13 Etwas dunkles

Oft ist man minder unglücklich, von einer geliebten Person getäuscht zu werden, als nicht von ihr getäuscht zu werden.

François de la Rochefoucauld, »Maximen«

Tessa erwachte am nächsten Tag, als Sophie die Lampe an ihrem Nachttisch anzündete. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite und bedeckte ihre geblendeten Augen.

»Nein, nicht noch einmal umdrehen, Miss!«, wandte Sophie sich in ihrem üblichen schroffen Ton an Tessa. »Sie haben schon den ganzen Tag verschlafen. Es ist bereits nach acht und Mrs Branwell sagte, ich solle Sie jetzt wecken.«

»Nach acht? Abends?« Tessa schlug die Bettdecke zurück und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie noch immer Camilles Kleid trug. Der Stoff war nun völlig zerknittert, von den zahlreichen Flecken ganz zu schweigen. Sie musste vollständig bekleidet ins Bett gefallen sein, überlegte sie. Und dann setzten die ersten Erinnerungen an die zurückliegende Nacht ein — die weißen Gesichter der Vampire, das lodernde Feuer, das die Vorhänge erfasst hatte, Magnus Banes amüsiertes Lachen, de Quincey, Nathaniel und Will.

Oh Gott, stöhnte sie innerlich, Will.

Mit Mühe schob sie jeden Gedanken an Will beiseite, setzte sich auf und musterte Sophie ängstlich.

»Mein Bruder ...«, fragte sie zaghaft. »Ist er ...«

Sophies Lächeln verblasste. »Sein Zustand hat sich nicht verschlimmert, aber, ehrlich gesagt, auch nicht verbessert.« Als sie Tessas bestürzte Miene sah, fügte sie hinzu: »Ein heißes Bad und etwas in den Magen — das ist es, was Sie jetzt brauchen, Miss. Es hilft Ihrem Bruder auch nicht, wenn Sie hungern und Ihr Äußeres vernachlässigen.«

Wehmütig schaute Tessa an sich herab. Camilles Kleid war vollkommen ruiniert, daran bestand kein Zweifel: Der feine Stoff war an zahlreichen Stellen zerrissen und fleckig. Dann wanderte ihr Blick weiter:

Ihre Seidenstrümpfe hatten Löcher, ihre Füße waren schmutzig und ihre Arme und Hände mit Asche beschmiert. An den Zustand ihrer Haare wagte sie erst gar nicht zu denken. »Ich fürchte, du hast recht, Sophie«, räumte sie ein.

Das Dienstmädchen brauchte nur ein paar Minuten, um den Badezuber — eine ovale Gusswanne mit Löwenfüßen, die hinter einem Paravent versteckt gewesen war — mit heißem Wasser zu füllen, das bereits vorsichtig abkühlte, als Tessa rasch ihre Kleidung abstreifte und sich vorsichtig hineingleiten ließ. Die wohlige Wärme des Wassers umfing sie und einen Moment lang genoss sie es, einfach nur mit geschlossenen Augen dazuliegen und ihre müden Glieder zu entspannen ...

Doch sofort kehrten die Erinnerungen an Will zurück: Will, der Speicher, die Art und Weise, wie er ihre Hand berührt hatte ... wie er sie geküsst und dann fortgeschickt hatte.

Tessa tauchte mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche, als könnte sie sich dadurch vor dieser demütigenden Erinnerung verstecken. Doch sie hoffte vergebens. Dich selbst zu ertränken, hilft auch nicht weiter, ermahnte sie sich streng. Will dagegen ... Entschlossen setzte sie sich auf, nahm die Lavendelseife, die auf dem Badewannenrand lag, und schrubbte ihre Haut und wusch ihr Haar, bis sich das Wasser vor Schmutz und Asche dunkel färbte. Wahrscheinlich war es nicht möglich, die unerwünschten Gedanken an eine andere Person ebenfalls wegzuschrubben — aber sie konnte es wenigstens versuchen.

Als Tessa nach einer Weile hinter dem Paravent hervortrat, wartete Sophie bereits mit einem Tablett mit Tee und Sandwiches auf sie. Anschließend trat sie vor den Spiegel und half Tessa in das gelbe Kleid mit den dunklen Biesen, das für Tessas Geschmack viel zu überladen war; aber Jessamine hatte es im Geschäft besonders gut gefallen und sie hatte darauf bestanden, dass Tessa sich das Kleid schneidern ließ. »Ich selbst kann Gelb ja nicht tragen, aber diese Farbe eignet sich hervorragend für Mädchen mit mausbraunem Haar wie deinem«, hatte sie gesagt. Dagegen genoss Tessa das Gefühl der Bürste, die durch ihre Haare glitt — es erinnerte sie an ihre Kindheit, als Tante Harriet ihr immer die Haare gekämmt hatte. Die gleichmäßigen Bürstenstriche übten eine derart beruhigende Wirkung auf sie aus, dass sie leicht zusammenzuckte, als Sophie sich an sie wandte: »Ist es Ihnen gestern Abend noch gelungen, Mr Herondale davon zu überzeugen, seine Medizin einzunehmen, Miss?«

