»Geh lieber nicht hinein«, sagte eine Stimme, und eine Hand zog Barneys Hand von der Tür weg, worauf sich diese automatisch schloß.
»Was bilden Sie sich eigentlich ein?« fauchte er und wandte sich dem anderen Mann zu.
»Ich möchte dich nur vor einem Fehler bewahren, du Esel«, sagte der andere, als Barney mit offenem Mund und großen Augen zurückwich.
»Nicht schlecht der Ausdruck«, sagte der Mann. »Vielleicht hättest du Schauspieler und nicht Regisseur werden sollen.«
»Sie — Sie sind — ich …«, sagte Barney schwach und betrachtete sein Gegenüber. Der andere Barney trug seine Sonntagshose und seine lederne Pilotenjacke, und er hatte eine Filmkassette unter dem Arm.
»Gute Beobachtungsgabe«, sagte der andere Barney mit einem boshaften Lächeln. »Halte mal!« Er streckte Barney die Kassette entgegen und holte seine Brieftasche heraus.
»Was …?« begann Barney. »Was …?« Auf der Filmkassette, die zuoberst lag, stand: Unter Wikingerflagge, Teil 1.
Der andere Barney holte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Brieftasche und reichte es Barney — der zum erstenmal sah, daß sein Gegenüber einen blutigen Verband an der rechten Hand hatte.
»Was ist denn mit meiner — äh — deiner Hand los?« fragte Barney mit einem entsetzten Blick auf die Bandage. Er merkte gar nicht, daß der andere ihm die Filme abgenommen hatte.
»Gib das dem Professor«, sagte sein Doppelgänger, »und geht endlich zurück, damit der Film fertig wird, ja?« Er riß die Tür zu L. M.s Büro auf, als ein Bote mit einem ganzen Handkarren voll Filmspulen kam. Der Mann sah die beiden Männer an, zuckte mit den Schultern und ging hinein. Der andere Barney folgte ihm und machte die Tür hinter sich zu.
»Die Hand — was war mit meiner Hand los?« fragte Barney schwach die geschlossene Tür. Er wollte sie aufstoßen, doch dann zitterte er und wandte sich ab. Das Papier weckte seine Neugier, und er entfaltete es. Es war ein gewöhnliches Schreibpapier, an einer Ecke eingerissen. Außer einer Kugelschreiberskizze war nichts darauf zu sehen.
Die Zeichnung sagte Barney gar nichts. Er faltete das Papier — und mit einem plötzlichen Schock erinnerte er sich an die Filmkassette.
»Ich habe den Film beendet!« rief er laut. »Ich habe ihn rechtzeitig abgeliefert!« Zwei Sekretärinnen gingen vorbei und drehten sich kichernd um. Er warf ihnen einen bösen Blick zu und ging weiter.
Was hatte der andere Barney zu ihm gesagt? Er sollte sehen, daß der Film fertig wurde? Ob er es noch schaffte? Aber wie konnte er es jetzt noch schaffen? Die Frist war überschritten.
»Das verstehe ich nicht«, murmelte er vor sich hin, während er auf die Plattform zuging. Nicht einmal der Anblick des Professors beruhigte seine wirbelnden Gedanken. Er stand auf der Plattform und versuchte zu verstehen, was geschehen war oder was geschehen würde, aber die Müdigkeit und der Schock hatten seine Logik gelähmt.
»Die Reparatur ist fertig«, sagte Professor Hewett und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Wir können jetzt in das Jahr 1005 zurückkehren.«
»Gut, das tun wir«, sagte Barney und griff nach seiner Brieftasche.
Obwohl in Neufundland die Sonne schien, wirkte sie nach dem Tag in Kalifornien schwach, und die Luft war sehr kühl.
»Wann haben wir das Studio verlassen?« fragte Barney.
