19 Boadicea

Machte sie mein, vom ersten süßen Odem.

Mein, mein — mein rechtmäßig’ Eigen, von Geburt bis zum Tode,

Mein, mein — wie uns’re Väter es geschworen.

Alfred Lord Tennyson, »Maud«

Als die Türen des Sanktuariums sich hinter ihnen schlossen, schaute Tessa sich besorgt um: Der Raum war dunkler als bei ihrem letzten Besuch, denn dieses Mal brannten keine Kerzen in den großen Messingleuchtern und nur die flackernden Elbenlichter an den Wänden spendeten etwas Licht. Dagegen ergoss die Engelsstatue noch immer ihren endlosen Tränenstrom in das steinerne Becken, aus dem eine eisige Kälte aufstieg, die Tessa schaudern ließ.

Sophie steckte den Eisenschlüssel wieder in die Schürzentasche und zog eine sorgenvolle Miene. »Da wären wir also«, murmelte sie nervös. »Schrecklich kalt ist es hier.«

»Ach, halb so schlimm — wir werden gewiss nicht lange hierbleiben müssen«, erwiderte Jessamine. Sie hielt noch immer Nates Messer in der Hand, dessen Klinge im Elbenlicht glitzerte. »Irgendjemand wird schon zurückkehren, um uns zu retten. Will oder Charlotte ...«

»Und dann als Erstes feststellen, dass es im Institut vor Klockwerk-Monstern nur so wimmelt«, erinnerte Tessa sie. »Von Mortmain ganz zu schweigen«, fügte sie schaudernd hinzu. »Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Rettung wirklich so leicht vonstattengehen wird, wie du es darstellst.«

Jessamine maß Tessa aus kalten dunklen Augen.

»Du brauchst nun wirklich nicht so zu tun, als wäre das Ganze meine Schuld. Wenn du nicht gewesen wärst, säßen wir erst gar nicht in dieser Klemme.«

Sophie, die ein paar Schritte gegangen war, stand nun zwischen zwei wuchtigen Steinpfeilern und wirkte sehr schmächtig. Ihre Stimme hallte von den kalten Mauern wider: »Das ist nicht sehr nett, Miss.«

Doch Jessamine ignorierte sie und hockte sich missmutig auf den Beckenrand des Brunnens, nur um sofort wieder hochzuschnellen. Stirnrunzelnd wischte sie über die Rückseite ihres Kleids, das jetzt dunkle feuchte Flecken aufwies, und schnaufte aufgebracht.

»Das mag vielleicht nicht nett sein, aber es entspricht nun mal der Wahrheit. Der Magister ist nur aus einem einzigen Grund hier — wegen Tessa!«

»Ich habe Charlotte gesagt, dass das alles meine Schuld ist«, bemerkte Tessa leise. »Ich habe ihr gesagt, sie solle mich fortschicken. Aber sie wollte nichts davon hören.«

Jessamine warf den Kopf in den Nacken. »Charlotte ist einfach viel zu weichherzig und das Gleiche gilt für Henry. Und Will ... der denkt, er sei Galahad. Er will ständig alles und jeden retten. Genau wie Jem. Keiner von beiden denkt auch nur ein bisschen praktisch.«

»Aber wenn es nach dir gegangen wäre ...«, setzte Tessa an.

»Hättest du im Nu auf der Straße gestanden, allenfalls mit ein paar warmen Worten zum Abschied«, ergänzte Jessamine und rümpfte die Nase. Als sie sah, wie Sophie sie entgeistert anstarrte, fügte sie hinzu:

»Also, wirklich! Jetzt sei doch nicht so ein Duckmäuser, Sophie. Agatha und Thomas würden schließlich noch leben, wenn ich hier das Sagen gehabt hätte, oder etwa nicht?«

Sophie wurde kreidebleich und die Narbe auf ihrer Wange hob sich wie der Handabdruck einer Ohrfeige von ihrer weißen Haut ab. »Thomas ist tot?«, stieß sie entsetzt hervor.

Jessamine zögerte und schaute schuldbewusst wie jemand, der genau wusste, dass er einen Fehler begangen hat. »So habe ich das nicht gemeint.«

Doch Tessa musterte sie scharf. »Was ist passiert, Jessamine? Wir haben gesehen, wie du verletzt wurdest ...«

»Und ihr habt herzlich wenig dagegen unternommen«, schnaubte Jessamine und setzte sich schmollend auf den Beckenrand — offensichtlich schien sie der Zustand ihres Kleides nicht länger zu interessieren. »Ich war bewusstlos ... und als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass ihr alle das Weite gesucht hattet, bis auf Thomas. Auch Mortmain war verschwunden, nur seine Klockwerk-Kreaturen nicht. Eines dieser Monster steuerte schon wieder auf mich zu und ich suchte verzweifelt nach meinem Sonnenschirm, doch er war völlig zertrampelt und zu nichts mehr zu gebrauchen. Dann sah ich, dass Thomas von diesen Kreaturen umzingelt war, und wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er rief mir zu, ich solle fliehen. Also ... bin ich geflohen.« Trotzig hob sie das Kinn.

Sophies Augen blitzten aufgebracht. »Du hast ihn dort zurückgelassen? Vollkommen allein?«

Mit einer wütenden Geste knallte Jessamine das Messer auf den Beckenrand, das jedoch herunterrutschte und klirrend am Fuß des Springbrunnens liegen blieb. »Ich bin eine Dame, Sophie. Und es wird allgemein erwartet, dass ein Mann sich für die Sicherheit einer Dame aufopfert.«

»So ein Blödsinn!« Sophies Hände waren zu kleinen festen Fäusten geballt. »Sie sind eine Schattenjägerin! Und Thomas ist nur ein Irdischer! Sie hätten ihm helfen können. Aber das wollten Sie nicht, weil Sie nämlich viel zu egoistisch sind! Und ... und abscheulich!«

Jessamine starrte Sophie mit offenem Mund an.

»Wie kannst du es wagen, in diesem Ton ...«, setzte sie an, unterbrach sich aber, als plötzlich ein dumpfes Donnern durch das Sanktuarium hallte — das Dröhnen des Türklopfers.

Der Klopfer wurde ein zweites Mal betätigt und dann rief eine vertraute Stimme von der anderen Seite der Tür: »Tessa! Sophie! Ich bin’s, Will.«

»Gott sei Dank«, stieß Jessamine hervor — mindestens so erleichtert über die Tatsache, die hitzige Diskussion mit Sophie nicht länger fortführen zu müssen, wie über ihre bevorstehende Rettung. Hastig lief sie zur Tür. »Will! Hier ist Jessamine. Ich bin auch hier drin!«

»Und ist mit euch dreien auch alles in Ordnung?«

Will klang auf eine Weise besorgt, die Tessa die Kehle zuschnürte. »Was ist passiert? Wir sind von Highgate hierher zurückgerast und dann hab ich gesehen, dass die Türen des Instituts offen standen. Wie um alles in der Welt ist Mortmain hier hereingekommen?«

»Er hat die Schutzschilde irgendwie umgangen«, erwiderte Jessamine bitter und streckte die Hand nach der Türklinke aus. »Keine Ahnung, wie er das gemacht hat.«

»Ach, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Er ist tot. Und die Klockwerk-Kreaturen sind alle vernichtet.«

Wills Ton klang beruhigend ... aber warum fühlte sie sich alles andere als beruhigt?, überlegte Tessa. Sofort drehte sie sich zu Sophie um, die wie gebannt auf die Tür starrte, eine scharfe senkrechte Falte auf der Stirn. Das Mädchen bewegte die Lippen, als würde sie irgendetwas wispern. In dem Moment erinnerte Tessa sich, dass Charlotte ihr erzählt hatte, Sophie besäße das zweite Gesicht — und das mulmige Gefühl in ihrem Magen schwoll schlagartig zu heller Panik an. »Jessamine!«, rief sie angsterfüllt. »Jessamine, rühr die Tür nicht an ...«

Doch es war bereits zu spät: Die beiden Türflügel schwangen weit auf. Und auf der Schwelle stand Mortmain, flankiert von seinen Klockwerk-Monstern.