»Oh, ich ...« Tessa versuchte hastig, sich zu fangen, doch es war bereits zu spät: Heiße Röte schoss ihr in die Wangen. »Er wollte zuerst nicht«, murmelte sie lahm, »aber letztendlich habe ich ihn doch überreden können.«

»Verstehe.« Sophie verzog keine Miene; sie erhöhte lediglich das Tempo ihrer rhythmischen Bürstenstriche. »Ich weiß, dass es sich für mich nicht geziemt, etwas zu sagen, aber ...«

»Sophie, du kannst mir alles sagen, was du willst, wirklich.«

»Es ist nur so ...«, setzte das Dienstmädchen zögernd an und stieß dann in einem Schwall hervor: »Mr Herondale ist niemand, um den Sie sich sorgen sollten, Miss Tessa. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Man kann ihm nicht vertrauen oder sich auf ihn verlassen. Er ... er ist nicht so, wie Sie denken.«

Tessa verschränkte die Hände im Schoß. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich — war es wirklich schon so weit gekommen, dass sie vor Will gewarnt werden musste? Andererseits gefiel es ihr, jemanden zu haben, mit dem sie über ihn reden konnte. Irgendwie kam sie sich wie eine Verhungernde vor, der man ein Stück Brot anbot. »Ich bin mir nicht sicher, was ich von ihm denke, Sophie. Manchmal verhält er sich auf eine bestimmte Weise und kurz darauf wieder vollkommen anders, wie eine Fahne im Wind. Und ich verstehe dann nicht, wieso oder was passiert ist ...«

»Nichts ... es ist nichts passiert. Er interessiert sich einfach für niemanden außer für sich selbst.«

»Jem bedeutet ihm etwas«, erwiderte Tessa ruhig. Die Hand mit der Bürste hielt mitten in der Bewegung inne und Sophie stand einen Moment reglos da. Sie wollte irgendetwas sagen, spürte Tessa, ihr irgendetwas mitteilen, rang jedoch mit sich selbst. Nur worum konnte es sich dabei handeln?

Dann setzten die Bürstenstriche wieder ein. »Das genügt aber nicht«, murrte Sophie schroff.

»Du meinst, ich sollte mir nicht das Herz beschweren lassen von einem Jungen, dem ich nie etwas bedeuten werde ...«

»Nein!«, widersprach Sophie heftig. »Denn es gibt viel Schlimmeres als das. Es ist rechtens, jemanden zu lieben, der diese Liebe nicht erwidert — sofern derjenige es auch wert ist, dass man ihn liebt. Sofern er es verdient, geliebt zu werden.«

Die Leidenschaft in Sophies Stimme überraschte Tessa. Sie drehte sich um und sah das andere Mädchen direkt an. »Sophie, gibt es da jemanden, der dir etwas bedeutet? Ist es Thomas?«

Sophie schaute erstaunt auf. »Thomas? Nein. Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Nun ja, ich glaube nämlich, dass du ihm etwas bedeutest«, erklärte Tessa. »Ich habe gesehen, wie er dich anschaut. Er lässt dich keine Sekunde aus den Augen, wenn du im Raum bist. Und da habe ich gedacht ...« Sie verstummte, als sie Sophies entgeisterten Blick bemerkte.

»Thomas?«, wiederholte Sophie. »Nein, das kann gar nicht sein. Ich bin mir sicher, dass er mir keine derartigen Gefühle entgegenbringt.«

Tessa unternahm nicht den Versuch, ihr zu widersprechen. Welche Gefühle Thomas auch immer hegen mochte, Sophie erwiderte sie ganz eindeutig nicht. Dann blieb nur noch ... »Will?«, fragte Tessa. »Wolltest du damit sagen, dass Will dir einst etwas bedeutet hat?« Was die Verbitterung und Abneigung erklären würde ... in Anbetracht der Tatsache, wie Will Mädchen behandelte, die sich für ihn interessierten, überlegte sie.

»Will?« Nun klang Sophie aufrichtig entsetzt — entsetzt genug, um zu vergessen, ihn Mr Herondale zu nennen. »Fragen Sie mich ernsthaft, ob ich einmal in ihn verliebt gewesen bin?«

»Nun ja, ich dachte ... ich meine, er ist doch furchtbar attraktiv ...« Tessa erkannte, dass sie wenig überzeugend klang.

