10 Prinzen und Könige bleich

Sah Prinzen dort und Könige bleich

Und Krieger, todbleich Mann für Mann

John Keats, »La belle dame sans merci: Eine Ballade«

Während die Kutsche über das holprige Kopfsteinpflaster des Strand rollte, hob Will eine schwarz behandschuhte Hand und zog einen der Samtvorhänge vor dem Fenster zurück, sodass ein dünner Strahl gelblichen Gaslichts ins dunkle Innere des Wagens fiel. »Sieht ganz danach aus, als würden wir heute Abend noch Regen bekommen«, bemerkte er.

Tessa folgte seinem Blick. Der Londoner Himmel vor dem Fenster war bewölkt und stahlgrau — wie üblich, dachte sie. Männer mit Hüten und langen dunklen Mänteln eilten über die Gehwege auf beiden Seiten der Straße und stemmten sich gegen den böigen Wind, der eine Mischung aus Kohlenstaub, Pferdemist und anderen Gerüchen mit sich führte, welche ihr ein Brennen in den Augen verursachten. Ein weiteres Mal hatte Tessa den Eindruck, sie könnte den typischen Dunst der Themse wahrnehmen.

»Ist das da eine Kirche?«, wunderte sie sich laut, als sie nach vorne schaute. »Eine Kirche, die mitten auf der Straße steht?«

»Das ist St. Mary le Strand«, erklärte Will. »Mit diesem Gotteshaus ist eine lange Geschichte verbunden — die ich dir aber ein anderes Mal erzählen werde. Hast du eigentlich irgendetwas von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?«

»Ja, natürlich«, versicherte Tessa, »jedenfalls bis zu dem Moment, als du von Regen gesprochen hast. Wen interessiert es schon, ob es heute Abend regnen wird? Wir sind auf dem Weg zu irgendeiner Art ... VampirSoiree, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Und bisher bist du mir auch keine allzu große Hilfe gewesen.«

Wills Mundwinkel zuckten amüsiert. »Sei einfach nur vorsichtig. Wenn wir bei de Quincey eintreffen, kannst du dich auch nicht ratsuchend an mich wenden. Denn vergiss nicht: Ich bin nur dein Domestik. Und du duldest mich lediglich in deiner Nähe, weil du mein Blut willst — Blut, wann immer dir danach ist —, und aus keinem anderen Grund.«

»Dann wirst du heute Abend also nicht reden? Keinen einzigen Ton von dir geben?«, fragte Tessa.

»Nicht, solange du es mir nicht ausdrücklich befiehlst«, bestätigte Will.

»Dann könnte dieser Abend ja doch noch angenehmer werden als erwartet«, stellte Tessa fest. Aber Will schien ihre Bemerkung nicht gehört zu haben. Geistesabwesend straffte er eine der Metallmanschetten an seinem linken Handgelenk, in der ein Messer steckte, während er aus dem Fenster in die Ferne starrte, als sähe er irgendetwas, das sich Tessas Sicht entzog. »Du stellst dir Vampire möglicherweise als wilde Bestien vor, aber die Nachtkinder Londons strafen dieses Bild Lügen: Sie sind so kultiviert wie grausam — rasiermesserscharfe Stilette im Vergleich zu den stumpfen Klingen der Menschheit.« Die Konturen seines angespannten Kiefers zeichneten sich deutlich in der Dämmerung ab. »Du wirst dir Mühe geben müssen, um mit ihnen mitzuhalten. Und wenn du das nicht schaffst, dann halte um Himmels willen einfach den Mund. Diese Vampirgesellschaft legt äußersten Wert auf vollendete Umgangsformen. Ein unbedachter Verstoß gegen die komplizierte und undurchsichtige Etikette könnte deinen sofortigen Tod bedeuten.«

Tessa knetete die verschränkten Hände in ihrem Schoß so nervös, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihre Finger waren eiskalt — sie konnte die Kälte von Camilles Haut spüren, selbst durch ihre Handschuhe hindurch. »Ist das ein Scherz? So wie an dem Abend in der Bibliothek, als du etwas Ähnliches über das Fallenlassen des Codex gesagt hast?«

»Nein.« Seine Stimme klang weit entfernt.

»Will, du machst mir Angst«, platzte Tessa heraus, ehe sie sich besinnen konnte. Angespannt erwartete sie seine Reaktion und rechnete mit einer spöttischen Bemerkung.

Stattdessen wandte Will langsam den Blick vom Fenster ab und betrachtete sie auf eine Weise, als dämmerte ihm allmählich eine Erkenntnis. »Tess«, sagte er und Tessa zuckte innerlich zusammen — noch nie zuvor hatte jemand sie »Tess« genannt. Ihr Bruder hatte sie manchmal »Tessie« gerufen, aber das war auch schon alles gewesen.

»Du weißt, dass du das nicht zu tun brauchst, wenn du nicht möchtest, oder?«, fragte Will.

Tessa holte tief Luft, die sie eigentlich nicht benötigte. »Und was dann? Würden wir dann die Kutsche wenden und nach Hause fahren?«

Will beugte sich leicht vor und ergriff ihre Hände. Camilles Finger wirkten in seinen großen schwarzen Handschuhen so winzig, dass es den Eindruck erweckte, als würden sie darin verschwinden. »Alle für einen, einer für alle«, verkündete er fest.

Bei diesen Worten musste Tessa matt lächeln. »Die drei Musketiere?«

Er musterte sie ruhig aus seinen dunkelblauen Augen, die einen ganz eigenen Farbton besaßen. Natürlich war Tessa schon öfter Menschen mit blauen Augen begegnet, aber die hatten immer in einem hellen Blau geschimmert. Wills Pupillen leuchteten dagegen in der Farbe der einsetzenden Abenddämmerung und seine langen schwarzen Wimpern verschleierten ihren Blick ein wenig, als er erwiderte: »Wenn mir eine unangenehme Aufgabe bevorsteht ... wenn ich etwas tun muss, was ich nicht will, dann bilde ich mir manchmal ein, ich wäre eine Figur aus einem Buch. Auf diese Weise weiß ich leichter, was diese Person tun würde.«

»Wirklich? Und für wen gibst du dich dann aus? D’Artagnan?«, fragte Tessa und nannte damit den einzigen Namen, an den sie sich aus Die drei Musketiere erinnern konnte.

»›Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteilwurde‹«, zitierte Will.

»Sydney Carton? Aber hast du nicht gesagt, du würdest Eine Geschichte aus zwei Städten hassen?!«

»Das war gelogen«, entgegnete Will unbekümmert.

»Aber Sydney Carton ist doch ein zügelloser Trunkenbold!«

»Genau. Hier haben wir es mit einem nichtswürdigen Mann zu tun, der sich seiner Nichtswürdigkeit vollkommen bewusst ist. Doch sosehr er seine Seele auch zugrunde richtet, ein Teil von ihm ist immer noch zu großartigen Taten fähig.« Will senkte die Stimme. »Was sagt er noch mal zu Lucie Manette? Dass er trotz seiner Schwäche noch immer brennen könne?«

Tessa, die Eine Geschichte aus zwei Städten öfter gelesen hatte, als sie zählen konnte, wisperte: »›Und doch gab ich der Schwäche nach, und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben.‹« Sie zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber das hat er gesagt, weil er sie liebte.«

»Ja«, bestätigte Will. »Er liebte sie hinreichend genug, um zu wissen, dass sie ohne ihn besser dran war.«

Seine Hände hielten ihre noch immer fest und die Wärme seiner Finger brannte sich durch Tessas Handschuhe. Beim Besteigen der Kutsche im Vorhof des Instituts hatte der böige Wind seine tintenschwarzen Haare zerzaust, wodurch er nun jünger wirkte und verwundbarer. Und auch der Blick in seinen Augen erschien Tessa verwundbar ... offen wie eine Tür. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass Will einen anderen Menschen auf solch eine Weise ansehen konnte oder wollte, wie er nun sie anschaute. Wenn sie hätte erröten können, wäre sie jetzt feuerrot angelaufen, schoss es ihr durch den Kopf.