Dem Erzengel sei Dank für diesen Zauberglanz, dachte Will. Denn der Anblick eines jungen Mannes, der ohne Sattel auf einem schwarzen Ross über die Farringdon Road preschte, hätte selbst in einer blasierten Metropole wie London für erhobene Augenbrauen gesorgt. Doch derart getarnt konnte Will dem Pferd freien Lauf lassen, das nun im rasenden Galopp durch die Straßen flog und dabei jede Menge Staub aufwirbelte — ohne dass auch nur irgendjemand den Kopf drehte oder mit der Wimper zuckte. Und obwohl die wenigen Passanten Ross und Reiter nicht sehen konnten, schienen sie dennoch immer wieder einen Grund zu finden, ihnen auszuweichen und nicht niedergetrampelt zu werden — eine herabgefallene Brille, nach der sich jemand bückte, ein Schritt zur Seite, um eine Pfütze zu umgehen.

Von Highgate bis zum Institut waren es ungefähr fünf Meilen. Auf dem Hinweg hatte die Kutsche eine Dreiviertelstunde dafür gebraucht, doch nun legte Will die Strecke in knapp zwanzig Minuten zurück. Allerdings war Balios schweißüberströmt und schnaufte mit geweiteten Nüstern, als die beiden durch das Institutstor preschten und vor den Eingangsstufen zum Stehen kamen.

Sofort sank Will der Mut: Die Portaltür war weit geöffnet ... sperrangelweit, als wolle sie die Nacht ins Haus einladen. Dabei galt es als schwerer Verstoß, die Tür des Instituts auch nur einen Spaltbreit offen stehen zu lassen.

Sein Gefühl hatte ihn also nicht getrogen: Hier war etwas Furchtbares im Gange!

Rasch ließ Will sich von Balios’ Rücken gleiten, wobei seine schweren Stiefel dröhnend auf dem Kopfsteinpflaster auftrafen. Dann schaute er sich nach einer Möglichkeit um, sein Pferd anzubinden. Aber da er das Zaumzeug durchtrennt hatte und Balios ihm einen Blick zuwarf, als würde er jeden Moment nach ihm schnappen, zuckte Will nur die Achseln und lief die Stufen hinauf.

Jessamine rang erschrocken nach Atem und wich ruckartig zurück, als Mortmain das Sanktuarium betrat. Sophie schrie auf und duckte sich hinter einen der Pfeiler. Doch Tessa war zu schockiert, um auch nur einen Finger zu rühren. Die vier Automaten, die Mortmain flankierten, starrten reglos geradeaus; ihre glänzenden Gesichter wirkten wie Metallmasken. Hinter Mortmain drängte Nate in den Raum. Er trug einen behelfsmäßigen, blutbefleckten Verband um den Kopf, offensichtlich aus einem Stück Gewebe seines Hemds — Jems Hemd — gefertigt. Sein hasserfüllter Blick fiel auf Jessamine. »Du dummes Miststück«, knurrte er und marschierte auf die Schattenjägerin zu.

»Nathaniel!« Mortmains Stimme knallte wie eine Peitsche durch die kalte Luft und Nate erstarrte. »Jetzt ist nicht der Augenblick, um deine kleinlichen Rachegelüste zu befriedigen. Vorher wirst du noch etwas für mich erledigen — du weißt genau, wovon ich spreche. Also hole es.«

Nate zögerte und musterte Jessamine wie eine Katze, die eine Maus entdeckt hat.

»Nathaniel. Zur Waffenkammer. Sofort!«

Widerstrebend wandte Nate sich von Jessamine ab, und als sein Blick Tessa streifte, verwandelte sich der wütende Ausdruck auf seinem Gesicht in ein höhnisches Grinsen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus dem Raum. Gleichzeitig lösten sich zwei der Klockwerk-Kreaturen von Mortmains Seite und folgten ihm.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, breitete sich ein erfreutes Lächeln auf Mortmains Zügen aus. »Ihr zwei da«, sagte er und schaute von Jessamine zu Sophie, »verschwindet!«

»Nein.« Die dünne, aber störrische Stimme, die durch den Raum hallte, stammte von Sophie — obwohl auch Jessamine, zu Tessas Überraschung, keine Anstalten machte, das Sanktuarium zu verlassen.

»Nicht ohne Tessa«, fügte Sophie hinzu.

Mortmain zuckte die Achseln. »Wie ihr wollt«, erwiderte er gleichgültig und wandte sich an die Klockwerk-Kreaturen. »Schnappt euch die beiden«, befahl er. »Die Schattenjägerin und das Dienstmädchen. Tötet sie beide«, fügte er hinzu und schnippte ungeduldig mit den Fingern.

Sofort setzten sich die Automaten in Bewegung und stürmten mit der bizarren Schnelligkeit davonhuschender Ratten auf die Mädchen zu. Jessamine wirbelte herum, um zu fliehen, doch sie kam nur wenige Schritte weit, als eine der Kreaturen sie auch schon packte und hoch in die Luft hob. Sophie huschte zwischen den Steinpfeilern hin und her wie ein Eichhörnchen im Wald, doch es nutzte alles nichts: Der zweite Automat holte sie im Nu ein und warf sich mit solcher Wucht auf sie, dass das Mädchen laut aufschrie. Jessamine war inzwischen vollkommen verstummt: Der Klockwerk-Mann hatte ihr seine Metallhand auf den Mund gepresst und hielt sie von hinten umklammert, wobei sich seine Finger brutal in ihre Hüfte gruben. Hilflos zappelten ihre Füße in der Luft — wie die letzten Zuckungen eines verurteilten Verbrechers am Galgen.

»Aufhören! Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören!«, stieß Tessa in dem Moment krächzend hervor; ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd.

Sophie hatte sich inzwischen aus dem Griff der Klockwerk-Kreatur herausgewunden und krabbelte schluchzend auf allen vieren über den Steinboden. Doch der Automat bekam sie am Fußgelenk zu fassen und zerrte sie so brutal zurück, dass ihre Schürze zerriss.

»Bitte!«, rief Tessa erneut, den Blick beschwörend auf Mortmain geheftet.

»Sie können das Ganze sofort beenden, Miss Gray«, erwiderte Mortmain. »Versprechen Sie mir, dass Sie nicht zu fliehen versuchen.« Er musterte sie mit glühenden Augen. »Dann werde ich die beiden Mädchen gehen lassen.«

Jessamine, deren dunkle Augen oberhalb der Hand auf ihrem Mund gerade noch zu sehen waren, warf ihr einen flehentlichen Blick zu, während Sophie mittlerweile schlaff im eisernen Griff der anderen Klockwerk-Kreatur hing.

»Ich werde hierbleiben«, versprach Tessa. »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Aber bitte lassen Sie sie frei!«

Einen Augenblick herrschte Stille. Doch dann wandte Mortmain sich an seine mechanischen Monster: »Ihr habt gehört, was sie gesagt hat. Also bringt die Mädchen aus dem Raum. Tragt sie nach unten in die Halle, aber tut ihnen nichts.« Und dann überzog ein Lächeln sein Gesicht - ein dünnes, verschlagenes Lächeln. »Lasst Miss Gray mit mir allein.«

Noch bevor Will die Portaltür durchschritten hatte, spürte er es — das nervenaufreibende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte ... dass hier irgendetwas Fürchterliches geschehen war oder gerade geschah. Diese Sinneswahrnehmung hatte er zum ersten Mal erlebt, als er gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen war ... als er dieses verfluchte Kästchen in den Händen gehalten hatte. Aber er hätte sich niemals träumen lassen, etwas Ähnliches jemals in der Sicherheit des Instituts zu empfinden.

Er entdeckte Agathas Leichnam in dem Moment, als er über die Türschwelle trat. Sie lag auf dem Rücken; ihre glasigen Augen starrten an die Decke und die Brustpartie ihres schlichten grauen Kleides war blutdurchtränkt. Eine alles überwältigende Wut erfasste Will und bereitete ihm ein leichtes Schwindelgefühl. Entschlossen biss er sich auf die Lippe und beugte sich zu Agatha hinab, um ihr die Augen zu schließen, ehe er sich wieder aufrichtete und sich umschaute.

