sie, Miss Gray ...«

»Bitte nennen Sie mich ›Tessa‹«, warf Tessa ein.

»Es wäre mir sehr lieb, wenn mich ab jetzt alle so anreden würden.«

»Also schön, Tessa«, sagte Charlotte mit einem leichten Lächeln. »Henry und ich werden Mr Axel Mortmain, dem Arbeitgeber Ihres Bruders, einen Besuch abstatten. Mal sehen, ob er oder einer seiner Angestellten irgendwelche Informationen über seinen Verbleib hat.«

»Vielen Dank.« Tessa war überrascht. Die Schattenjäger hatten zwar versprochen, nach ihrem Bruder zu suchen, aber Tessa hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich tatsächlich an ihr Wort hielten.

»Von Axel Mortmain habe ich schon einmal gehört«, bemerkte Jem. »Er war ein Taipan, einer der ganz großen Geschäftsmänner in Shanghai. Sein Unternehmen verfügte über Geschäftsräume am Bund.«

»Ja«, bestätigte Charlotte. »In den Zeitungen steht, dass er sein Vermögen mit dem Import von Seide und Tee gemacht hat.«

»Pah«, widersprach Jem leichthin, allerdings mit einem leicht scharfen Unterton in der Stimme. »Er hat sein Vermögen mit dem Verkauf von Opium gemacht. Genau wie alle anderen. Sie haben Opium in Indien eingekauft, mit dem Schiff nach Kanton gebracht und dort gegen Handelswaren eingetauscht.«

»Aber damit hat er nicht gegen das Gesetz verstoßen, James.« Charlotte schob die Zeitung quer über den Tisch zu Jessamine. »In der Zwischenzeit könntest du, Jessie, zusammen mit Tessa einen Blick hier hineinwerfen und alles notieren, das uns bei unseren Ermittlungen helfen könnte oder zumindest ein Nachhaken wert ist ...«

Doch Jessamine wich vor den großen bedruckten Blättern zurück, als handelte es sich um eine giftige Schlange. »Eine Dame liest keine Zeitung. Vielleicht die Gesellschaftsspalten oder die Theaternachrichten, aber nicht diesen Schund.«

»Aber du bist keine Dame, Jessamine ...«, setzte Charlotte an.

»Gütiger Himmel! Solch harsche Wahrheiten am frühen Morgen können nicht gut für die Verdauung sein«, warf Will spöttisch ein.

»Ich habe damit gemeint, dass du vor allem eine Schattenjägerin bist und erst dann eine Dame«, berichtigte Charlotte sich.

»Du vielleicht!«, entgegnete Jessamine und schob ruckartig ihren Stuhl zurück. Ihre Wangen hatten eine beunruhigende Röte angenommen. »Ich habe zwar nicht erwartet, dass es dir auffallen würde, aber es liegt wohl auf der Hand, dass Tessa nichts außer diesem schrecklichen alten Fummel zu tragen hat, der ihr noch nicht einmal passt. Nicht einmal mir passt er mehr und sie ist größer als ich.«

»Kann Sophie denn nicht ...«, schlug Charlotte vage vor.

»Man kann ein Kleid enger schneidern, aber es auf die doppelte Größe zu weiten, ist etwas völlig anderes. Also wirklich, Charlotte.« Entrüstet blies Jessamine die Wangen auf. »Ich denke, du solltest mich die arme Tessa in die Stadt begleiten und ihr neue Kleidung kaufen lassen. Denn sonst wird ihr Kleid beim ersten tiefen Atemzug aus allen Nähten platzen und wie ein Blatt von ihr abfallen.«

Will zog eine interessierte Miene. »Ich meine ja, sie sollte es sofort ausprobieren. Dann sehen wir, was passiert.«

»Äh, ich ...«, murmelte Tessa, sichtlich verwirrt. Warum war Jessamine plötzlich so nett zu ihr, nachdem sie sie noch am Abend zuvor so unfreundlich behandelt hatte? »Nein, wirklich, das ist nicht nötig ...«

»Doch, das ist es«, beharrte Jessamine.