Und im nächsten Moment wünschte sie, sie hätte nichts dergleichen gedacht. Denn dieser Gedanke führte unweigerlich zu einer unangenehmeren Frage:

Sah er in diesem Augenblick sie, Tessa, oder Camille, eine in der Tat atemberaubende Schönheit? War das der Grund für seinen veränderten Gesichtsausdruck? Konnte er die wahre Tessa durch die Maskerade erkennen oder sah er nur ihre Hülle?

Tessa lehnte sich zurück und versuchte, ihm ihre Hände zu entziehen. Doch er hielt sie fest und es dauerte einen Moment, bis er sie freigab.

»Tessa ...«, setzte Will an, doch ehe er noch irgendetwas hinzufügen konnte, kam die Kutsche so abrupt zum Stehen, dass die Samtvorhänge hin und her schaukelten.

»Wir sind da!«, rief Thomas vom Kutschbock. Will holte tief Luft, öffnete den Türschlag, sprang hinunter auf den Gehweg und streckte Tessa die Hand entgegen, um ihr aus dem Gefährt zu helfen.

Tessa ergriff seine Hand, senkte beim Verlassen der Kutsche den Kopf, um keine der Rosen an Camilles Hut zu zerdrücken, und bildete sich fast ein, das Pochen seines kräftigen Pulsschlags durch die Handschuhe hindurch zu spüren. Eine deutliche Röte lag auf seinen Wangen und Tessa fragte sich, ob die beißende Kälte ihm das Blut ins Gesicht getrieben hatte oder irgendetwas anderes.

Dann standen sie vor einem stattlichen weißen Gebäude mit einem weißen Säulenportikus, das auf beiden Seiten von ähnlichen Bauwerken flankiert wurde. Eine breite Treppe führte zu einer wuchtigen, schwarz lackierten Doppeltür, deren schwere Flügel leicht geöffnet waren und einen schmalen Strahl schimmerndes Kerzenlicht auf die weißen Treppenstufen warfen. Tessa drehte sich zu Will um. Hinter ihm sah sie Thomas, der auf dem Kutschbock saß, den Hut tief in die Stirn gezogen. Auch seine Pistole mit dem Silberknauf steckte so tief in seiner Westentasche, dass sie der Sicht vollkommen entzogen war.

Irgendwo tief in ihrem Kopf hörte Tessa Camille lachen und wusste sofort — ohne genau sagen zu können, woher —, dass die Vampirdame sich über ihre stille Bewunderung für Will amüsierte. Da bist du ja endlich, dachte Tessa erleichtert, trotz ihrer Verärgerung über Lady Belcourts spöttische Belustigung. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, dass sie Camilles innere Stimme überhaupt nicht mehr zu fassen bekommen würde.

Langsam wandte sie sich von Will ab und hob das Kinn. Diese arrogante Haltung entsprach eigentlich nicht ihrem Naturell — dafür dem von Lady Belcourt umso mehr. »Du wirst mich nicht mehr mit ›Tessa‹ anreden, sondern so wie es sich für einen Bediensteten geziemt«, beschied sie Will, mit leicht verächtlich verzogener Lippe. »Und jetzt komm.« Herrisch drehte sie den Kopf in Richtung des Hauses und stieg die Stufen hinauf, ohne sich zu vergewissern, ob er ihr auch folgte.

Ein elegant livrierter Lakai erwartete sie am oberen Ende der Treppe. »Eure Ladyschaft«, murmelte er, und als er sich vor ihr verbeugte, konnte Tessa die beiden Einstiche an seinem Hals erkennen, direkt oberhalb des Kragens. Sie drehte den Kopf, um sicherzugehen, dass Will sich dicht hinter ihr befand, und wollte ihn gerade dem Domestiken vorstellen, als Camilles innere Stimme ihr zuflüsterte: »Wir machen unsere menschlichen Schoßhündchen nicht miteinander bekannt. Sie sind unser namenloser Besitz — es sei denn, wir entschließen uns, ihnen einen Namen zu geben.«

Pfui, dachte Tessa entrüstet und nahm in ihrer Empörung nur am Rande wahr, wie der Lakai sie durch einen langen Gang zu einem großen Saal mit weißem Marmorboden geleitete. Dort verbeugte er sich erneut und zog sich zurück, während Will an ihre Seite trat und genau wie Tessa einen Moment lang sprachlos auf die Szenerie vor ihnen starrte.

Der riesige Saal wurde nur von Kerzenschein erhellt: Über den gesamten Raum waren Dutzende goldener Leuchter verteilt, in denen dicke weiße Wachskerzen brannten. Und aus den Wänden ragten elegant gemeißelte Marmorhände mit jeweils einer scharlachroten Kerze, deren rotes Wachs wie Rosenblütenblätter über den weißen Marmor tropfte.

Zwischen den Kerzenleuchtern drängten sich Hunderte von Vampiren, mit Gesichtern so weiß wie Wolken und eleganten, geschmeidigen, fast fließenden Bewegungen. Tessa konnte ihre Ähnlichkeit mit Camille erkennen, die Gesichtszüge, die sie miteinander teilten — die makellose Haut, die dunklen, wie Juwelen schimmernden Augen, die bleichen Wangen mit einem Hauch von Rouge. Manche Vampire wirkten menschlicher als andere und viele waren in der Mode vergangener Epochen gekleidet — die Männer mit Kniehosen und Halstüchern, die Frauen mit Röcken so üppig und aufgebauscht wie Marie Antoinettes Roben oder mit schweren Schleppen, Spitzenmanschetten und zarten Rüschen.

Fieberhaft schweifte Tessas Blick durch den Saal, auf der Suche nach einer vertrauten Gestalt mit blonden Haaren, doch Nathaniel war nirgends zu sehen. Stattdessen musste sie sich Mühe geben, eine hochgewachsene, hagere Frau nicht allzu auffällig anzustarren, die im Stil des vorherigen Jahrhunderts gekleidet war, mit hoher, stark gepuderter Perücke und noch weißerem, blutleerem Gesicht. »Ihr Name lautet Lady Delilah, wisperte Camilles Stimme in Tessas Kopf. Lady Delilah hielt eine kleine Gestalt an der Hand und Tessa zuckte innerlich zurück — ein Kind, hier an diesem Ort? Doch als die Gestalt sich umdrehte, erkannte Tessa, dass es sich dabei ebenfalls um einen Vampir handelte, mit tief liegenden dunklen Augen, die wie schwarze Löcher in dem runden, kindlichen Gesicht brannten. Als er Tessa ein sardonisches Lächeln schenkte, kamen seine weißen Fangzähne zum Vorschein.

»Wir müssen nach Magnus Bane Ausschau halten«, raunte Will Tessa leise zu. »Er soll uns eigentlich sicher durch dieses Durcheinander geleiten. Wenn ich ihn sehe, werde ich ihn dir zeigen.«

Tessa wollte darauf gerade erwidern, dass Camille Magnus für sie erkennen würde, als ihr Blick auf einen schlanken Mann mit einer Fülle heller Haare fiel, der einen schwarzen Frack trug. Sofort spürte sie, wie ihr Herz einen Satz machte. Doch als er sich umdrehte, wich ihre Freude bitterer Enttäuschung: Dieser Mann war nicht Nathaniel, sondern ein Vampir mit einem bleichen, kantigen Gesicht. Seine Haare schimmerten nicht blond wie die ihres Bruders, sondern wirkten im Kerzenschein fast farblos. Er nickte Tessa zu und steuerte dann in ihre Richtung, wobei er sich langsam einen Weg durch die Menge bahnte, unter der sich außer Vampiren auch vereinzelt Domestiken befanden. Diese trugen glänzende Serviertabletts mit leeren Gläsern. Neben den Gläsern lag jeweils ein Set unterschiedlicher Silberutensilien, allesamt mit scharfer Spitze: von Messern bis hin zu dünnen Gerätschaften, die an Schusterahlen erinnerten.