Die Spuren eines heftigen Handgemenges waren nicht zu übersehen: Überall lagen Metallteile herum, verbogene und zerbrochene Zahnräder, und in die schimmernden Ölpfützen mischten sich mehrere Blutlachen. Vorsichtig bewegte Will sich durch die Eingangshalle und stieß im hinteren Bereich auf die zerfetzten Überreste von Jessamines Sonnenschirm. Zornig biss er die Zähne zusammen und schlich weiter in Richtung der Wendeltreppe.

Und dort, zusammengesackt auf der untersten Stufe, lag Thomas, reglos in einer sich ausdehnenden Blutlache. Ein Schwert ruhte auf dem Boden neben ihm, nicht weit von seinen erschlafften Fingern entfernt; die Klinge war schartig und verbeult, als hätte Thomas versucht, einen Felsblock damit zu spalten. Aus seiner Brust ragte ein zerklüftetes Metallteil hervor. Es erinnerte Will an ein abgebrochenes Sägeblatt, während er näher herantrat und sich neben Thomas auf den Boden kniete.

Ein trockenes, brennendes Gefühl breitete sich in seiner Kehle aus und er schmeckte eine Mischung aus Metall und Hass in seinem Mund. Nur selten trauerte er bereits während eines Kampfes. Normalerweise sparte er sich seine Gefühle für die Zeit danach auf ... die Gefühle, die er noch nicht so tief zu vergraben gelernt hatte, dass er sie kaum noch wahrnahm. Doch jetzt schnürte ihm ein dumpfer Schmerz die Kehle zu, auch wenn seine Stimme beherrscht klang, als er den Abschiedsgruß sprach. »Sei gegrüßt und leb wohl, Thomas«, sagte er und streckte eine Hand aus, um seinem Freund die Augen zu schließen. »Ave .«

Plötzlich schnellte eine Hand hoch und packte ihn am Handgelenk. Sprachlos starrte Will nach unten, als Thomas’ glasige Augen seinen Blick suchten. Und während der weißliche Hauch des Todes bereits sein hellbraunes Gesicht überzog, stieß er mühsam hervor:

»Bin ... kein ... Schattenjäger.«

»Du hast das Institut verteidigt«, sagte Will. »Du hast dich so gut geschlagen wie jeder andere von uns.«

»Nein.« Erschöpft schloss Thomas die Augen. Seine Brust hob und senkte sich kaum noch und sein Hemd war derart mit Blut getränkt, dass es fast schwarz schimmerte. »Sie hätten ... sie abgewehrt, Sir ... Und das ... wissen Sie auch.«

»Thomas«, wisperte Will. Am liebsten hätte er ihm zugerufen: Sei still, spar deine Kräfte. Sobald die anderen hier sind, wird alles gut und du wirst dich bestimmt bald erholen. Aber es war eindeutig, dass Thomas sich nicht mehr erholen würde. Er war ein Mensch — keine Heilrune der Welt würde ihn retten können. Will wünschte inständig, Jem stünde nun statt seiner hier an Thomas’ Seite. Jem war derjenige, den man an seinem eigenen Sterbebett sehen wollte, denn Jem konnte jedem das Gefühl geben, dass alles wieder in Ordnung kommen würde — wohingegen Will insgeheim befürchtete, dass es nur wenige Situationen gab, die durch seine Anwesenheit nicht noch verschlimmert wurden.

»Sie lebt«, stieß Thomas hervor, die Augen weiterhin fest geschlossen.

»Wie bitte?«, fragte Will vollkommen überrumpelt.

»Die junge Dame, wegen der Sie zurückgekommen sind. Tessa. Sie ist bei Sophie.« Thomas klang, als wäre es für jedermann offensichtlich, dass Will um Tessas willen zurückgekehrt war. Im nächsten Moment wurde Thomas von einem Hustenanfall gepackt und ein Schwall Blut ergoss sich aus seinem Mund und rann ihm das Kinn hinab. Aber das schien er gar nicht mehr wahrzunehmen. »Passen Sie gut auf Sophie auf, Will. Sophie ist ...«

Doch Will sollte nicht mehr herausfinden, was mit Sophie war — Thomas’ Griff um sein Handgelenk erschlaffte plötzlich, sein Kopf sackte nach hinten und schlug mit einem dumpfen Dröhnen auf dem harten Steinboden auf. Langsam setzte Will sich auf. Er hatte diesen Moment oft genug miterlebt, um genau zu wissen, dass der Tod eingetreten war. Und es bestand auch keine Notwendigkeit, Thomas’ Lider zu schließen — er hatte die Augen nicht mehr geöffnet.

»Schlaf nun, treuer und ergebener Diener der Nephilim«, sagte Will leise, ohne genau zu wissen, woher diese Worte kamen. »Schlaf. Und danke für alles.«

Natürlich reichte das nicht ... nicht einmal annähernd, doch mehr hatte er im Moment nicht zu bieten. Hastig rappelte Will sich auf und lief die Wendeltreppe hinauf.

Nachdem sich die Tür hinter den KlockwerkKreaturen geschlossen hatte, breitete sich eine unbehagliche Stille im Sanktuarium aus, die nur vom Plätschern des Springbrunnens hinter Tessas Rücken durchbrochen wurde.

Mortmain stand reglos da und musterte sie schweigend. Auch jetzt bot er noch immer keinen Furcht einflößenden Anblick, überlegte Tessa: Ein kleiner, ganz gewöhnlicher Mann mit dunklen, an den Schläfen ergrauten Haaren und eigentümlich hellen Augen.

»Miss Gray«, hob er nun an, »ich hatte so gehofft, unsere erste alleinige Zusammenkunft hätte unter anderen Umständen stattfinden und für uns beide ein bedeutend angenehmeres Erlebnis sein können.«

Tessas Augen brannten. »Was sind Sie?«, stieß sie hervor. »Ein Hexenmeister?«

Mortmain quittierte ihre Frage mit einem schnellen, kalten Lächeln. »Bloß ein kleines Menschlein, Miss Gray.«

»Aber Sie haben Magie angewandt«, hielt Tessa entgegen. »Sie haben mit Wills Stimme gesprochen ...«

»Ein jeder kann lernen, die Stimmen anderer zu imitieren; dazu bedarf es nur etwas Übung«, erwiderte Mortmain. »Es war nichts weiter als eine kleine List, ein simpler Taschenspielertrick. Damit rechnet niemand und schon gar nicht die Nephilim. Sie glauben, dass wir Menschen Nichtsnutze sind und auch für nichts zu gebrauchen.«

»Nein«, wisperte Tessa. »Das glauben sie keineswegs.«

Mortmains Mundwinkel zuckten. »Wie rasch Sie sie in Ihr kleines Herz geschlossen haben ... Ihre natürlichen Feinde. Aber das werden wir Ihnen schnell wieder abgewöhnen.« Er machte einen Schritt auf Tessa zu, worauf diese zurückwich. »Ich werde Ihnen nichts tun«, sagte er. »Ich will Ihnen bloß etwas zeigen.« Dann griff er in seinen Mantel und zog eine elegante goldene Taschenuhr an einer dicken Goldkette hervor.

Fragt er sich etwa, wie spät es ist?, dachte Tessa und spürte, wie ein hysterisches Kichern in ihrer Kehle aufstieg. Aber es gelang ihr, diesen Drang zu unterdrücken.

Mortmain streckte ihr den Zeitmesser entgegen.

»Miss Gray«, sagte er, »bitte nehmen Sie diese Uhr.«

Misstrauisch starrte Tessa ihn an. »Nein, ich will sie nicht.«

Erneut machte er einen Schritt auf sie zu und Tessa wich so weit zurück, bis ihre Röcke die niedrige Brüstung des Steinbrunnens berührten. »Nehmen Sie die Uhr, Miss Gray.«

Tessa schüttelte den Kopf.