»Es gehört mehr dazu, liebenswert zu sein — mehr als nur ein attraktives Äußeres«, hielt Sophie aufgebracht entgegen und vor Aufregung brach ihr alter Akzent durch: »Mein letzter Dienstherr ... der war ständig auf irgendwelchen Safaris in Afrika und Indien, wo er Tiger und andere Viecher abgeknallt hat. Und der hat mir mal gesagt, es gäb eine sichere Methode, um zu erkennen, ob ein Käfer oder 'ne Schlange giftig wär: nämlich an ihren hübschen, leuchtenden Zeichnungen. Je schöner der Panzer oder die Haut, desto gefährlicher ihr Gift. Und so isses auch mit Will. Sein hübsches Gesicht und der ganze Rest vertuschen doch nur, wie verkorkst und verdorben er von innen is’.«

»Sophie, ich bin mir nicht sicher ...«

»Tief in ihm drin steckt irgendwas Dunkles«, fuhr Sophie unbeirrt fort. »Irgendwas Schwarzes und Dunkles, das er nicht rauslässt. Er hat irgendein Geheimnis ... eins von der Sorte, das einen von innen auffrisst.« Vorsichtig legte sie die silberbeschlagene Haarbürste auf die Frisierkommode und Tessa stellte zu ihrer Überraschung fest, dass Sophies Hand dabei zitterte. »Glauben Sie’s mir.«

Nachdem Sophie gegangen war, nahm Tessa den Klockwerk-Engel von ihrem Nachttisch und hängte ihn sich wieder um. Als er an ihrer Brust ruhte, verspürte sie sofort ein Gefühl der Sicherheit. Sie hatte ihn während ihrer Maskerade als Camille vermisst und seine Nähe spendete ihr Trost. Und obwohl sie wusste, dass dieser Gedanke töricht war, hoffte sie, dass Nate die Gegenwart des Engels ebenfalls spüren würde, wenn sie ihn nun aufsuchte — und dass er daraus Kraft und Ruhe gewann.

Behutsam schloss sie die Hand um den Anhänger, zog die Tür hinter sich zu, lief durch den Flur und klopfte leise an Nates Zimmer. Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie den Knauf und öffnete die Tür. Die Vorhänge waren zurückgezogen und das schwache Licht der Abenddämmerung fiel in den Raum. Tessa sah, dass ihr Bruder gegen einen Berg von Kissen lehnte und schlief. Ein Arm lag quer über der Stirn und seine Wangen zeigten fiebrige Flecken. Aber er war nicht allein. Am Kopf des Betts saß Jessamine in einem Sessel, ein Buch aufgeschlagen auf dem Schoß. Sie erwiderte Tessas überraschte Miene mit einem kühlen, beherrschten Blick.

»Ich ...«, setzte Tessa an, fing sich dann aber. »Was tust du hier?«

»Ich dachte, ich könnte deinem Bruder ein Weilchen vorlesen«, erwiderte Jessamine. »Alle anderen haben fast den ganzen Tag geschlafen und er wurde sträflich vernachlässigt. Nur Sophie hat ab und zu nach ihm gesehen und mit ihr kann man nun wirklich keine anständige Unterhaltung führen.«

»Nate ist bewusstlos, Jessamine, er will gar keine Unterhaltung.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Jessamine. »Irgendwo habe ich mal aufgeschnappt, dass Kranke alles hören können, was man sagt — selbst wenn sie ziemlich bewusstlos oder gar tot sind.«

»Er ist auch nicht tot.«

»Natürlich nicht.« Jessamine warf Nathaniel einen langen, sehnsüchtigen Blick zu. »Außerdem ist er viel zu hübsch zum Sterben. Ist er verheiratet, Tessa? Oder gibt es in New York irgendein Mädchen, das ihm gegenüber ältere Ansprüche hat?«

»Nate gegenüber?« Tessa starrte Jessamine mit großen Augen an. Natürlich hatte es immer irgendwelche Mädchen gegeben, die sich für Nate interessierten, aber ihr Bruder besaß nun mal die Konzentrationsspanne eines Schmetterlings. »Jessamine, er ist nicht einmal bei Bewusstsein. Jetzt ist wohl kaum der richtige Moment ...«

»Er wird sich erholen«, verkündete Jessamine.