Während Tessa verwirrt auf eines dieser Tabletts starrte, wurde der Domestik, der gerade an ihr vorbeiging, von der Dame mit der weiß gepuderten Perücke angehalten. Herrisch schnippte sie mit den Fingern und der Finsterling — ein blasser Junge in grauer Livree — drehte gehorsam den Kopf zur Seite. Mit ihren spindeldürren Fingern nahm die Vampirin eine feine Ahle vom Tablett und zog deren scharfe Spitze langsam über den Hals des Domestiken, direkt unterhalb des Kiefers. Die Gläser auf dem Tablett klirrten, als seine Hand zu zittern begann, doch er ließ das Tablett nicht fallen — nicht einmal, als die Frau eines der Gläser nahm und es ihm so an die Kehle presste, dass das Blut in einem dünnen Rinnsal hineinströmte. Tessa wurde übel, in einer plötzlich aufwallenden Mischung aus Abscheu und ... Hunger. Sie konnte den knurrenden Magen nicht leugnen, auch wenn es eigentlich nicht ihrer war. Doch viel stärker als Camilles Blutdurst wog ihr eigenes Entsetzen: Wie gelähmt sah sie zu, wie die Vampirin das Glas an die Lippen führte und trank, während der Junge mit grauem Gesicht zitternd danebenstand.

Am liebsten hätte sie nach Wills Hand gegriffen, aber eine Vampir-Baronesse würde niemals die Hand ihres Domestiken halten. Also richtete Tessa sich hoheitsvoll auf und befahl Will mit einem gebieterischen Fingerschnippen an ihre Seite. Überrascht schaute der Schattenjäger auf und gehorchte schließlich ihrem Befehl, wobei er seine Verärgerung nur mühsam verhehlen konnte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Rolle zu spielen. »Nun lauf doch nicht einfach so herum, William«, tadelte sie ihn mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ich will dich in dieser Menge nicht verlieren.«

Will presste die Kiefer zusammen. »Irgendwie beschleicht mich das seltsame Gefühl, dass du das Ganze genießt«, stieß er leise hervor.

»Daran ist doch nichts Seltsames.« In einem Anflug ungeahnter Kühnheit klapste Tessa ihm mit der Spitze ihres feinen Fächers unter das Kinn. »Verhalte dich einfach nur gebührlich.«

»Es ist ja so mühsam, sie abzurichten, nicht wahr?«

Der Mann mit den farblosen Haaren tauchte vor Tessa aus der Menge auf und verneigte sich kurz vor ihr.

»Domestiken, meine ich«, fügte er hinzu. Offenbar deutete er ihren bestürzten Gesichtsausdruck fälschlicherweise als Verwirrung. »Und wenn sie dann endlich vernünftig abgerichtet sind, sterben sie urplötzlich an der einen oder anderen Krankheit. Empfindliche Geschöpfe, diese Menschen — ihre Lebensdauer übersteigt kaum die eines Schmetterlings.«

Er lächelte spöttisch, wobei seine glänzenden Zähne zum Vorschein traten. Seine Gesichtshaut schimmerte im bläulichen Weiß verdichteter Eisschollen, sein schulterlanges, fast weißes, aalglattes Haar streifte gerade eben den Kragen seines eleganten dunklen Mantels und die darunter hervorschauende graue Seidenweste zeigte ein Muster aus miteinander verwobenen, wirbelnden silberfarbenen Symbolen. Er sah aus wie ein russischer Zar aus einem Bilderbuch. »Welch eine Freude, Sie wiederzusehen, Lady Belcourt«, näselte er, mit einer leichten Sprachfärbung. Allerdings kein französischer, sondern eher ein slawischer Akzent, überlegte Tessa. »Irre ich mich oder habe ich dich vorhin in einer neuen Kutsche vorfahren gesehen, meine liebe Camille?«, fuhr der Mann fort.

Das ist de Quincey, hauchte Camilles Stimme in ihrem Kopf. Und plötzlich tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf, wie aus einem Quell, der jedoch kein Wasser hervorsprudelte, sondern Erinnerungen: Sie sah sich mit de Quincey tanzen, ihre Hände auf seinen Schultern. Dann stand sie unter dem weißen Himmel einer klaren Polarnacht bei einem schwarzen, reißenden Strom und beobachtete, wie er sich an einer blassen, lang hingestreckten Gestalt gütlich tat, die im Gras lag. Einen Sekundenbruchteil später saß sie reglos an einer langen Tafel, zwischen anderen Vampiren, und de Quincey, der am Kopf des Tisches gesessen hatte, sprang auf, schäumte vor Wut und schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass dessen Marmorplatte feine Risse bekam. De Quincey schrie sie zornig an ... irgendetwas über einen Werwolf und über eine Beziehung, die sie noch bedauern würde. Dann war sie plötzlich allein in einem Raum, in völliger Dunkelheit, weinend auf einem Stuhl zusammengekauert. Und de Quincey kam herein, kniete sich neben ihren Stuhl, nahm ihre Hand und versuchte, sie zu trösten, obwohl er derjenige war, der ihren Kummer erst verursachte hatte. Vampire können weinen?, fragte Tessa sich und überlegte dann weiter: Die beiden kennen sich seit sehr langer Zeit ... Alexei de Quincey und Camille Beicourt. Einst waren sie Freunde und er glaubt, dass ihre Freundschaft noch immer Bestand hat.

»In der Tat, Alexei«, sagte sie nun. Gleichzeitig fiel ihr wieder ein, dass dies der Name war, an den sie sich ein paar Tage zuvor beim Abendessen zu erinnern versucht hatte — der fremdländische Name, den die Dunklen Schwestern erwähnt hatten. Alexei. »Ich brauchte dringend ein Kutsche mit etwas mehr ... Platz.« Mit hoch erhobenem Kopf streckte sie die Hand aus und stand reglos da, während er ihre Finger ergriff und seinen kalten Mund auf ihren Handschuh drückte.

De Quinceys Blick streifte von Tessa zu Will und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und wie ich sehe, hast du dir auch einen neuen Finsterling zugelegt. Dieser hier ist wahrlich recht annehmbar.« Er streckte seine hagere, blasse Hand aus und strich mit dem Zeigefinger über Wills Wange bis hinunter zum Kiefer. »Solch ein aparter Teint«, sagte er sinnend.

»Und diese Augen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Tessa, so als würde sie sich für ein Kompliment über ihren erlesenen Geschmack bei der Wahl der Tapeten bedanken. Nervös beobachtete sie, wie de Quincey noch näher an Will heranrückte, der sehr bleich und angespannt wirkte. Und sie fragte sich, ob es ihm gelingen würde, die Beherrschung zu bewahren, wenn jede Faser seines Körpers in diesem Moment zweifellos Feind! Feind! schrie.

De Quincey ließ seinen Finger nun von Wills Kiefer zu seiner Kehle gleiten — zu der Stelle am Ansatz des Schlüsselbeins, wo das Blut unter der Haut pulsierte. »Genau hier«, lächelte er und dieses Mal waren seine weißen Fangzähne deutlich zu sehen, scharf und spitz wie Nadeln. Seine Lider senkten sich träge, und als er weitersprach, klang seine Stimme sinnlich und schwer. »Es macht dir doch nichts aus, Camille, oder? Wenn ich nur einen kleinen Biss ...«

Im nächsten Moment verwischte Tessas Sicht zu einer weißen Fläche, vor der sich de Quincey abzeichnete, die weiße Hemdbrust über und über mit scharlachrotem Blut bespritzt. Und dann sah sie einen Leichnam, der kopfüber an einem Baum neben dem dunklen, reißenden Strom hing. Bleiche Finger baumelten im tosenden schwarzen Wasser ...