»Nehmen Sie sie!«, sagte Mortmain drohend. »Oder ich werde meine Klockwerk-Diener herbeizitieren und ihnen befehlen, Ihren beiden Freundinnen so lange den Hals zuzudrücken, bis sie tot sind. Ich brauche bloß zu dieser Tür zu gehen und sie zu rufen. Es liegt ganz bei Ihnen.«

Tessa spürte bittere Gallenflüssigkeit in ihrer Kehle aufsteigen. Angewidert starrte sie auf die entgegenstreckte Taschenuhr, die an ihrer goldenen Kette hin und her baumelte. Die Uhr war eindeutig nicht aufgezogen — die Zeiger hatten schon lange aufgehört, sich zu drehen, und die Zeit schien um Mitternacht stehen geblieben zu sein. Auf der Rückseite des Uhrgehäuses waren die Initialen" T. S. in einer eleganten Schrift eingraviert. »Warum?«, wisperte Tessa. »Warum wollen Sie, dass ich die Uhr entgegennehme?«

»Weil ich will, dass Sie sich verwandeln«, erklärte Mortmain. Ruckartig hob Tessa den Kopf und starrte ihn ungläubig an. »Was?«

»Diese Uhr hat einst jemandem gehört«, sagte Mortmain. »Jemandem, den ich sehr gern noch einmal sprechen möchte.« Seine Stimme klang gleichmütig, doch darunter lag ein seltsamer Unterton, eine brennende Gier, die Tessa mehr Angst einjagte, als jeder Wutausbruch es vermocht hätte. »Ich weiß, dass die Dunklen Schwestern Sie in der Kunst der Verwandlung unterrichtet haben«, fuhr Mortmain fort. »Und ich weiß, dass Sie Ihre Fähigkeiten kennen. Sie sind die Einzige auf der ganzen Welt, die das vollbringen kann, wozu Sie fähig sind. Ich weiß das deshalb, weil ich Sie erschaffen habe.«

»Sie haben mich erschaffen?« Entgeistert starrte Tessa ihn an. »Sie wollen damit doch nicht etwa sagen ... Sie können unmöglich mein Vater sein . .«

»Ihr Vater?«, lachte Mortmain kurz auf. »Ich bin ein Mensch — kein Schattenwesen. In meinen Adern fließt kein Dämonenblut und ich verkehre auch nicht mit Dämonen. Uns beide verbinden keinerlei Blutsbande, Miss Gray. Und dennoch würden Sie nicht existieren, wenn ich nicht gewesen wäre.«

»Das verstehe ich nicht«, wisperte Tessa.

»Das brauchen Sie auch nicht«, entgegnete Mortmain, der allmählich die Geduld verlor. »Sie brauchen nichts weiter zu tun als das, was ich Ihnen sage. Und ich sage Ihnen nun, dass Sie sich verwandeln sollen. Und zwar sofort.«

Tessa hatte das Gefühl, wieder vor den Dunklen Schwestern zu stehen, verängstigt und hellwach, mit rasendem Puls. Wieder wurde ihr befohlen, einen Teil tief in ihrem Inneren aufzusuchen, der ihr schreckliche Angst einjagte ... Ein weiteres Mal sollte sie sich in jener Dunkelheit verlieren, diesem schwarzen Nichts zwischen ihrem Selbst und dem einer anderen Person. Aber vielleicht würde es ihr dieses Mal ja leichtfallen:

Sie musste nur die Hand ausstrecken, die Uhr entgegennehmen und in die Haut eines anderen schlüpfen. So wie sie es schon mehrfach getan hatte, gegen ihren eigenen Willen und ohne eine andere Wahl zu haben. Langsam schaute sie zu Boden, fort von Mortmains bohrendem Blick, und sah hinter sich am Fuß des Springbrunnens plötzlich etwas glitzern. Eine Wasserpfütze, dachte sie im ersten Moment. Doch dann erkannte sie, dass es sich um etwas völlig anderes handelte, und reagierte, ohne nachzudenken, fast instinktiv.

»Nein«, verkündete sie.

Mortmain kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Wie bitte?«

»Ich habe Nein gesagt.« Tessa hatte das Gefühl, als stünde sie neben sich und würde sich selbst dabei zusehen, wie sie sich Mortmain widersetzte — als würde sie eine fremde Person beobachten. »Ich werde mich nicht verwandeln. Nicht solange Sie mir nicht verraten, was Sie damit gemeint haben, Sie hätten mich erschaffen. Warum bin ich so, wie ich bin? Wieso benötigen Sie meine Fähigkeit so dringend? Was soll ich für Sie übernehmen? Sie führen etwas anderes im Schilde als nur die Errichtung einer Armee von Monstern. Das kann ich deutlich erkennen — ich bin nicht so töricht wie mein Bruder.«

Mortmain stopfte die Uhr wieder in seine Tasche. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. »Nein«, schnaubte er, »Sie sind wahrlich nicht so töricht wie Ihr Bruder. Er ist töricht und feige. Und Sie sind töricht und kühn. Doch damit erweisen Sie sich keinen Gefallen. Denn Ihre Freunde werden für Ihr Verhalten büßen — und zwar vor Ihren Augen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür.

Hastig bückte Tessa sich und griff nach dem glitzernden Gegenstand, der hinter ihr lag: das Messer, das Jessamine auf den Brunnenrand gelegt hatte, das zu Boden gefallen war und dessen Klinge im Schein des Elbenlichts gefährlich funkelte. »Halt!«, rief sie laut. »Mr Mortmain, bleiben Sie stehen!«

Mortmain drehte sich um und sah das Messer in ihrer Hand. Ein Ausdruck müder Belustigung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Also wirklich, Miss Gray«, höhnte er. »Glauben Sie ernsthaft, Sie könnten mich damit verletzen? Meinen Sie wirklich, ich wäre gänzlich unbewaffnet hierher gekommen?« Grinsend schob er seinen Mantel ein wenig beiseite, sodass Tessa den Knauf der Pistole sehen konnte, die in seinem Gürtel steckte.

»Nein«, sagte Tessa ruhig. »Nein, ich glaube nicht, dass ich Sie damit verletzen kann.« Dann drehte sie das Messer in ihrer Hand, sodass die Klinge auf ihre eigene Brust zeigte. »Aber wenn Sie noch einen Schritt in Richtung dieser Tür machen, dann verspreche ich Ihnen, werde ich mir dieses Messer ins Herz rammen.«

Es kostete Jem viel mehr Zeit als erwartet, das von Will zerschlitzte Zaumzeug zu reparieren, und der Mond stand schon beunruhigend hoch am Himmel, als er die Kutsche endlich durch das Institutstor lenkte und Xanthos am Fuß der Portaltreppe zum Stehen brachte.

Sein Blick fiel auf Balios, der in der Nähe der Stufen an einem Grashalm knabberte und noch immer ziemlich erschöpft wirkte. Will musste wie der Teufel geritten sein, überlegte Jem, aber wenigstens war er heil angekommen. Doch dies erschien ihm nur als kleiner Trost, wenn man bedachte, dass die Institutstür weit geöffnet war — ein Anblick, der Jem einen mächtigen Schrecken einjagte und ihm so widernatürlich erschien wie ein Gesicht ohne Augen oder ein Himmel ohne Sterne - etwas, das einfach nicht sein durfte.

»Will?«, rief er mit lauter Stimme. »Will, kannst du mich hören?« Als er keine Antwort erhielt, sprang er vom Kutschbock, nahm seinen Spazierstock an sich und wog ihn einen Moment in der Hand. Seine Gelenke hatten zu schmerzen begonnen, was ihm Sorge bereitete. Die nachlassende Wirkung des Dämonenpulvers kündete sich normalerweise durch Gelenkbrennen an - ein dumpfer Schmerz, der sich langsam ausbreitete, bis sein ganzer Körper in Flammen zu stehen schien. Aber er konnte sich diese Qualen jetzt nicht erlauben; er musste an Will denken und an Tessa. Vor seinem inneren Auge sah er sie vor sich auf den Stufen stehen, während er die Bibelworte zitierte. Sie hatte so besorgt gewirkt und der Gedanke, dass sie sich vielleicht um ihn sorgte, hatte ihm ein unerwartet warmes Gefühl bereitet.

