Es hatte sich eine Menschentraube vor der Tür zu Rufs Wohnwagen versammelt, und Barney mußte sich erst einen Weg bahnen. »Laßt mich durch! Das ist doch keine Zirkusnummer!« rief er.
Ruf lag auf dem Bett, mit graugelber Haut und Schweiß auf der Stirn. Er trug immer noch sein Wikingerkostüm. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies mit Bandagen umwickelt, die rote Blutflecken aufwiesen. Die Krankenschwester stand ruhig an seinem Bett.
»Wie geht es ihm?« fragte Barney. »Ist es ernst?«
»So ernst ein gebrochenes Bein eben sein kann«, meinte die Schwester. »Es handelt sich um einen komplizierten Schienbeinbruch — das heißt, der Bruch befindet sich unterhalb des Knies, und ein Stück des Knochens ist durch die Haut gedrungen.«
Ruf hatte die Augen geschlossen und stöhnte theatralisch.
»Das klingt doch nicht so schlimm«, sagte Barney verzweifelt. »Man kann den Bruch schienen, und nach ein paar Tagen fühlt sich Ruf sicher besser …«
»Mister Hendrickson«, sagte die Krankenschwester eisig, »ich bin keine Ärztin und kann den Patienten deshalb auch nicht behandeln. Ich habe Erste Hilfe geleistet und einen sterilen Verband angelegt. Außerdem bekam Mister Hawk ein schmerzstillendes Mittel. Ich habe meine Pflicht getan. Wann wird der Arzt eintreffen?«
»Der Arzt, natürlich. Wo ist meine Sekretärin?«
»Hier, Mister Hendrickson«, sagte sie vom Eingang her.
»Betty, lassen Sie sich von Tex zum Professor fahren. Sagen Sie ihm, er soll Sie sofort — sofort — zum Studio zurückbringen. Dort alarmieren Sie den Arzt unserer Gesellschaft und bringen ihn her.«
»Kein Arzt — zurück — zurück …«, stöhnte Ruf.
»Verschwinden Sie, Betty. Rasch.« Er wandte sich breit lächelnd Ruf zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Nun mach dir mal keine Sorgen. Wir werden keine Kosten scheuen, und uns stehen die modernsten Mediziner zur Verfügung. Heutzutage bringt man tolle Dinge zuwege, Metallnägel in den Knochen, weißt du … Du wirst sofort wieder gehen können.«
»Nein, ich will diesen Film nicht drehen. Im Vertrag steht sicher, daß ich in meinem Zustand nicht filmen kann.«
»Ruhig, Ruf. Du darfst dich nicht aufregen. Schwester, bleiben Sie bei ihm, ich vertreibe erst einmal die Leute. Es wird bestimmt alles gut.« Aber seine Worte waren so leer wie sein Lächeln, und er knurrte, als er die Neugierigen vom Wohnwagen verscheuchte.
Es waren kaum fünf Minuten vergangen, bis der Arzt, gefolgt von einem Angestellten mit zwei Koffern, mit Betty eintraf.
»Alle bis auf die Schwester verlassen den Raum«, befahl er.
Barney ging achselzuckend. Er konnte im Moment nichts tun. So ging er zu Professor Hewett, der an seinem Vremeatron herumbastelte.