»Und dann wird er wissen, dass ich diejenige bin, die ihn gesund gepflegt hat. Männer verlieben sich immer in die Frau, die sie wieder gesund gepflegt hat. ›Wenn Qual und Pein beschweren das Herz, barmherziger Engel lindert den Schmerz!‹«, zitierte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln. Als sie Tessas entsetzten Blick bemerkte, zog sie eine finstere Miene. »Was ist los? Bin ich für deinen teuren Bruder etwa nicht gut genug?«

»Er hat überhaupt kein Geld, Jessie ...«

»Ich habe genug Geld für uns beide. Ich brauche nur jemanden, der mich aus diesem Haus herausholt. Aber das habe ich dir ja schon erzählt.«

»Genau genommen hast du mich gefragt, ob ich das nicht übernehmen wolle.«

»Oh, ist das vielleicht der Grund für deine Entrüstung?«, fragte Jessamine. »Also wirklich, Tessa, wir können doch immer noch beste Freundinnen sein, wenn wir erst einmal Schwägerinnen sind. Aber für diese Angelegenheiten eignet sich ein Mann nun mal besser als eine Frau, findest du nicht auch?«

Darauf fiel Tessa beim besten Willen keine Antwort ein.

Jessamine zuckte die Achseln. »Übrigens wünscht Charlotte, dich zu sprechen. Im Salon. Sie hat mich gebeten, dir das mitzuteilen. Und wegen Nathaniel brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Ich überprüfe seine Temperatur alle Viertelstunde und lege ihm außerdem kalte Kompressen auf die Stirn.«

Tessa war sich nicht sicher, wie viel sie davon glauben sollte. Aber da Jessamine keine Anstalten machte, den Platz an Nathaniels Seite zu räumen, und die ganze Angelegenheit kaum einen Streit wert schien, stieß sie ein empörtes Schnauben aus und marschierte aus dem Zimmer.

Die Tür zum Salon war nur angelehnt und Tessa konnte schon beim Näherkommen erhobene Stimmen hören. Sie zögerte einen Moment und wollte gerade anklopfen, als ihr Name fiel. Abrupt hielt sie inne.

»Das hier ist nicht irgendeines von Londons Hospitälern. Tessas Bruder sollte nicht im Institut sein!«

Wills Stimme klang laut und aufgebracht. »Er ist kein Schattenweltler, sondern nur ein dummer, korrupter Irdischer, der sich auf eine Sache eingelassen hat, die ihm über den Kopf gewachsen ist ...«

»Er kann nicht von irdischen Ärzten behandelt werden. Nicht gegen das, woran er leidet. Also sei vernünftig, Will«, erwiderte Charlotte.

»Nathaniel weiß bereits von der Schattenwelt«, gab eine andere ruhige, logische Stimme zu bedenken —

Jem. »Es könnte sogar sein, dass er über Informationen verfügt, die wir nicht besitzen. Mortmain hat behauptet, Nathaniel hätte für de Quincey gearbeitet. Vielleicht weiß er ja etwas über de Quinceys Pläne, die Automaten, diese ganze Magister-Geschichte. Immerhin wollte de Quincey ihn töten — möglicherweise weil Nathaniel etwas weiß, was er nicht wissen dürfte.«

Es entstand eine lange Pause. Dann sagte Will abrupt: »In diesem Fall sollten wir die Stillen Brüder noch einmal einschalten. Sie können seinen Verstand durchforsten und sehen, ob sie irgendetwas finden. Dann brauchen wir nicht darauf zu warten, dass er wieder aufwacht.«

»Du weißt ganz genau, dass diese Untersuchungen bei Irdischen mit großen Schwierigkeiten verbunden sind«, protestierte Charlotte. »Bruder Enoch hat bereits gesagt, dass das Fieber bei Mr Gray Halluzinationen hervorgerufen hat. Es wird ihm nicht möglich sein, zu unterscheiden, welche Dinge im Gehirn des jungen Mannes der Wahrheit entsprechen und was nur ein Fieberwahn ist. Jedenfalls nicht, ohne seinen Verstand ernsthaft und womöglich bleibend zu schädigen.«

»Ich bezweifle, dass da überhaupt viel Verstand war.« Tessa hörte den angewiderten Ton in Wills Stimme selbst durch die angelehnte Tür und spürte, wie eine heiße Wut in ihr aufstieg.

»Du weißt doch gar nichts über diesen Mann«, sagte Jem in einem eisigeren Ton, als Tessa je von ihm gehört hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Gemütslage bei dir hervorgerufen haben könnte, Will — aber sie gereicht dir nicht zur Ehre.«

»Ich weiß, woran es liegt«, sagte Charlotte.

»Tatsächlich?« Will klang bestürzt.