Entschlossen wandte er sich von der Kutsche ab, um die Treppe hinaufzusteigen - und erstarrte. Jemand kam bereits die Stufen hinunter, allerdings mehr als nur eine Person ... eine ganze Gruppe! Sie standen im Licht der Eingangshalle, sodass Jem einen Moment blinzeln musste und nur Umrisse erkennen konnte. Ein paar der Silhouetten schienen seltsam missgestaltet.

»Jem!«, rief eine hohe, verzweifelte Stimme — eine vertraute Stimme.

Jessamine.

Wie elektrisiert stürmte Jem die untersten Stufen hinauf und hielt plötzlich abrupt inne. Vor ihm stand Nathaniel Gray, mit zerrissener blutbespritzter Kleidung. Er trug einen behelfsmäßigen Kopfverband, der an der rechten Schläfe dunkelrot schimmerte, und zog eine finstere Miene.

Zwei Klockwerk-Kreaturen flankierten ihn wie gehorsame Diener. Dahinter folgten zwei weitere Automaten, von denen einer Jessamine festhielt, die sich verzweifelt wehrte, während der andere Automat eine schlaffe, halb bewusstlose Gestalt hinter sich herschleifte — Sophie.

»Jem!«, schrie Jessamine auf. »Nate ist ein Lügner. Er hat die ganze Zeit mit Mortmain zusammengearbeitet — Mortmain ist der Magister, nicht de Quincey.«

Sofort wirbelte Nathaniel herum. »Bring sie zum Schweigen!«, schnauzte er den Klockwerk-Mann hinter sich an, dessen Metallarme sich daraufhin so fest um Jessamines Brustkorb spannten, dass die Schattenjägerin erst hustete und dann verstummte, während vor Schmerz sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht wich. Dennoch zeigte sie mit den Augen auf den Automaten rechts von Nathaniel.

Jem folgte ihrem Blick und sah, dass die Kreatur ein wohlbekanntes goldenes Gefäß in den Händen hielt — die Pyxis.

Als Nate den Ausdruck auf Jems Gesicht bemerkte, begann er, breit zu grinsen. »Niemand außer einem Schattenjäger kann sie berühren ... Das heißt, kein lebendes Wesen. Aber ein Automat ist auch kein Lebewesen.«

»Ist das etwa der Grund für diesen ganzen Aufstand?«, fragte Jem erstaunt. »Die Pyxis? Wozu könnte sie für euch von Nutzen sein?«

»Mein Gebieter wünscht Dämonenenergie — und die soll er bekommen!«, erwiderte Nate schwülstig.

»Und er wird niemals vergessen, dass ich derjenige war, der sie ihm besorgt hat.«

Jem schüttelte den Kopf. »Und wie wird er dich dann dafür entlohnen? Was hat er dir dafür gegeben, deine Schwester zu verraten? Dreißig Silberlinge?«

Wutentbrannt verzog Nate das Gesicht und einen Moment lang glaubte Jem, durch die oberflächlich attraktive Maske hindurch auf das schauen zu können, was sich darunter verbarg ... etwas so Bösartiges und Abstoßendes, dass Jem sich am liebsten umgedreht und übergeben hätte. »Dieses Ding«, stieß Nate hervor, »ist nicht meine Schwester.«

»Es fällt schwer zu glauben, dass du und Tessa überhaupt irgendetwas gemeinsam habt — und sei es auch nur ein einziger Tropfen Blut«, entgegnete Jem, der aus seiner Abscheu kein Hehl mehr machte.

»Tessa steht meilenweit über dir.«

Nathaniel kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Sie interessiert mich nicht. Sie gehört dem Magister.«

»Ich weiß ja nicht, was Mortmain dir in Aussicht gestellt hat«, sagte Jem, »aber ich kann dir eines versprechen: Wenn du Jessamine oder Sophie auch nur ein Haar krümmst oder die Pyxis vom Gelände des Instituts entfernst, wird der Rat dich jagen. Und dich finden. Und dich töten.«

Langsam schüttelte Nathaniel den Kopf. »Du begreifst es nicht«, erwiderte er. »Keiner der Nephilim versteht es. Das Beste, was ihr mir zu bieten habt, ist die Zusage, mich am Leben zu lassen. Aber der Magister kann mir versprechen, dass ich unsterblich sein werde.« Und dann wandte er sich an den KlockwerkMann zu seiner Linken und befahl in eiskaltem Ton:

»Töte ihn.«

Sofort sprang der Automat auf Jem zu. Er war deutlich schneller als die Klockwerk-Männer, denen Jem auf der Blackfriars Bridge gegenübergestanden hatte. Es blieb ihm kaum Zeit, den Hebel für die Klinge am unteren Ende seines Spazierstocks zu betätigen und die Waffe zu erheben, als sich die Kreatur auch schon auf ihn stürzte. Doch im nächsten Moment quietschte sie wie ein stark bremsender Zug, da Jem ihr die Klinge tief in die Brust rammte und zickzackförmig hin und her bewegte, bis das Metall knirschend aufriss. Laut kreischend wirbelte die Kreatur herum, während aus ihrem Rumpf ein Feuerrad aus roten Funken sprühte.

Nate, der von einigen glühenden Teilchen getroffen wurde, schrie auf und schlug hektisch nach den Flammen, die ihm Löcher in die Kleidung brannten. Sofort nutzte Jem die Gelegenheit, sprang zwei Stufen hinauf und zog Nate die flache Seite seiner Klinge mit solcher Wucht über den Rücken, dass er in die Knie ging. Schmerzverzerrt drehte Nate sich zu seiner Klockwerk-Leibwache herum, doch die Kreatur taumelte funkensprühend die Stufen hinunter. Offenbar hatte Jem einen der Zentralmechanismen getroffen und außer Kraft gesetzt. Währenddessen stand der Automat mit der Pyxis in den Händen stumm da und rührte sich nicht von der Stelle — Nate zählte eindeutig nicht zu seinen Prioritäten.

»Lasst sie los! Und tötet den Schattenjäger! Tötet ihn, habt ihr mich verstanden?!«, brüllte Nate den Klockwerk-Männern zu, die Sophie und Jessamine noch immer festhielten und nun ruckartig fallen ließen.

Jessamine und Sophie stürzten zu Boden — keuchend und hustend, aber eindeutig noch am Leben. Allerdings währte Jems Erleichterung darüber nicht lange, da die beiden Automaten nun mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zustürmten. Wütend schlug er mit seinem Spazierstock nach einer der Kreaturen, doch diese wich mit einem Sprung zurück und brachte sich außer Reichweite, während die andere Kreatur eine Hand hob — genau genommen keine Hand, sondern einen rechteckigen Metallblock, dessen Kanten mit spitzen, scharfen Sägezähnen besetzt waren ... Plötzlich ertönte ein lauter Schrei hinter Jem — und im nächsten Moment stürmte Henry an ihm vorbei, einen schweren Säbel in der Hand. Mit einem gewaltigen Hieb ließ er die Klinge auf den erhobenen Arm der Kreatur niederkrachen und durchtrennte das Metall. Der Arm flog in hohem Bogen die Stufen hinunter, rutschte zischend und Funken sprühend über das Kopfsteinpflaster und ging dann in Flammen auf.

»Jem!«, hallte Charlottes Stimme warnend durch den Innenhof.

Hastig wirbelte Jem herum und sah, wie der andere Automat von hinten die Arme nach ihm ausstreckte. Mit einem Ruck rammte er dem Klockwerk-Mann die Klinge in die Kehle und durchtrennte die darin befindlichen Kupferröhren, während Charlotte ihm mit ihrer Peitsche die Beine wegfegte. Der Automat stieß ein hohes Pfeifen aus und brach krachend zusammen. Sofort schwang Charlotte ihre Peitsche ein weiteres Mal und vollendete ihr Werk mit grimmiger Miene. In der Zwischenzeit drehte Jem sich zu Henry um, dessen rote Haare ihm schweißgetränkt an der Stirn klebten. Langsam ließ er den Säbel sinken: Der Automat vor seinen Füßen bestand nur noch aus einem Haufen ölverschmiertem Metall.