»Halten Sie es betriebsbereit«, meinte er. »Wir müssen es im Notfall sofort einsetzen können.«
»Ich überprüfe nur die Drähte. Alles ging so schnell, und ich möchte einen Schaden nicht erst unterwegs feststellen.«
»Wie lange dauerte die letzte Reise? Ich meine, wann brachen Sie wieder hierher auf?«
Hewett warf einen Blick auf die Instrumente. »Um 14 Uhr 35 Minuten 52 Sekunden …«
»Halb drei am Nachmittag! Wie ging denn soviel Zeit verloren?«
»Es ist wirklich nicht meine Schuld. Ich wartete bei der Plattform — und das Essen aus den Automaten war höchst unbefriedigend — bis der Wagen zurückkam. Soviel ich hörte, war der Arzt nicht auf dem Werksgelände und mußte erst geholt werden. Dann dauerte es noch eine Weile, bis alle Instrumente zusammengepackt waren …«
Barney spürte einen kalten Klumpen in der Magengrube. »Der fertige Film muß bis Montagmorgen abgeliefert werden, und jetzt haben wir Samstagnachmittag. Unser Material reicht bis jetzt für drei Minuten Film. Und mein Hauptdarsteller hat sich das Bein gebrochen. Die Zeit wird knapp.« Er warf dem Professor einen merkwürdigen Blick zu. »Zeit? Aber wir haben doch genug Zeit! Sie suchen ein ruhiges Plätzchen für Ruf, bis sein Bein geheilt ist …«
Er rannte aufgeregt los, bevor Hewett antworten konnte. Ohne anzuklopfen, riß er die Tür zu Rufs Wohnwagen auf. Rufs Bein steckte bis jetzt zur Hüfte in einer Schiene, und der Arzt fühlte seinen Puls. Er sah Barney streng an.
»Die Tür wurde nicht grundlos geschlossen.«
»Ich weiß, Doktor, und ich werde dafür sorgen, daß niemand Sie stört. Das sieht ja fein aus — darf ich fragen, wie lange die Schiene bleibt?«
»Nur, bis wir Mister Hawk ins Krankenhaus gebracht haben.«
»Sehr schön, schnelle Arbeit.«
»Dort nehmen wir die Schiene ab und legen einen Gipsverband an. Der bleibt etwa zwölf Wochen am Bein. Danach muß der Patient etwa einen Monat auf Krücken gehen …«
»Hm, das klingt nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Ich hätte es gern, wenn Sie sich ganz dem Patienten widmen könnten. Gleichzeitig können Sie ja ein wenig Urlaub machen. Ich suche Ihnen einen erholsamen Fleck …«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, aber Sie schlagen da etwas Unmögliches vor. Ich habe meine Praxis und könnte sie keine zwölf Stunden allein lassen. Außerdem muß ich sofort aufbrechen, weil ich eine wichtige Verabredung habe. Ihre Sekretärin versicherte mir, daß ich rechtzeitig daheim sein könnte.«
»Selbstverständlich«, sagte Barney ruhig. Er hatte das schon einmal mit Charley Chang durchexerziert. »Sie kommen zu Ihrer Verabredung zurecht, und Sie müssen Ihre Praxis nicht schließen — aber außerdem verschaffen wir Ihnen einen kostenlosen Urlaub und gewähren Ihnen ein dreimonatiges Zusatzgehalt. Klingt das nicht großartig? Ich erkläre Ihnen, wie es vor sich geht …«
»Nein!« krächzte Ruf vom Bett und schüttelte schwach die Faust. »Ich weiß genau, was du vorhast, aber ich mache nicht mit. Der Film ist für mich zu Ende, und ich will diese Verrückten da draußen nicht mehr sehen. Mir reicht, was am Strand geschehen ist!«
»Aber, Ruf …«
»Du bekommst mich nicht herum, Barney, nicht um alles in der Welt. Mit dem gebrochenen Bein habe ich eine Entschuldigung, das weißt du genau, und selbst wenn ich gesund wäre, würde ich aussteigen. Ich spiele nicht.«
Barney öffnete den Mund — er hatte einen hübschen Vergleich über Rufs schauspielerische Fähigkeiten auf der Zunge — doch mit unmenschlicher Selbstbeherrschung schwieg er. »Wir sprechen morgen darüber. Jetzt mußt du die Sache erst überschlafen«, sagte er und verließ den Wohnwagen.