»Du bist, genau wie ich, über den Verlauf der letzten Nacht verärgert. Zugegeben, wir hatten nur zwei Todesopfer zu beklagen, aber de Quinceys Flucht wirft kein gutes Licht auf uns. Es war mein Plan, den ich der Brigade aufgedrängt habe, und nun wird man mir die Schuld geben ... an allem, was schiefgegangen ist. Ganz zu schweigen davon, dass Camille untertauchen musste, da wir keinen blassen Schimmer haben, wo de Quincey steckt, und er inzwischen ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt haben dürfte. Und Magnus Bane ist ebenfalls hochgradig verärgert über uns, weil Camille verschwinden musste. Das heißt also, dass sowohl unsere beste Informantin als auch unser bester Hexenmeister uns im Moment nicht mehr zur Verfügung stehen.«

»Aber wir haben de Quincey daran hindern können, Tessas Bruder umzubringen ... und wer weiß, wie viele weitere Irdische«, warf Jem ein. »Das darf man schließlich auch nicht vergessen. Benedict Lightwood wollte de Quinceys Verrat anfangs doch gar nicht glauben. Nun hat er keine andere Wahl mehr: Er weiß, dass du recht hattest.«

»Was ihn aber vermutlich nur noch wütender machen wird«, gab Charlotte zu bedenken.

»Ja, vermutlich«, bestätigte Will. »Und vermutlich würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen, wenn du nicht darauf bestanden hättest, das Gelingen meines Plans von Henrys lächerlicher Erfindung abhängig zu machen. Du kannst noch so lange um den heißen Brei herumreden, aber der Grund für das Scheitern der Aktion vergangene Nacht ist die Tatsache, dass der Phosphorisator nicht funktioniert hat. Nichts von dem, was Henry erfindet, funktioniert ordnungsgemäß. Wenn du dir nur endlich eingestehen wolltest, dass dein Gatte ein nutzloser Narr ist, wäre schon viel gewonnen.«

»Will!« Aus Jems Tonfall sprach kalte Wut.

»Nein, James, lass nur«, sagte Charlotte mit brechender Stimme. Dann ertönte ein dumpfes Dröhnen, als hätte sie sich schwer in einen Sessel fallen lassen.

»Will«, brachte sie mühsam hervor, »Henry ist ein guter, freundlicher Mann und er liebt dich.«

»Werd bloß nicht sentimental, Charlotte«, schnaubte Will.

»Henry kennt dich seit deinem zwölften Lebensjahr und er liebt dich wie einen jüngeren Bruder. Das Gleiche gilt für mich: Ich habe nie etwas anderes getan, als dich zu lieben, Will ...«

»Ja«, erwiderte Will, »und ich wünschte, du würdest es nicht tun.«

Charlotte stieß einen kleinen, unterdrückten Laut aus, wie ein gequälter Welpe. »Ich weiß, dass du das nicht ernst meinst«, brachte sie schmerzerfüllt hervor.

»Ich meine jedes Wort, das ich sage«, entgegnete Will. »Insbesondere dann, wenn ich dir versichere, dass es besser wäre, Nathaniel Grays Gehirn lieber jetzt als später zu durchforsten. Wenn du zu sentimental dafür bist, dann ...«

Charlotte setzte gerade zu einem Protest an, als Tessa endgültig genug hatte: Wütend stieß sie die Tür auf und marschierte in den Salon. Der Raum wurde nur vom warmen Schein des knisternden Feuers im offenen Kamin erhellt — durch die glänzenden Fensterscheiben fiel lediglich das schwache Restlicht der Abenddämmerung herein. Charlotte saß hinter dem großen Schreibtisch, mit Jem in einem Sessel an ihrer Seite. Will lehnte am Kaminsims; sein Gesicht war vor Verärgerung rot angelaufen, seine Augen blitzten wütend und sein Hemdkragen hing schief. Einen Moment lang trafen sich Tessas und sein Blick, aus dem größte Überraschung sprach. Doch Tessas Hoffnung, er könnte den Vorfall auf dem Speicher auf wundersame Weise vergessen haben, wurde mit einem Schlag zunichtegemacht: Als er sie sah, vertiefte sich die Rötung seines Gesichts, seine unergründlichen blauen Augen verfinsterten sich und er wandte den Blick ab, als könnte er ihr nicht in die Augen sehen.

»Dann darf ich wohl annehmen, dass du uns belauscht hast?«, fragte er. »Und nun bist du hier, um mir ordentlich die Meinung zu sagen, weil ich deinen teuren Bruder noch einmal untersuchen lassen will, stimmt’s?«

»Wenigstens habe ich noch eine Meinung, die ich dir sagen kann — was für Nathaniel nicht mehr lange gilt, wenn es nach dir ginge«, konterte Tessa und wandte sich an Charlotte. »Ich werde nicht zulassen, dass Bruder Enoch in Nates Verstand herumwühlt. Er ist schon krank genug; eine weitere Untersuchung würde ihn wahrscheinlich töten.«

Charlotte nickte. Sie wirkte erschöpft; ihre Gesichtshaut schimmerte fast grau, ihre Lider waren schwer vor Müdigkeit und Tessa fragte sich, ob sie überhaupt eine Minute geschlafen hatte. »Sei versichert: Wir werden eine erneute Befragung erst dann in Erwägung ziehen, wenn dein Bruder wieder vollständig zu Kräften gekommen ist«, beteuerte sie.