Teile seines Klockwerk-Mechanismus lagen über den Innenhof verstreut und brannten leise vor sich hin, wie ein mit Sternschnuppen übersätes Feld. Jessamine und Sophie klammerten sich aneinander, wobei die Schattenjägerin das andere Mädchen stützte, an deren Hals dunkle Blutergüsse schimmerten. Über die Stufen hinweg trafen sich Jessamines und Jems Blicke und Jem hatte das Gefühl, dass dies womöglich das erste Mal war, dass sie über seine Anwesenheit aufrichtig erfreut schien.

»Er ist fort«, sagte Jessamine nun. »Nathaniel ist verschwunden, mit dieser Kreatur — und der Pyxis.«

»Ich verstehe das alles nicht«, stammelte Charlotte mit bestürzter Miene. »Tessas Bruder ...«

»... hat uns belogen. Alles, was er uns erzählt hat, war eine Lüge«, erklärte Jessamine. »Die Geschichte mit de Quinceys Geheimversteck diente nur dazu, euch aus dem Institut fortzulocken.«

»Oh mein Gott«, flüsterte Charlotte. »Dann hat de Quincey also doch nicht gelogen ...« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihr Gehirn von Spinnweben befreien, um wieder klar denken zu können. »Als wir bei seinem Haus in Chelsea eintrafen, fanden wir nur eine Handvoll Vampire dort vor, höchstens sechs oder sieben — und ganz bestimmt nicht die Hundertschaften, vor denen Nathaniel uns gewarnt hatte. Und auch von den Klockwerk-Kreaturen war nirgends etwas zu sehen. Benedict hat de Quincey getötet, aber erst nachdem der Vampir uns ausgelacht hat, weil wir ihn als den Magister bezeichneten. Er meinte, wir hätten uns von Mortmain zum Narren machen lassen. Mortmain.

Und ich dachte, er wäre nur ein ... ein ganz gewöhnlicher Irdischer.«

Henry ließ sich auf die oberste Treppenstufe sinken und legte den Säbel klirrend neben sich. »Das ist eine Katastrophe.«

»Will«, murmelte Charlotte benommen und wie in Trance. »Und Tessa. Wo sind die beiden?«

»Tessa ist im Sanktuarium. Zusammen mit Mortmain. Und Will ...« Jessamine schüttelte den Kopf.

»Ich wusste gar nicht, dass er zurück ist.«

»Will muss bereits drinnen sein«, erklärte Jem und schaute an der hohen Portalmauer hoch. Mit Sorge erinnerte er sich an seinen giftgeplagten Albtraum: das lichterloh brennende Institut, die schwere Rauchwolke über London und die gewaltigen KlockwerkKreaturen, die wie monströse Spinnen zwischen Häusern und Gebäuden hin und her staksten. »Er ist bestimmt auf der Suche nach Tessa«, fügte er hinzu. Aus Mortmains Gesicht war jede Farbe gewichen.

»Was tun Sie da?«, herrschte er Tessa an und marschierte auf sie zu.

Tessa platzierte die Messerspitze auf ihre Brust und drückte zu. Der scharfe, plötzliche Schmerz nahm ihr einen Moment lang die Luft und Blut breitete sich auf ihrem Mieder aus. »Keinen Schritt näher«, stieß sie atemlos hervor.

Mortmain hielt tatsächlich inne, musterte sie aber mit wutverzerrtem Gesicht. »Was verleitet Sie zu der Annahme, dass es mich interessieren würde, ob Sie leben oder sterben, Miss Gray?«

»Sie haben es selbst gesagt: Sie waren derjenige, der mich erschaffen hat«, erwiderte Tessa. »Sie wollten, dass es mich gibt, aus welchem Grund auch immer. Und Sie schätzten mein Wohlergehen hinreichend genug, um den Dunklen Schwestern zu untersagen, mir bleibenden Schaden zuzufügen. Aus irgendeinem Grund bin ich für Sie wichtig. Oh, natürlich nicht ich selbst, sondern meine Fähigkeit. Das ist das Einzige, was Sie interessiert.« Tessa spürte, wie ihr Blut warm und feucht an ihrem Körper hinablief— doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Genugtuung, die sie empfand, als sie den Ausdruck der Furcht auf Mortmains Gesicht sah.

»Was wollen Sie von mir?«, stieß Mortmain zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Nein — was wollen Sie von mir? Los, verraten Sie es mir. Sagen Sie mir, warum Sie mich erschaffen haben. Sagen Sie mir, wer meine wahren Eltern sind. War meine Mutter wirklich meine leibliche Mutter? Und mein Vater tatsächlich mein Vater?«

Mortmain musterte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Sie stellen die falschen Fragen, Miss Gray.«

»Warum bin ich ... so, wie ich bin? Und wieso ist Nate nur ein Mensch? Warum besitzt er nicht dieselben Eigenschaften wie ich?«

»Nathaniel ist nur Ihr Halbbruder. Er ist nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Mensch und noch dazu kein sonderlich beeindruckendes Exemplar der menschlichen Rasse. An Ihrer Stelle würde ich es nicht bedauern, dass Sie ihm nicht stärker ähneln.«

»Dann ...«, setzte Tessa an, verstummte aber. Ihr Herz pochte wie wild. »Meine Mutter kann keine Dämonin gewesen sein«, überlegte sie leise. »Und auch kein anderes übernatürliches Wesen. Denn Tante Harriet war ihre Schwester und sie war nur ein Mensch. Dann muss es also mein Vater gewesen sein ... War mein Vater ein Dämon?«

Mortmain grinste — ein plötzliches, hässliches Grinsen. »Legen Sie das Messer weg und ich beantworte Ihnen all Ihre Fragen. Vielleicht können wir das Ding ja sogar heraufbeschwören, das Sie gezeugt hat, wenn Sie so erpicht darauf sind, ihn kennenzulernen — oder sollte ich besser ›es‹ sagen?«

»Dann bin ich also eine Hexe«, brachte Tessa mit zugeschnürter Kehle hervor. »Ist es das, was Sie sagen wollen?«

Mortmains helle Augen maßen sie spöttisch.

»Wenn Sie darauf bestehen — ja, vermutlich ist dieses Wort die beste Beschreibung für das, was Sie sind.«

Plötzlich hörte Tessa wieder Magnus Banes klare Stimme in ihrem Kopf: »Oh doch, Sie sind eine Hexe.

Das kann ich Ihnen versichern.« Und dennoch ...

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Tessa laut. »Meine Mutter hätte niemals ... nicht mit einem Dämon.«

»Sie hatte ja keine Ahnung.« Mortmain klang fast mitleidig. »Keine Ahnung, dass sie ihrem Mann untreu war.«

Tessa drehte sich der Magen um. Natürlich erzählte Mortmain ihr nichts, was sie nicht selbst auch schon in Erwägung gezogen hatte. Trotzdem war es etwas völlig anderes, ihre Befürchtungen nun bestätigt zu hören. »Wenn der Mann, den ich für meinen Vater gehalten habe, nicht mein Vater war, und mein richtiger Vater ein Dämon ... warum trage ich dann kein Mal, so wie jedes andere Lilithkind eines trägt?«, fragte sie.

Mortmains Augen funkelten vor Bosheit. »In der Tat, warum nicht? Vermutlich weil Ihre Mutter nicht wusste, was sie war — genauso wenig, wie Sie es bis vor Kurzem wussten.«

»Was soll das heißen? Meine Mutter war ein Mensch!«

Mortmain schüttelte den Kopf. »Miss Gray, Sie stellen noch immer die falschen Fragen. Sie müssen endlich begreifen, dass es umfangreicher Vorbereitungen bedurfte, damit Sie eines Tages auf die Welt kommen konnten. Und diese Planungen begannen bereits lange vor meiner Zeit — ich habe sie nur fortgeführt, in dem Wissen, dass ich die Schöpfung von etwas Einzigartigem beaufsichtigte. Von etwas Einzigartigem, das nur mir gehören würde. Denn ich wusste, dass ich Sie eines Tages heiraten und Sie dann mir gehören würden — für immer.«

Entsetzt starrte Tessa ihn an. »Aber wieso? Sie lieben mich doch gar nicht. Sie kennen mich nicht. Sie wussten ja noch nicht einmal, wie ich aussehe! Ich hätte auch vollkommen abstoßend sein können!«

»Das hätte keine Rolle gespielt. Sie können so abstoßend oder attraktiv erscheinen, wie Sie wollen. Das Gesicht, das Sie im Moment tragen, ist nur eines von tausend möglichen Gesichtern. Wann begreifen Sie endlich? Es gibt keine wahre Tessa Gray!«

»Hinaus!«, sagte Tessa.