Charlotte schüttelte den Kopf. »Jessamine, solange du im Institut lebst, bist du eine von uns und musst deinen Teil dazu beitragen ...«

»Du bist doch diejenige, die darauf bestanden hat, dass wir in Not geratene Schattenweltler aufnehmen und durchfüttern«, schnaubte Jessamine. »Und ich bin mir sicher, das beinhaltet auch, sie zu kleiden. Also trage ich meinen Teil dazu bei — zu Tessas Ausstattung.«

Henry beugte sich über den Tisch zu seiner Frau.

»Du solltest sie besser gewähren lassen«, empfahl er.

»Oder erinnerst du dich nicht mehr, wie du sie dazu bringen wolltest, die Dolche in der Waffenkammer zu sortieren, und sie sie nur dazu genutzt hat, sämtliche Tischwäsche zu zerschneiden?«

»Wir brauchten neue Tischtücher«, gab Jessamine unbeeindruckt zurück.

»Also gut, von mir aus«, grollte Charlotte. »Also ehrlich, manchmal treibt ihr mich wirklich alle zur Verzweiflung.«

»Was habe ich denn jetzt schon wieder getan?«, hakte Jem nach. »Ich bin doch gerade erst hereingekommen.«

Charlotte stützte das Gesicht in die Hände, und als Henry ihr auf die Schulter klopfte und beruhigende Geräusche von sich gab, beugte Will sich zu Jem hinüber. Dabei ignorierte er Tessa, die zwischen ihnen saß, geflissentlich. »Wollen wir sofort aufbrechen?«

»Lass mich erst noch meinen Tee austrinken«, erklärte Jem. »Außerdem verstehe ich deine Eile nicht:

Du hast doch selbst gesagt, dieses Haus würde schon seit einer Ewigkeit nicht mehr als Bordell genutzt?«

»Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein«, erwiderte Will, der nun fast über Tessas Schoß hing. Sie konnte seinen leichten, jugendlichen Duft wahrnehmen, diese Mischung aus Leder und Metall, die an seinen Haaren und seiner Haut zu haften schien. »Ich habe heute Abend noch ein Rendezvous mit einer gewissen Schönheit in Soho.«

»Du meine Güte«, flötete Tessa, an Wills Hinterkopf gerichtet. »Wenn du dich weiterhin mit SechsFinger-Nigel triffst, wird er erwarten, dass du dich ihm bald erklärst«, säuselte sie, woraufhin Jem sich fast an seinem Tee verschluckte.

Der Tag in Jessamines Begleitung begann so schrecklich, wie Tessa befürchtet hatte. Der Verkehr war einfach grauenvoll. So überfüllt ihr New York oft erschienen sein mochte — der dortige Verkehr war nichts im Vergleich zu dem tosenden Chaos, das zur Mittagszeit auf dem Strand herrschte: Kutsche auf Kutsche rollte durch die enge Straße und dazwischen drängten sich schwerfällige Handkarren, hoch mit Obst und Gemüse beladen. Frauen unterschiedlichen Alters, in Umhängetücher gehüllt und mit flachen Blumenkörben in den Händen, stürzten sich selbstmörderisch in den Verkehr, im Versuch, die Insassen der hochherrschaftlichen Pferdegespanne für ihre Waren zu interessieren. Und immer wieder musste eine Droschke plötzlich mitten auf der Straße anhalten, wodurch der Verkehr noch stärker ins Stocken geriet und was andere Droschkenkutscher dazu veranlasste, lauthals wüste Verwünschungen auszustoßen. Dieses Geschrei mischte sich mit dem ohnehin schon grässlichen Getöse aus Eisverkäufern, Zeitungsjungen mit den neuesten Schlagzeilen und dem gelegentlichen Spiel eines Leierkastenmanns. Tessa fragte sich, wieso die Bewohner Londons bei diesem Lärm nicht längst taub geworden waren.