»Um zwölf Uhr drei am Montag. Und keine Beschwerden bitte. Ich habe so schnell gearbeitet wie noch nie. Sie sahen ja selbst, was dieser Musiker mit seinem Mikrogehirn anrichtete.«
»Keine Beschwerden, Professor. Ich glaube allmählich, wir haben immer noch eine Chance, den Film rechtzeitig abzuliefern. Ich habe mich nämlich im Verwaltungsgebäude selbst getroffen und ich sah, wie ich einen Film mit der Aufschrift Unter Wikingerflagge ablieferte.«
»Unmöglich!«
»Leicht gesagt, aber vielleicht erleben Sie noch den gleichen Schock wie ich. Ich sagte mir, oder er sagte mir, daß ich Ihnen diesen Zettel geben sollte. Wissen Sie, was die Zeichnung bedeutet?«
Der Professor warf einen Blick auf die Skizze und lächelte breit. »Natürlich«, sagte er. »Wie dumm von mir. Die Tatsachen waren die ganze Zeit da, direkt vor meiner Nase, und ich erkannte sie nicht. Es ist ganz einfach.«
»Könnten Sie es einem Laien vielleicht auch erklären?« fragte Barney ungeduldig.
»Die Zeichnung stellt zwei Reisen durch die Zeit dar, und der Bogen rechts ist von Interesse, denn er erklärt, woher Ihr Doppelgänger mit den Filmen kam. Ja, es ist möglich, den Film fertigzustellen und noch rechtzeitig abzuliefern.«
»Wie denn?« fragte Barney und sah die Skizze an, die ihm absolut nichts sagte.
»Sie werden jetzt den Film zu Ende drehen, und es ist ganz gleichgültig, wieviel Zeit Sie dazu verwenden. Wenn der Film fertig ist, befinden Sie sich bei Punkt B des Diagramms. Punkt A ist der Zeitpunkt, zu dem der Film abgeliefert werden muß. Sie kehren einfach zu einer Zeit vor A zurück, geben den Film ab und kommen dann wieder nach B. Köstlich einfach!«
Barney entriß ihm die Skizze. »Noch einmal: Sie sagen also, daß ich den Film in aller Ruhe beenden kann. Dann kehre ich in eine Zeit vor A zurück und liefere ihn ab?«
»Richtig.«
»Das klingt verrückt.«
»Nur den Dummen erscheint Intelligenz wie Wahnsinn.«
»Ich verzeihe Ihnen diese Bemerkung, wenn Sie mir eines sagen können: Wer hat diese Zeichnung angefertigt?«
»Das kann ich nicht wissen. Ich habe sie ja eben zum erstenmal gesehen.«
»Dann überlegen Sie doch. Mir wurde das Papier am Montagmorgen vor L. M.s Büro gegeben. Ich zeige es Ihnen jetzt. Dann stecke ich es in meine Brieftasche und trage es herum, bis der Film fertig ist. Anschließend mache ich einen Sprung zurück, um L. M. den Film auszuhändigen. Ich treffe mich selbst vor dem Büro, gebe mir das Blatt Papier, stecke es in die Brieftasche und so fort. Erkennen Sie einen Sinn dahinter?«
»Ja. Ich empfinde den Vorgang ganz und gar nicht als beunruhigend.«
»Nein? Aber wenn alles so vor sich geht, wie ich es eben beschrieben habe, dann hat kein Mensch je diese Zeichnung angefertigt. Sie steckt einfach in dieser Brieftasche, und ich überreiche sie mir selbst. Erklären Sie mir das!« Seine Stimme klang triumphierend.
»Das ist nicht nötig. Das Stück Papier erklärt sich selbst. Es besteht aus einer in sich geschlossenen Zeitschleife. Niemand hat die Zeichnung angefertigt, das stimmt. Sie existiert, weil sie ist, und das ist eine ausreichende Erklärung. Wenn Sie es immer noch nicht verstehen, werde ich Ihnen ein Beispiel nennen. Sie wissen, daß alle Papierflächen zwei Seiten besitzen. Aber wenn Sie nun ein Papierband um 180 Grad verdrehen und dann die Enden zusammenfügen, erhalten Sie den sogenannten Möbiusstreifen, der nur eine Seite hat. Er existiert. Man kann nichts dagegen tun. Ebenso ist es bei Ihrer Zeichnung.«
»Aber — woher kam sie?«
»Wenn Sie unbedingt eine Quelle brauchen — man könnte sagen, daß sie daher kam, wohin die fehlende Seite des Möbiusstreifens verschwunden ist.«
Barneys Gedanken verschlangen sich zu einem festen Knoten, dessen Enden frei herunterhingen. Er starrte die Zeichnung an, bis ihm die Augen wehtaten. Jemand mußte sie angefertigt haben. Und jedes Stück Papier mußte zwei Seiten haben … Mit zittrigen Fingern steckte er das Diagramm in die Brieftasche und hoffte nur, daß er es vergessen würde.