Mortmain starrte sie aus seinen hellen Augen an.

»Was haben Sie gerade gesagt?«

»Hinaus. Verlassen Sie das Institut. Und nehmen Sie Ihre Monster mit. Oder ich werde mir dieses Messer ins Herz stoßen.«

Mortmain zögerte; seine Hände ballten und öffneten sich unentschlossen. So musste er früher in Momenten ausgesehen haben, in denen es blitzschnell eine geschäftliche Entscheidung zu treffen galt — kaufen oder verkaufen? Investieren oder expandieren? Mortmain war ein gewiefter Geschäftsmann und daran gewöhnt, eine Situation im Nu zu erfassen, überlegte Tessa. Und sie war nur ein Mädchen. Wie groß war da wohl die Wahrscheinlichkeit, dass es ihr gelingen würde, ihn auszumanövrieren?

Langsam schüttelte Mortmain den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich tun werden. Sie mögen zwar eine Hexe sein, aber andererseits sind Sie immer noch ein junges Ding. Ein zartes weibliches Wesen.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. »Gewalt liegt doch gar nicht in Ihrer Natur.«

Tessa umklammerte das Heft des Messers. Sie spürte nun jede Einzelheit — die harte, glatte Oberfläche des Griffs, die schmerzende Klingenspitze auf ihrer Haut, das rasende Pochen ihres eigenen Herzens.

»Kommen Sie ja nicht näher«, sagte sie mit zittriger Stimme, »oder ich bringe mich um. Ich werde mir das Messer in die Brust rammen.«

Das leichte Zittern in ihrer Stimme schien Mortmain Gewissheit zu verleihen. Ein entschlossener Zug zeichnete sich um seine Mundwinkel ab und er marschierte selbstsicher auf sie zu. »Nein, das werden Sie nicht.«

In dem Moment hörte Tessa Wills Stimme in ihrem Kopf. »Sie nahm lieber Gift, als in römische Gefangenschaft zu gehen. Sie war mutiger als alle Männer.«

»Oh doch«, sagte sie. »Das werde ich.«

Irgendetwas in ihrem Ausdruck musste sich verändert haben, denn aus Mortmains Gesicht verschwand schlagartig jegliche Selbstsicherheit. Seine Arroganz wich heller Panik und er stürzte verzweifelt auf sie zu, um ihr das Messer zu entwinden.

Blitzschnell kehrte Tessa Mortmain den Rücken zu und schaute zum Brunnen. Das silbern plätschernde Wasser, das hoch über ihr herabsprudelte, war das Letzte, was ihre Augen sahen. Dann rammte sie sich das Messer tief in die Brust.

Vollkommen außer Atem keuchte Will durch den dunklen Korridor, der zum Sanktuarium führte. Im Treppenhaus hatte er gegen zwei dieser KlockwerkKreaturen kämpfen müssen und schon befürchtet, sein letztes Stündlein habe geschlagen, als der erste Automat nach mehreren mächtigen Hieben mit Thomas’

Schwert plötzlich Funktionsstörungen zeigte und den anderen Klockwerk-Mann aus dem Fenster stieß, ehe er selbst zusammenbrach und in einem Wirbel aus splitterndem Metall und sprühenden Funken die Stufen hinabstürzte.

Das zerklüftete Metall der Kreatur hatte tiefe Schnittwunden an Wills Händen und Armen hinterlassen, doch er gönnte sich keine Pause, um eine Iratze aufzutragen. Dafür war jetzt keine Zeit. Noch im Lauf zückte er seine Stele, stürmte mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Tür des Sanktuariums zu und ließ die Spitze der Stele über die Holzoberfläche sausen — es war die schnellste Entriegelungsrune, die er je geschaffen hatte.

Fast lautlos glitt der Türriegel zurück. Will nahm sich einen Sekundenbruchteil Zeit, die Stele gegen eines seiner Seraphschwerter zu tauschen. »Jerahmeel«, wisperte er. Als die Klinge in einem weißen Blitz aufleuchtete, trat er die Türen zum Sanktuarium auf. Und erstarrte vor Entsetzen. Tessa lag zusammengekrümmt am Brunnen, dessen Wasser sich blutig verfärbt hatte. Das Oberteil ihres blau-weiß gestreiften Kleides schimmerte in leuchtendem Scharlachrot und unter ihrem Körper breitete sich eine gewaltige Blutlache aus. Neben ihrer erschlafften rechten Hand lag ein blutiges Messer mit blutverschmiertem Griff und ihre Augen waren geschlossen.

Mortmain kniete an Tessas Seite, eine Hand auf ihrer Schulter. Als er Will hereinstürmen hörte, hob er ruckartig den Kopf; dann rappelte er sich auf und wich von Tessas leblosem Körper zurück. Seine Hände leuchteten rot und auch Hemd und Mantel hatten große Mengen Blut abbekommen. »Ich ...«, setzte er an.

»Sie haben sie getötet«, sagte Will. Selbst in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme merkwürdig und weit entfernt. Vor seinem inneren Auge sah er sich wieder in der Bibliothek seines Elternhauses ... seine Hände auf dem Kästchen, seine neugierigen Finger am Schnappverschluss ... Er hörte das Kreischen, das die Bibliothek im nächsten Moment erfüllt hatte, sah die Straße nach London, silbern glänzend im Mondlicht. Und er erinnerte sich wieder an die Worte, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen waren, während er sich mit jedem Schritt weiter und weiter von seinem Zuhause entfernt hatte: »Ich habe alles verloren. Alles verloren. Alles.«

»Nein.« Mortmain schüttelte den Kopf. Seine Finger fummelten an irgendetwas herum — an einem Silberring an seiner rechten Hand. »Ich habe ihr kein Haar gekrümmt. Das hat sie sich selbst angetan.«

»Sie lügen!«, stieß Will hervor und bewegte sich vorwärts; die Konturen der leuchtenden Seraphklinge in seiner Hand boten ihm ein beruhigendes und vertrautes Bild in einer Welt, die sich um ihn herum wie eine Traumlandschaft beständig zu verändern schien.

»Haben Sie auch nur eine Vorstellung davon, was passiert, wenn ich eines dieser Schwerter in menschliches Gewebe ramme?«, fragte er mit rauer Stimme und hob Jerahmeel. »Es ätzt sich durch die Muskelschichten. Sie werden unerträgliche Schmerzen erleiden, förmlich von innen nach außen verbrennen, ehe Sie endlich sterben.«

»Sie glauben, Sie würden um sie trauern, Will Herondale?«, brachte Mortmain gequält hervor. »Ihr Kummer wiegt nichts im Vergleich zu meinem: Jahre der Arbeit ... Träume ... Mühen ... mehr als Sie sich jemals vorstellen können ... alles umsonst.«

»Dann darf ich Sie trösten: Ihr Kummer wird nur von kurzer Dauer sein«, knurrte Will und stürzte sich mit ausgestreckter Waffe auf Mortmain. Er spürte, wie die Klinge das Gewebe von Mortmains Mantel streifte — dann aber auf keinerlei Widerstand mehr traf. Verwirrt taumelte er vorwärts, richtete sich auf und schaute sich verwundert um. Irgendetwas klimperte auf dem Boden vor ihm ... ein Messingknopf. Sein Schwert musste ihn von Mortmains Mantel abgetrennt haben. Der glänzende Knopf blinzelte ihm von den Steinplatten aus zu wie ein höhnisch blickendes Auge. Bestürzt ließ Will die Seraphklinge fallen, die mit einem Klirren auf dem Boden landete und dort weiterbrannte. Mortmain war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte sich verflüchtigt, wie ein Hexenmeister sich verflüchtigen würde — ein Hexenmeister mit jahrelanger Erfahrung in der Kunst der Magie. Aber dass ein Mensch, und sei es auch ein Mensch mit Kenntnissen des Okkulten, so etwas zustande bringen konnte ...