Während sie aus dem Fenster schaute, schlurfte eine alte Frau vom Gehweg herunter auf die Kutsche zu; in den knorrigen Händen hielt sie einen großen Metallkäfig mit wild flatternden, schillernden Vögeln. Als die Frau den Kopf drehte, sah Tessa, dass ihre Haut so grün schimmerte wie Papageienfedern und dass sie statt Haaren einen bunten Federschopf auf dem Kopf trug. Aus nachtschwarzen Vogelaugen blickte sie in die Kutsche. Tessa zuckte erschrocken zurück und Jessamine, die ihrem Blick folgte, runzelte die Stirn.

»Schließen Sie die Vorhänge«, sagte sie. »Das hält uns den Schmutz vom Hals.« Damit beugte sie sich an Tessa vorbei zum Fenster und zog die Vorhänge eigenhändig zu.

Tessa betrachtete das Mädchen: Jessamine hatte die schmalen Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Haben Sie das gesehen ...?«, setzte Tessa an.

»Nein«, erwiderte Jessamine schroff und warf Tessa einen Blick zu, der in ihren Büchern häufig als »vernichtend« beschrieben worden war. Hastig schaute Tessa zur Seite.

Als sie schließlich das vornehme West End erreichten, besserte sich die Stimmung auch nicht gerade. Jessamine erteilte Thomas den Auftrag, bei der Kutsche zu warten, und zerrte Tessa dann von einem Modesalon zum nächsten, wo sie Entwurf für Entwurf betrachtete, während jeweils die hübscheste Verkäuferin die verschiedenen Modelle vorführte. (Keine echte Dame würde ein Kleid, das schon einmal von einer Fremden getragen worden war, an ihre Haut kommen lassen.) In jedem Salon gab Jessamine einen anderen, falschen Namen an und erzählte eine andere, erfundene Geschichte; und in jedem dieser Salons schienen die Besitzerinnen entzückt von ihrem Erscheinungsbild und ihrem offensichtlichen Reichtum und überschlugen sich förmlich, sie zu bedienen. Tessa hingegen wurde meist ignoriert und begnügte sich wohl oder übel — und zu Tode gelangweilt — mit der Rolle einer Zuschauerin.

In einem der Modesalons gab Jessamine sich sogar als junge Witwe aus und ließ sich ein schwarzes Trauergewand aus Crepe de Chine und Spitze vorführen. Allerdings kam dadurch ihr blondes Haar sehr vorteilhaft zur Geltung, wie selbst Tessa sich eingestehen musste.

»In diesem Kleid würden Sie einfach hinreißend aussehen und sicherlich bald eine vorteilhafte Wiedervermählung in Erwägung ziehen können.« Die Schneiderin zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Wissen Sie, wie wir dieses Modell nennen? Die Honigfalle.«

Jessamine kicherte, die Damenschneiderin lächelte wissend und Tessa überlegte kurz, ob sie auf die Straße hinauslaufen und ihrem Leben ein Ende setzen sollte, indem sie sich vor eine heranrasende Kutsche warf. Offenbar spürte Jessamine ihre Verärgerung, denn kurz darauf wandte sie sich ihr zu, ein gönnerhaftes Lächeln im Gesicht. »Ach ja: Ich benötige auch noch ein paar Kleider für meine Cousine aus Amerika«, sagte sie. »Die dortige Mode ist schlichtweg grauenerregend. Obendrein ist meine Cousine so flach wie ein Brett, was die Sache auch nicht gerade erleichtert. Aber ich bin mir sicher, dass Sie da bestimmt etwas machen können.«