Als er die Tür schloß, wußte er auch, daß der Film verloren war. Und daß seine Karriere aus war. Ruf würde seine Meinung nicht ändern, das stand fest. Durch die Muskelpakete drangen wenige Gedanken bis zu dem winzigen Gehirn vor, aber die wenigen blieben fest darin. Er konnte Ruf nicht zwingen, sich auf einer prähistorischen Insel zu erholen, und wenn er ihn nicht zwingen konnte …
Barney stolperte und sah, daß er auf einen kleinen Hügel gestiegen war, von dem aus man die Bucht sehen konnte. Er nahm einen Stein und warf ihn in Richtung des Wassers, aber er traf nicht. Er fluchte laut.
»Was bedeuten die Worte?« fragte Ottar hinter ihm. Er zuckte zusammen.
»Sie bedeuten, daß du verschwinden sollst, du haariges Ungetüm.«
Ottar zuckte mit den Schultern und streckte die Hand aus, in der er zwei Flaschen Jack Daniels hielt. »Bei meinem Haus warst du blaß. Da — trink!«
Barney murmelte ein Danke und setzte die Flasche an. Danach fühlte er sich wohler.
»Ich komme her, will Tagesflasche, dann sagt Dallas, er kauft mir Flasche von eigenem Silber, weil ich gut gekämpft habe. Großer Tag!«
»Wirklich, ein großer Tag! Gib die Flasche her! Es ist der letzte Tag, weil der Film im Eimer ist. Vorbei, kaputt, verstehst du?«
»Nein.« Es folgte ein langes Gurgeln.
»Nein, das kannst du auch nicht, du barbarischer Naturbursche. Irgendwie beneide ich dich, so komisch es klingt.«
»Kein Bursche von Natur. Thord Pferdekopf war mein Vater.«
»Ich meine, ich beneide dich, weil du dir deine Welt selbst schaffst. Ein starker Arm, ein ordentlicher Durst, ein guter Appetit, und niemals irgendein Zweifel. Wir leben dauernd im Zweifel an uns selbst, aber wahrscheinlich kennst du nicht einmal das Wort.«
»Selbst-Zweifel? Ist das sjálfsmord?«[12]
»Natürlich weißt du es nicht.« Der Wikinger saß am Boden, und Barney setzte sich zu ihm, damit er die Flasche besser erreichen konnte. Die Sonne war untergegangen, und das Tiefrot des Horizonts ging langsam in ein Grau über.
»Wir machen einen Film, Ottar. Zugleich Unterhaltung und großes Geschäft. Geld und Kunst, das paßt nicht zusammen, aber wir vermischen sie seit Jahren. Ich bin im Geschäft, seit ich kurze Hosen trug, und heute, im jugendlich-reifen Alter von fünfundvierzig, setzt man mich auf die Straße. Denn ohne dieses Meisterwerk sind die Climactic-Studios pleite, und wenn sie absaufen, saufe ich mit ab. Und weißt du weshalb?«
»Da — trink!«
»Sicher. Ich werde dir sagen, weshalb. Weil ich in meiner langen, wechselvollen Karriere dreiundsiebzig Filme gemacht habe, von denen jeder einzelne sofort wieder vergessen wurde. Wenn ich Climactic verlasse, sitze ich fest, weil es eine Menge besserer Produzenten und Regisseure gibt, die mir die Jobs vor der Nase wegschnappen werden.«
Ottar sah edel und heldenhaft drein, wie er mit seinem Adlerprofil zum Meer hinausblickte. Er lächelte und rülpste. Barney nickte zustimmend und nahm sich noch einen Schluck.