»Und was passiert, wenn er wochenlang krank ist? Oder gar Monate?«, hakte Will nach. »Möglicherweise haben wir nicht so viel Zeit.«

»Wieso nicht? Was ist so furchtbar dringend, dass du dafür das Leben meines Bruders aufs Spiel setzen musst?«, fauchte Tessa.

Wills Augen erinnerten an schmale blaue Glasscherben. »Das Einzige, was dich interessiert hat, war die Suche nach deinem Bruder. Und jetzt hast du ihn gefunden. Schön für dich. Aber das ist nie unser Ziel gewesen. Dessen bist du dir doch hoffentlich bewusst, oder? In der Regel machen wir uns wegen eines pflichtvergessenen Irdischen nicht solche Umstände.«

»Was Will zu sagen versucht - obwohl es ihm dafür an nötigem Taktgefühl fehlt ...«, mischte Jem sich hastig ein, »ist Folgendes ...« Er verstummte einen Moment und seufzte. »De Quincey hat gesagt, dein Bruder sei jemand, dem er vertraut habe. Und nun ist de Quincey verschwunden und wir haben keine Ahnung, wo er sich versteckt halten könnte. Aus den Unterlagen, die wir in seinem Büro gefunden haben, geht hervor, dass er in naher Zukunft mit einem Krieg zwischen Schattenweltlern und Schattenjägern rechnete - ein Krieg, in dem seine Klockwerk-Kreaturen zweifellos eine überaus wichtige Rolle spielen. Nun verstehst du sicher, warum wir unbedingt wissen wollen, wo er steckt und was dein Bruder vielleicht sonst noch alles weiß.«

»Vielleicht wollt ihr ja all diese Dinge wissen«, erwiderte Tessa, »aber das ist nicht mein Krieg. Ich bin keine Schattenjägerin.«

»In der Tat«, bestätigte Will sarkastisch. »Glaub ja nicht, dass wir uns dessen nicht bewusst wären.«

»Halt den Mund, Will«, wies Charlotte ihn in einem Ton zurecht, der deutlich mehr Schärfe als üblich enthielt. Dann wandte sie sich erneut an Tessa, mit einem flehentlichen Blick in den braunen Augen. »Wir vertrauen dir, Tessa. Und du musst uns auch vertrauen.«

»Nein«, sagte Tessa. »Nein, das kann ich nicht.«

Sie spürte Wills Blick auf sich und wurde plötzlich von einer rasenden Wut erfasst. Wie konnte er es nur wagen, sich ihr gegenüber so kalt und abweisend zu verhalten? Was hatte sie denn getan, um so behandelt zu werden? Sie hatte ihm erlaubt, sie zu küssen. Aber das war auch schon alles. Irgendwie schien es, als würde diese Tatsache sämtliche anderen Ereignisse des Abends in den Hintergrund drängen als spielte es nun, da sie Will geküsst hatte, keine Rolle mehr, dass auch sie tapfer und mutig gewesen war. »Ihr habt mich benutzt«, stieß sie aufgebracht hervor, »genau wie die Dunklen Schwestern. Und bei der erstbesten Gelegenheit, als nämlich Lady Belcourt auftauchte und ihr mich gebrauchen konntet, habt ihr mich dazu aufgefordert, meine Fähigkeit einzusetzen — ganz gleich, wie gefährlich dieses Unterfangen auch sein mochte! Ihr tut so, als hätte ich eine besondere Verantwortung gegenüber eurer Welt, euren Gesetzen und eurem Abkommen, aber dies ist eure Welt und ihr seid diejenigen, die sie regieren solltet. Es ist nicht mein Fehler, wenn ihr schlechte Arbeit leistet!«

Tessa sah, wie die Schattenjägerin erbleichte und in ihren Sessel sank, und spürte heftige Gewissensbisse — sie hatte mit ihren Worten keineswegs Charlotte treffen wollen. Trotzdem fuhr sie fort, unfähig, sich zurückzuhalten: »Ihr redet die ganze Zeit über nichts anderes als über Schattenweltler und dass ihr sie nicht hasst. Aber das sind nur Lippenbekenntnisse ... nichts als schöne Worte, die ihr nicht wirklich meint. Und was die Irdischen betrifft: Habt ihr je darüber nachgedacht, dass ihr sie vielleicht besser beschützen könntet, wenn sie euch nicht derart zuwider wären?« Tessa schaute zu Will, der blass geworden war, trotz seiner funkelnden Augen. Er wirkte irgendwie ... sie wusste nicht genau, wie sie seinen Gesichtsausdruck beschreiben sollte. Entsetzt, dachte sie, aber nicht ihretwegen — sein Entsetzen ging tiefer.