Tessa Hand zuckte nach vorn, schneller als sie sich jemals hätte vorstellen können, und packte de Quinceys Handgelenk. »Nicht doch, mein Lieber«, flötete sie mit schmeichelnder Stimme. »Ich würde ihn wirklich gern noch ein Weilchen für mich behalten. Du weißt doch, wie unersättlich du manchmal sein kannst«, fügte sie hinzu und senkte kokett die Lider.

De Quincey lachte leise. »Für dich, Camille, werde ich Zurückhaltung üben.« Dann zog er sein Handgelenk zurück und einen winzigen Moment glaubte Tessa, hinter seinem flirtenden Gehabe einen Anflug von Wut in den Augen aufblitzen zu sehen, der jedoch rasch verschwand. »Im Gedenken an unsere langjährige Freundschaft«, fügte er hinzu.

»Ich danke dir, Alexei.«

»Hast du schon Gelegenheit gehabt, eingehender über mein Angebot nachzudenken und dem Pandemonium Club beizutreten, meine Liebe?«, fragte er. »Ich weiß, die Irdischen langweilen dich, aber sie sind ein Quell nie versiegender Mittel. Wir im Vorstand des Clubs stehen kurz vor einer sehr ... aufregenden Entdeckung. Ich spreche von Macht, die deine kühnsten Träume übertrifft, Camille.«

Tessa wartete, doch Camilles innerer Stimme schwieg. Warum sagt sie nichts?, dachte Tessa hektisch, bekämpfte den Panikanfall aber und brachte ein Lächeln zustande. »Meine Träume, lieber Alexei«, setzte sie an und hoffte inständig, dass er den heiseren Ton in ihrer Stimme als Belustigung und nicht als Angst interpretierte, »meine Träume sind möglicherweise schon jetzt kühner, als du dir vorstellen kannst.«

Tessa spürte, wie Will ihr einen überraschten Blick zuwarf; doch im nächsten Moment hatte er sich wieder im Griff, setzte erneut eine ausdruckslose Miene auf und schaute in eine andere Richtung.

De Quinceys Augen funkelten, doch er lächelte nur.

»Ich bitte dich lediglich, mein Angebot in Betracht zu ziehen, Camille. Und nun muss ich mich wieder meinen anderen Gästen widmen. Ich darf doch davon ausgehen, dich nachher bei der Zeremonie zu sehen?«

Seine Frage verwirrte Tessa etwas und sie konnte nur hoheitsvoll nicken. »Selbstverständlich.«

De Quincey verbeugte sich, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Erleichtert holte Tessa tief Luft — sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.

»Nicht«, raunte Will leise an ihrer Seite. »Denk dran: Vampire brauchen nicht zu atmen.«

»Mein Gott, Will.« Tessa spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte. »Er hätte dich fast gebissen.«

Wills Augen verfinsterten sich vor verhaltenem Zorn. »Vorher hätte ich ihn umgebracht.«

»Und dann wärt ihr beide nun tot«, bemerkte eine Stimme seitlich von Tessas Ellbogen.

Erschrocken wirbelte Tessa herum. Direkt hinter ihr stand ein hochgewachsener Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Unter seinem eleganten Gehrock aus schwerem Brokat, der aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schien und an dessen Kragen und Manschetten eine Fülle weißer Spitze hervorschaute, entdeckte Tessa Kniehosen und hohe Schuhe mit glänzenden Schnallen. Das blauschwarze Haar des Mannes schimmerte wie dunkle Rohseide, während der Schnitt seines gebräunten Gesichts Tessa an Jem erinnerte. Sie fragte sich, ob er wohl genau wie Jem fremdländischer Herkunft war. Ihr Blick wanderte zu einem seiner Ohren, in dem er einen Silberring mit einem Diamantanhänger von der Größe eines Fingers trug. Im Schein der Kerzen funkelte und strahlte der Edelstein hell und auch der Knauf seines silbernen Spazierstocks war mit Diamanten besetzt. Der Mann schien am ganzen Körper zu glitzern, als wäre seine Silhouette von einem Elbenlichtkranz umgeben. Tessa starrte ihn sprachlos an: Nie zuvor hatte sie einen Mann gesehen, der sich auf solch exzentrische Weise kleidete.

»Das ist Magnus«, raunte Will erleichtert. »Magnus Bane.«

»Meine liebe Camille«, setzte der Hexenmeister an und beugte sich über Tessas behandschuhte Finger.

»Wir haben einander viel zu lange nicht gesehen.«

Als seine Lippen ihre Hand berührten, wurde Tessa von Camilles Erinnerungen förmlich überflutet: Bilder von Magnus, der sie in den Armen hielt, sie küsste und auf eine ausgesprochen persönliche und intime Weise berührte. Bestürzt riss Tessa die Hand zurück und quietschte leise auf. Ach, JETZT bist du plötzlich wieder da!, schickte sie einen stummen Vorwurf an Camille.

»Ich verstehe«, murmelte Magnus und richtete sich auf. Als er ihr direkt ins Gesicht sah, hätte Tessa fast erneut die Contenance verloren: Seine goldgrünen Augen besaßen katzenartige Pupillen und funkelten amüsiert. Aber im Gegensatz zu Will, in dessen Blick selbst bei größter Belustigung immer eine Spur Melancholie lag, schienen Magnus’ Augen voll überbordender Lebensfreude. Lächelnd deutete er mit dem Kopf auf die andere Seite des Raums und forderte Tessa auf, ihm zu folgen. »Wenn das so ist: Bitte nach mir. Dort drüben befindet sich ein Separee, in dem wir uns ungestört unterhalten können.«

Wie in Trance folgte Tessa dem Hexenmeister, Will dicht an ihrer Seite. Bildete sie sich das nur ein oder drehten sich die weißen Gesichter der Vampire tatsächlich nach ihnen um? Vor allem eine rothaarige Vampirin in einem aufwendig verzierten blauen Kleid starrte sie unverhohlen an, als sie an ihr vorbeiging. Camilles Stimme wisperte, dass die Dame eifersüchtig sei — auf die Hochachtung, die de Quincey ihr entgegenbrachte. Auf jeden Fall war Tessa sehr erleichtert, als Magnus endlich eine Tür erreichte, die so raffiniert in die Wandvertäfelung eingelassen war, dass sie sie erst bemerkte, als sie direkt davorstanden. Der Hexenmeister zückte einen Schlüssel, entriegelte rasch das Schloss, öffnete die Tür einen Spalt und schob sich in den dahinterliegenden Raum, dicht gefolgt von Tessa und Will.

Bei dem Separee handelte es sich um eine Bibliothek, die offenbar nur selten genutzt wurde. Auf den hohen Bücherregalen mit den dicken Wälzern lag zentimeterhoch Staub und auch die zugezogenen Samtvorhänge vor den Fenstern wirkten schmutzig. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, versank der Raum wieder in tiefer Dunkelheit. Doch bevor Tessa etwas sagen konnte, schnippte Magnus mit den Fingern, woraufhin in den offenen Kaminen an beiden Enden der Bibliothek blaue Flammen zwischen den Holzscheiten emporschossen und ein knisterndes Feuer entzündeten, das einen betörenden Duft wie von Räucherstäbchen verströmte.

»Oh!«, stieß Tessa überrascht hervor.

Mit einem breiten Grinsen ließ Magnus sich auf dem großen Marmortisch in der Raummitte nieder, legte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf den Ellbogen. »Haben Sie etwa noch nie einen Hexenmeister bei der Arbeit gesehen, meine Liebe?«

Will seufzte übertrieben. »Wenn du bitte davon Abstand nehmen würdest, sie aufzuziehen, Magnus. Ich darf wohl davon ausgehen, dass Camille dir erzählt hat, wie wenig sie über die Verborgene Welt weiß.«

»In der Tat, das hat sie«, erwiderte Magnus ohne eine Spur von Reue, »aber es lässt sich nur schwer glauben, wenn man bedenkt, wozu sie fähig ist.« Ruhig heftete er seinen Blick auf Tessa. »Ich habe Ihr Gesicht gesehen, als ich Ihnen die Hand geküsst habe. Sie wussten sofort, wer ich bin, stimmt’s? Sie wissen alles, was Camille weiß.