»Du bist ein kluger Mann, Ottar. Ich sage dir etwas, was ich noch keinem gesagt habe, weil ich deinen Tageslohn versaufe und du wahrscheinlich doch nur eines von zehn Worten verstehst. Weißt du, was ich bin? Ich bin mittelmäßig. Hast du eine Ahnung, was für ein schreckliches Zugeständnis das ist? Wenn man schlecht ist, merken es die anderen bald und feuern einen. Wenn man ein Genie ist, merkt man es selbst und verkauft sich teuer. Aber wenn man mittelmäßig ist, weiß man es nie genau, und man schiebt es auf die anderen, bis man dreiundsiebzig Filme gemacht hat und erkennt, daß es mit Nummer Vierundsiebzig nichts mehr wird. Das Verrückte dabei ist, daß der Film ein guter Film hätte werden können. Bestimmt wäre er zumindest etwas Neues geworden. Im Eimer. Toter Film, kein Film …«
»Was ist dieser Film?«
»Ich sagte es schon, ein Kunstwerk. Unterhaltung. Wie eine eurer — wie heißen sie gleich? — Sagas …«
»Ich singe dir etwas aus einer Saga vor. Ich singe gut.«
Ottar stand auf, nahm einen Schluck und sang mit dröhnender Stimme, die zu den donnernden Wogen paßte:
»Sprich, sprich, Schwert!
Töte das Herz, das der Wurm zerfrißt!
Meine Söhne werden mich rächen.
Tod kennt nicht Furcht. Der Walküren Stimme
bringt neue Gäste zu Odins Festmahl.
Der Tod ist da. Feiert!
Aus ist das Leben. Lachend sterb’ ich.«
Ottar stand einen Moment lang da — dann schrie er zornig: »Das war Ragnars Lied, als König Aella ihn tötete. Ich wollte, ich hätte ihn umbringen können.« Er schüttelte die Faust zum Himmel hinauf.
Barney hatte Sehstörungen, aber wenn er ein Auge schloß, ging es einigermaßen. Ottar stand hoch aufgereckt da, eine Gestalt aus der Götterdämmerung mit seinen Ledergewändern und seinem fliegenden Haar. Das letzte Licht des Sonnenuntergangs zauberte rötlich Reflexe auf seine Haut. Für ihn war die Saga echt, für ihn waren Leben und Kunst eins. Das Lied war der Kampf, und der Kampf wurde zum Lied.
Der Gedanke überfiel Barney ganz überraschend, und er atmete scharf ein.
Aber weshalb nicht? Wenn er nicht halb betrunken dagelegen hätte, wäre ihm der Gedanke sicherlich nicht gekommen. Aber weshalb nicht? Dieser Film war Wahnsinn, weshalb sollte man ihm nicht die Krone des Wahnsinns aufsetzen? Er konnte tun, was er wollte — und er flog auf alle Fälle. Weshalb nicht?
»Komm mit!« sagte er und versuchte den reglosen Wikinger hinter sich herzuziehen.
»Weshalb?« fragte Ottar.
»Um Filme anzusehen.« Ottar blieb unbeeindruckt. »Um mehr Whisky zu holen.«
Das war ein besserer Grund, und sie gingen gemeinsam zum Lager. Barney stützte sich auf den Wikinger, doch der schien es kaum zu merken.
»Sind die Aufnahmen entwickelt?« fragte Barney, als er den Kopf in den Studiowagen steckte.
»Sie kommen eben aus dem Trockner«, erwiderte der Techniker.
»Schön. Stellen Sie die Leinwand auf. Wir wollen sie sehen.«
»Whisky?« fragte Ottar, und Barney sagte: »Sicher, setz dich hier hin, ich hole ihn.«
Es dauerte eine Zeitlang, bis er im Dunkeln den richtigen Wohnwagen gefunden hatte, weil so viele ungewohnte Dinge im Weg lagen. Auch das Schlüsselloch bereitete ihm Schwierigkeiten. Als er mit der Flasche zurückkam, war die Leinwand schon aufgebaut. Man hatte auch ein paar Faltstühle bereitgestellt. Sie machten es sich bequem, stellten die Flasche zwischen sich und beobachteten den Film unter freiem Himmel.
Anfangs hatte Ottar Schwierigkeiten, die Bilder als Einheit zu sehen, doch als sein Auge sich daran gewöhnt hatte, stieß er verwunderte Rufe aus, weil er sein Haus und den Strand erkannte.