»Tessa ...«, setzte Charlotte zu einem Protest an. Doch Tessa tastete bereits nach dem Türknauf und riss die Tür auf. Erst in letzter Sekunde, schon auf der Schwelle, drehte sie sich noch einmal zu den anderen um, die sie stumm anschauten. »Haltet euch von meinem Bruder fern«, fauchte sie. »Und wagt es nicht, mir zu folgen.«

Wut hatte etwas Befreiendes, solange man ihr nachgab, überlegte Tessa. Es verschaffte ein seltsames Gefühl der Genugtuung, in blindem Zorn zu brüllen und zu schreien, bis man seinem Herzen richtig Luft gemacht hatte.

Die Nachwirkungen waren natürlich weniger angenehm. Wenn man erst einmal allen Anwesenden an den Kopf geworfen hatte, wie sehr man sie hasste, und ihnen untersagt hatte, einem zu folgen, wohin sollte man sich dann wenden? Wenn sie nun einfach auf ihr Zimmer ging, kam das der Aussage gleich, dass sie lediglich einen Trotzanfall gehabt hatte und sich schon wieder beruhigen würde.

Sie konnte auch nicht zu Nate gehen und ihre düstere Laune in sein Krankenzimmer tragen. Und wenn sie sich irgendwo anders verkroch, ging sie das Risiko ein, dass Sophie oder Agatha sie schmollend vorfinden würden.

Nach kurzem Überlegen stieg Tessa die schmale Wendeltreppe hinunter, die durch die Geschosse des Instituts führte, durchquerte das von Elbenlicht erleuchtete Mittelschiff der Kirche und trat schließlich auf die breiten Stufen des Kirchenportals hinaus. Sie hockte sich auf die oberste Marmorstufe und schlang in der unerwartet kalten Brise zitternd die Arme um den Körper. Es musste geregnet haben, denn die Stufen schimmerten feucht und das schwarze Pflaster des Innenhofs glänzte wie ein Spiegel. Inzwischen war der Mond aufgegangen, tauchte immer wieder hinter jagenden Wolkenfetzen hervor und warf sein fahles Licht auf das gewaltige Eisentor. Staub und Schatten sind wir.

»Ich weiß, was du gerade denkst.« Die Stimme, die vom Kirchenportal zu Tessa drang, war so leise, dass man sie fast für das Rascheln der Blätter im Wind hätte halten können.

Tessa drehte sich um. Jem stand im hohen Bogen des Portals — das weiße Elbenlicht hinter ihm ließ seine Haare wie Metall glänzen, doch sein Gesicht lag im Schatten verborgen. In der rechten Hand hielt er seinen Spazierstock, dessen Drachenaugen Tessa aufmerksam anfunkelten.

»Das glaube ich kaum«, murrte Tessa.

»Du denkst gerade: ›Wenn man diese feuchte Abscheulichkeit hier als Sommer bezeichnet, wie muss dann erst der Winter sein?‹ Aber du wärst überrascht:

Der Winter ist im Grunde nicht viel anders als der Sommer.« Jem löste sich von der Tür und setzte sich zu Tessa auf die Stufe, jedoch nicht zu dicht neben sie. »Der Frühling ist hier wirklich die schönste Jahreszeit.«

»Tatsächlich?«, sagte Tessa, ohne allzu großes Interesse.

»Nein. Genau genommen ist er genauso neblig und feucht wie der Rest des Jahres.« Er warf ihr einen langen Seitenblick zu. »Ich weiß, du hast gesagt, wir sollten dir nicht folgen. Aber irgendwie hege ich die Hoffnung, dass du damit nur Will gemeint hast.«

»Stimmt.« Tessa wandte sich Jem zu und sah ihn an. »Ich hätte da drinnen nicht so herumbrüllen dürfen.«

»Nein, nein, du hast vollkommen recht mit dem, was du gesagt hast«, erwiderte Jem. »Wir Nephilim sind schon so lange Schattenjäger und so isoliert von der Welt, dass wir es oft versäumen, eine Situation auch einmal vom Standpunkt eines anderen aus zu betrachten. Es geht immer nur darum, ob etwas gut oder schlecht für die Nephilim ist. Und manchmal denke ich, wir vergessen dabei, uns zu fragen, ob dies gut oder schlecht für die Welt ist.«