»Wir können in die Vergangenheit gehen, sobald Sie fertig sind«, verkündete Dallas.
»In welche Vergangenheit?« Barney sah den Revolvermann überrascht an.
»Ins Jahr 1006, davon reden wir doch schon die ganze Zeit. Ottar hat seine Nahrungsmittel, und die Filmgesellschaft ist bereit zum Aufbruch.« Er deutete auf die wartenden Lastwagen und Anhänger.
»Ach ja richtig, wir wollten ins nächste Frühjahr. Dallas, wissen Sie, was ein Paradoxon ist?«
»Der spanische Barbier, der alle Leute in der Stadt rasiert, die sich nicht selbst rasieren — wer rasiert nun den Barbier?«
»So ungefähr — nur noch schlimmer.« Dann erinnerte sich Barney an die bandagierte Hand, und er untersuchte sorgfältig seine Rechte. »Was ist nur mit meiner Hand passiert?«
»Ihre Hand sieht doch prächtig aus«, versicherte ihm Dallas. »Wollen Sie einen Drink?«
»Das würde nichts nützen. Ich habe mich eben selbst mit einer bandagierten Hand getroffen, und ich wollte mir nicht verraten, was geschehen war. Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja. Sie brauchen wahrscheinlich zwei Drinks.«
»Egal, wie du darüber denkst, Alkohol ist nicht für alle Probleme eine Lösung. Es bedeutet, daß ich etwas Einmaliges im Universum bin. Ich bin ein SadoMasochist. Die anderen armen Teufel müssen sich darauf beschränken, masochistisch sich selbst gegenüber oder sadistisch den anderen gegenüber zu sein. Aber ich erhalte eine masochistische Befriedigung, indem ich sadistisch zu mir selbst bin. Kein anderer Neurotiker kann das von sich behaupten.« Er zitterte. »Ich glaube, ich kann den Drink doch gebrauchen.«
»Bitte.«
Der Schnaps entpuppte sich als billiger Rye, der wie Ameisensäure schmeckte und Barneys Kehle so verätzte, daß er eine Weile das Parodoxon der Zeit und seine eigenen sado-masochistischen Neigungen vergaß. »Dallas, tu mir einen Gefallen und sieh nach, ob die Indianer im März schon gesichtet worden sind. Wenn Ottar Nein sagt, dann dringst du in Abständen von einer Woche weiter vor, bis sie endlich auftauchen.«
Barney trat zur Seite, als die Zeitplattform flimmerte und ein paar Zentimeter von ihrer ursprünglichen Position entfernt wieder auftauchte. Dallas kletterte herunter und strich sich über den dunklen Stoppelbart.
»Der Professor sagt, daß wir insgesamt zehn Stunden unterwegs waren«, erklärte er. »Das bedeutet zwei Überstunden …«
»Unwichtig! Was hast du herausgebracht?«
»Sie haben einen Zaun errichtet — wie bei diesen Forts in den Indianerkriegen. Anfang März war noch alles ruhig, aber am einundzwanzigsten entdeckten die Wikinger ein paar dieser Fellboote.«
»Schön. Wir brechen auf. Sag dem Professor, daß er die ganze Truppe zum zweiundzwanzigsten März befördern soll. Sind alle hier?«
»Betty hat die Rechnungen überprüft, und die stimmen. Ich und Tex haben die Wohnwagen nachgezählt. Es sind alle vorhanden.«
»Wie ist das Märzwetter?«
»Sonnig, aber immer noch kühl.«
»Also gut, sag den Leuten, daß sie sich warm anziehen sollen. Ich möchte nicht, daß sich die Hälfte mit Schnupfen ins Bett legt.«
Barney ging zu seinem Wohnwagen und zog einen Mantel und Handschuhe an. Als er zurückkam, waren die ersten Wagen bereits in der Vergangenheit. Dann wurde er zurückbefördert. Es war ein echt nordischer Frühling. Der wässerige Sonnenschein konnte nichts gegen die Kälte ausrichten, und an der Nordseite des Palisadenzauns lag noch Schnee. Die Szenerie erinnerte an einen Westernfilm. Barney winkte dem Fahrer des Lastwagens, der eben von der Plattform abgeliefert worden war.