Das Abendessen war fast vorbei, und die meisten Leute kamen vorbei und sahen sich die Aufnahmen an. Sie keuchten, als sie das Piratenschiff herankommen sahen, und Ottar knurrte tief in der Kehle. Als das Schiff landete, und der Kampf hin und her wogte, herrschte nur verwundertes Schweigen. Der Blickwinkel war gut, die Bilder kamen scharf und klar, und die Einzelheiten waren beinahe unerträglich. Selbst Barney, der dabeigewesen war, spürte, wie ihm die Haare zu Berge standen, als der angreifende Wikinger immer näher kam.
Mit einem Kriegsruf warf sich Ottar in die Leinwand und rüttelte am Metallrahmen. Es dauerte eine Zeitlang, bis Lyn ihn beruhigt hatte und helfende Hände die zerfetzte Leinwand entfernten. Während das geschah, kamen Scheinwerfer auf das Lager zu, und eine Minute später hielt ein weißer Krankenwagen mit der Aufschrift LOS ANGELES COUNTY HOSPITAL neben dem Freilichtkino.
»Bis man hier jemand findet!« knurrte der Fahrer. »Ihr Filmfritzen seid nicht schlecht ausgerüstet. Hätte nie geglaubt, daß man so eine Landschaft aufbauen könnte!«
»Was wollen Sie?« fragte Barney.
»Anruf. Beinbruch. Der Mann soll Hawk heißen.«
Barney sah die schweigenden Umstehenden an, bis er seine Sekretärin in der Menge entdeckte. »Betty, bringen Sie die Leute zu Ruf, ja? Und baldige Genesung.«
Betty wollte etwas sagen, aber sie fand nicht die richtigen Worte. So wandte sie sich schnell ab und drückte das Taschentuch vor das Gesicht. Sie kletterte in den Ambulanzwagen. Die Stille dehnte sich hin, und die meisten Anwesenden vermieden es, Barney anzusehen. Er lächelte breit vor sich hin und winkte fröhlich.
»Weiter geht es«, befahl er. »Holt eine andere Leinwand.«
Als das letzte Stück Film durchgelaufen war, stellte sich Barney vor die Leinwand und hielt die Hand vor die Augen, weil das Licht des Projektors ihn blendete.
»Gino — sind Sie da? Und Sie auch, Amory?« Die beiden antworteten mit Ja. »Gut, richten wir alles für eine Probe her. Bringt ein paar Stative und Scheinwerfer …«
»Mitten in der Nacht?« fragte jemand aus dem Dunkel.
»Ich weiß selbst, wie spät es ist. Also gut, Überstundenzahlung, aber ich möchte den Test jetzt machen. Wie sich vermutlich inzwischen herumgesprochen hat, fällt Ruf Hawk wegen seines gebrochenen Beins aus. Das heißt, daß wir keinen Hauptdarsteller haben. Allerdings ist das nicht so tragisch, wie es aussieht, da wir bis jetzt noch kaum eine Szene mit ihm gedreht haben und ich einen neuen Hauptdarsteller bekomme. Deshalb unsere Aufnahmeprobe mit Ottar …«
Einige schwiegen schockiert, andere flüsterten, und der Rest lachte.
Gerade das Lachen erwischte Barney am härtesten. Die ganze Last lag auf seinen Schultern, und der Film hing von seinen Entscheidungen ab. Nicht nur der Film — auch seine Zukunft.
Normalerweise bekam er bei solchen Situationen Magenschmerzen und ein nervöses Augenflattern, aber jetzt hatte ihn offenbar ein Hauch des Wikingergeistes gestreift.
»Ottar paßt für die Rolle, das kann keiner abstreiten. Und wenn er einen kleinen Akzent hat — nun, Boyer und Von Stroheim hatten auch einen, und ihr wißt, was sie geleistet haben. Mal sehen, ob er schauspielerisch an Ruf Hawk herankommt.«
»Fünf Dollar, daß er besser ist«, rief jemand.