»Es war nie meine Absicht, Charlotte zu kränken.«

»Charlotte ist sehr empfindlich, was die Führung des Instituts betrifft. Als Frau muss sie ständig darum kämpfen, dass man ihr zuhört, und selbst dann noch werden ihre Entscheidungen im Nachhinein kritisiert. Du hast ja Benedict Lightwood während der Zusammenkunft der Brigade gehört. Charlotte hat das Gefühl, dass sie sich keinen einzigen Fehler erlauben darf.«

»Gilt das nicht für jeden von uns? Und besonders für euch? Für euch ist doch alles eine Frage von Leben und Tod ...« Tessa holte tief Luft. Der neblige Dunst schmeckte nach den Gerüchen der Stadt, nach Metall, Asche, Pferden und Flusswasser. »Ich ... ich habe nur manchmal das Gefühl, als könnte ich es nicht länger ertragen ... einfach alles hier. Und ich wünschte, ich hätte nie erfahren, wer ich bin. Ich wünschte, Nate wäre zu Hause geblieben und all das hier wäre nie passiert!«

»Manchmal ändert sich unser Leben so schnell, dass die Veränderung unser Herz und unseren Verstand weit hinter sich lässt«, sagte Jem. »Ich glaube, dass wir immer dann den größten Kummer empfinden, wenn unser Leben sich längst verändert hat, wir uns aber noch nach den Zeiten vor der Veränderung sehnen. Allerdings kann ich dir aus eigener Erfahrung versichern, dass man sich daran gewöhnt. Man lernt, sein neues Leben zu führen, und irgendwann kann man sich gar nicht mehr vorstellen oder daran erinnern, wie es früher gewesen ist.«

»Du willst also sagen, dass ich mich daran gewöhnen werde, eine Hexe zu sein — oder was auch immer ich sein mag?«

»Nein, denn du bist schon immer diejenige gewesen, die du bist. Das ist schließlich nichts Neues. Aber du wirst dich daran gewöhnen, es zu wissen.«

Tessa holte ein weiteres Mal tief Luft und ließ sie langsam aus ihren Lungen strömen.

»Das, was ich da drinnen gesagt habe, habe ich nicht ernst gemeint«, erklärte sie schließlich. »Ich halte die Nephilim nicht für so schrecklich, wie ich behauptet habe.«

»Ich weiß, dass du es nicht ernst gemeint hast. Denn sonst wärst du jetzt nicht hier, sondern an der Seite deines Bruders und würdest ihn vor unseren unheilvollen Absichten schützen.«

»Will hat das, was er gesagt hat, auch nicht wirklich gemeint«, bemerkte Tessa nach einem kurzen Moment. »Er würde Nate nichts antun.«

»Ah.« Jem schaute mit nachdenklichem Blick in Richtung Eisentor. »Du hast recht. Aber ich bin überrascht, dass du es weißt. Ich weiß es. Aber es hat mich Jahre gekostet, Will verstehen zu lernen. Zu lernen, wann er etwas ernsthaft meint und wann nicht.«

»Dann bist du ihm also nie richtig böse?«

Jem lachte laut. »Das würde ich nun nicht gerade behaupten. Manchmal möchte ich ihn am liebsten erwürgen.«

»Und wie, um alles in der Welt, hältst du dich davon ab?«

»Ich gehe einfach zu meinem Lieblingsort in London«, erklärte Jem. »Und dort stehe ich einfach nur da, schaue aufs Wasser und denke über den Fortgang des Lebens nach und wie der Fluss einfach weiterströmt, vollkommen blind gegenüber den kleinen Dramen in unserem Leben.«

»Und das funktioniert?«, fragte Tessa fasziniert.

»Ehrlich gesagt, nein. Aber dann denke ich daran, dass ich Will, wenn ich es wirklich wollte, jederzeit im Schlaf töten könnte — und schon geht es mir besser.«

Tessa kicherte. »Und wo ist dieser Ort? Dein Lieblingsort in London?«

Einen Moment lang zögerte Jem. Dann sprang er federnd auf die Füße und streckte Tessa die Hand entgegen, die nicht den Spazierstock hielt. »Komm, ich werde ihn dir zeigen.«

»Ist es weit weg?«

»Überhaupt nicht. Genau das Richtige für einen kleinen Spaziergang«, erklärte Jem lächelnd. Er hatte ein wundervolles, sehr ansteckendes Lächeln, dachte Tessa. Sie konnte nicht umhin, ihm ebenfalls ein Lächeln zu schenken — das erste seit einer gefühlten Ewigkeit, schoss es ihr durch den Kopf.

Tessa ließ sich von der Stufe aufhelfen. Jems Hand war warm und kräftig und überraschend beruhigend. Sie warf einen schnellen Blick zurück zum Institut, zögerte kurz und erlaubte Jem schließlich, sie zum Eisentor und hinaus in die Schatten der Stadt zu ziehen.

Загрузка...