Die Schneiderin blinzelte, als würde sie Tessa zum ersten Mal wahrnehmen — und möglicherweise war das ja tatsächlich der Fall. »Würden Sie sich gern ein Modell ansehen, Madam?«, fragte sie schließlich. Die darauf folgende betriebsame Geschäftigkeit erschien Tessa wie eine Art Offenbarung: In New York hatte immer Tante Harriet ihre Kleidung gekauft — vorgeschneiderte Kleider, die erst umgeändert werden mussten, damit sie passten, und die in der Regel aus billigen Stoffen in tristen Tönen wie Dunkelgrau oder Marineblau gefertigt waren. Aber niemand hatte Tessa bisher gezeigt, dass ihr ein kräftiger Blauton viel besser stand und ihre graublauen Augen besonders schön zur Geltung brachte oder dass sie Rosarot tragen sollte, damit ihre Wangen mehr Farbe bekamen. Während die Schneiderin ihre Maße nahm, inmitten einer angeregten Plauderei um Futteralstoffe, eng anliegende Oberteile und einen Modeschöpfer namens Charles Worth, stand Tessa da und starrte auf ihr Spiegelbild. Fast erwartete sie, ihre Züge verschwimmen und sich verändern zu sehen, bis die Verwandlung komplett war. Doch sie blieb sie selbst und am Ende der lebhaften Diskussion waren vier neue Kleider für sie in Auftrag gegeben, die ein paar Tage später geliefert werden sollten: eine rosafarbene Robe, ein gelbes Kleid, ein blauweiß gestreiftes Ensemble mit Elfenbeinknöpfen und eines aus goldener und schwarzer Seide. Dazu kamen noch zwei elegante Jacken, von denen eine perlenbestickte Tüllmanschetten besaß.

»Ich vermute, dass Sie in der letzten Aufmachung sogar ganz passabel aussehen werden«, sagte Jessamine, als sie wieder in die Kutsche stiegen. »Es ist doch erstaunlich, was Mode alles bewirken kann.«

Tessa zählte schweigend bis zehn, ehe sie antwortete: »Ich bin Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet, Jessamine. Sollen wir nun ins Institut zurückkehren?«

Bei dieser Frage huschte ein finsterer Schatten über Jessamines Gesicht. Sie hasst das Institut aus ganzem Herzen, dachte Tessa, vollkommen verwirrt. Aber was war denn so schlimm an dieser Institution? Natürlich konnte einem der Grund für seine Existenz, seine schiere Daseinsberechtigung, schon einiges an Kopfzerbrechen bereiten, aber daran musste Jessamine sich inzwischen doch gewöhnt haben. Schließlich war sie eine Schattenjägerin, genau wie die anderen.

»Es ist solch ein schöner Tag und Sie haben noch gar nichts von London gesehen«, sagte Jessamine.

»Ich denke, ein Spaziergang im Hydepark wäre jetzt angebracht. Und danach könnten wir zum Berkeley Square fahren und Thomas könnte uns bei Gunter’s Tea Shop ein erfrischendes Eis besorgen!«

Tessa schaute aus dem Fenster. Das Wetter war grau und diesig und ab und zu riss ein heftiger Windstoß die Wolkendecke auseinander, unter der ein kleines Fleckchen blauer Himmel zum Vorschein kam. Kein Mensch in New York hätte diesen Tag als schön bezeichnet, aber in London schienen andere Wettermaßstäbe zu gelten. Außerdem war sie Jessamine einen Gefallen schuldig und offensichtlich wollte das Mädchen unter keinen Umständen nach Hause zurückkehren. »Ich liebe Parks«, sagte Tessa schließlich. Fast schlich sich ein Lächeln auf Jessamines Gesicht.

»Du hast Miss Gray nichts von den Zahnrädern erzählt«, stellte Henry fest.

Charlotte schaute von ihren Notizen auf und seufzte. Es hatte sie immer sehr geschmerzt, dass der Rat, trotz ihrer zahlreichen Bitten, dem Institut keine zweite Kutsche bewilligte. Natürlich war ihre jetzige Kutsche von herausragender Güte und Thomas ein ausgezeichneter Kutscher. Aber wenn die Wege der verschiedenen Schattenjäger in unterschiedliche Richtungen führten, so wie heute, bedeutete dies, dass Charlotte gezwungen war, sich ein Gefährt von Benedict Lightwood zu leihen, der nicht unbedingt zu ihren Busenfreunden zählte. Und die einzige Kutsche, die er ihr widerstrebend zur Verfügung stellte, war klein und unbequem. Armer Henry, dachte Charlotte. Er war so groß, dass er mit dem Kopf ständig gegen die niedrige Decke der Kutsche stieß.