Es gibt zwar ein paar Hexenmeister und Dämonen, die ihr Äußeres verändern und jede gewünschte Gestalt annehmen können, aber ich habe noch nie zuvor von einem Gestaltwandler gehört, der über Ihre Fähigkeiten verfügt.«

»Es steht noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit fest, ob ich überhaupt eine Hexe bin«, entgegnete Tessa. »Charlotte meinte, ich trage kein Mal, so wie jedes andere Lilithkind eines trägt.«

»Oh doch, Sie sind eine Hexe. Das kann ich Ihnen versichern. Nur weil Sie keine Fledermausohren haben ...« Magnus sah, wie Tessa die Stirn runzelte, und hob belustigt die Augenbrauen. »Ach, Sie wollen gar keine Hexe sein, habe ich recht? Allein der Gedanke ist Ihnen schon zuwider.«

»Nein, ich ... Ich habe einfach nur nie angenommen ... dass ich etwas anderes sein könnte als ein Mensch«, wisperte Tessa.

»Armes Ding«, sagte Magnus, nicht einmal unfreundlich. »Jetzt, da Sie die Wahrheit kennen, führt kein Weg mehr zurück.«

»Lass sie in Ruhe, Magnus.« Wills Stimme klang scharf. »Ich muss diesen Raum durchsuchen. Wenn du mir nicht helfen willst, dann versuch wenigstens, Tessa nicht zu quälen.« Damit marschierte er zu dem großen Eichenschreibtisch in der Ecke der Bibliothek und begann, die darauf liegenden Unterlagen und Dokumente zu durchstöbern.

Magnus drehte sich zu Tessa um und zwinkerte ihr zu. »Ich denke, er ist eifersüchtig«, flüsterte er in verschwörerischem Ton.

Tessa schüttelte den Kopf und schlenderte zum nächsten Bücherregal. Auf dem mittleren Regalbord lag ein Buch aufgeschlagen, so als sollte es präsentiert werden. Die Seiten waren mit leuchtenden, kunstvollen Abbildungen versehen und manche Bereiche der Illustrationen schimmerten, als hätte man sie mit Blattgold auf das Pergament aufgetragen. »Das ist ja eine Bibel!«, stieß Tessa erstaunt hervor.

»Das überrascht Sie?«, hakte Magnus nach.

»Ich dachte, Vampire könnten keine geweihten Gegenstände berühren.«

»Das kommt auf den Vampir an — wie lange er schon auf Erden weilt und welcher Glaubensrichtung er anhängt. De Quincey sammelt sogar alte Bibeln. Er meint, es gäbe kaum ein anderes Buch, dessen Seiten so von Blut durchtränkt sind.«

Besorgt schaute Tessa zu der geschlossenen Bibliothekstür. Von der anderen Seite drang schwaches Stimmengewirr herein. »Werden wir nicht Anlass für den einen oder anderen Kommentar geben, wenn wir uns hier drin verstecken? Die anderen Gäste ... die Vampire ... ich bin mir sicher, dass sie uns nachgestarrt haben, als wir den Raum betraten.«

»Sie haben Will nachgestarrt«, erwiderte Magnus grinsend und sein Lächeln war mindestens so beunruhigend wie das der Vampire, auch wenn er keine Fangzähne besaß. »Will wirkt einfach fehl am Platz.«

Rasch schaute Tessa zu Will hinüber, der gerade mit behandschuhten Händen die Schreibtischschubladen durchwühlte.

»Und das aus dem Munde eines Mannes, der sich so exzentrisch kleidet wie du.«

Magnus ignorierte seine Bemerkung. »Will verhält sich nicht wie die anderen Domestiken. Beispielsweise liegt er seiner Gebieterin nicht schmachtend zu Füßen und verehrt sie blind.«

»Das hängt mit ihrem monströsen Hut zusammen«, erwiderte Will. »Der stößt mich einfach ab.«

»Domestiken stößt niemals auch nur irgendetwas ab«, hielt Magnus entgegen. »Sie beten ihre VampirHerrschaften an, ganz gleich, was diese tragen. Aber selbstverständlich haben die Gäste uns auch deshalb hinterhergestarrt, weil die meisten von meinem Verhältnis mit Camille wissen und sich bestimmt fragen, was wir in der Bibliothek wohl so treiben mögen ... so ganz allein.« Er schenkte Tessa einen bedeutungsvollen Blick und zwinkerte vielsagend.

Sofort musste Tessa wieder an die Bilder denken, die vor ihrem inneren Auge aufgestiegen waren. »De Quincey ... hat irgendetwas zu Camille gesagt ... etwas über ihre Beziehung zu einem Werwolf und dass sie das noch bereuen werde. Er erweckte den Anschein, als hätte sie damit ein schweres Verbrechen begangen.«

Magnus, der sich inzwischen auf den Rücken gedreht hatte und seinen Spazierstock über dem Kopf herumwirbelte, zuckte die Achseln. »Für ihn ist es das wohl auch. Vampire und Werwölfe verabscheuen einander. Angeblich hängt das mit der Tatsache zusammen, dass die beiden Dämonenrassen, aus denen sie hervorgegangen sind, miteinander in Fehde liegen ... irgendeine Blutrache-Geschichte. Aber wenn man mich fragt, hassen sie sich einfach deshalb, weil sie beide Raubtiere sind — und die schätzen es nun einmal nicht, wenn jemand anderes in ihrem Revier wildert. Das soll natürlich nicht heißen, dass Vampire stattdessen den Feenwesen oder meinesgleichen von Herzen zugetan wären, aber de Quincey scheint mich zu mögen. Er glaubt, wir seien Freunde. Genau genommen, habe ich ihn im Verdacht, dass er gern mehr als nur mein Freund wäre«, fügte Magnus hinzu und grinste, zu Tessas Verwirrung. »Aber ich verachte ihn, auch wenn er davon nichts weiß.«

»Und warum verbringst du dann überhaupt Zeit mit ihm?«, fragte Will, der sich inzwischen einem hohen Sekretär zwischen zwei Fenstern widmete und sämtliche Schubladen gründlich durchsuchte. »Wieso setzt du auch nur einen Fuß in sein Haus?«

»Aus rein diplomatischen Gründen«, erklärte Magnus mit einem weiteren Achselzucken. »De Quincey ist der Anführer des Clans. Wenn Camille eine Einladung zu einer seiner Abendgesellschaften nicht annehmen würde, käme das einem Affront gleich. Und wenn ich ihr erlauben würde, ohne Begleitung zu erscheinen, wäre das sehr ... leichtsinnig. De Quincey ist gefährlich, auch gegenüber seinesgleichen. Vor allem denjenigen gegenüber, die in der Vergangenheit sein Missfallen erregt haben.«

»Dann solltest du ...«, setzte Will an, unterbrach sich aber und stieß mit veränderter Stimme hervor:

»Ich hab was gefunden.« Er schwieg einen Moment und wandte sich schließlich an den Hexenmeister:

»Vielleicht solltest du dir das einmal ansehen, Magnus.« Er marschierte zum Schreibtisch, legte eine große Papierrolle darauf, winkte Tessa zu sich heran und rollte das Papier auseinander. »In diesem Schreibtisch war nichts Besonderes zu finden, aber ich habe das hier in einem Geheimfach des Sekretärs entdeckt. Was hältst du davon, Magnus?«

Tessa, die sich zu Will gesellt hatte, warf einen Blick auf den großen Papierbogen. Darauf befand sich eine grobe Skizze eines menschlichen Skeletts, das aus Kolben, Zahnrädern und Metallplatten konstruiert zu sein schien. Der Schädel besaß einen Klappkiefer, leere Höhlen für die Augen und eine Mundöffnung, die direkt hinter den Zähnen endete. Und genau wie bei Miranda saß in der Brust ein Paneel. Der gesamte linke Rand des Papierbogens war mit Notizen übersät, die Tessa jedoch nicht entziffern konnte — die Zeichen waren ihr völlig unbekannt.