»Bringen Sie mich zum Dorf, ja?«
»Nächste Haltestelle Fort Apache«, grinste der Fahrer.
Einige der Nordmänner kamen den Hang hinauf, um die Filmgesellschaft zu begrüßen. Der Lastwagen fuhr an ihnen vorbei und hielt an einer schmalen Öffnung. Man hatte lediglich einen Pfosten zur Seite geschoben und damit einen Eingang geschaffen. Ottar quetschte sich durch, als sie ankamen.
»Hier müssen wir ein Tor anbringen«, erklärte Barney. »Ein großes Doppeltor mit einem Innenriegel.«
»Nicht gut, zu groß, zu leicht zu erobern. So ist es richtig.«
»Du hast eben noch keine Western gesehen …«
Barney schwieg, als Slithey durch die Öffnung kam. Sie trug ein ziemlich schmuddeliges Kleid und hatte ein Karibufell über den Schultern. Sie war ohne Make-up und hatte ein Baby in einem Tragegurt an der Hüfte.
»Was machst du denn hier?« fragte er gallig. Er fand, daß er an diesem Tag schon genug Überraschungen erlebt hatte.
»Ich war eine Zeitlang hier«, erwiderte sie und steckte dem Kleinen den Finger in den Mund, worauf er laut zu schmatzen begann.
»Sieh mal, wir sind doch eben erst angekommen. Was ist mit dem Bankert?«
»Es ist so komisch«, sagte sie und kicherte, um es zu beweisen. »Nachdem wir uns letzten Sommer fertigmachten, wurde mir das Warten im Wohnwagen zu langweilig, und ich unternahm einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft. Du verstehst?«
»Ich verstehe nicht, und ich habe das Gefühl, daß ich gar nicht verstehen will. Du willst doch nicht etwa sagen, daß du die ganze Zeit hier warst, während wir anderen zurück in die Gegenwart gebracht wurden?«
»Genau das ist geschehen. Ich war so überrascht. Ich machte diesen Spaziergang, und da traf ich Ottar, und eines führte zum andern, du verstehst …«
»Diesmal verstehe ich.«
»Und bevor ich es merkte, waren alle fort. Ich kann dir sagen, daß ich mächtig Angst hatte. Ich heulte wochenlang, und dann kam noch dazu, daß ich meine Pillen nicht bei mir hatte.«
»Dann gehört dir der Fratz?«
»Ja, ist er nicht süß? Wir haben noch keinen Namen für ihn, aber ich nenne ihn Snorey wie den Zwerg in Schneewittchen, denn wenn er schläft, schnarcht er immer.«
»Es gibt gar keinen Zwerg namens Snorey«, sagte Barney und dachte schnell nach. »Sieh mal, Slithey, wir können nicht in die Vergangenheit zurückgehen und alles ungeschehen machen, nicht jetzt, wo das Kind da ist. Und außerdem hättest du den Wohnwagen nicht verlassen sollen.«
»Oh, ich gebe dir ja nicht die Schuld«, erwiderte sie. »Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, war es nicht mehr so schlimm, und Ottar sagte mir immer wieder, ihr würdet im Frühling zurückkommen. Er hatte recht. Nur eines — ich könnte ein anständiges Essen gebrauchen. Was diese Leute verschlingen — pfui Teufel! Ich habe den Winter über hauptsächlich von Whisky und Kräckern gelebt.«
»Wir geben heute abend eine große Party für dich, Ottar und das Baby. Steak mit Wein, du wirst zufrieden sein.«
Snorey begann zu weinen, und Slithey hob ihn hoch und öffnete ihr Kleid.
»Ich muß mit Charley Chang reden«, sagte Barney. »Er soll den Kleinen irgendwie mit ins Drehbuch bringen. Dieser Film wird eine Überraschung.«
Das erinnerte ihn wieder an verschiedene schmerzhafte Dinge, und er sah seine rechte Hand an und fragte sich, wann und wo es passieren würde.