»Nein, ich habe es nicht erwähnt«, bestätigte sie nun. »Das arme Mädchen erschien mir auch so bereits überfordert genug. Ich konnte ihr doch unmöglich sagen, dass die mechanischen Teile, die wir im Keller des Dunklen Hauses gefunden haben, ausgerechnet von der Firma gefertigt worden sind, bei der ihr Bruder angestellt war. Sie sorgt sich schon genug um ihn. Diese weitere Information schien mir mehr zu sein, als sie hätte verkraften können.«

»Möglicherweise hat das gar nichts zu bedeuten«, wandte Henry ein. »Mortmain & Company fertigt die meisten Werkzeuge und Maschinenteile, die in England Verwendung finden. Mortmain ist wirklich eine Art Genie. Sein patentiertes System zur Herstellung von Kugellagern ...«

»Jaja.« Charlotte bemühte sich, die Ungeduld in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vermutlich hätten wir es ihr sagen sollen. Aber ich hielt es für das Beste, zunächst einmal mit Mr Mortmain zu sprechen und weitere Informationen einzuholen. Natürlich hast du recht: Möglicherweise weiß er überhaupt nichts und zwischen ihm und den Funden im Keller besteht nicht der geringste Zusammenhang. Aber das wäre ein ziemlich merkwürdiger Zufall, Henry. Und ich bin Zufällen gegenüber äußerst misstrauisch.«

Damit widmete sie sich wieder den Notizen, die sie über Axel Mortmain angelegt hatte. Er war der einzige (und wahrscheinlich uneheliche) Sohn von Dr. Hollingworth Mortmain, der es im Laufe der Jahre von einer bescheidenen Anstellung als Schiffsarzt bei der Handelsmarine zu einem wohlhabenden Privatier gebracht hatte, welcher mit chinesischen Unternehmen Handel trieb und Gewürze, Zucker, Seide und Tee importierte — und vermutlich auch Opium. In dieser Hinsicht stimmte Charlotte mit Jem überein. Nach dem Tod von Dr. Mortmain hatte sein Sohn Axel mit knapp zwanzig Jahren das riesige Vermögen geerbt und dieses in den Bau einer Flotte von Schiffen investiert, die schneller und wendiger waren als alle anderen damaligen Wasserfahrzeuge. Innerhalb eines einzigen Jahrzehnts hatte der junge Mortmain die Reichtümer seines Vaters erst verdoppelt und dann vervierfacht.

Charlotte las weiter und erfuhr, dass er wenige Jahre zuvor von Shanghai nach London zurückgekehrt war, seine Handelsflotte veräußert und den Erlös zum Erwerb eines großen Unternehmens genutzt hatte, welches mechanische Teile für die Herstellung von Zeitmessern produzierte — von Taschenuhren über Chronometer bis hin zu Standuhren. Mortmain war ein sehr wohlhabender Mann.

Im nächsten Moment hielt die Kutsche vor einer Zeile weißer Reihenhäuser, deren hohe Fenster auf einen kleinen Platz hinausgingen. Henry lehnte sich aus der Kutsche und las die Nummer, die auf einer Messingplakette am Torpfosten stand. »Das hier müsste es sein«, sagte er und griff nach dem Wagenschlag.

»Henry«, hielt Charlotte ihn zurück und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Henry, bitte denk daran, was wir heute Morgen besprochen haben.«

Ihr Mann lächelte wehmütig. »Ich werde mein Bestes tun, dich weder zu blamieren noch die Ermittlungen zu behindern. Ehrlich gesagt frage ich mich manchmal, warum du mich zu derartigen Terminen überhaupt mitnimmst. Du weißt doch, was für ein Tollpatsch ich im Umgang mit Menschen bin.«

»Du bist überhaupt kein Tollpatsch, Henry«, sagte Charlotte sanft. Sie sehnte sich danach, die Hand auszustrecken und sein Gesicht zu berühren, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen und ihn zu beruhigen. Doch sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass es besser war, einem Mann keine Zuneigung aufzudrängen, die er wahrscheinlich nicht wünschte — das hatte man ihr oft genug geraten.