»Ein Entwurf für einen Automaten«, konstatierte Magnus und neigte den Kopf leicht zur Seite. »Für einen künstlichen Menschen. Die Irdischen waren schon immer fasziniert von diesen Kreaturen — vermutlich, weil sie menschenähnlich sind, aber nicht verletzt werden oder sterben können. Hast du zufälligerweise mal das Buch über die Kunst trickreicher mechanischer Vorrichtungen gelesen?«

»Habe noch nie davon gehört«, erklärte Will.

»Kommen darin vielleicht menschenleere Moore vor, in geheimnisvolle Nebelschwaden gehüllt? Oder gespenstische Damen in weißen Gewändern, die durch die Ruinen einer Burg irren? Oder ein fescher Lord, der einer schönen, aber mittellosen Jungfrau in Not zu Hilfe eilt?«

»Nein«, erwiderte Magnus. »In der Mitte des Werks findet sich zwar eine recht rasante Stelle über Zahnräder, aber der Rest des Buchs ist eher ziemlich trocken.«

»Dann hat Tessa es garantiert auch nicht gelesen«, konstatierte Will.

Tessa funkelte ihn wütend an, schwieg jedoch — sie hatte das Buch tatsächlich nicht gelesen und war nicht gewillt, sich auf eine Diskussion mit Will einzulassen.

»Na jedenfalls wurde dieses Werk von einem arabischen Gelehrten verfasst«, erläuterte Magnus, »etwa zwei Jahrhunderte vor Leonardo da Vinci. Und es beschreibt die Konstruktion von Maschinen, die die Bewegungen und Tätigkeiten von Menschen imitieren. Daran lässt sich nun nichts Beunruhigendes finden. Aber das hier ...« Magnus’ langer Finger strich leicht über die Notizen am linken Rand des Papierbogens,

»... das hier ist etwas, was mich wahrlich beunruhigt.«

Will beugte sich weiter vor; dabei streifte sein Ärmel Tessa am Arm. »Ja, danach wollte ich dich auch schon fragen. Ist das ein Zauberspruch?«

Magnus nickte. »Eine Verquickungsformel. Sie dient dazu, ein unbelebtes Objekt mit Dämonenenergie zu erfüllen, um ihm auf diese Weise eine Art Leben einzuhauchen. Ich habe diese Sorte von Zauberformeln schon einmal angewendet gesehen: Vor der Unterzeichnung des Abkommens pflegten viele Vampire zu ihrem eigenen Amüsement kleine dämonische Apparate zu konstruieren — Spieldosen, die nur bei Nacht Musik erzeugten, mechanische Pferde, die sich nur nach Sonnenuntergang reiten ließen, und ähnliche Torheiten.« Versonnen trommelte er mit den Fingern auf den Knauf seines Spazierstocks. »Eines der größten Probleme bei der Konstruktion optisch überzeugender Automaten stellt natürlich ihr Äußeres dar. Menschliches Gewebe ist nun mal einzigartig; sein Erscheinungsbild lässt sich mit keinem anderen Material erzielen.«

»Aber was wäre, wenn jemand es verwenden würde ... menschliches Gewebe, meine ich?«, fragte Tessa. Magnus rieb sich das Kinn. »Das Problem für, äh, potenzielle Menschenkonstrukteure liegt auf der Hand«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Wenn man das Gewebe konserviert, zerstört man damit auch dessen Erscheinungsbild. Also müsste man dafür Magie einsetzen. Und abermals Magie, um die Dämonenenergie mit dem mechanisch konstruierten Korpus zu verquicken.«

»Und wie würde das Ergebnis aussehen?«, hakte Will mit angespannter Stimme nach.

»In der Vergangenheit wurden schon Automaten konstruiert, die Balladen schreiben oder Landschaften zeichnen konnten — aber natürlich nur solche Gedichte und Malereien, zu deren Wiedergabe sie speziell konzipiert waren. Diese Automaten besaßen keine eigene Kreativität. Mit Dämonenenergie belebte Automaten würden dagegen über einen eigenen Verstand und einen eigenen Willen verfügen. Allerdings ist jeder heraufbeschworene Geist an seinen Gebieter gebunden und ihm zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet — ganz gleich, wer die Verquickung vorgenommen hat.«

»Eine Klockwerk-Armee«, konstatierte Will, mit einem bitter-ironischen Unterton in der Stimme. »Ein Heer, das weder im Himmel noch in der Hölle erwuchs.«

»So weit würde ich nun auch wieder nicht gehen«, widersprach Magnus. »Dämonenenergie ist nicht an jeder Straßenecke erhältlich. Dazu muss man schon einen Dämon heraufbeschwören und ihn binden — und du weißt, wie schwierig das ist. Will man eine ganze Armee erschaffen, benötigt man dafür solche Mengen von Dämonenenergie, dass dies einer nahezu unmöglichen Aufgabe gleichkäme, die überdies noch extrem riskant wäre. Selbst für einen bösartigen Bastard wie de Quincey.«

»Verstehe.« Will nickte, rollte den Papierbogen wieder zusammen und schob ihn in die Innentasche seines Gehrocks. »Verbindlichsten Dank für deine Hilfe, Magnus.«

Magnus schaute einen Moment verwirrt, erwiderte dann aber höflich: »Keine Ursache.«

»Wenn ich es richtig verstehe, würdest du es nicht allzu sehr bedauern, wenn de Quincey verschwinden und ein anderer Vampir seinen Platz einnehmen würde«, sagte Will. »Hast du ihn eigentlich schon einmal dabei beobachtet, wie er gegen das Gesetz verstoßen hat?«

»Ein einziges Mal. Er hatte mich eingeladen, hier in seinem Haus einer seiner ›Zeremonien‹ beizuwohnen. Es stellte sich allerdings heraus ...« Magnus zog eine ungewöhnlich finstere Miene. »Aber seht selbst ...« Er drehte sich um, ging zu dem Bücherregal, das Tessa wenige Minuten zuvor eingehender betrachtet hatte, und winkte die beiden zu sich heran. Dann schnippte er erneut mit den Fingern, woraufhin blaue Funken von seiner Hand sprühten, die illustrierte Bibelausgabe zur Seite schwang und ein kleines Guckloch bloßlegte, das in die Rückwand des Regals eingelassen worden war.

Als Tessa sich überrascht vorbeugte und hindurchspähte, sah sie, dass dahinter ein eleganter Musiksalon lag. Zumindest nahm sie das an: Mehrere Reihen mit Stühlen waren zum hinteren Bereich des Raums ausgerichtet, wo der Boden leicht anstieg und eine Art improvisierte Bühne bildete. Die hintere Wand dieses kleinen »Theatersaals«, der von zahlreichen Kerzen in schweren Ständern erhellt wurde, war von einem roten Satinvorhang verdeckt, vor dem nur ein einzelner Holzstuhl mit hoher Rückenlehne stand.

Handfesseln aus Stahl waren an den Armlehnen befestigt und glitzerten im Kerzenschein wie Insektenpanzer. Tiefrote Flecken ließen das Holz an manchen Stellen dunkler schimmern, und als Tessa genauer hinsah, bemerkte sie, dass jemand die Stuhlbeine am Boden festgeschraubt hatte.