Doch das spielte nun keine Rolle, jedenfalls nicht in diesem Moment. Es gab nur eines, an das Will jetzt denken konnte: Tessa. Erfüllt von einer Mischung aus Furcht und Hoffnung lief er durch den Raum zum Brunnen. Das Quellwasser sprudelte mit einem widerlich beruhigenden Plätschern ins Becken, während Will sich niederkniete und Tessa in seine Arme hob. Er hielt sie, wie er sie nur ein einziges Mal gehalten hatte — auf dem Speicher, in jener Nacht, als sie de Quinceys Stadtvilla niedergebrannt hatten. Die Erinnerung an diesen Moment hatte sich oft genug in sein Gedächtnis gedrängt, doch nun stellte sie die reinste Qual dar. Tessas Kleid und Haare waren blutdurchtränkt und auch auf ihrem Gesicht klebte Blut. Will hatte genügend Verletzungen gesehen, um genau zu wissen, dass niemand einen derartigen Blutverlust überleben konnte.

»Tessa«, wisperte er. Dann presste er sie fest an sich — seine Handlungen spielten jetzt keine Rolle mehr — und begrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, am Ansatz zwischen Kehle und Schulter. Ihre Haare, in denen das Blut bereits zu stocken begann, streiften seine Wange und er konnte das Schlagen ihres Pulses unter ihrer Haut spüren.

Will erstarrte. Ihr Puls? Sein Herz machte einen Sprung. Vorsichtig hielt er sie ein wenig von sich weg, um sie auf den Boden zu legen, und entdeckte in dem Moment, dass sie ihn aus großen grauen Augen anschaute.

»Will«, murmelte sie. »Bist du das wirklich?«

Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn, die jedoch sofort einem Gefühl heißen Entsetzens wich:

Erst war Thomas vor seinen Augen gestorben und nun Tessa? Aber vielleicht konnte sie ja gerettet werden? Allerdings nicht mithilfe einer Iratze. Doch wie heilte man Schattenwesen? Dieses Wissen besaßen nur die Brüder der Stille. »Ein Verband«, stammelte Will, halb an sich selbst gerichtet. »Ich muss Verbandszeug holen.«

Er wollte gerade seinen Griff ein wenig lockern, als Tessa ihn am Handgelenk packte. »Will, du musst vorsichtig sein. Mortmain ... er ist der Magister. Er war hier ...«

Will spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte.

»Ganz ruhig ... schon deine Kräfte. Mortmain ist fort. Ich muss Hilfe holen ...«

»Nein.« Tessa verstärkte den Griff um sein Gelenk.

»Nein, das brauchst du nicht, Will. Es ist nicht mein Blut.«

»Was?«, fragte er und starrte sie sprachlos an. Vielleicht fantasierte sie ja bereits, überlegte er, aber ihre Hand und ihre Stimme schienen überraschend stark für jemanden, der eigentlich längst hätte tot sein müssen. »Was Mortmain dir auch angetan haben mag, Tessa, ich ...«

»Das war ich selbst«, erwiderte sie mit ihrer kleinen, festen Stimme. »Ich habe mir das selbst angetan, Will. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zum Verlassen des Instituts zu bringen. Er hätte mich sonst niemals hier zurückgelassen. Nicht solange er davon überzeugt war, dass ich noch lebe.«

»Aber ...«

»Ich habe mich verwandelt. In dem Moment, in dem das Messer meine Haut durchbohrte, habe ich meine Gestalt gewandelt. Mortmain selbst hatte mich auf die Idee gebracht, als er mit seinen Künsten prahlte: Dass es nichts weiter als eine kleine List gewesen sei, ein simpler Taschenspielertrick. Und dass niemand damit rechnen würde.«

»Ich verstehe es nicht. Meinst du das Blut?«

Tessa nickte und auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Erleichterung und Freude darüber, dass sie Will von ihren Taten berichten konnte. »Die Dunklen Schwestern haben mich einmal gezwungen, die Gestalt einer Frau anzunehmen, die durch einen Pistolenschuss gestorben war. Und als ich mich in sie verwandelte, war ich plötzlich blutüberströmt ... von ihrem Blut überströmt. Hab ich dir das nie erzählt? Ich dachte, ich hätte ... aber das ist jetzt auch egal. Jedenfalls erinnerte ich mich an jene Frau und verwandelte mich in sie, nur einen winzigen Moment lang, und genau wie beim letzten Mal schoss mir das Blut aus allen Poren. Ich hatte mich von Mortmain abgewandt, damit er die Verwandlung nicht sehen konnte, und hab mich dann zusammengekrümmt, so als hätte ich mir das Messer wirklich in die Brust gerammt. Und tatsächlich sorgte die Wucht der Verwandlung ... der derartig schnell eingeleiteten Verwandlung dafür, dass ich in eine tiefe Ohnmacht fiel. Um mich herum wurde alles schwarz. Als Nächstes hörte ich, wie Mortmain meinen Namen rief. Da wusste ich, dass ich wieder aufgewacht sein und mich ganz still verhalten musste, um so zu tun, als sei ich tot. Wahrscheinlich wäre er mir im Nu auf die Schliche gekommen, wenn du nicht hereingeplatzt wärst.« Tessa schaute an sich herab und Will hätte schwören können, dass eine gewisse Genugtuung aus ihrer Stimme sprach, als sie verkündete: »Ich habe den Magister hereingelegt, Will! Das hätte ich niemals für möglich gehalten — er war sich seiner Überlegenheit so sicher. Aber dann erinnerte ich mich daran, was du über Boadicea gesagt hattest. Wenn deine Worte nicht gewesen wären, Will ...«

Lächelnd schaute sie zu ihm auf — und dieses Lächeln brach auch den letzten Rest seines Widerstands. Er hatte seine Deckung aufgegeben, als er Tessa für tot gehalten hatte ... und nun war keine Zeit mehr, den Schutzwall wieder aufzubauen. Hilflos zog er Tessa an sich. Und einen Moment lang klammerte sie sich fest an ihn, warm und lebendig in seinen Armen. Ihr Haar streifte seine Wange. Die Welt hatte ihre Farben zurückerhalten und er konnte wieder atmen. Und für die Dauer dieses Augenblicks atmete er tief ihren Duft ein — sie roch nach Salz, Blut, Tränen und Tessa. Als sie sich schließlich aus seiner Umarmung löste, strahlten ihre Augen. »Als ich deine Stimme hörte, dachte ich, es wäre nur ein Traum«, sagte sie. »Aber du bist real.« Ihr Blick wanderte suchend über sein Gesicht und das Ergebnis ließ sie lächeln. »Du bist real.«

Will öffnete den Mund. Die Worte waren da. Und er wollte sie gerade aussprechen, als er plötzlich von Entsetzen gepackt wurde — das Entsetzen eines Wanderers im Nebel, der nach kurzem Innehalten auf dem Weg schlagartig erkennen muss, dass ihn nur wenige Zentimeter von einem gähnenden Abgrund trennen. Die Art und Weise, wie Tessa ihn nun ansah ... sie konnte lesen, was in seinen Augen stand. Es musste dort deutlich geschrieben stehen, wie die Worte auf einer Buchseite. Er hatte keine Zeit ... keine Gelegenheit gehabt, es zu verbergen.

»Will«, wisperte Tessa. »Will, sag doch etwas.«

Doch es gab nichts zu sagen. In seinem Inneren war nur diese schreckliche Leere — so wie seit vielen Jahren zuvor und wie in alle Ewigkeit.

Ich habe alles verloren, dachte Will. Alles.

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