Das Ehepaar Branwell ließ die Kutsche in der Obhut des Lightwood’schen Kutschers zurück, stieg die Stufen hinauf und betätigte die Türglocke.

Kurz darauf öffnete ihnen ein mürrischer Lakai in dunkelblauer Livree. »Guten Tag«, sagte er schroff.

»Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Sie gekommen sind?«

Charlotte warf Henry einen vielsagenden Blick zu, doch ihr Mann starrte mit einem verträumten Ausdruck in den Augen an dem Diener vorbei. Der Himmel allein wusste, womit sich seine Gedanken gerade beschäftigten — vermutlich mit Zahnrädern, Getrieben und anderen technischen Spielereien, aber ganz gewiss nicht mit der gegenwärtigen Situation. Resigniert stieß sie einen innerlichen Seufzer aus und erwiderte: »Mein Name ist Mrs Gray und das hier ist mein Mann, Mr Henry Gray. Wir sind auf der Suche nach einem unserer Verwandten, einem jungen Mann namens Nathaniel Gray. Seit nahezu sechs Wochen haben wir nichts mehr von ihm gehört. Nate ist oder war einer von Mr Mortmains Angestellten ...« Für den Bruchteil einer Sekunde schien in den Augen des Lakaien etwas aufzuflackern, ein Ausdruck von Unruhe — aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet.

»Mr Mortmain besitzt ein ziemlich großes Unternehmen. Sie können wohl kaum erwarten, dass er über die persönlichen Belange sämtlicher Mitarbeiter informiert ist. Das wäre schlichtweg unmöglich. Vielleicht sollten Sie sich an die Polizei wenden.«

Charlottes Augen verengten sich zu Schlitzen. Vor dem Aufbruch zu Mortmains Haus hatte sie die Innenseite ihrer Arme mit speziellen Runen zur Erhöhung ihrer Überredungskünste versehen. Doch dieser Lakai zählte zu den wenigen Irdischen, die dafür offenbar vollkommen unempfänglich waren. »Das haben wir bereits, doch die Polizei scheint in diesem Fall keinerlei Fortschritte zu machen. Das Ganze ist einfach schrecklich und wir sorgen uns sehr um Nate. Wenn wir Mr Mortmain vielleicht einen kurzen Moment sprechen könnten ...«

Charlotte entspannte sich, als der Diener langsam nickte. »Ich werde Mr Mortmain über Ihren Besuch informieren«, sagte er widerstrebend und trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. »Bitte warten Sie im Vestibül.« Er schien fast verwundert über seine eigene Nachgiebigkeit. Dann schwang er die Tür weit auf und Charlotte folgte ihm, Henry im Kielsog. Obwohl der Lakai es versäumte, Charlotte einen Stuhl anzubieten — ein Mangel an Höflichkeit, den sie auf die von den Runen erzeugte Verwirrung zurückführte —, nahm er Henrys Mantel und Hut und Charlottes Umhang entgegen, ehe er die beiden allein in der Eingangshalle zurückließ.