»Keine Gegenstimme«, erwiderte ein anderer, und alles lachte.
Barney spürte, daß sie auf seiner Seite standen. Vielleicht waren sie alle von der Verrücktheit der Wikinger angesteckt.
Barney ließ sich in den Stuhl fallen, gab ein paar Anweisungen und nippte an dem Jack Daniels, als die Scheinwerfer und die Kamera aufgestellt wurden. Erst als alles fertig war, stand er auf und nahm dem vor sich hinnickenden Ottar die Flasche weg.
»Gib her«, knurrte Ottar.
»Gleich. Aber ich möchte zuerst, daß du mir die Saga von Ragnar nochmals vorsingst.«
»Will nicht singen.«
»Natürlich willst du, Ottar. Ich habe allen erzählt, wie großartig der Gesang war, und nun wollen sie es auch hören. Nicht war, Leute?«
Es erhob sich ein Sturm der Zustimmung. Slithey schwebte aus dem Dunkel und nahm Ottar an der Hand. »Du spielst für mich, Liebling, es wird mein Lied sein.« Sie zitierte einen Satz aus ihrem letzten Film, in dem der Held ein mittelschlechter Komponist gewesen war.
Ottar konnte der persönlichen Aufforderung nicht widerstehen. Immer noch brummend, aber doch bereitwillig, stellte sich Ottar an die Stelle, die Barney ihm zuwies, und nahm die Pappaxt.
»Zu leicht«, sagte er. »Gar nicht gut.«
Er sang, anfangs monoton, dann lauter und mit stärkerer Begeisterung. Das Lied riß die Zuhörer mit. Mit einem wilden Schrei beendete er die letzte Zeile und schwang die Axt so heftig, daß er beinahe einen der Scheinwerfer umgerissen hätte. Die Zuschauer klatschten wie rasend, und er stolzierte vor ihnen auf und ab und ließ die Würdigung über sich ergehen.
»Das war einmalig«, sagte Barney. »Jetzt versuchen wir noch etwas anderes. Siehst du den Lampenständer da drüben? Ja, den mit dem Helm und der Jacke. Also das ist ein feindlicher Wächter. Du wirst dich jetzt anschleichen und ihn töten, so wie du es in Wirklichkeit machen würdest.«
»Weshalb?«
»Weshalb? Ottar, was soll denn diese Frage …?« Barney wußte genau, was sie sollte — aber sie war so schwer zu beantworten. Das Weshalb für einen Schauspieler war klar — er arbeitete für die Gage. Aber weshalb sollte Ottar es tun?
»Vergessen wir es einen Moment«, sagte Barney. »Komm hierher, trinke etwas und setz dich hin. Ich werde dir auch eine Saga erzählen.«
»Ihr habt Sagas? Sagas sind schön.«
In diesem Zeitalter ohne Unterhaltung und Bücher waren die Sagas Gesang und Geschichte, Zeitung und Buch in einem. Barney wußte es.
Er winkte unauffällig den Kameraleuten, und sie richteten die Linsen auf Ottar. »Hör dir meine Geschichte an. Sie handelt von einem großen Wikinger, einem großen Berserker namens Ottar …«
»Er heißt wie ich?«
»Ja, und er war ein berühmter Krieger. Er hatte einen guten Freund, mit dem er trank und an dessen Seite er kämpfte. Sie waren die besten Freunde der Welt. Aber eines Tages kam es zu einem Kampf, und Ottars Freund wurde gefangengenommen, gefesselt und weggeführt. Aber Ottar folgte den Feinden und wartete versteckt in der Nähe des Lagers, bis es dunkel wurde. Er war nach dem Kampf durstig und trank etwas, aber er blieb ganz ruhig in seinem Versteck.«
Ottar nahm einen schnellen Schluck aus der Flasche und preßte den Rücken gegen die Wand des Wohnwagens.