»Das ist der Raum, in dem ihre kleinen ... Vorführungen stattfinden«, stieß Magnus mit einem angewiderten Unterton hervor. »Sie bringen ihr menschliches Opfer auf die Bühne und fesseln es an den Stuhl. Und dann nehmen sie abwechselnd einen Bissen und saugen ihr Opfer langsam aus, während die Menge zuschaut und applaudiert.«

»Und daran ergötzen sie sich?«, fragte Will voller Abscheu. »Am Schmerz der Irdischen? Ihrer Angst?«

»Nicht alle Kinder der Nacht sind so«, erklärte Magnus leise. »Diese hier sind die schlimmsten.«

»Und die Opfer ... woher nehmen sie sie?«, hakte Will nach.

»Bei den meisten handelt es sich um Kleinkriminelle«, erklärte Magnus. »Oder Trunkenbolde, Opiumsüchtige, Huren. Die Vergessenen der Gesellschaft. Diejenigen, die niemand vermisst«, fügte er hinzu und sah dann Will fest in die Augen. »Würdest du mir freundlicherweise deinen Plan ausführlicher schildern?«

»Wir greifen ein, sobald wir sehen, dass das Gesetz gebrochen wird«, erläuterte Will. »In dem Moment, in dem ein Vampir einem Menschen Schaden zufügen will, gebe ich das Zeichen an die Brigade, die dann sofort einschreiten wird.«

»Wirklich?«, staunte Magnus. »Und wie kommen sie in das Gebäude hinein?«

»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, erwiderte Will unbeirrt. »Deine Aufgabe besteht darin, Tessa in diesem Moment sicher aus dem Haus zu schaffen. Thomas wartet draußen bereits mit der Kutsche und wird euch umgehend zum Institut zurückbringen.«

»Das erscheint mir als eine schreckliche Verschwendung meiner Fähigkeiten — mich einzig und allein mit der Betreuung eines nicht allzu großen Mädchens zu beauftragen«, bemerkte Magnus. »Sicherlich gibt es für mich noch etwas anderes ...«

»Das ist eine reine Schattenjäger-Angelegenheit«, unterbrach Will den Hexenmeister. »Wir machen das Gesetz und wir hüten es. Deine bisherige Unterstützung war von unschätzbarem Wert, doch mehr benötigen wir nicht von dir.«

Magnus warf Tessa über Wills Schulter einen ironischen Blick zu. »Die stolze Unnahbarkeit der Nephilim. Sie machen Gebrauch von dir, wenn sie dich gebrauchen können, aber sie bringen es nicht über sich, einen Triumph mit den Schattenweltlern zu teilen.«

Tessa wandte sich an Will: »Dann schickst du mich also auch fort, bevor der Kampf beginnt?«

»Ich habe keine andere Wahl«, erklärte Will. »Für Camille wäre es besser, wenn man sie nicht mit den Schattenjägern kooperieren sieht.«

»Das ist Unsinn«, widersprach Tessa. »De Quincey wird genau wissen, dass ich ... dass sie dich hierher gebracht hat. Er wird darüber im Bilde sein, dass sie bezüglich deiner Herkunft gelogen hat. Glaubt sie denn, dass der Rest des Clans nach dieser Aktion nicht weiß, dass sie eine Verräterin ist?«

In dem Moment hörte Tessa, wie Camille tief in ihrem Hinterkopf in ein leises, glucksendes Lachen ausbrach — sie klang nicht im Geringsten besorgt oder verängstigt.

Will und Magnus tauschten einen Blick. »Sie geht nicht davon aus, dass auch nur einer der heute hier anwesenden Vampire diesen Abend überleben wird«, erklärte der Hexenmeister.

»Und Tote können nicht mehr reden«, fügte Will leise hinzu. Das flackernde Licht in der Bibliothek überzog sein Gesicht mit schwarzen und goldfarbenen Flecken und sein Kiefer wirkte angespannt. Dann beugte er sich erneut zum Guckloch vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen hindurch. »Es geht los.«

Sofort drängten sich auch Magnus und Tessa näher an die Öffnung in der Bücherrückwand, durch die sie beobachten konnten, wie sich die Schiebetüren am Ende des Musiksalons öffneten. Dahinter kam der große, von Kerzen erleuchtete Saal zum Vorschein, aus dem nun die ersten Vampire in den Musikraum strömten und ihre Plätze vor der Bühne einnahmen.

»Es wird Zeit«, sagte Magnus leise und verschloss das Guckloch.

Der Musiksalon war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Tessa hatte sich bei Magnus untergehakt und sah zu, wie Will sich einen Weg durch die Menge bahnte, auf der Suche nach drei nebeneinander-stehenden freien Stühlen. Dabei hielt er zwar den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden geheftet, aber ...

»Sie starren ihn noch immer an«, raunte Tessa Magnus zu. »Will, meine ich.«

»Selbstverständlich tun sie das«, bestätigte Magnus, dessen Pupillen wie Katzenaugen das Licht reflektierten, während er seinen Blick über den Raum schweifen ließ. »Sieh ihn dir doch einmal an: Das Gesicht eines gefallenen Engels und Augen wie der Nachthimmel der Hölle. Er ist ausgesprochen attraktiv und das mögen Vampire. Übrigens kann auch ich nicht behaupten, dass er mir missfallen würde«, fügte er grinsend hinzu. »Ich habe eine Schwäche für die Kombination von schwarzem Haar und blauen Augen.«

Unwillkürlich griff Tessa sich an den Kopf und rückte Camilles hellblonde Locken zurecht.

Doch Magnus zuckte nur die Achseln. »Niemand ist vollkommen.«

Glücklicherweise blieb Tessa eine Antwort erspart, denn Will hatte drei Sitzplätze gefunden und winkte sie mit seiner schwarz behandschuhten Hand zu sich. Während Tessa sich von Magnus zu ihrem Stuhl führen ließ, versuchte sie, der Art und Weise, in der die Vampire Will musterten, keine Beachtung zu schenken. Es stimmte, dass er sehr anziehend wirkte, aber was interessierte das die Nachtkinder? Für sie war Will doch nur eine Nahrungsquelle, oder?

Mit einer eleganten Bewegung nahm sie zwischen Magnus und Will Platz, wobei ihre Seidentaftröcke raschelten wie Blätter in einer kräftigen Brise. Der Musiksalon war kühl, stellte Tessa erstaunt fest. Wenn sich statt Vampiren derart viele Menschen darin gedrängt und ihn mit ihrer Körperwärme aufgeheizt hätten, würde hier eine andere Temperatur herrschen, überlegte sie. Und als sie die Gänsehaut auf Wills Arm sah, dessen Ärmel beim Griff in die Westentasche leicht hochgerutscht war, fragte sie sich, ob den menschlichen Begleitern der Vampire wohl ständig kalt war.

Plötzlich ging ein Raunen durch den Salon und Tessa riss sich von Wills Anblick los und schaute zur Bühne. Das Licht der Kerzenständer reichte nicht bis in die letzte Ecke des Raums — Teile der »Bühne« blieben im Dunkeln verborgen. Selbst Tessas Vampiraugen vermochten nicht zu unterscheiden, was sich in der Dunkelheit bewegte, bis de Quincey plötzlich aus dem Schatten auftauchte.

Gespannte Stille breitete sich aus. Dann verzog de Quincey das Gesicht zu einem Grinsen — einem irren Grinsen, das seine Fangzähne zum Vorschein brachte und seine Züge veränderte: Er wirkte nun wild und bösartig, wie ein Wolf. Erneut ging ein anerkennendes Raunen durch den Salon, vergleichbar einem menschlichen Publikum, das einem Schauspieler für eine besonders überzeugende Ausstrahlung Hochachtung zollt.