Neugierig schauten sie sich um. Das Vestibül verfügte über eine hohe Decke, war aber frei von den üblichen Ornamenten: Weder klassische Landschaftsgemälde noch Familienporträts zierten die Wände. Stattdessen hingen lange Seidenbanner von der Decke, mit chinesischen Schriftzeichen für Glück; in einer Ecke stand eine indische Schale aus getriebenem Silber, flankiert von Federzeichnungen berühmter Wahrzeichen. Charlotte erkannte den Kilimandscharo, die ägyptischen Pyramiden, das Tadsch Mahal sowie einen Abschnitt der Chinesischen Mauer. Mortmain war eindeutig ein weit gereister Mann und stolz darauf. Charlotte drehte sich zu Henry, um sich zu vergewissern, ob auch er sich umgesehen hatte. Doch ihr Mann starrte vage in Richtung Treppe, erneut in seine eigene Gedankenwelt versunken. Ehe Charlotte etwas sagen konnte, tauchte der Lakai wieder auf, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Henry und Charlotte kamen der Aufforderung nach und schlossen sich dem Diener an, der sie zum Ende des Korridors führte, dort eine schwere, glänzend polierte Eichentür öffnete und sie zum Eintreten einlud. Im nächsten Moment fanden sie sich in einem großen Arbeitszimmer wieder, mit breiten Fenstern, die auf den Platz vor dem Haus hinausgingen. Die dunkelgrünen Vorhänge waren zurückgezogen, um Licht hereinzulassen, und durch die Scheiben konnte Charlotte ihre geliehene Kutsche sehen, die am Straßenrand wartete. Das Pferd hatte den Kopf tief in seinen Futterbeutel gesteckt und der Kutscher saß auf dem hohen Kutschbock und las Zeitung. Auf der anderen Seite der Straße bewegten sich die Zweige der Bäume, doch das Rauschen der smaragdgrünen Blätter drang nicht durch die Fenster, die sämtlichen Straßenlärm aussperrten. Im Raum selbst war nichts zu hören außer dem leisen Ticken einer Wanduhr, in deren goldenes Zifferblatt jemand die Worte Mortmain & Company graviert hatte.

Schwere dunkle Holzmöbel füllten den Raum und an den Wänden hingen mehrere Tierköpfe — ein Tiger, eine Antilope und ein Leopard — sowie weitere unbekannte Landschaften. In der Mitte des Raumes stand ein großer Mahagonischreibtisch, auf dem sorgfältig geordnete Papierstapel lagen, jeweils mit einem massiven Getriebe aus Kupfer beschwert. Ein in Messing eingefasster Globus mit James Wylds berühmter Weltkarte, auf der die Länder unter britischer Herrschaft in Rosenrot abgebildet waren, stand an einer Ecke des Schreibtischs. Der Anblick eines solchen Erdballs irritierte Charlotte jedes Mal — die Welt der Irdischen besaß nicht dieselben Umrisse wie die der Schattenjäger.

Hinter dem Schreibtisch saß ein kleiner, drahtiger Mann mittleren Alters mit hellgrauen Augen und gebührend ergrauten Koteletten, der sich nun mit einem freundlichen Ausdruck im Gesicht erhob. Seine Haut wirkte wettergegerbt, als hätte er sich viel im Freien aufgehalten. Trotz seiner teuren Kleidung konnte Charlotte ihn sich mühelos an Deck eines Schiffs vorstellen, wo er begierig in die Ferne spähte. »Guten Tag«, begrüßte er seine Gäste. »Walker hat mir zu verstehen gegeben, dass Sie auf der Suche nach Mr Nathaniel Gray sind. Ist das richtig?«

»Ja«, bestätigte Henry zu Charlottes Überraschung. Henry übernahm nur selten, wenn überhaupt, die Führung in einem Gespräch mit Fremden, und sie fragte sich, ob das möglicherweise mit der kompliziert wirkenden Entwurfszeichnung auf dem Schreibtisch zusammenhing. Henry warf derart sehnsüchtige Blicke darauf, dass man meinen konnte, es handelte sich um sein Lieblingsgericht. »Wir sind hier in England seine nächsten Anverwandten«, fügte er hinzu.

»Und wir wissen es wirklich zu schätzen, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen, Mr Mortmain«, ergänzte Charlotte hastig. »Natürlich ist uns bewusst, dass Nate nur einer Ihrer vielen Angestellten war, einer von Dutzenden ...«

»Von Hunderten«, erwiderte Mr Mortmain. Er besaß eine angenehme Baritonstimme, die nun sehr amüsiert klang. »Es ist wohl richtig, dass ich nicht das Schicksal eines jeden meiner Angestellten verfolgen kann, doch an Mr Gray erinnere ich mich zufälligerweise recht gut. Eines muss ich allerdings hinzufügen: Ich kann mich nicht entsinnen, dass er jemals erwähnt hätte, Schattenjäger zu seiner Verwandtschaft zu zählen.«

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