»Dann war es soweit. Er wollte seinen Freund befreien. Vorwärts, Ottar, sagte er zu sich, vorwärts, rette deinen Freund, bevor sie ihn umbringen. Vorwärts!«
Barney zischte das letzte Wort befehlend, und mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung war Ottar auf den Beinen. Er hatte die Flasche vergessen.
»Da, Ottar, schleiche um dieses Gebäude herum, da steht der Wächter. Vorsicht — dort ist er!«
Ottar nahm jetzt ganz an der Geschichte teil. Er bückte sich tief und schielte um die Ecke.
»Dort ist der Wächter, er hat dir den Rücken zugewandt. Schleiche dich an, Ottar, und bringe ihn lautlos um. Erwürge ihn, damit er nicht schreien kann. Ganz still jetzt, solange er uns den Rücken zukehrt.«
Ottmar schlich hinter dem Wohnwagen hervor, gebeugt und geräuschlos wie ein Schatten. Niemand rührte sich, als er näherkam. Barney merkte, daß seine Sekretärin neben ihm stand und den Wikinger gebannt anstarrte.
»Als Ottar den Wächter fast erreicht hatte, hörte er ein Geräusch. Jemand kam. Er versteckte sich.« Ottar verschmolz mit der Dunkelheit, und Barney flüsterte: »Geh da hinaus, Betty. Gehe ruhig über den Rasen und verschwinde links zwischen den Wohnwagen.« Er nahm sie am Arm und schob sie vorwärts.
»Ottar verbarg sich im Dunkel, als eine der Frauen vorbeikam. Sie ging dicht an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Ottar wartete, bis alles still war, dann schlich er wieder auf den Wächter zu, näher, immer näher — bis er ihn anspringen konnte!«
Gino mußte die Kamera rasch herumschwenken, als der Wikinger immer noch lautlos vorschnellte und sich auf den Ständer warf. Der Helm rollte zur Seite, und er bog den Stahlstab mit einer einzigen Kraftanstrengung zusammen.
»Schnitt!« rief Barney. »Das war es, Ottar. Genau so hättest du es gemacht. Den Wächter umgebracht und deinen Freund befreit. Sehr gut, ausgezeichnet. Sagt ihm, wie gut euch die Vorführung gefallen hat!«
Die Zuschauer trampelten und pfiffen, und Ottar kam blinzelnd zu sich. Er sah das verbogene Metall an und warf es grinsend zur Seite.
»Eine schöne Saga«, rief er. »So hätte es Ottar gemacht.«
»Ich zeige dir morgen die Aufnahmen«, sagte Barney. »Dann kannst du dich selbst bewundern. Aber jetzt schlafen wir erst einmal; es war ein langer Tag. Tex oder Dallas — könnte einer von euch Ottar heimfahren?«
Die Nachtluft war kalt, und die Zuschauer brachen schnell auf, während die Techniker die Scheinwerfer und Kameras wegfuhren. Barney sah den Schlußlichtern des Jeeps nach, dann merkte er, daß Gino mit einer Zigarette neben ihm stand.
»Was denken Sie?« fragte er.
»Ich denke nicht.« Gino zuckte mit den Schultern. »Was weiß schon ein Kameramann?«
»Jeder Kameramann, den ich bisher traf, wußte tief im Innern, daß er ein besserer Regisseur war als der Idiot, mit dem er zusammenarbeiten mußte. Was denken Sie?«
»Nun — wenn Sie mich schon fragen: Ich würde sagen, daß der Kerl zumindest besser ist als das Paket Corned-beef, das der Krankenwagen wegbrachte. Und wenn die Probeaufnahmen so ausfallen, wie ich es erwarte, dann haben Sie die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht. Des elften Jahrhunderts natürlich. Methodisches Schauspielen!«
Barney schnippte seine eigene Zigarette ins Dunkel. »Genau das denke ich auch.«