»Guten Abend und willkommen, meine Freunde«, setzte de Quincey an und lächelte Tessa direkt zu, die vor lauter Nervosität nur zurückstarren konnte. »Ihr, die ihr euch heute Abend zu mir gesellt habt, seid stolze Söhne und Töchter der Nachtkinder. Wir beugen uns nicht dem erdrückenden Joch namens Gesetz. Wir verantworten uns nicht gegenüber den Nephilim. Und wir werden auch nicht auf unsere uralten Gebräuche verzichten, nur weil sie es wünschen.«

Die Wirkung, die de Quinceys Rede auf Will ausübte, ließ sich unmöglich übersehen: Er saß reglos da, sein Körper angespannt wie ein Bogen, die Fäuste im Schoß geballt. Nur an seinem Hals pulsierten mehrere hervorgetretene Aderstränge.

»Wir haben einen Gefangenen«, fuhr de Quincey fort. »Das Vergehen, dessen er beschuldigt wird, ist der Verrat an den Nachtkindern.« Sein Blick schweifte über die Menge der gebannt lauschenden Vampire.

»Und womit wird solch ein Verbrechen bestraft?«

»Mit dem Tod!«, kreischte eine Frauenstimme — die Vampir-Dame Delilah saß weit nach vorn gebeugt auf ihrem Stuhl, mit einem begierigen Ausdruck im Gesicht.

Sofort fielen die anderen Vampire in ihre Forderung ein: »Tod! Tod! Tod!«

Im nächsten Moment erschienen weitere Gestalten aus den Schatten der »Bühne«: Zwei Vampire hatten eine strampelnde menschliche Gestalt unter den Armen gepackt, deren Gesicht unter einer schwarzen Haube verborgen lag.

Tessa konnte lediglich erkennen, dass der Mann schlank war, vermutlich recht jung und sehr schmutzig — die einst elegante Kleidung war zerrissen und hing in Fetzen an ihm herab. Seine nackten Füße hinterließen blutige Streifen auf dem Holzboden, als die beiden Vampire ihn nach vorn zum Bühnenrand schleiften und auf den Stuhl zwangen. Ein leiser Laut der Bestürzung entschlüpfte Tessas Kehle und sie spürte, dass Wills Anspannung noch zunahm.

Der Gefangene strampelte weiterhin schwach vor sich hin, wie ein aufgespießtes Insekt am Ende einer Nadel, während die Vampire seine Hände und Fußgelenke an den Stuhl fesselten. Dann traten sie einen Schritt zurück und machten de Quincey Platz, der sardonisch grinste. Seine Fangzähne schimmerten wie spitze Elfenbeinnadeln, als er sich der Menge zuwandte.

Tessa konnte die Unruhe der Vampire förmlich spüren, aber noch stärker fühlte sie ihren Hunger. Die Kinder der Nacht ähnelten nicht länger einem kultivierten Publikum menschlicher Theaterbesucher — sie waren jetzt so gierig wie Löwen, die Beute witterten, und hockten angespannt auf ihren Stuhlkanten, mit weit aufgerissenen, glitzernden Augen und heißhungrig geöffneten Mündern.

»Wann kannst du die Brigade benachrichtigen?«, raunte Tessa Will in drängendem Ton zu.

»Sobald er Blut saugt«, erwiderte Will, mit angespannter Stimme. »Wir müssen erst mit eigenen Augen sehen, dass er das Gesetz bricht.«

»Will ...«

»Tessa.« Er wisperte ihren richtigen Namen, griff nach ihrer Hand und drückte sie eindringlich. »Bleib ruhig.«

Widerstrebend wandte Tessa sich wieder der Bühne zu, wo de Quincey sich nun dem gefesselten Gefangenen näherte. Theatralisch blieb er neben dem Stuhl stehen, streckte die Hand aus und strich mit bleichen, dünnen Fingern leicht über die Schulter des Mannes, so leicht, als streifte eine Spinnwebe darüber. Trotzdem zuckte der Gefangene zurück und wand sich verzweifelt, als die Vampirhand langsam von seiner Schulter zu seinem Hals wanderte. Dort legte de Quincey zwei weiße Finger auf die Stelle, unter der die Halsschlagader pulsierte — wie ein Arzt, der den Herzschlag eines Patienten überprüfen wollte. Das Clanoberhaupt trug einen silbernen Ring, der an der Seite zu einer scharfen Spitze gefeilt war. De Quincey ballte seine Hand zur Faust und einen Sekundenbruchteil später blitzte ein silberner Lichtstrahl auf und der Gefangene stieß einen gellenden Schrei aus. Der erste Laut, den er überhaupt von sich gab — und der Tessa seltsam bekannt vorkam.

Eine dünne rote Linie erschien an der Kehle des Mannes wie ein Stück roter Draht. Dann quollen dicke Bluttropfen hervor, rannen hinunter und sammelten sich in der Vertiefung am Schlüsselbeinansatz. Der Gefangene zuckte und strampelte, als de Quincey mit vor Gier verzerrtem Gesicht zwei Finger in die rote Flüssigkeit tauchte und seine roten Fingerspitzen zum Mund führte. Die Menge raste und stöhnte, kaum fähig, auf den Plätzen zu bleiben. Tessa sah zu der Vampirin mit dem blauen Kleid und dem weißen Federhut hinüber: Ihr Mund stand weit auf und Speichel rann an ihrem Kinn hinab.

»Will«, flehte Tessa unterdrückt. »Will, bitte.«

Statt einer Antwort schaute Will über ihren Kopf hinweg zu Bane. »Magnus. Bring sie hier raus.«

Irgendetwas tief in Tessa rebellierte gegen die Vorstellung, wie ein kleines Kind fortgeschickt zu werden. »Will, nein, ist schon in Ordnung, ich möchte lieber hierbleiben ...«, protestierte sie.

Wills Stimme klang leise, aber seine Augen blitzten. »Das haben wir bereits zur Genüge durchdiskutiert. Geh jetzt oder ich werde die Brigade nicht benachrichtigen. Geh oder dieser Mann wird sterben!«

»Kommen Sie.« Magnus legte eine Hand unter Tessas Ellbogen, um ihr aufzuhelfen.

Widerstrebend gestattete sie dem Hexenmeister, sie von ihrem Stuhl hochzuziehen und in Richtung Tür zu schieben. Nervös schaute sie sich um, ob wohl irgendjemand ihren vorzeitigen Aufbruch bemerkte, doch sämtliche Augen waren auf de Quincey und den Gefangenen gerichtet. Viele der Vampire hatten sich nicht länger auf den Sitzen halten können und johlten und knurrten und stießen unmenschliche, hungrige Laute aus.

Will saß dagegen noch immer reglos inmitten der tosenden Menge, leicht vornübergebeugt wie ein Jagdhund, der darauf brennt, von der Leine gelassen zu werden. Langsam schob er seine linke Hand in die Westentasche und zog sie mit einem kupferfarbenen Gegenstand zwischen den Fingern wieder hervor. Der Phosphorisator.

Hinter Tessa schob Magnus die Tür auf. »Schnell«, drängte er.

Doch Tessa zögerte und schaute zur Bühne zurück, wo de Quincey nun hinter dem Gefangenen stand. Sein breit grinsender Mund war blutverschmiert. Theatralisch griff er nach vorn und packte die Spitze der schwarzen Haube, die der Gefangene noch immer über dem Kopf trug.

Will erhob sich nun ebenfalls, den Phosphorisator in der hochgereckten Hand. Magnus fluchte leise und zog Tessa am Arm, die sich halb umdrehte, als wollte sie ihm folgen. Doch im nächsten Moment erstarrte sie mitten in der Bewegung, als de Quincey dem Gefangenen die schwarze Haube vom Kopf riss.

Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war geschunden und mit blauen Flecken übersät, ein Auge war schwarz angelaufen und zugeschwollen und die blonden Haare klebten blutverkrustet und schweißgetränkt an seinem Schädel. Doch all dies spielte keine Rolle — Tessa hätte ihn immer wiedererkannt, überall und jederzeit. Und jetzt wusste sie auch, warum ihr der gellende Schmerzensschrei des Mannes so vertraut gewesen war.

Der Gefangene auf der Bühne war Nathaniel.

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